URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

1. August 2022 ( *1 ) ( i )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Art. 8 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 1 – Unbegleiteter Minderjähriger mit einem sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhaltenden Verwandten – Ablehnung des Aufnahmegesuchs für diesen Minderjährigen durch diesen Mitgliedstaat – Recht dieses Minderjährigen oder seines Verwandten auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die ablehnende Entscheidung – Art. 7, 24 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Kindeswohl“

In der Rechtssache C‑19/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem, Niederlande), mit Entscheidung vom 12. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Januar 2021, in dem Verfahren

I,

S

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, I. Jarukaitis und N. Jääskinen sowie der Richter M. Ilešič, J.‑C. Bonichot (Berichterstatter), M. Safjan und A. Kumin, der Richterin M. L. Arastey Sahún, der Richter M. Gavalec und Z. Csehi sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Januar 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von I und S, vertreten durch N. C. Blomjous und A. Hoftijzer, Advocaten,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. H. S. Gijzen und P. Huurnink als Bevollmächtigte,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,

der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und D. Dubois als Bevollmächtigte,

der Schweizer Regierung, vertreten durch S. Lauper als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azema, C. Cattabriga und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. April 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und von Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin-III-Verordnung).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen I und S, zwei ägyptischen Staatsangehörigen, und dem Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) wegen dessen Ablehnung eines auf die Aufnahme von I gerichteten Gesuchs der griechischen Behörden.

Rechtlicher Rahmen

3

In den Erwägungsgründen 4, 5, 9, 13, 14, 16, 19 und 39 der Dublin-III-Verordnung heißt es:

„(4)

Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere] sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS)] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(5)

Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.

(9)

Angesichts der Bewertungsergebnisse in Bezug auf die Umsetzung der Instrumente der ersten Phase empfiehlt es sich in dieser Phase, die der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 [des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1)] zugrunde liegenden Prinzipien zu bestätigen und angesichts der bisherigen Erfahrungen gleichzeitig die notwendigen Verbesserungen mit Hinblick auf die Leistungsfähigkeit des Dublin-Systems und den auf der Grundlage dieses Systems gewährten Schutz der Antragsteller vorzunehmen....

(13)

Bei der Anwendung dieser Verordnung sollte das Wohl des Kindes im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1989 und mit der Charta... eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein....

(14)

Im Einklang mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und mit der Charta... sollte die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein, wenn sie diese Verordnung anwenden.

(16)

Um die uneingeschränkte Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und des Wohl[s] des Kindes zu gewährleisten, sollte ein zwischen einem Antragsteller und seinem Kind, einem seiner Geschwister oder einem Elternteil bestehendes Abhängigkeitsverhältnis, das durch Schwangerschaft oder Mutterschaft, durch den Gesundheitszustand oder hohes Alter des Antragstellers begründet ist, als ein verbindliches Zuständigkeitskriterium herangezogen werden. Handelt es sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen, der einen Familienangehörigen oder Verwandten in einem anderen Mitgliedstaat hat, der für ihn sorgen kann, so sollte dieser Umstand ebenfalls als ein verbindliches Zuständigkeitskriterium gelten.

(19)

Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Artikel 47 der Charta... Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.

(39)

Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta anerkannt wurden. Diese Verordnung zielt insbesondere darauf ab, sowohl die uneingeschränkte Wahrung des in Artikel 18 der Charta verankerten Rechts auf Asyl als auch die in ihren Artikeln 1, 4, 7, 24 und 47 anerkannten Rechte zu gewährleisten. Diese Verordnung sollte daher in diesem Sinne angewandt werden.“

4

Art. 1 („Gegenstand“) dieser Verordnung sieht vor:

„Diese Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen (im Folgenden ‚zuständiger Mitgliedstaat‘).“

5

Art. 2 („Definitionen“) dieser Verordnung bestimmt:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

b)

‚Antrag auf internationalen Schutz‘ einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Artikels 2 Buchstabe h der Richtlinie 2011/95/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9)];

d)

‚Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz‘ die Gesamtheit der Prüfungsvorgänge, der Entscheidungen oder Urteile der zuständigen Behörden in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß der Richtlinie 2013/32/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60)] und der Richtlinie 2011/95/EU mit Ausnahme der Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß dieser Verordnung;

g)

‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie des Antragstellers, die sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:

bei einem minderjährigen und unverheirateten Antragsteller, der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats, in dem der Erwachsene sich aufhält, für den Minderjährigen verantwortlich ist,

h)

‚Verwandter‘: der volljährige Onkel, die volljährige Tante oder ein Großelternteil des Antragstellers, der/die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, ungeachtet dessen, ob es sich gemäß dem nationalen Recht bei dem Antragsteller um ein ehelich oder außerehelich geborenes oder adoptiertes Kind handelt;

i)

‚Minderjähriger[‘] einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren;

j)

‚unbegleiteter Minderjähriger‘ einen Minderjährigen, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet; dies schließt einen Minderjährigen ein, der nach Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wird;

…“

6

In Art. 5 („Persönliches Gespräch“) der Verordnung heißt es:

„(1)   Um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern, führt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller. Dieses Gespräch soll auch das richtige Verständnis der dem Antragsteller gemäß Artikel 4 bereitgestellten Informationen ermöglichen.

(6)   Der Mitgliedstaat, der das persönliche Gespräch führt, erstellt eine schriftliche Zusammenfassung, die zumindest die wesentlichen Angaben des Antragstellers aus dem Gespräch enthält. Diese Zusammenfassung kann in Form eines Berichts oder eines Standardformulars erstellt werden. Der Mitgliedstaat gewährleistet, dass der Antragsteller und/oder der ihn vertretende Rechtsbeistand oder sonstiger Berater zeitnah Zugang zu der Zusammenfassung erhält.“

7

In Art. 6 („Garantien für Minderjährige“) der Dublin-III-Verordnung heißt es:

„(1)   Das Wohl des Kindes ist in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten.

(3)   Bei der Würdigung des Wohl[s] des Kindes arbeiten die Mitgliedstaaten eng zusammen und tragen dabei insbesondere folgenden Faktoren gebührend Rechnung:

a)

Möglichkeiten der Familienzusammenführung;

(4)   Zum Zweck der Durchführung des Artikels 8 unternimmt der Mitgliedstaat, in dem der unbegleitete Minderjährige einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, so bald wie möglich geeignete Schritte, um die Familienangehörigen, Geschwister oder Verwandte[n] des unbegleiteten Minderjährigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu ermitteln, wobei er das Wohl des Kindes schützt.

…“

8

Kapitel III („Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats“) der Verordnung umfasst deren Art. 7 bis 15.

9

Art. 8 („Minderjährige“) dieser Verordnung sieht in den Abs. 1 bis 4 vor:

„(1)   Handelt es sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen, so ist der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem sich ein Familienangehöriger oder eines der Geschwister des unbegleiteten Minderjährigen rechtmäßig aufhält, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient. Ist der Antragsteller ein verheirateter Minderjähriger, dessen Ehepartner sich nicht rechtmäßig im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhält, so ist der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem sich der Vater, die Mutter … oder ein anderer Erwachsener – der entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats für den Minderjährigen zuständig ist – oder sich eines seiner Geschwister aufhält.

(2)   Ist der Antragsteller ein unbegleiteter Minderjähriger, der einen Verwandten hat, der sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, und wurde anhand einer Einzelfallprüfung festgestellt, dass der Verwandte für den Antragsteller sorgen kann, so führt dieser Mitgliedstaat den Minderjährigen und seine Verwandten zusammen und ist der zuständige Mitgliedstaat, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient.

(3)   Halten sich Familienangehörige, Geschwister oder Verwandte im Sinne der Absätze 1 und 2 in mehr als einem Mitgliedstaat auf, wird der zuständige Mitgliedstaat danach bestimmt, was dem Wohl des unbegleiteten Minderjährigen dient.

(4)   Bei Abwesenheit eines Familienangehörigen[,] eines seiner Geschwister oder eines Verwandten im Sinne der Absätze 1 und 2 … ist der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem der unbegleitete Minderjährige seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient.“

10

Art. 9 („Familienangehörige, die Begünstigte internationalen Schutzes sind“) dieser Verordnung lautet:

„Hat der Antragsteller einen Familienangehörigen – ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat –, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.“

11

Art. 10 („Familienangehörige, die internationalen Schutz beantragt haben“) der Dublin‑III‑Verordnung lautet:

„Hat ein Antragsteller in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.“

12

Art. 21 („Aufnahmegesuch“) der Verordnung bestimmt in seinem Abs. 1:

„Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Artikel 20 Absatz 2, diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen.

Wird das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb der in … [Unterabsatz] 1... niedergelegten Frist unterbreitet, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für die Prüfung des Antrags zuständig.“

13

Art. 27 („Rechtsmittel“) der Verordnung sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Der Antragsteller … hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14

Am 23. Dezember 2019 stellte der damals noch minderjährige I, der die ägyptische Staatsangehörigkeit besitzt, in Griechenland einen Antrag auf internationalen Schutz. In seinem Antrag äußerte er den Wunsch einer Zusammenführung mit seinem Onkel S, der ebenfalls ägyptischer Staatsangehöriger sei, sich rechtmäßig in den Niederlanden aufhalte und mit einer Zusammenführung einverstanden sei.

15

Am 10. März 2020 richteten die griechischen Behörden ein Gesuch auf Aufnahme von I an die niederländischen Behörden und stützten sich dabei auf Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung, da sich ein mit dem Betroffenen Verwandter im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Verordnung rechtmäßig in den Niederlanden aufhalte und für ihn sorgen könne.

16

Am 8. Mai 2020 lehnte der Staatssekretär diesen Antrag mit der Begründung ab, dass die Identität von I und daher das behauptete Verwandtschaftsverhältnis zu S nicht nachgewiesen werden könnten.

17

Am 28. Mai 2020 richteten die griechischen Behörden nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (ABl. 2003, L 222, S. 3) ein Ersuchen um eine neuerliche Prüfung ihres Gesuchs an die niederländischen Behörden. Dieser Antrag wurde am 11. Juni 2020 abgelehnt.

18

Auch I und S legten ihrerseits gegen die das Aufnahmegesuch ablehnende Entscheidung beim Staatssekretär einen Rechtsbehelf ein.

19

Am 26. Juni 2020 wies der Staatssekretär diesen Rechtsbehelf mit der Begründung als offensichtlich unzulässig zurück, dass die Dublin-III-Verordnung für die Antragsteller auf internationalen Schutz keine Möglichkeit vorsehe, gegen die Ablehnung eines Aufnahmegesuchs vorzugehen.

20

Am selben Tag riefen I und S die Rechtbank Den Haag, zittingplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem, Niederlande), an und beantragten, diese Entscheidung aufzuheben. Dabei machten sie im Wesentlichen geltend, dass sie beide gemäß Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung berechtigt seien, einen solchen gerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen.

21

Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem), beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 27 der Dublin-III-Verordnung, gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 47 der Charta, dahin auszulegen, dass der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet ist, dem Antragsteller, der sich in dem ersuchenden Mitgliedstaat aufhält und eine Überstellung nach Art. 8 (oder den Art. 9 oder 10) der Dublin-III-Verordnung begehrt, oder seinem Verwandten im Sinne der Art. 8, 9 oder 10 der Dublin-III-Verordnung gegen die Ablehnung des Aufnahmegesuchs einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Gericht zur Verfügung zu stellen?

2.

Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird und Art. 27 der Dublin-III-Verordnung keine Grundlage für einen wirksamen Rechtsbehelf bietet, ist Art. 47 der Charta – in Verbindung mit dem Grundrecht auf die Einheit der Familie und das Kindeswohl (wie in den Art. 8 bis 10 sowie im 19. Erwägungsgrund der Dublin-III-Verordnung verbürgt) – dahin auszulegen, dass der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet ist, dem Antragsteller, der sich im ersuchenden Mitgliedstaat aufhält und eine Überstellung nach den Art. 8 bis 10 der Dublin-III-Verordnung begehrt, oder seinem Verwandten im Sinne der Art. 8 bis 10 der Dublin-III-Verordnung einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Gericht gegen die Ablehnung des Aufnahmegesuchs zur Verfügung zu stellen?

3.

Für den Fall, dass Frage 1 oder Frage 2 (zweiter Teil) bejaht wird: Auf welche Weise und von welchem Mitgliedstaat sind dem Antragsteller oder seinem Familienangehörigen die Ablehnungsentscheidung des ersuchten Mitgliedstaats und das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs hiergegen bekannt zu geben?

Verfahren vor dem Gerichtshof

22

Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Rechtssache dem in den Art. 107ff. der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen. Am 27. Januar 2021 hat der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, diesem Antrag u. a. deshalb nicht stattzugeben, weil der seit dem 5. November 2020 volljährige I sich nicht in Haft befinde.

23

Allerdings hat der Präsident des Gerichtshofs am 9. September 2021 entschieden, diese Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung mit Vorrang zu behandeln.

Zu den Vorlagefragen

Einleitende Bemerkungen

24

In seiner ersten und seiner zweiten Frage spricht das vorlegende Gericht von einem Antragsteller, der nach Art. 8 der Dublin-III-Verordnung oder deren Art. 9 und 10 um Überstellung ersucht, und von einem Verwandten, der nach Ansicht des vorlegenden Gerichts unter diesen Artikel fällt.

25

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich jedoch, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Aufnahmegesuch eine Person betrifft, die um internationalen Schutz ersucht, die die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt, die sich im ersuchenden Mitgliedstaat aufhält und die zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung, der maßgeblich für die Beurteilung der Minderjährigkeit eines Antragstellers im Sinne der Dublin-III-Verordnung ist, ein unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Verordnung war (vgl. entsprechend Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 64). Dieser Antragsteller möchte mit einer Person zusammengeführt werden, von der er behauptet, dass sie sein Onkel sei, und die im ersuchten Staat wohnt.

26

Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass der Onkel eines minderjährigen Antragstellers, sofern er für diesen Minderjährigen nicht nach dem Recht oder den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats, in dem sich der Onkel aufhält, verantwortlich ist, zu dessen „Verwandten“ im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Dublin-III-Verordnung und nicht zu den „Familienangehörigen“ im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Verordnung zählt.

27

Im Rahmen von Art. 8 der Dublin-III-Verordnung, in dem in Bezug auf den internationalen Schutz beantragenden unbegleiteten Minderjährigen die Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats präzisiert werden, wird eine solche Konstellation in Abs. 2 geregelt, und tatsächlich haben die griechischen Behörden auf der Grundlage dieser Bestimmung die niederländischen Behörden um die Aufnahme von I ersucht.

28

Zudem ist Art. 9 oder Art. 10 der Dublin-III-Verordnung offenbar für den Ausgangsrechtsstreit nicht einschlägig, der sich darauf bezieht, dass sich internationalen Schutz genießende Familienangehörige des Antragstellers bzw. Familienangehörige, die selbst internationalen Schutz beantragt haben, in einem Mitgliedstaat aufhalten.

29

Unter diesen Umständen ist die Prüfung der ersten und der zweiten Frage darauf zu beschränken, dass das Aufnahmegesuch auf Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung gestützt worden ist.

Zur ersten und zur zweiten Frage

30

Mit seinen Fragen 1 und 2, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob in Verbindung mit Art 47 der Charta Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass der Mitgliedstaat, an den ein auf Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung gestütztes Aufnahmegesuch gerichtet wurde, nach dieser Vorschrift dem internationalen Schutz begehrenden unbegleiteten Minderjährigen im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Verordnung oder seinem Verwandten im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Verordnung ein Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die das Aufnahmegesuch ablehnende Entscheidung einräumen muss oder ob, wenn dies nicht der Fall ist, ein solches Recht auf einen Rechtsbehelf unmittelbar durch Art. 47 der Charta in Verbindung mit deren Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 verliehen wird.

31

Nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung hat die internationalen Schutz beantragende Person ein Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.

32

Zwar scheint diese Vorschrift – bei wörtlicher Auslegung – der Person, die internationalen Schutz beantragt, nur gegen eine Überstellungsentscheidung ein Rechtsmittel zu gewähren, doch der Wortlaut der Vorschrift schließt es nicht aus, dass dem unbegleiteten minderjährigen Antragsteller auch ein Rechtsmittel zur Anfechtung einer Ablehnung eines auf Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung gestützten Gesuchs um Aufnahme verliehen wird.

33

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Vorschriften des abgeleiteten Unionsrechts unter Beachtung der Grundrechte auszulegen und anzuwenden sind (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 60).

34

Außerdem betont der 39. Erwägungsgrund der Dublin-III-Verordnung die Bedeutung, die der Unionsgesetzgeber der uneingeschränkten Wahrung der u. a. in den Art. 7, 24 und 47 der Charta anerkannten Grundrechten beimisst, und bekräftigt, dass diese Verordnung „in diesem Sinne angewandt werden [sollte]“.

35

Ob es nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung im Licht der Art. 7, 24 und 47 der Charta erforderlich ist, dass gegen eine solche die Aufnahme ablehnende Entscheidung ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, ist unter diesen Umständen nicht nur anhand des Wortlauts dieses Art. 27 Abs. 1, sondern auch anhand seiner Ziele, seiner allgemeinen Systematik und seines Kontexts sowie insbesondere seiner Entwicklung in dem System, in das er sich einfügt, zu ermitteln.

36

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, nach Art. 47 Abs. 1 der Charta das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Diesem Recht entspricht die Pflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 47).

37

Zum Asylsystem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Dublin-III-Verordnung nicht lediglich organisatorische Regeln für die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats normiert hat, sondern auch die Asylbewerber an diesem Verfahren beteiligen wollte, indem er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, Asylbewerber über die Zuständigkeitskriterien zu unterrichten, ihnen Gelegenheit zur Beibringung der eine korrekte Anwendung dieser Kriterien ermöglichenden Informationen zu geben und zu gewährleisten, dass sie über einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die am Ende des Verfahrens möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash, C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 51).

38

Was die mit der Dublin-III-Verordnung verfolgten Ziele angeht, so hat der Gerichtshof klargestellt, dass durch die Verordnung ihrem neunten Erwägungsgrund zufolge zwar die der Vorgängerverordnung Nr. 343/2003 zugrunde liegenden Prinzipien bestätigt werden, angesichts der bisherigen Erfahrungen aber gleichzeitig die notwendigen Verbesserungen nicht nur im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit des Dublin-Systems vorgenommen werden sollen, sondern auch im Hinblick auf den Schutz der Antragsteller, der insbesondere durch den ihnen gewährten gerichtlichen Rechtsschutz sichergestellt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash, C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 52).

39

Des Weiteren hat der Gerichtshof festgestellt, dass, wenn die Reichweite, die dem in Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelf zukommt, restriktiv ausgelegt würde, dies insbesondere dadurch der Erreichung dieses Ziels entgegenstehen könnte, dass den übrigen dem Asylbewerber in dieser Verordnung gewährten Rechten ihre praktische Wirksamkeit genommen würde. So bestünde die Gefahr, dass die in Art. 5 der Verordnung festgelegten Verpflichtungen, Asylbewerbern Gelegenheit zur Beibringung der Informationen zu geben, die die korrekte Anwendung der in der Verordnung festgelegten Zuständigkeitskriterien erlauben, und diesen Antragstellern die Zusammenfassungen der zu diesem Zweck geführten Gespräche zugänglich zu machen, ihre praktische Wirksamkeit verlören, wenn ausgeschlossen wäre, dass eine fehlerhafte Anwendung dieser Kriterien, gegebenenfalls ohne Berücksichtigung der von den Antragstellern beigebrachten Informationen, Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle sein könnte (Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash, C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 53).

40

Der Gerichtshof kam daher zu dem Ergebnis, dass Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung im Licht ihres 19. Erwägungsgrundes dahin auszulegen ist, dass ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung die fehlerhafte Anwendung eines in Kapitel III dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitskriteriums betreffend die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats geltend machen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash, C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 61 und Tenor).

41

Beim gerichtlichen Schutz eines unbegleiteten minderjährigen Antragstellers darf jedoch für die Einhaltung des verbindlichen Zuständigkeitskriteriums aus Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung nicht danach unterschieden werden, ob der ersuchende Mitgliedstaat eine Entscheidung zur Überstellung des Antragstellers getroffen hat oder ob der ersuchte Mitgliedstaat das Gesuch auf Aufnahme des Antragstellers ablehnt.

42

Wie bei einer Überstellungsentscheidung kann nämlich auch durch eine solche Ablehnung das Recht des unbegleiteten Minderjährigen verletzt werden, das dieser aus Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung herleitet und das auf Zusammenführung mit einem Verwandten gerichtet ist, der bei der Prüfung des Antrags des Minderjährigen auf internationalen Schutz für ihn sorgen kann. Demnach muss es dem betreffenden Minderjährigen in beiden Fällen gemäß Art. 47 Abs. 1 der Charta und der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung möglich sein, einen Rechtsbehelf einzulegen, um die Verletzung dieses Rechts zu rügen.

43

So steht nämlich fest, dass der betreffende Minderjährige im vorliegenden Fall gemäß Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung I, falls er sich nach seiner Ankunft in Griechenland in die Niederlande begeben und dort statt in Griechenland seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hätte und falls die griechischen Behörden als Mitgliedstaat der Erstankunft seiner Aufnahme zugestimmt hätten, unbestreitbar berechtigt gewesen wäre, einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung der niederländischen Behörden einzulegen und diesen auf den Umstand zu stützen, dass einer seiner Verwandten in den Niederlanden wohne.

44

In einem solchen Fall könnte er dann mit Erfolg eine Verletzung des Rechts geltend machen, das ihm als unbegleitetem Minderjährigen Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung zuweist, wohingegen ein Antragsteller, der im Mitgliedstaat der Einreise bleibt und seinen Antrag auf internationalen Schutz dort stellt, wie vom Generalanwalt in den Nrn. 70 und 87 seiner Schlussanträge ausgeführt, diese Möglichkeit nicht hätte, weil in einem solchen Fall keine Überstellungsentscheidung ergeht.

45

Folglich muss ein unbegleiteter minderjähriger Antragsteller, um eine Verletzung des Rechts aus Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung geltend machen zu können und so den wirksamen Schutz seiner Rechte zu genießen, den diese Verordnung gemäß ihrem 19. Erwägungsgrund festschreiben soll, nach Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung nicht nur dann einen gerichtlichen Rechtsbehelf einlegen können, wenn der ersuchende Mitgliedstaat eine Überstellungsentscheidung erlässt, sondern auch dann, wenn der ersuchte Mitgliedstaat die Aufnahme des Betreffenden ablehnt.

46

Eine solche Auslegung ist umso mehr geboten, als Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung, wie vom Generalanwalt in den Nrn. 52 bis 56 seiner Schlussanträge ausgeführt, die uneingeschränkte Einhaltung der in den Art. 7 und 24 der Charta verankerten Grundrechte unbegleiteter Minderjähriger gewährleisten soll.

47

Zwar gewährt das Unionsrecht und gewährt insbesondere Art. 7 der Charta, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens anerkennt, kein allgemeines Recht darauf, dass der erweiterte Familienkreis eine Einheit bildet. Aber da dieser Art. 7 im Zusammenhang mit der Verpflichtung zu lesen ist, bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen das Kindeswohl als vorrangige Erwägung zu berücksichtigen, die in Art. 24 Abs. 2 der Charta (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Belgischer Staat [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 34) sowie in Art. 6 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung zum Ausdruck kommt, muss davon ausgegangen werden, dass bei der Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz das etwaige Interesse eines unbegleiteten minderjährigen Antragstellers an einer Zusammenführung mit dem erweiterten Kreis seiner Familienangehörigen durch diese Vorschriften geschützt wird. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass unbegleitete Minderjährige, wie der 13. Erwägungsgrund der Verordnung betont, aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit besonderer Verfahrensgarantien bedürfen. Im Übrigen ist zwar gemäß Art. 8 Abs. 2 der Verordnung der Mitgliedstaat, in dem sich der Verwandte des unbegleiteten minderjährigen Antragstellers aufhält, nur unter der Voraussetzung als zuständiger Mitgliedstaat zu bestimmen, dass dies „dem Wohl des Minderjährigen dient“, doch ergibt sich aus dieser Vorschrift, den Erwägungsgründen 14 und 16 sowie aus Art. 6. Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Verordnung, dass die Achtung des Familienlebens und insbesondere die Möglichkeit eines unbegleiteten Minderjährigen, mit einem Verwandten zusammengeführt zu werden, der während der Bearbeitung seines Antrags für ihn sorgen kann, grundsätzlich dem Wohl des Kindes dienen (vgl. entsprechend Urteil vom 23. Januar 2019, M. A. u. a., C‑661/17, EU:C:2019:53, Rn. 89).

48

Im Übrigen stellt Art. 24 Abs. 1 der Charta, dem zufolge Kinder Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge haben, die für ihr Wohlergehen notwendig sind, klar, dass deren Meinung in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt wird.

49

Der internationalen Schutz beantragende unbegleitete Minderjährige muss sich also vor Gericht auf die Rechte berufen können, die ihm Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta sowie Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung verleihen, damit er die Ablehnung eines Aufnahmegesuchs wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in rechtlicher und in tatsächlicher Hinsicht anfechten kann.

50

Der im ersuchten Mitgliedstaat wohnende Verwandte des Antragstellers im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Dublin-III-Verordnung kann dagegen aus Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung kein Recht auf einen Rechtsbehelf herleiten. Außerdem verleihen ihm weder Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta noch Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung Rechte, auf die er sich vor Gericht gegen eine solche Ablehnung berufen könnte, so dass dieser Verwandte ein Recht auf einen Rechtsbehelf gegen eine solche Entscheidung auch nicht allein auf Art. 47 der Charta stützen könnte.

51

Im Übrigen ist der Vortrag der französischen Regierung zurückzuweisen, wonach das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Ablehnung eines Aufnahmegesuchs befasste Gericht nur über sehr beschränkte Befugnisse verfüge, weil es in fast allen Fällen lediglich den Ablauf der in Art. 21 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung genannten Fristen feststellen könne und gemäß dem dritten Unterabsatz dieses Abs. 1 bestätigen müsse, dass die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags von Rechts wegen auf denjenigen Mitgliedstaat übergegangen sei, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden sei.

52

Zum einen findet nämlich dieses Argument entgegen den Ausführungen der französischen Regierung keine Stütze im Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587), da sich der Gerichtshof in diesem Urteil nur zu der Frage geäußert hat, ob sich eine Person, die internationalen Schutz begehrt, auf die Verletzung einer in Art. 21 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung genannten Frist berufen kann.

53

Zum anderen stehen, falls das abgelehnte Aufnahmegesuch binnen der Fristen des Art. 21 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung gestellt wurde, die Anforderungen an die Wirksamkeit gerichtlicher Rechtsbehelfe dem entgegen, dass nicht alle Folgerungen aus der etwaigen Rechtswidrigkeit der Ablehnung des Aufnahmegesuchs gezogen werden, weil etwa ein Rechtsbehelf gegen eine solche Ablehnung zu einer Überschreitung dieser Fristen führen würde.

54

Ferner ergibt sich zwar aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass es bei unbegleiteten Minderjährigen zu keinen unnötigen Verzögerungen des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats kommen darf, was bedeutet, dass diese grundsätzlich nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen sind (Urteil vom 6. Juni 2013, M A u. a., C‑648/11, EU:C:2013:367, Rn. 55 und 61), doch sind die Mitgliedstaaten gleichwohl verpflichtet, für die Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Bearbeitung des von den Minderjährigen gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, die spezifischen Kriterien einzuhalten, wie etwa die in Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung vorgesehenen, die zum Wohl des Kindes angewandt werden müssen und durch die gerade sichergestellt werden soll, dass im Rahmen dieses Verfahrens das Kindeswohl gewahrt wird. Zudem hat der Gerichtshof bereits im Kontext dieser Verordnung entschieden, dass der Unionsgesetzgeber mitnichten die Absicht hatte, dem Erfordernis der zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz den gerichtlichen Schutz der Antragsteller zu opfern (Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash, C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 57). Diese Feststellung gilt insbesondere, wenn es darum geht, den besonderen Verfahrensgarantien zum Schutz unbegleiteter Minderjähriger Vorrang einzuräumen.

55

Nach alledem ist auf die Fragen 1 und 2 zu antworten, dass Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung in Verbindung mit den Art. 7, 24 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass der Mitgliedstaat, an den ein auf Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung gestütztes Aufnahmegesuch gerichtet wurde, nach dieser Vorschrift dem internationalen Schutz begehrenden unbegleiteten Minderjährigen im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Verordnung ein Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen seine ablehnende Entscheidung einräumen muss, nicht aber dem Verwandten dieses Minderjährigen im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Verordnung.

Zur dritten Frage

56

Mit seiner dritten Frage ersucht das vorlegende Gericht im Wesentlichen um Klarstellung dessen, wie und von welchem Mitgliedstaat dem unbegleiteten Minderjährigen oder seinem Verwandten die Ablehnung des gemäß Art. 8 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung gestellten Aufnahmegesuchs und die Möglichkeit eines gerichtlichen Rechtsbehelfs hiergegen bekannt zu geben sind.

57

In Anbetracht der Antwort auf die erste und die zweite Frage erübrigt sich eine Beantwortung dieser Frage in Bezug auf den Verwandten des unbegleiteten Minderjährigen.

58

Überdies geht, was den unbegleiteten Minderjährigen selbst betrifft, aus der Vorlageentscheidung hervor, dass I die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ablehnung des Aufnahmegesuchs bekannt gegeben worden war und dass sie von ihm gerichtlich angefochten wurde.

59

Folglich ist die Beantwortung der dritten Frage für die Zwecke des Ausgangsrechtsstreits nicht erforderlich, und sie ist daher nicht zu beantworten.

Kosten

60

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, in Verbindung mit den Art. 7, 24 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

 

ist dahin auszulegen, dass

 

der Mitgliedstaat, an den ein auf Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung gestütztes Aufnahmegesuch gerichtet wurde, nach dieser Vorschrift dem internationalen Schutz begehrenden unbegleiteten Minderjährigen im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Verordnung ein Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen seine ablehnende Entscheidung einräumen muss, nicht aber dem Verwandten dieses Minderjährigen im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Verordnung.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

( i ) Die vorliegende Sprachfassung ist in den Schlüsselwörtern und den Rn. 32, 35 und 45 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.