SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 20. April 2023 ( 1 )

Rechtssache C‑621/21

WS

gegen

Intervyuirasht organ na Darzhavna agentsia za bezhantsite pri Ministerskia savet,

Beteiligte:

Predstavitelstvo na Varhovnia komisar na Organizatsiyata na obedinenite natsii za bezhantsite v Bulgaria

(Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad [Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Gewährung internationalen Schutzes und für den Inhalt eines solchen Schutzes – Drittstaatsangehörige, die der Gefahr ausgesetzt ist, bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Opfer eines Ehrenverbrechens, einer Zwangsverheiratung oder häuslicher Gewalt seitens nicht staatlicher Akteure zu werden – Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Art. 9 Abs. 3 – Feststellung eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Verfolgungsgrund und dem Fehlen von Schutz durch das Herkunftsland – Art. 10 Abs. 1 Buchst. d – Feststellung der Zugehörigkeit zu einer ‚bestimmten sozialen Gruppe‘ aufgrund des Geschlechts der antragstellenden Person – Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes – Begriff ‚ernsthafter Schaden‘ – Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Übereinkommen von Istanbul)“

I. Einleitung

1.

Die Frage der Gewaltakte gegen Frauen im familiären Rahmen ist ein wichtiges Anliegen unserer Gesellschaften geworden, nachdem sie von den Behörden hinsichtlich der Schwere und der Folgen solcher Akte lange unterschätzt worden war. Morde an Frauen im Familienkreis, die im allgemeinen Sprachgebrauch nunmehr als „Femizide“ bezeichnet werden, sind öffentlich angeprangert worden. Die öffentlichen Behörden sind zur Einsicht gelangt, dass Frauen, die in ihrem familiären Umfeld Opfer von Gewalt geworden sind, besser geschützt werden müssen und gegen die Urheber dieser Gewalt härter vorgegangen werden muss. Soll dieser Schutz, der innerhalb eines Staates zu gewährleisten ist, auch Frauen zuteilwerden, die aus ihrem Land geflohen sind und aus Angst vor Gewalt innerhalb des Familienkreises nicht dorthin zurückkehren können oder wollen? Genauer: Kann Frauen, die mit einer solchen Situation konfrontiert sind, die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU ( 2 ) zuerkannt werden? Sofern ihnen diese Eigenschaft nicht zuerkannt wird: Inwiefern können geschlechtsspezifische Gewaltakte, die gegen eine Drittstaatsangehörige im engsten Kreis ihres Familienlebens begangen werden, die Gewährung subsidiären Schutzes im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Richtlinie rechtfertigen?

2.

In der dem Gerichtshof vorgelegten Rechtssache hegt der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien) Zweifel hinsichtlich der Möglichkeit und gegebenenfalls der Form des internationalen Schutzes, der einer türkischen Staatsangehörigen kurdischer Herkunft unter Berücksichtigung zum einen der Art der Gewaltakte, denen sie ausgesetzt zu werden droht, wenn sie in ihr Herkunftsland zurückkehrt, gewährt werden soll. Diese Akte könnten in Gewalt im Familienkreis oder gar einem Ehrenverbrechen oder aber in einer Zwangsehe bestehen. Zum anderen sind auch die Umstände zu berücksichtigen, unter denen die Gewaltakte begangen werden, d. h. durch nicht staatliche Akteure ( 3 ).

3.

Diese Frage spiegelt die Bedenken – die im Übrigen in den in der vorliegenden Rechtssache eingereichten Erklärungen zum Ausdruck kommen – derjenigen, die der Auffassung sind, dass die Flüchtlingseigenschaft nicht allen Frauen zuerkannt werden könne, die Opfer häuslicher Gewalt geworden seien, solange es sich um ein allen Staaten gemeinsames Problem handle, und derjenigen wider, die demgegenüber bedauern, dass der subsidiäre Schutz nur ein Schutz sei, der diesen Frauen „standardmäßig“ gewährt werde, was zur Nichtanerkennung der geschlechtsspezifischen Verfolgungsgründe, einschließlich der auf der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität gestützten Gründe, führe.

4.

In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache État belge (Aufenthaltsrecht im Fall von häuslicher Gewalt) ( 4 ) hat Generalanwalt Szpunar hervorgehoben, dass die rechtliche, politische und soziale Bedeutung der Anerkennung der Schwere des Problems der Gewalt im häuslichen Bereich und der jüngsten Entwicklungen der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet des Schutzes der Opfer keinesfalls unterschätzt werden dürfe ( 5 ). Fast gleichzeitig hat Generalanwalt Hogan in seinen Schlussanträgen im Gutachtenverfahren 1/19 (Übereinkommen von Istanbul) ( 6 ) jedoch festgestellt, dass das Unionsrecht „[n]ach gegenwärtigem Stand … keine allgemeine Verpflichtung vor[sieht], Gewalt gegen Frauen als eine Form der Verfolgung zu berücksichtigen, die zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus führen kann“ ( 7 ).

5.

Heute stellt sich die Frage unter einem anderen Gesichtspunkt, da sie sich in den Rahmen einer individuellen Situation einfügt.

6.

Als Erstes wird der Gerichtshof festzustellen haben, unter welchen Voraussetzungen eine Drittstaatsangehörige, die Gefahr läuft, Opfer eines Ehrenverbrechens oder einer Zwangsverheiratung zu werden sowie Akten häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein, sobald sie in ihr Herkunftsland zurückgekehrt ist, als eine Person mit der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ angesehen werden könnte und ihr deshalb die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden müsste (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95).

7.

Als Zweites wird der Gerichtshof klarzustellen haben, unter welchen Voraussetzungen die zuständige nationale Behörde in einem Fall, in dem die Gewalt von einem nicht staatlichen Akteur begangen wird, einen Kausalzusammenhang zwischen dem Verfolgungsgrund, nämlich der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, und dem Fehlen von Schutz im Herkunftsland festzustellen hat (Art. 9 Abs. 3 dieser Richtlinie).

8.

Als Drittes und Letztes wird der Gerichtshof zu prüfen haben, inwieweit der subsidiäre Schutzstatus einer solchen Person zuerkannt werden könnte. In diesem Zusammenhang wird er festzustellen haben, unter welchen Voraussetzungen die oben beschriebenen Gewaltakte als „ernsthafter Schaden“ im Sinne von Art. 15 der Richtlinie eingestuft werden können, soweit sie entweder das Leben dieser Person schwerwiegend bedrohen oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Völkerrecht

1. Genfer Flüchtlingskonvention

9.

Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 Abs. 1 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ( 8 ) bestimmt, dass der Begriff „Flüchtling“ auf jede Person Anwendung findet, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“.

2. Das CEDAW

10.

Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (im Folgenden: CEDAW) ( 9 ), dem die Union nicht als Vertragspartei angehört, bestimmt in seinem Art. 1:

„[D]er Ausdruck ‚Diskriminierung der Frau‘ [bezeichnet] jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung, die zur Folge oder zum Ziel hat, dass die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Frau – ungeachtet ihres Familienstands – im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, staatsbürgerlichen oder jedem sonstigen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird.“

11.

In Art. 5 Buchst. a dieses Übereinkommens heißt es:

„Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen,

a)

um einen Wandel in den sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Mann und Frau zu bewirken, um so zur Beseitigung von Vorurteilen sowie von herkömmlichen und allen sonstigen auf der Vorstellung von der Unterlegenheit oder Überlegenheit des einen oder anderen Geschlechts oder der stereotypen Rollenverteilung von Mann und Frau beruhenden Praktiken zu gelangen“.

12.

Das genannte Übereinkommen ist durch die Allgemeine Empfehlung Nr. 19 („Gewalt gegen Frauen“) des Ausschusses für die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ( 10 ) ergänzt worden, die in ihrem Art. 6 bestimmt:

„Der Begriff der ‚Diskriminierung der Frau‘ wird in Artikel 1 des [CEDAW] definiert. Nach dieser Definition umfasst die Diskriminierung geschlechtsbezogene gewalttätige Handlungen, d. h., dass sich die Gewalt gegen eine Frau richtet, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft. Sie umfasst Handlungen, die körperlichen, seelischen oder sexuellen Schaden oder Schmerz zufügen, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, Nötigung und sonstige Freiheitsberaubungen …“

13.

Diese Empfehlung ist 2017 durch die Allgemeine Empfehlung Nr. 35 zu geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen ( 11 ) aktualisiert worden, welche in ihren Abs. 10 und 16 vorsieht:

„10. Der Ausschuss [für die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau] geht davon aus, dass geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen eines der grundlegenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Mittel ist, mit denen die Unterordnung der Frauen unter die Männer und ihre stereotype Rollenverteilung aufrechterhalten werden …

16. Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen kann unter bestimmten Umständen Folter oder einer grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden, insbesondere wenn es sich um Vergewaltigungen, häusliche Gewalt oder andere schädliche Praktiken handelt …“

14.

Außerdem ist das CEDAW durch die Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen ( 12 ) ergänzt worden, deren Art. 2 bestimmt:

„Unter Gewalt gegen Frauen sind, ohne darauf beschränkt zu sein, die folgenden Handlungen zu verstehen:

a)

Körperliche, sexuelle und psychologische Gewalt in der Familie, einschließlich körperlicher Misshandlungen, des sexuellen Missbrauchs von Mädchen im Haushalt, Gewalttätigkeit im Zusammenhang mit der Mitgift, Vergewaltigung in der Ehe, weibliche Beschneidung und andere für Frauen schädliche traditionelle Praktiken, Gewalt außerhalb der Ehe und Gewalttätigkeit im Zusammenhang mit Ausbeutung;

b)

körperliche, sexuelle und psychologische Gewalt im Umfeld der Gemeinschaft, einschließlich Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, sexuelle Belästigung und Einschüchterung am Arbeitsplatz, in Bildungseinrichtungen und anderenorts, Frauenhandel und Zwangsprostitution;

c)

staatliche oder staatlich geduldete körperliche, sexuelle und psychologische Gewalt, gleichviel wo sie vorkommt.“

3. Übereinkommen von Istanbul

15.

Die Präambel Abs. 10 bis 12 des Übereinkommens von Istanbul bestimmt:

„in Anerkennung der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern ist, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben;

in Anerkennung der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen als geschlechtsspezifische Gewalt strukturellen Charakter hat, sowie der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen einer der entscheidenden sozialen Mechanismen ist, durch den Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern gezwungen werden;

mit großer Sorge feststellend, dass Frauen und Mädchen häufig schweren Formen von Gewalt wie häuslicher Gewalt, sexueller Belästigung, Vergewaltigung, Zwangsverheiratung, im Namen der sogenannten ‚Ehre‘ begangener Verbrechen und Genitalverstümmelung ausgesetzt sind, die eine schwere Verletzung der Menschenrechte von Frauen und Mädchen sowie ein Haupthindernis für das Erreichen der Gleichstellung von Frauen und Männern darstellen“.

16.

Gemäß seinem Art. 1, der in Kapitel I („Zweck, Begriffsbestimmungen, Gleichstellung und Nichtdiskriminierung, allgemeine Verpflichtungen“) enthalten ist, soll das Übereinkommen von Istanbul u. a. Frauen vor allen Formen von Gewalt, einschließlich der häuslichen Gewalt, schützen und eine solche Gewalt verhüten, verfolgen und beseitigen, einen Beitrag zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau leisten und einen umfassenden Rahmen sowie umfassende politische und sonstige Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung entwerfen.

17.

Nach seinem Art. 2 Abs. 1 findet das Übereinkommen von Istanbul „Anwendung auf alle Formen von Gewalt gegen Frauen, einschließlich der häuslichen Gewalt, die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft“.

18.

Art. 3 des Übereinkommens von Istanbul bestimmt:

„Im Sinne dieses Übereinkommens

a

wird der Begriff ‚Gewalt gegen Frauen‘ als eine Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung der Frau verstanden und bezeichnet alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben;

b

bezeichnet der Begriff ‚häusliche Gewalt‘ alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte;

c

bezeichnet der Begriff ‚Geschlecht‘ die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmale, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht;

d

bezeichnet der Begriff ‚geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen‘ Gewalt, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft;

f

umfasst der Begriff ‚Frauen‘ auch Mädchen unter achtzehn Jahren.“

19.

Art. 60 („Asylanträge aufgrund des Geschlechts“) des genannten Übereinkommens hat folgenden Wortlaut:

„1   Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Ziffer 2 [der Genfer Flüchtlingskonvention] und als eine Form schweren Schadens anerkannt wird, die einen ergänzenden/subsidiären Schutz begründet.

2   Die Vertragsparteien stellen sicher, dass alle im Abkommen aufgeführten Gründe geschlechtersensibel ausgelegt werden und dass in Fällen, in denen festgestellt wird, dass die Verfolgung aus einem oder mehreren dieser Gründe befürchtet wird, den Antragstellerinnen und Antragstellern der Flüchtlingsstatus entsprechend den einschlägigen anwendbaren Übereinkünften gewährt wird.

3   Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um geschlechtersensible Aufnahmeverfahren und Hilfsdienste für Asylsuchende sowie geschlechtsspezifische Leitlinien und geschlechtersensible Asylverfahren, einschließlich der Bestimmung des Flüchtlingsstatus und des Antrags auf internationalen Schutz, auszuarbeiten.“

B.   Unionsrecht

20.

Gemäß Art. 78 Abs. 1 AEUV und Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) stützt sich das Gemeinsame Europäische Asylsystem, in das sich die Richtlinie 2011/95 einfügt, auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention.

21.

Die Erwägungsgründe 17 und 30 der Richtlinie 2011/95 lauten:

„(17)

In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Richtlinie fallen, sind die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten gebunden, denen sie beigetreten sind, einschließlich insbesondere derjenigen, nach denen eine Diskriminierung verboten ist.

(30)

Es ist … notwendig, einen gemeinsamen Ansatz für den Verfolgungsgrund ‚Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe‘ zu entwickeln. Bei der Definition einer bestimmten sozialen Gruppe sind die Aspekte im Zusammenhang mit dem Geschlecht des Antragstellers, einschließlich seiner geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung, die mit bestimmten Rechtstraditionen und Bräuchen im Zusammenhang stehen können, wie z. B. Genitalverstümmelungen, Zwangssterilisationen oder erzwungene Schwangerschaftsabbrüche, angemessen zu berücksichtigen, soweit sie in Verbindung mit der begründeten Furcht des Antragstellers vor Verfolgung stehen.“

22.

Art. 2 Buchst. d und f der genannten Richtlinie sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

d)

‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will … und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

f)

‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen …, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland … tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will“.

23.

Im Rahmen von Kapitel II der Richtlinie 2011/95, das sich auf die „Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“ bezieht, bestimmt Art. 6 („Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann“):

„Die Verfolgung bzw. der ernsthafte Schaden kann ausgehen von

a)

dem Staat;

b)

Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen;

c)

nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Artikels 7 zu bieten.“

24.

Art. 7 („Akteure, die Schutz bieten können“) dieser Richtlinie hat folgenden Wortlaut:

„(1)   Der Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden kann nur geboten werden

a)

vom Staat oder

b)

von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,

sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten.

(2)   Der Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Ein solcher Schutz ist generell gewährleistet, wenn die unter Absatz 1 Buchstaben a und b genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat.

…“

25.

Kapitel III („Anerkennung als Flüchtling“) der genannten Richtlinie umfasst Art. 9, der bestimmt:

„(1)   Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung

a)

aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten[ ( 13 )] keine Abweichung zulässig ist, oder

b)

in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist.

(2)   Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

a)

Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,

f)

Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen …

(3)   Gemäß Artikel 2 Buchstabe d muss eine Verknüpfung zwischen den in Artikel 10 genannten Gründen und den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen bestehen.“

26.

Art. 10 („Verfolgungsgründe“) der Richtlinie 2011/95 hat folgenden Wortlaut:

„(1)   Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:

d)

eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn

die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und

die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Als sexuelle Orientierung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Geschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, werden zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt;

(2)   Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.“

27.

Kapitel V dieser Richtlinie, das sich auf die „Voraussetzungen für subsidiären Schutz“ bezieht, umfasst Art. 15 („Ernsthafter Schaden“), der vorsieht:

„Als ernsthafter Schaden gilt

a)

die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder

b)

Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

…“

C.   Bulgarisches Recht

28.

In Bulgarien wird die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz durch den Zakon za ubezhishteto i bezhantsite (Asyl- und Flüchtlingsgesetz) ( 14 ) in seiner im DV Nr. 103 vom 27. Dezember 2016 veröffentlichten Fassung (im Folgenden: ZUB) geregelt. Die Richtlinien 2011/95 und 2013/32/EU ( 15 ) sind durch zwei Gesetze zur Änderung und Ergänzung des ZUB, die im DV Nr. 80 vom 16. Oktober 2015 bzw. im DV Nr. 101 vom 22. Dezember 2015 veröffentlicht worden sind, in bulgarisches Recht umgesetzt worden.

29.

In Art. 6 Abs. 1 ZUB heißt es:

„Die durch das vorliegende Gesetz eingeräumten Befugnisse werden von den Beamten der Darzhavna agentsia za bezhantsite (Staatliche Agentur für Flüchtlinge, im Folgenden: DAB) ausgeübt. Diese stellen die Tatsachen und Umstände fest, die für das Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes maßgebend sind, und leisten den Ausländern, die solchen Schutz beantragen, Beistand.“

30.

Der ZUB sieht zwei Formen internationalen Schutzes vor.

31.

Art. 8 ZUB betrifft die materiellen Voraussetzungen, die ein Antragsteller erfüllen muss, um als Flüchtling anerkannt zu werden. Dieser Artikel übernimmt die Bestimmungen der Art. 6 und 9 der Richtlinie 2011/95 mit ähnlichem Wortlaut.

32.

Art. 9 ZUB wiederum betrifft die materiellen Voraussetzungen, die ein Antragsteller erfüllen muss, um einen „humanitären Status“, der dem subsidiären Schutz entspricht, zu erhalten, wobei diese Voraussetzungen dem „ernsthaften Schaden“, wie er in Art. 15 der Richtlinie 2011/95 definiert ist, entsprechen.

III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen

33.

WS, die Klägerin des Ausgangsverfahrens, ist eine türkische Staatsangehörige, kurdischer Herkunft, muslimischer (sunnitischer) Religionszugehörigkeit und geschieden. Im Juni 2018 verließ sie die Türkei, um sich nach Bulgarien und später nach Deutschland zu begeben, wo sie einen ersten Antrag auf internationalen Schutz stellte. Mit Entscheidung der DAB vom 28. Februar 2019 erklärte sich Bulgarien bereit, sie für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz aufzunehmen.

34.

Im Rahmen von drei im Oktober 2019 durchgeführten Anhörungen erklärte WS, dass sie in der Türkei Probleme mit ihrem geschiedenen Ehemann BS gehabt habe, mit dem sie im Laufe des Jahres 2010 zwangsverheiratet worden sei und mit dem sie drei Töchter bekommen habe. Nach zahlreichen Fällen von Gewalt und Drohungen sowohl seitens ihres Ehemanns als auch seitens ihrer leiblichen und ihrer Schwiegerfamilie sei sie regelmäßig in „Zentren zur Verhütung und Überwachung von Gewalt“ untergebracht worden und im September 2016 von zu Hause geflohen. WS habe insoweit u. a. eine bei der Generalstaatsanwaltschaft von Torbalı (Türkei) eingelegte Beschwerde vorgelegt, in der von diesen Gewalttätigkeiten berichtet werde. WS habe während des Jahres 2017 mit einem anderen Mann eine religiöse Ehe geschlossen, aus der im Mai 2018 ein Sohn hervorgegangen sei. Die Scheidung zwischen WS und BS sei mit Entscheidung des Zivilgerichts Nr. 1 Diyarbakır (Türkei) vom 20. September 2018 ausgesprochen worden, als sie die Türkei bereits verlassen hatte. WS habe außerdem hervorgehoben, dass sie von ihrer leiblichen Familie keinerlei Unterstützung erhalten habe und Kontakte vom Familienvater verboten worden seien, weil sie die eheliche Wohnung verlassen habe. WS gab darüber hinaus an, um ihr Leben zu fürchten, falls sie in die Türkei zurückkehren müsse.

35.

Mit Entscheidung vom 21. Mai 2020 lehnte die DAB den von WS sowohl auf der Grundlage von Art. 8 ZUB (Flüchtlingsstatus) als auch von Art. 9 dieses Gesetzes (humanitärer Status/subsidiärer Schutz) eingereichten Antrag auf internationalen Schutz ab.

36.

Die DAB vertrat die Auffassung, die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Flüchtling seien nicht erfüllt, weil die Gewalttätigkeiten, deren Opfer sie seitens ihres Ehemanns und der Mitglieder seiner Familie gewesen sein soll, und die ihr gegenüber ausgesprochenen Todesdrohungen mit keinem der in Art. 8 Abs. 1 ZUB genannten Verfolgungsgründe, nämlich Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, in Verbindung gebracht werden könnten. WS habe auch nicht angegeben, wegen ihres Geschlechts verfolgt zu werden.

37.

Außerdem vertrat die DAB die Ansicht, auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des humanitären Status (subsidiärer Schutz) seien nicht erfüllt, weil weder offizielle Stellen noch bestimmte Gruppen Maßnahmen gegen WS ergriffen hätten. Schließlich hob die DAB hervor, dass WS, die die Polizeibehörden nicht über die ihr gegenüber begangenen kriminellen Gewalttaten informiert habe, auch keine Anzeige erstattet und die Türkei rechtmäßig verlassen habe.

38.

WS legte einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung ein, der mit Entscheidung vom 15. Oktober 2020 zurückgewiesen wurde. Die letztgenannte Entscheidung soll mit Entscheidung des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) vom 9. März 2021 rechtskräftig geworden sein.

39.

Am 13. April 2021 stellte WS erneut einen Antrag auf internationalen Schutz und legte neun schriftliche Nachweise betreffend ihre persönliche Lage und ihren Herkunftsstaat vor. Zum einen erfülle sie die in Art. 8 ZUB genannten Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – nämlich der Gruppe der Frauen, die häusliche Gewalt erlebt hätten, und der Frauen, die potenzielle Opfer von Ehrenverbrechen durch nicht staatliche Akteure seien, vor denen der türkische Staat sie nicht schützen könne – verfolgt werde. Sie wies ferner darauf hin, dass sie sich ihrer Abschiebung in die Türkei widersetze, da sie befürchte, von ihrem geschiedenen Mann getötet oder Opfer eines Ehrenverbrechens und erneut zu einer Eheschließung gezwungen zu werden. Ihre Situation habe sich inzwischen verschlimmert, weil sie ein Kind von einem Mann bekommen habe, mit dem sie nicht verheiratet sei. Als neuen Umstand benannte WS darüber hinaus den Austritt der Republik Türkei aus dem Übereinkommen von Istanbul und legte in diesem Zusammenhang u. a. zwei Berichte von März 2021 vor, von denen der eine, der sich auf Praktiken im Bereich der Menschenrechte in der Türkei bezieht, vom U.S. Department of State (Außenministerium der Vereinigten Staaten) und der andere von der türkischen Plattform „We will stop femicide“ erstellt worden war.

40.

Zum anderen trug WS vor, sie erfülle die in Art. 9 ZUB vorgesehenen Voraussetzungen für die Gewährung des humanitären Status (subsidiärer Schutz), da sie bei einer Abschiebung in die Türkei Verletzungen ihrer in den Art. 2 und 3 EMRK anerkannten Grundrechte ausgesetzt wäre.

41.

Mit Entscheidung vom 5. Mai 2021 lehnte die DAB es ab, ein neues Verfahren zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zu eröffnen, weil WS keine neuen Gesichtspunkte zu ihrer persönlichen Lage oder ihrem Herkunftsstaat vorgelegt habe, und wies ferner darauf hin, dass die türkischen Behörden ihr mehrfach geholfen und signalisiert hätten, ihr auch weiterhin mit allen gesetzlichen Mitteln beistehen zu wollen.

42.

Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Kommen gemäß dem 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 die Definitionen und Begriffsbestimmungen des CEDAW und des Übereinkommens von Istanbul für die Zwecke der Einstufung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen als Grund für die Gewährung internationalen Schutzes nach der Genfer Flüchtlingskonvention und nach der Richtlinie 2011/95 zur Anwendung, oder hat die geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen als Grund für die Gewährung internationalen Schutzes nach der Richtlinie 2011/95 eine autonome Bedeutung, die sich von jener in den genannten völkerrechtlichen Instrumenten unterscheidet?

2.

Kommt es im Fall, dass die Ausübung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen geltend gemacht wird, für die Feststellung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe als Verfolgungsgrund nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 ausschließlich auf das biologische oder soziale Geschlecht des Verfolgungsopfers (Gewalt gegen eine Frau, nur weil sie eine Frau ist) an, können die konkreten Formen/Akte/Handlungen der Verfolgung wie in der nicht abschließenden Aufzählung im 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 entscheidend sein für die „Sichtbarkeit der Gruppe in der Gesellschaft“, d. h. ihr Unterscheidungsmerkmal, je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland, oder können sich diese Akte nur auf die Verfolgungshandlungen nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. a und f der Richtlinie 2011/95 beziehen?

3.

Stellt das biologische oder soziale Geschlecht im Fall, dass die Person, die Schutz beantragt, geschlechtsspezifische Gewalt in Form von häuslicher Gewalt geltend macht, einen ausreichenden Grund für die Feststellung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dar, oder ist ein zusätzliches Unterscheidungsmerkmal festzustellen, wenn Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 buchstabengetreu, dem Wortlaut nach ausgelegt wird, wonach die Voraussetzungen kumulativ und die Aspekte des Geschlechts alternativ vorliegen müssen?

4.

Ist Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 im Fall, dass die antragstellende Person die Ausübung geschlechtsspezifischer Gewalt in Form von häuslicher Gewalt durch einen nicht staatlichen Akteur, von dem die Verfolgung ausgeht, im Sinne von Art. 6 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 geltend macht, dahin auszulegen, dass es für den Kausalzusammenhang hinreicht, wenn ein Zusammenhang zwischen den in Art. 10 dieser Richtlinie angeführten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der genannten Richtlinie festgestellt wird, oder ist zwingend fehlender Schutz vor der geltend gemachten Verfolgung festzustellen bzw. besteht der Zusammenhang in jenen Fällen, in denen die nicht staatlichen Akteure, von denen die Verfolgung ausgeht, die einzelnen Verfolgungs‑/Gewaltakte als solche nicht als geschlechtsspezifisch wahrnehmen?

5.

Kann die tatsächliche Androhung eines Ehrenverbrechens für den Fall einer etwaigen Rückkehr in das Herkunftsland bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen hierfür die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 2 EMRK (niemand darf absichtlich getötet werden) begründen, oder ist diese als „Schaden“ nach Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 3 EMRK einzustufen, wie dies in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unter Gesamtbeurteilung der Gefahr von weiteren geschlechtsspezifischen Gewaltakten ausgelegt wird bzw. reicht es für die Gewährung dieses Schutzes aus, dass die antragstellende Person subjektiv den Schutz des Herkunftslands nicht in Anspruch nehmen will?

43.

WS, die deutsche und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission und der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV. Würdigung

44.

Mit seinem Vorabentscheidungsersuchen möchte das vorlegende Gericht ermitteln, inwieweit eine Drittstaatsangehörige, die Gefahr zu laufen behauptet, bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Opfer eines Ehrenverbrechens oder einer Zwangsverheiratung zu werden und Akten häuslicher Gewalt innerhalb ihres Haushalts ausgesetzt zu sein, internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 in Anspruch nehmen kann.

45.

Im Einklang mit dem in Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 festgelegten Prüfungsverfahren beziehen sich die ersten vier Vorlagefragen auf die Voraussetzungen, unter denen eine solche Person als Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 anerkannt werden könnte ( 16 ). Auch wenn das vorlegende Gericht keine Zweifel daran hat, dass die Akte, denen WS ausgesetzt zu werden fürchtet ( 17 ), als „Verfolgungshandlungen“ eingestuft werden können, hinterfragt es jedoch die zahlreichen Unsicherheiten hinsichtlich der Art und Weise, in der das Geschlecht dieser Person berücksichtigt werden soll, um die Verfolgungsgründe (Art. 10 der Richtlinie 2011/95) einerseits und den Kausalzusammenhang zwischen diesen Gründen und dem Fehlen von Schutz im Herkunftsland (Art. 9 Abs. 3 dieser Richtlinie) andererseits feststellen zu können.

46.

Die fünfte Vorlagefrage betrifft die Voraussetzungen, unter denen WS subsidiärer Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 für den Fall gewährt werden könnte, dass sie nicht als Flüchtling anzusehen wäre. Das vorlegende Gericht befragt den Gerichtshof insbesondere dazu, ob die Akte, die die Betroffene zu erleiden droht, wenn sie in ihr Herkunftsland rückgeführt wird, als „ernsthafter Schaden“ im Sinne von Art. 15 dieser Richtlinie eingestuft werden können.

A.   Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95

1. Erste Vorlagefrage: Sinn und Zweck des Begriffs „geschlechtsspezifische Gewalt“

47.

Mit seiner ersten Vorlagefrage befragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof unter Bezugnahme auf den 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 dazu, ob der Begriff „geschlechtsspezifische Gewalt“, falls er einen Grund für die Anerkennung als Flüchtling darstellen sollte, im Unionsrecht eine autonome Bedeutung hat oder ob er im Licht der Genfer Flüchtlingskonvention, des CEDAW und des Übereinkommens von Istanbul definiert werden muss.

48.

Diese Frage hat ihren Ursprung in der Tatsache, dass Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 – wie Art. 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention – lediglich auf die „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ Bezug nimmt und in der Definition des Begriffs „Flüchtling“ weder auf das „Geschlecht“ der Person verweist, die internationalen Schutz beantragt, noch vorsieht, dass geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen ohne Weiteres einen Grund für internationalen Schutz darstellen kann. Das Übereinkommen von Istanbul und das CEDAW, die unter der Schirmherrschaft des Europarats bzw. der Vereinten Nationen verabschiedet worden sind, gehen hingegen ausdrücklich darauf ein.

49.

Das Übereinkommen von Istanbul will nach seinem Art. 1 Frauen durch Stärkung der Gewaltprävention und Unterstützung der Opfer vor allen Formen von Gewalt, einschließlich der häuslichen Gewalt, schützen und die Urheber der Gewalt durch den Erlass umfassender und koordinierter politischer Maßnahmen verfolgen und sanktionieren.

50.

Der Begriff „Geschlecht“ wird in Art. 3 Buchst. c des Übereinkommens von Istanbul definiert als „die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmale, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht“. Der Begriff „Gewalt gegen Frauen“ wiederum wird in Art. 3 Buchst. a dieses Übereinkommens definiert als „alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben“. Der Begriff „geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen“ schließlich wird in Art. 3 Buchst. d des Übereinkommens so definiert, dass er „Gewalt [bezeichnet], die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft“ ( 18 ).

51.

Art. 60 Abs. 1 des Übereinkommens von Istanbul verlangt daher von den Vertragsstaaten, dass sie die erforderlichen Maßnahmen erlassen, um sicherzustellen, dass Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention und als eine Form schweren Schadens anerkannt wird, die einen subsidiären Schutz begründet. Im Erläuternden Bericht zum Übereinkommen von Istanbul heißt es, dass dieser Artikel so erarbeitet wurde, dass er mit der Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 3 EMRK in der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vereinbar ist ( 19 ).

52.

Zweck des CEDAW und insbesondere der Allgemeinen Empfehlungen Nrn. 19 und 35 des Ausschusses für die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ist es wiederum, jede Form von Diskriminierung der Frau wirksamer zu bekämpfen, indem von den Vertragsstaaten verlangt wird, dass sie den Frauen die uneingeschränkte Ausübung und den uneingeschränkten Genuss der ihnen in allen Bereichen zuerkannten Rechte garantieren. Diese Allgemeinen Empfehlungen ergänzen das CEDAW durch die Aufnahme eines geschlechtsspezifischen Ansatzes, bei dem geschlechtsspezifische Gewalt definiert wird, und schreiben den Vertragsstaaten den Erlass allgemeiner Maßnahmen vor, die sich an den im Rahmen des Übereinkommens von Istanbul erlassenen Maßnahmen orientieren.

53.

Nach den vorstehenden Hinweisen ist nunmehr zu prüfen, inwieweit die Voraussetzungen, die in diesen beiden Übereinkommen aufgestellt werden, bei der Umsetzung der Richtlinie 2011/95 zu berücksichtigen sind.

54.

Als Erstes weise ich darauf hin, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem, in das sich die Richtlinie 2011/95 einfügt, gemäß Art. 78 Abs. 1 AEUV mit der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie „den … einschlägigen Verträgen“ im Einklang stehen muss ( 20 ).

55.

So besteht das Hauptziel der Richtlinie 2011/95, wie es in ihrem Art. 1 und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs angeführt wird, darin, ein normatives System zu schaffen, das den Mitgliedstaaten gemeinsame und daher unionseigene Begriffe und Kriterien für die Ermittlung von Personen enthält, die internationalen Schutz benötigen, gleichzeitig aber zu gewährleisten, dass Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt gewahrt wird ( 21 ). Im Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) ( 22 ), hat der Gerichtshof es daher abgelehnt, den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/95 über den der Genfer Flüchtlingskonvention hinaus auszudehnen, um die eindeutige Intention des Unionsgesetzgebers zu respektieren, innerhalb der Union die Umsetzung des Flüchtlingsstatus im Sinne dieser Konvention zu harmonisieren ( 23 ).

56.

Wie ich bereits ausgeführt habe, verweist Art. 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention in der Definition des Begriffs „Flüchtling“ weder auf das „Geschlecht“ noch sieht er vor, dass „geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen“ ohne Weiteres einen Grund für die Gewährung internationalen Schutzes darstellen kann. In seinen Richtlinien zur geschlechtsspezifischen Verfolgung hat der UNHCR die Auffassung vertreten, dass es nicht erforderlich sei, in die Flüchtlingsdefinition im Sinne von Art. 1 dieser Konvention einen zusätzlichen Grund einzuführen, da von den Vertragsstaaten anerkannt werde, dass das Geschlecht die Art der Verfolgung oder des zugefügten Leids und die Gründe für diese Behandlung beeinflussen oder bestimmen könne ( 24 ). Im Rahmen der Richtlinie 2011/95 wird das Geschlecht des Antragstellers somit bei der Beurteilung der Art der Verfolgungshandlungen, denen der Antragsteller in seinem Herkunftsland ausgesetzt ist oder ausgesetzt zu werden droht (Art. 9 Abs. 2 Buchst. f dieser Richtlinie) ( 25 ), und bei der Prüfung der Verfolgungsgründe, insbesondere im Rahmen der Anerkennung der Zugehörigkeit des Antragstellers zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 2 a. E. der erwähnten Richtlinie), berücksichtigt.

57.

Zwar definiert die Richtlinie 2011/95 den Begriff „Geschlecht“ nicht. Es kann jedoch auf die vom UNHCR herausgegebenen Dokumente Bezug genommen werden, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs angesichts der Rolle, die dem Amt des UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, besonders relevant sind ( 26 ). So weist der UNHCR in seinen Richtlinien zur geschlechtsspezifischen Verfolgung darauf hin, dass „[d]er Begriff ‚Geschlecht‘ in seiner sozialen Bedeutung … die Beziehungen zwischen Frauen und Männern auf der Grundlage gesellschaftlich oder kulturell üblicher oder definierter Identitäten, Rechtsstellungen, Rollen und Aufgaben [bezeichnet], die dem einen oder anderen Geschlecht zugewiesen sind, während ‚Geschlecht‘ im biologischen Sinn unterschiedliche biologische Merkmale bezeichnet. ‚Gender‘ ist weder statisch noch von Natur aus gegeben, sondern erhält im Laufe der Zeit sozial oder kulturell entstandene Inhalte“ ( 27 ).

58.

Außerdem kann es, auch wenn Art. 9 Abs. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 nicht die Tragweite der „Handlungen [präzisiert], die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen“, interessant sein, hierfür auf ein anderes Instrument des abgeleiteten Rechts Bezug zu nehmen, nämlich die Richtlinie 2012/29/EU ( 28 ). Der 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie definiert den Begriff „geschlechtsspezifische Gewalt“ nämlich als „Gewalt, die sich gegen eine Person aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Geschlechtsidentität oder ihres Ausdrucks der Geschlechtlichkeit richtet, oder die Personen eines bestimmten Geschlechts überproportional stark betrifft … Sie kann zu physischen, sexuellen, seelischen oder psychischen Schäden oder zu wirtschaftlichen Verlusten des Opfers führen. Geschlechtsbezogene Gewalt gilt als eine Form der Diskriminierung und als eine Verletzung der Grundrechte des Opfers und schließt Gewalt in engen Beziehungen, sexuelle Gewalt (einschließlich Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe und sexuelle Belästigung), Menschenhandel, Sklaverei und andere schädliche Praktiken wie Zwangsehen, Verstümmelung weiblicher Geschlechtsorgane und sogenannte ‚Ehrenverbrechen‘ ein. Weibliche Opfer geschlechtsbezogener Gewalt und ihre Kinder brauchen oft besondere Unterstützung und besonderen Schutz wegen des bei dieser Art der Gewalt bestehenden hohen Risikos von sekundärer und wiederholter Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung.“

59.

Was als Zweites den im Übereinkommen von Istanbul und im CEDAW verwendeten Wortlaut angeht, so hat die Union das CEDAW unstreitig nicht ratifiziert und hat zwar am 13. Juni 2017 das Übereinkommen von Istanbul unterzeichnet, ist diesem aber noch nicht beigetreten ( 29 ). Das Übereinkommen von Istanbul ist im Übrigen nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden ( 30 ). In Erwartung eines solchen Beitritts bzw. einer solchen Ratifizierung stellt das Übereinkommen von Istanbul vor allem ein multidisziplinäres Übereinkommen dar, mit dem ganzheitlich und auf der Grundlage eines integrierten Ansatzes unter Beteiligung aller Akteure der Gesellschaft die Verhütung von Gewalt gegen Frauen ( 31 ), der Schutz und die Unterstützung der Opfer sowie die Verfolgung der Gewalttäter sichergestellt werden sollen.

60.

Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass beim derzeitigen Stand weder das Übereinkommen von Istanbul noch das CEDAW zu den „einschlägigen Verträgen“ gehören, anhand deren die Richtlinie 2011/95 im Sinne von Art. 78 Abs. 1 AEUV ausgelegt werden muss.

61.

Was als Drittes und Letztes den 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 betrifft, auf den sich das vorlegende Gericht stützt, so scheint mir dieser Erwägungsrund für die Auslegung von Sinn und Zweck des Begriffs „geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen“ im Unionsrecht nicht relevant zu sein.

62.

Der besagte Erwägungsgrund lautet: „In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Richtlinie fallen, sind die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten gebunden, denen sie beigetreten sind, einschließlich insbesondere derjenigen, nach denen eine Diskriminierung verboten ist.“ Mit der Bezugnahme auf die „Behandlung von Personen, die unter [die Richtlinie 2011/95] fallen“, hat der Unionsgesetzgeber aber nicht die Modalitäten für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz, d. h. die Kriterien für die Gewährung eines solchen Schutzes, gemeint, sondern vielmehr die Rechte und Vorteile, in deren Genuss Personen, die internationalen Schutz beantragen oder in Anspruch nehmen, im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats kommen, in dem sie diesen Schutz beantragt und gegebenenfalls erhalten haben. Der 17. Erwägungsgrund der Richtlinie findet nämlich in deren Kapitel VII seinen Ausdruck, das sich auf den „Inhalt des internationalen Schutzes“ bezieht. Zur Veranschaulichung: Der Unionsgesetzgeber hat das Erfordernis vorgesehen, wonach die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und eigene Staatsangehörige beim Zugang zu Verfahren für die Anerkennung von Befähigungsnachweisen (Art. 28 Abs. 1) oder aber beim Zugang zu medizinischer Versorgung (Art. 30) gleich behandelt werden. In diesem Zusammenhang sind die Mitgliedstaaten gehalten, den Verpflichtungen aus internationalen Instrumenten, deren Vertragspartei sie sind, wie beispielsweise aus dem CEDAW und dem Übereinkommen von Istanbul, nachzukommen.

63.

Nach alledem ist Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an eine Person, die befürchtet, bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Opfer geschlechtsspezifischer Gewaltakte zu werden, anhand der in dieser Richtlinie hierfür vorgesehenen Bestimmungen geprüft werden müssen, welche gemäß Art. 78 Abs. 1 AEUV wiederum unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Richtlinie und nicht unter Verweis auf die Definitionen und Begriffsbestimmungen des CEDAW und des Übereinkommens von Istanbul, bei denen es sich nicht um „einschlägige Verträge“ im Sinne dieses Artikels handelt, auszulegen sind.

64.

Nach dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 sind bei dieser Auslegung jedoch zudem die in der Charta anerkannten Rechte zu achten ( 32 ).

2. Zweite und dritte Vorlagefrage: Prüfung der Zugehörigkeit der Drittstaatsangehörigen zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95)

65.

Mit seiner zweiten und seiner dritten Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klarstellung, unter welchen Umständen eine Drittstaatsangehörige, die behauptet, Gefahr zu laufen, Opfer eines Ehrenverbrechens oder einer Zwangsverheiratung zu werden und Akten häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein, wenn sie in ihr Herkunftsland rückgeführt wird, als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 angesehen werden kann.

66.

Als Erstes fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob allein das biologische Geschlecht der Antragstellerin ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie begründen kann.

67.

Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der genannten Richtlinie sieht vor, dass zwei Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um die Zugehörigkeit eines Antragstellers zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ feststellen zu können. Diese beiden Voraussetzungen sind kumulativ ( 33 ).

68.

Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 2 der Richtlinie 2011/95 stellt insoweit klar, dass je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland geschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt werden müssen ( 34 ).

69.

Zum anderen muss die Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

70.

Außerdem ergibt sich aus Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, dass es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich ist, ob der Antragsteller tatsächlich die sozialen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden ( 35 ).

71.

Was die erste dieser Voraussetzungen angeht, so lässt sich das soziale Geschlecht der Antragstellerin unstreitig mit einem angeborenen Merkmal – nämlich ihrem biologischen Geschlecht –, das im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 „nicht verändert werden kann“, in Verbindung bringen. Ich weise insoweit darauf hin, dass im ursprünglichen Vorschlag der Kommission zur Richtlinie 2004/83 ausdrücklich auf ein „wesentliches Merkmal“ der Gruppe „wie die sexuelle Ausrichtung, das Alter oder das Geschlecht“ verwiesen worden ist ( 36 ) und der Gerichtshof im Urteil vom 7. November 2013, X u. a. ( 37 ), außerdem entschieden hat, dass „fest[steht], dass die sexuelle Ausrichtung einer Person ein Merkmal darstellt, das so bedeutsam für ihre Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“ ( 38 ).

72.

Nach der zweiten Voraussetzung muss die soziale Gruppe, deren Mitglieder das gleiche Geschlecht teilen, im Herkunftsland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Nach Auffassung des UNHCR muss die Gruppe erkennbar sein ( 39 ). Diese Wahrnehmung variiert nicht nur von Land zu Land bzw. nach Maßgabe der ethnischen oder religiösen Gemeinschaften oder aber des politischen Kontexts, sondern auch nach Maßgabe des Verhaltens der betreffenden Person ( 40 ). Das Geschlecht ist ein soziologisches Konzept, das so verwendet wird, dass die Werte und Vorstellungen, die ihm zugeschrieben werden, über das biologische Geschlecht hinaus Berücksichtigung finden. Daher ist das Geschlecht ein Begriff, mit dem deutlich gemacht werden können muss, dass die Beziehungen zwischen Frauen und Männern in einer bestimmten Gesellschaft und die Ungleichheiten, die sich aufgrund der auf der Basis biologischer Unterschiede zugeschriebenen Geschlechterrollen möglicherweise daraus ergeben, erworben und gesellschaftlich vorgegeben sind und sich somit im Laufe der Zeit sowie gesellschafts- und gemeinschaftsabhängig unterschiedlich entwickeln können ( 41 ). In diesem Zusammenhang glaube ich, dass Frauen nur deshalb, weil sie Frauen sind, ein Beispiel für ein soziales Gebilde darstellen, das angeborene und unveränderliche Merkmale aufweist, die je nach ihrem Herkunftsland von der Gesellschaft unterschiedlich wahrgenommen werden können, und zwar aufgrund der sozialen, rechtlichen oder religiösen Normen dieses Landes bzw. aufgrund der Bräuche der Gemeinschaft, der sie angehören ( 42 ). Die Tatsache, dass diese soziale Gruppe aus Frauen in einer bestimmten Gesellschaft (und nicht aus „den Frauen“ im Allgemeinen) besteht ( 43 ), scheint mir an sich kein Hindernis dafür darzustellen, dass allein aufgrund der Dimension der Gruppe deren eigene Identität anerkannt wird. Der Begriff der „eigenen Identität“ einer Gruppe kann nämlich, soweit er von der sie umgebenden Gesellschaft anders wahrgenommen wird, nicht so ausgelegt werden, dass er die Vornahme einer quantitativen Beurteilung voraussetzt ( 44 ).

73.

Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass eine zuständige nationale Behörde nach der Würdigung der Tatsachen und Umstände, die sie gemäß Art. 4 Abs. 3 Buchst. a bis c der Richtlinie 2011/95 vorzunehmen hat, davon ausgehen kann, dass die Antragstellerin aufgrund ihres Geschlechts einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie angehört.

74.

Als Zweites fordert das vorlegende Gericht den Gerichtshof auf, klarzustellen, ob Verfolgungshandlungen wie die im 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 genannten, denen die Antragstellerin in ihrem Herkunftsland ausgesetzt sein kann, bei der Bestimmung der eigenen Identität einer Gruppe in diesem Land berücksichtigt werden können oder ob nur die in Art. 9 Abs. 2 Buchst. a und f der Richtlinie 2011/95 aufgeführten Handlungen berücksichtigungsfähig sind.

75.

Im 30. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es: „Bei der Definition einer bestimmten sozialen Gruppe sind die Aspekte im Zusammenhang mit dem Geschlecht des Antragstellers, einschließlich seiner geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung, die mit bestimmten Rechtstraditionen und Bräuchen im Zusammenhang stehen können, wie z. B. Genitalverstümmelungen, Zwangssterilisationen oder erzwungene Schwangerschaftsabbrüche, angemessen zu berücksichtigen, soweit sie in Verbindung mit der begründeten Furcht des Antragstellers vor Verfolgung stehen.“

76.

Mit dem 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 werden Klarstellungen geliefert, die es ermöglichen, den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ besser zu definieren. In ihm werden verschiedene Verfolgungshandlungen aufgezählt, die für die Zwecke der Definition einer solchen Gruppe festgestellt werden können. Die „eigene Identität“ einer sozialen Gruppe lässt sich nämlich durch die Art der Verfolgungshandlungen, die auf bestimmte Opfer verweisen, charakterisieren. Die in diesem 30. Erwägungsgrund erwähnten Handlungen stellen nicht nur Verfolgungshandlungen dar und ergänzen damit die nicht erschöpfende Liste in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, sondern ermöglichen auch die Identifizierung einer „bestimmten sozialen Gruppe“. So ergibt sich aus dem besagten Erwägungsgrund eindeutig, dass die Art der Handlungen, denen eine Frau in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt zu sein fürchtet, ein maßgeblicher Faktor für die Bestimmung ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und insbesondere der „eigenen Identität“ dieser Gruppe im Herkunftsland sein kann. Auch wenn Verfolgungshandlungen gegen eine Gruppe, wie ich bereits erwähnt habe ( 45 ), ein maßgeblicher Faktor bei der Bestimmung der Erkennbarkeit dieser Gruppe in einer bestimmten Gesellschaft sein können ( 46 ), bedeutet das noch lange nicht, dass alle Personen, die befürchten, Verfolgungshandlungen in ihrem Herkunftsland ausgesetzt zu sein, als einer bestimmten sozialen Gruppe zugehörig angesehen werden könnten. Deshalb hat der Unionsgesetzgeber in diesem Erwägungsgrund meines Erachtens mehrere Grenzen gesetzt. Zunächst bezieht er sich auf Handlungen, die insofern besonders repräsentativ für geschlechtsspezifische Gewaltakte sind, als sie sich gegen eine Person richten, weil diese Person ein bestimmtes Geschlecht oder eine bestimmte Identität hat, oder insbesondere Personen eines Geschlechts unverhältnismäßig stark betreffen. Sodann hebt er auf Handlungen ab, die eine schwerwiegende Verletzung der Grundrechte dieser Person darstellen. Schließlich bezieht er sich auf Handlungen, die zu den allgemeinen Gepflogenheiten gehören und gesetzlich oder gewohnheitsrechtlich anerkannt sind. Daraus folgt, dass ein Kind oder eine Jugendliche nach dem 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 als einer in der Gesellschaft erkennbaren oder identifizierbaren Gruppe zugehörig angesehen werden könnte, soweit es bzw. sie bei einer Rückkehr in sein bzw. ihr Herkunftsland einer Tradition oder einem Brauch wie etwa der Beschneidung ausgesetzt wäre ( 47 ).

77.

Darüber hinaus hat der Unionsgesetzgeber durch die Verwendung des Ausdrucks „z. B.“ zu erkennen gegeben, die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Gewaltakte nicht auf Genitalverstümmelungen, Zwangssterilisationen oder erzwungene Schwangerschaftsabbrüche beschränken zu wollen. Demnach hindert nach meinem Dafürhalten nichts eine zuständige nationale Behörde daran, ein Kind, eine Jugendliche oder eine Frau als einer bestimmten sozialen Gruppe zugehörig anzusehen, weil es bzw. sie bei einer Rückkehr in sein bzw. ihr Herkunftsland der Gefahr ausgesetzt wäre, zwangsverheiratet zu werden, wobei diese Handlung mit emotionalem und körperlichem Missbrauch einherginge, der „zu abscheulichen Verstößen gegen die Grundrechte insbesondere von Frauen“ führt, um die von Generalanwalt Mengozzi verwendete Formulierung wiederzugeben ( 48 ). Dies gilt umso mehr, als es insbesondere in Zwangsehen zu Vergewaltigungen und anderen Formen sexueller Gewalt kommt.

78.

Bei Akten häuslicher Gewalt werde ich die gleiche Schlussfolgerung ziehen, da häusliche Gewalt in äußerst schwerwiegenden Handlungen und anhaltender Gewaltanwendung zum Ausdruck kommen kann, die möglicherweise zu einer schwerwiegenden Verletzung der Grundrechte der betroffenen Person führt ( 49 ). Ich vermag daher nicht zu erkennen, weshalb eine zuständige nationale Behörde daran gehindert sein sollte, nach einer Würdigung der Tatsachen und Umstände des konkreten Falls die Auffassung zu vertreten, dass eine Frau, die gezwungen ist, in ihr Herkunftsland zurückzukehren, einer Gruppe mit in diesem Land eigener Identität angehört, weil sie in dem Land wegen ihrer Rückkehr schwerwiegenden ehelichen Gewaltakten (körperlichen Misshandlungen, Vergewaltigung und sonstigem sexuellen Missbrauch usw.) ausgesetzt wäre, die in bestimmten Gemeinschaften tradiert sind. Im Rahmen dieser individuellen Prüfung muss die Antragstellerin selbstverständlich sämtliche u. a. familiären, geografischen und soziologischen Angaben zu den Gefahren machen, die ihr persönlich drohen. Die zuständige nationale Behörde hat nicht nur ihre Persönlichkeit, ihr Alter, ihr Bildungsniveau, ihre Herkunft, ihre Geschichte und ihren sozialen Status, sondern auch allgemeine Informationen über das Herkunftsland, insbesondere in diesem Land, der Region, der Gruppe oder der Ethnie geltende soziale oder gewohnheitsrechtliche Normen sowie den Stand der in Kraft befindlichen Rechtsvorschriften und deren Umsetzung zu berücksichtigen.

79.

Ich glaube schließlich, dass der Wortlaut des 30. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2011/95 es auch ermöglicht, besondere Risiken zu berücksichtigen, denen Frauen ausgesetzt sind, die sich nicht an die sozialen Normen ihres Herkunftslands halten oder versuchen, sich ihnen zu widersetzen. Obwohl es keine erschöpfende Liste der verschiedenen sozialen Gruppen gibt, die die zuständigen nationalen Behörden auf dieser Grundlage haben ermitteln können, lassen sich bei einer Studie der nationalen Rechtsprechung und der von der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) ( 50 ) veröffentlichten Informationsberichte über die Herkunftsländer einige von ihnen identifizieren. So werden in Ländern und Gesellschaften, in denen die Beschneidung der Frau die soziale Norm ist, Kinder und Jugendliche, die sich einer solchen Praxis entziehen, als identifizierbar und einer Gruppe mit eigener Identität zugehörig betrachtet ( 51 ), da sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Demütigungen sowie Ausschluss- und Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt sind ( 52 ). Gleichermaßen sind Frauen, die Zwangsehen ablehnen, in einer Bevölkerung, in der eine solche Praxis so gängig ist, dass sie eine soziale Norm darstellt ( 53 ), als Teil einer Gruppe mit eigener Identität im Sinne der Richtlinie 2011/95 angesehen worden ( 54 ), da sie der Missbilligung durch ihre Gemeinschaft und Gewaltakten ausgesetzt sind, die ihre körperliche Unversehrtheit bedrohen könnten ( 55 ).

80.

Der UNHCR vertritt in ähnlicher Weise die Ansicht, dass afghanische Frauen, die aus dem europäischen Exil zurückkehrten und dort möglicherweise westliche Normen und Werte angenommen hätten, die im Widerspruch zu den Rollen stünden, die ihnen durch die Gesellschaft, die Tradition oder gar das Rechtssystem ihres Herkunftslands zugeschrieben würden, als einer bestimmten sozialen Gruppe zugehörig angesehen werden könnten ( 56 ). So geht aus dem Informationsbericht der EUAA über Afghanistan (2023) eindeutig hervor, dass eine (junge) afghanische Frau, die nach einer westlichen Lebensart gelebt hat, aufgrund ihres Verhaltens, ihrer emotionalen Beziehungen, ihres Erscheinungsbilds, ihrer Tätigkeiten, ihrer Meinungen, ihres Berufs und/oder ihres Aufenthalts im Ausland eines Verstoßes gegen die festgelegten sozialen und religiösen Normen bezichtigt werden sowie häuslicher Gewalt, körperlichen Züchtigungen und anderen Formen der Bestrafung, die für Frauen, die beschuldigt würden, Schande über ihre Familie, ihre Gemeinschaft oder ihren Stamm zu bringen, von der Isolierung und Stigmatisierung bis hin zu Ehrenverbrechen reichten, ausgesetzt sein könnte ( 57 ).

81.

Derzeit ist der Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens in der Rechtssache Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Personen, die sich mit den Werten der Union identifizieren) (C‑646/21), die sich auf die Situation junger irakischer Frauen bezieht, mit dieser sehr präzisen Frage befasst, nachdem in der Rechtssache Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (C‑456/21), das sich wiederum auf junge afghanische Frauen bezieht, ein im Wesentlichen ähnliches Ersuchen zurückgenommen worden ist ( 58 ).

82.

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 meiner Ansicht nach dahin auszulegen, dass eine Drittstaatsangehörige aufgrund ihres Geschlechts als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden kann, sofern auf der Grundlage einer Würdigung der Tatsachen und Umstände nachgewiesen ist, dass sie über ihre bloße Geschlechtszugehörigkeit, d. h. ihre Identität und ihren Status als Frau, hinaus über eine eigene Identität in ihrem Herkunftsland verfügt, weil sie aufgrund der sozialen, rechtlichen oder religiösen Normen oder aber aufgrund der Riten und Bräuche ihres Landes oder der Gemeinschaft, der sie angehört, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig wahrgenommen wird. Im Rahmen dieser Beurteilung ist die Art der Handlungen, denen die Drittstaatsangehörige ausgesetzt zu sein fürchtet, wenn sie in ihr Herkunftsland rückgeführt wird, ein relevanter Faktor, den die zuständige nationale Behörde berücksichtigen muss.

3. Vierte Vorlagefrage: Feststellung des Kausalzusammenhangs zwischen dem Verfolgungsgrund und dem Fehlen von Schutz vor der Verfolgungshandlung (Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95)

83.

Mit seiner vierten Vorlagefrage fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die zuständige nationale Behörde im Fall häuslicher Gewaltakte durch einen nicht staatlichen Akteur verpflichtet ist, einen Kausalzusammenhang zwischen dem Verfolgungsgrund und dem Fehlen von Schutz seitens des Staates oder der Parteien oder Organisationen, die den Staat beherrschen, festzustellen.

84.

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die zuständige nationale Behörde, um Akte häuslicher Gewalt, die per Definition von nicht staatlichen Akteuren begangen werden, als Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 ansehen zu können, gemäß Art. 6 Buchst. c dieser Richtlinie den Umstand berücksichtigen muss, dass der Staat oder die Partei oder Organisation, die diesen beherrscht, nicht in der Lage oder nicht willens ist, dem Opfer seinen bzw. ihren Schutz zu bieten.

85.

Dieser Nachweis ist wichtig, da die Unfähigkeit oder umgekehrt die Fähigkeit des Herkunftslands, Schutz vor Verfolgungshandlungen sicherzustellen, einen entscheidenden Gesichtspunkt für die Beurteilung der Umstände bildet, die zur Zuerkennung oder gegebenenfalls zum Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft führen ( 59 ). Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Bundesrepublik Deutschland (Wahrung des Familienverbands) ( 60 ) festgestellt habe, ist der internationale Schutz nämlich ein alternativer Schutz, der einem Antragsteller gewährt wird, wenn und solange sein Herkunftsland nicht in der Lage oder nicht willens ist, ihn vor der Gefahr der Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens zu schützen ( 61 ), und seine Furcht mithin als begründet angesehen wird.

86.

Die Beurteilung des Bestehens oder Fehlens von Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden hat im Einklang mit den Anforderungen von Art. 7 der Richtlinie 2011/95 zu erfolgen ( 62 ).

87.

Erstens definiert Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie die Akteure, die diesen Schutz bieten können. Der Schutz muss entweder vom Staat oder von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, geboten werden. Die zuständige nationale Behörde muss sich für ihre Beurteilung des Bestehens oder Fehlens eines solchen Schutzes mithin vergewissern, dass Letztere nicht nur die Fähigkeit, sondern auch den Willen haben, den Antragsteller vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden, denen er ausgesetzt ist, zu schützen. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, wenn die Person, die internationalen Schutz beantragt, eine Frau ist, die befürchtet, Opfer im Familienkreis begangener Akte häuslicher Gewalt zu werden, wenn sie in ihr Herkunftsland zurückkehrt.

88.

Zweitens muss der Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden gemäß Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Das setzt voraus, dass die Akteure, die diesen Schutz bieten können, sinnvolle Maßnahmen ergreifen, um Verfolgung oder ernsthaften Schaden zu verhindern ( 63 ), und dass der Antragsteller Zugang zu einem solchen Schutz hat. Die genannte Vorschrift verweist auf die Fähigkeit des Staates, dessen Staatsangehörigkeit der Antragsteller besitzt, Verfolgungshandlungen im Sinne der Richtlinie 2011/95 zu verhindern und zu ahnden.

89.

Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 verlangt von der zuständigen nationalen Behörde außerdem, dass sie eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 der Richtlinie genannten Verfolgungsgründen und den in deren Art. 9 Abs. 1 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen herstellt.

90.

In einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden hat die zuständige nationale Behörde mithin zu prüfen, ob ein Kausalzusammenhang zwischen den Gründen, auf denen die innerhalb des Haushalts oder Familienkreises begangenen Akte häuslicher Gewalt beruhen, nämlich der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, einerseits und dem Fehlen von Schutz seitens der Behörden des Herkunftslands im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2011/95 vor diesen Akten andererseits festgestellt werden kann.

91.

Diese Prüfung ist für die Feststellung wichtig, dass die Drittstaatsangehörige den Schutz ihres Landes im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 weder in Anspruch nehmen kann noch will, weil dieses Land nicht in der Lage oder nicht willens ist, die Gewaltakte zu verhindern, zu verfolgen und zu ahnden.

92.

Die Vornahme einer solchen Prüfung kann mitunter ausgesprochen schwierig sein.

93.

Was die Gründe der nicht staatlichen Akteure für die Anwendung von Gewalt angeht, so enthalten die Aussagen des Antragstellers notwendigerweise subjektive Elemente und werden nicht immer durch direkte Beweise oder Unterlagen belegt. Wie insoweit aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, hat die DAB die Auffassung vertreten, dass die „Antragstellerin volljährig ist und [bei der Darstellung der zur Stützung ihres Antrags auf internationalen Schutz vorgetragenen Tatsachen] nicht angegeben hat, aufgrund ihres Geschlechts verfolgt zu werden“. Ein solcher Antrag kann jedoch nicht abgelehnt werden, weil der betreffende Drittstaatsangehörige nicht darauf hingewiesen hat, dass die Gewaltakte, denen er in seinem Herkunftsland ausgesetzt ist, mit einem der in Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 aufgeführten Gründe im Zusammenhang stehen. Nach ständiger Rechtsprechung bilden die Aussagen einer um internationalen Schutz nachsuchenden Person im Verfahren zur Prüfung der Tatsachen und Umstände durch die zuständigen Behörden nämlich nur den Ausgangspunkt. Auch wenn die Mitgliedstaaten es nach Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie als Pflicht des Antragstellers betrachten können, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen, sieht dieselbe Bestimmung vor, dass es die Pflicht des Mitgliedstaats ist, unter Mitwirkung des Antragstellers die für seinen Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen ( 64 ). Unter den maßgeblichen Anhaltspunkten, die der Prüfung durch die zuständigen nationalen Behörden unterliegen, nennt Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 „[die] Gründe … für seinen Antrag auf internationalen Schutz“, die zwangsläufig den Grund der Verfolgungshandlungen einschließen, denen ausgesetzt zu sein der Antragsteller vorgibt ( 65 ).

94.

Was den vom Herkunftsland gebotenen Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden betrifft, so muss die zuständige nationale Behörde feststellen, inwieweit dieser die Anforderungen von Art. 7 der Richtlinie 2011/95 erfüllt, insbesondere, ob der Schutz wirksam ist.

95.

Daher hat die Behörde Anträge auf internationalen Schutz gemäß Art. 4 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 individuell zu prüfen, wobei alle mit dem Herkunftsland verbundenen relevanten Tatsachen, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften dieses Landes und der Weise, in der sie angewandt werden, zu berücksichtigen sind. Außerdem ist der plausible und kohärente Charakter der Aussagen des Antragstellers nach Art. 4 Abs. 5 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 anhand der für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen zu prüfen ( 66 ).

96.

In diesem Zusammenhang weist die EUAA in ihrem Informationsbericht über die Lage in der Türkei von November 2016 ( 67 ) darauf hin, dass, obwohl in diesem Land gesetzgeberische Reformen eingeführt worden seien, die darauf abzielten, die Gleichstellung von Männern und Frauen zu gewährleisten und die verschiedenen Formen von Gewalt gegen Frauen, darunter häusliche Gewalt, zu verhindern ( 68 ), die von den staatlichen Behörden unternommenen Anstrengungen zur Bekämpfung dieser Gewalt in Bezug auf den Zugang der Opfer zu Informationen, zu rechtlichem Beistand, zur Erstattung von Anzeigen und zur Justiz nach wie vor ungeeignet und ineffektiv seien, da einstweilige Verfügungen oder Schutzverordnungen von den Polizeibehörden nur selten angewandt würden. Unterstützungsleistungen wie beispielsweise Frauenhäuser oder Hilfezentren für weibliche Opfer wiederum seien nicht in genügender Zahl vorhanden und ungeeignet. Zu „Ehrenverbrechen“ und häuslicher Gewalt wird in diesem Bericht festgestellt, dass die Verurteilungsquote ausgesprochen niedrig sei, da die meisten Verbrechen in konservativen Familien im Südosten der Türkei begangen würden. Ich weise darauf hin, dass der Bericht den Austritt der Türkei aus dem Übereinkommen von Istanbul im Laufe des Jahres 2021 ( 69 ) nicht berücksichtigt.

97.

In gleicher Weise ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil M. G./Türkei ( 70 ) zu eben der Feststellung gelangt, die er 2009 in seinem Urteil Opuz/Türkei ( 71 ) und 2014 in seinem Urteil Durmaz/Türkei ( 72 ) getroffen hatte, nämlich der Feststellung einer generalisierten und diskriminierenden Passivität der Justiz, die in den gegen die Türkei eingeleiteten Verfahren im Bereich der häuslichen Gewalt und der Unzugänglichkeit der Schutzmaßnahmen für unverheiratete oder geschiedene Frauen bereits konstatiert worden war.

98.

Vor diesem Hintergrund ist Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 meines Erachtens dahin auszulegen, dass die zuständige nationale Behörde im Fall von Verfolgungshandlungen, die von einem nicht staatlichen Akteur begangen werden, verpflichtet ist, nach einer individuellen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz unter Berücksichtigung aller mit dem Herkunftsland verbundenen relevanten Tatsachen, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften dieses Landes und der Weise, in der sie angewandt werden, festzustellen, ob ein Kausalzusammenhang zwischen den Gründen, auf denen diese Gewaltakte beruhen, nämlich der Zugehörigkeit der Drittstaatsangehörigen zu einer bestimmten sozialen Gruppe einerseits und dem Fehlen von Schutz seitens der Behörden des Herkunftslands im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2011/95 andererseits, besteht.

B.   Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95

99.

Mit seiner fünften Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht über die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes, wie sie in Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 definiert sind, an eine Drittstaatsangehörige aufgeklärt werden, die nicht als Flüchtling anerkannt werden kann, aber Gefahr liefe, Opfer eines Ehrenverbrechens sowie von Akten häuslicher Gewalt, einer Zwangsverheiratung und Stigmatisierung zu werden, wenn sie in ihr Herkunftsland rückgeführt wird.

100.

Dieses Gericht richtet seine Frage auf zwei Aspekte, die ich nacheinander untersuchen werde.

101.

Der erste Aspekt betrifft das Ausmaß, in dem die Gewaltakte, die diese Drittstaatsangehörige zu erleiden droht, als „ernsthafter Schaden“ im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2011/95 eingestuft werden können, sei es, weil sie ihr Leben ernsthaft bedrohen, sei es, weil sie eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen.

102.

Der zweite Aspekt betrifft das Erfordernis, wonach die Drittstaatsangehörige der tatsächlichen Gefahr ausgesetzt sein muss, einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2011/95 zu erleiden, und den Schutz ihres Herkunftslands nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will.

1. Zur Einstufung der Gewaltakte, die die Drittstaatsangehörige zu erleiden droht, als „ernsthaftem Schaden“ im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2011/95

103.

Das vorlegende Gericht fragt den Gerichtshof, ob Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass es in einem Fall, in dem eine Drittstaatsangehörige Gefahr zu laufen vorgibt, Opfer eines Ehrenverbrechens zu werden und geschlechtsspezifische Gewaltakte zu erleiden, falls sie in ihr Herkunftsland rückgeführt wird, ausreicht, wenn das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr „[der] Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe“ im Sinne von Art. 15 Buchst. a dieser Richtlinie nachgewiesen wird, oder ob im Rahmen einer Gesamtwürdigung das Bestehen einer Gefahr „unmenschliche[r] oder erniedrigende[r] Behandlung oder Bestrafung“ im Sinne von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie nachgewiesen werden muss.

104.

Art. 15 der Richtlinie 2011/95 definiert drei Arten eines „ernsthaften Schadens“, deren Vorliegen zur Folge hat, dass der Person, die ihnen ausgesetzt ist, subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Dazu gehören u. a. der ernsthafte Schaden, der in Art. 15 Buchst. a dieser Richtlinie (der im Wesentlichen Art. 2 EMRK und Art. 1 des Protokolls Nr. 6 zur EMRK entspricht ( 73 )) als „die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe“ definiert wird, und derjenige, der in Art. 15 Buchst. b der Richtlinie (der im Wesentlichen Art. 3 EMRK entspricht ( 74 )) als „Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ definiert wird. Wie der Gerichtshof anerkannt hat, erfassen diese Fälle eines „ernsthaften Schadens“ Situationen, in denen der den internationalen Schutz Beantragende „spezifisch der Gefahr …, einen Schaden ganz bestimmter Art zu erleiden“, oder „bestimmten Gewalteinwirkungen“ ausgesetzt ist ( 75 ).

105.

Ich stelle fest, dass die Fälle eines „ernsthaften Schadens“, der dem den internationalen Schutz Beantragenden droht, in Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95 alternativ aufgezählt werden: „a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ ( 76 ). Diese Aufzählung zeugt vom Willen des Unionsgesetzgebers, möglichst viele Fälle zu erfassen, in denen der Drittstaatsangehörige internationalen Schutz erhalten muss, auch wenn ihm die Flüchtlingseigenschaft verweigert worden ist.

106.

In Bezug auf den Begriff „Ehrenverbrechen“ geht aus den Arbeiten des Europarats hervor, dass er sich auf jede Handlung bezieht, durch die ein Mitglied der Familie oder Gemeinschaft eine Frau tötet, verstümmelt, verbrennt oder verletzt, mit dem Ziel, die Ehre der Familie wiederherzustellen, weil diese Frau durch ihren Lebensstil, ihren Emanzipationswillen, die Verweigerung einer Ehe oder ihre sexuelle Orientierung gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen verstoßen hat ( 77 ). Diese Handlung ist, soweit sie darin besteht, dass ein Mitglied der Familie oder der Gemeinschaft eine Person tötet, anhand von Art. 15 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 zu prüfen, da sie eine „Vollstreckung“ darstellt.

107.

Ich halte es für wichtig, dass der Begriff „Vollstreckung“ nicht Handlungen staatlicher Behörden vorbehalten bleibt. Falls dieses „Ehrenverbrechen“ in der Tötung einer Person besteht, kann es nämlich nicht allein deshalb nur als „Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ im Sinne von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 eingestuft werden, weil es möglicherweise von einem nicht staatlichen Akteur begangen worden ist. Außerdem bestimmt Art. 6 dieser Richtlinie, dass Akteure, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann, nicht staatliche Akteure sein können, sofern der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat beherrschen, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor ernsthaftem Schaden zu bieten. Darüber hinaus erfasst Art. 2 EMRK nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Fälle, in denen der Staat seiner Verpflichtung zum Schutz des Lebens einer Person nicht nachgekommen ist, obwohl er über das Vorhandensein einer tatsächlichen und unmittelbaren Gefahr für deren Leben aufgrund krimineller Handlungen eines Dritten informiert war. So hat dieser Gerichtshof im Urteil Opuz/Türkei ( 78 ) entschieden, dass der Staat verpflichtet sei, präventiv praktische Maßnahmen zum Schutz einer Person zu ergreifen, die Opfer häuslicher Gewalt sei und im Voraus als potenzielles Ziel eines Mordanschlags zur Verteidigung der Ehre identifiziert werden könne. Art. 2 EMRK schreibe dem Staat demnach vor, das Recht auf Leben durch die Einführung konkreter Strafrechtsvorschriften zu gewährleisten, die davon abschreckten, Straftaten gegen Personen zu begehen, und sich auf einen Anwendungsmechanismus stützten, der konzipiert worden sei, um Verstöße gegen sie zu verhüten, zu bekämpfen und zu ahnden ( 79 ).

108.

Ab dem Zeitpunkt, zu dem die zuständige nationale Behörde nach einer umfassenden Beurteilung der spezifischen Umstände des konkreten Falls feststellt, dass die Betroffene Gefahr läuft, im Namen der Ehre ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft getötet zu werden, und diese Gefahr aufgrund des Fehlens von Schutz durch die Behörden ihres Herkunftslands tatsächlich und begründet ist, gilt eine solche Handlung daher als „Vollstreckung“ im Sinne von Art. 15 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 und kann ohne Weiteres zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus führen, wenn auch die übrigen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.

109.

Die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus verlangt nicht den Nachweis, dass die Betroffene überdies der Gefahr ausgesetzt wäre, Opfer von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 15 Buchst. b dieser Richtlinie zu werden.

110.

Ich weise jedoch darauf hin, dass die zuständige nationale Behörde eine vollständige Charakterisierung des ernsthaften Schadens vorzunehmen hat, der der Betroffenen droht, wenn sie in ihr Herkunftsland rückgeführt wird ( 80 ). Dies ergibt sich zum einen aus den Anforderungen von Art. 4 der Richtlinie 2011/95, wonach die zuständige nationale Behörde verpflichtet ist, eine ordnungsgemäße und effiziente Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz vorzunehmen, um eine umfassende Bewertung des Schutzbedarfs der Betroffenen zu gewährleisten. Ich erinnere insoweit daran, dass diese Behörde die Art und die Tragweite der Handlungen, denen die Betroffene in ihrem Herkunftsland ausgesetzt ist, im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bereits beurteilt hat. Zum anderen müssen sich damit heikle Situationen vermeiden lassen, in denen gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 davon auszugehen wäre, dass die Betroffene aufgrund einer Veränderung von Umständen im Herkunftsland keinen Anspruch auf subsidiären Schutz mehr hat, und ihr der Status infolge einer unzureichenden Risikobeschreibung somit vorzeitig entzogen würde ( 81 ).

111.

Vor diesem Hintergrund sind Art. 2 Buchst. f und Art. 15 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass die zuständige nationale Behörde, wenn sie nach einer umfassenden Beurteilung der spezifischen Umstände des konkreten Falls feststellt, dass die Drittstaatsangehörige bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht nur Gefahr läuft, im Namen der Ehre ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft getötet, sondern auch Opfer von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung zu werden, die sich aus Akten häuslicher Gewalt oder anderen geschlechtsspezifischen Gewaltakten ergibt, verpflichtet ist, diese Akte als „ernsthaften Schaden“ einzustufen.

2. Zur Feststellung einer tatsächlichen Gefahr, im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 einen ernsthaften Schaden zu erleiden

112.

Das vorlegende Gericht fragt den Gerichtshof, ob Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass, wenn eine Drittstaatsangehörige Gefahr zu laufen vorgibt, Opfer eines Ehrenverbrechens zu werden und geschlechtsspezifische Gewalttaten zu erleiden, falls sie in ihr Herkunftsland rückgeführt wird, der Nachweis genügt, dass diese Person den Schutz ihres Landes nicht in Anspruch nehmen will, oder ob nachgewiesen werden muss, weshalb sie sich weigert, diesen Schutz in Anspruch zu nehmen.

113.

Das vorlegende Gericht bezieht sich insoweit auf die Feststellungen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil N./Schweden ( 82 ) hinsichtlich eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK in einem Fall getroffen hat, in dem eine afghanische Staatsangehörige, die von ihrem Ehemann getrennt war und nicht dem Rollenbild entsprach, das ihr die Gesellschaft, die Tradition und sogar das Rechtssystem zuschrieben, bei einer Rückführung in ihr Herkunftsland der Gefahr von Misshandlungen ausgesetzt war, weil die Bedingungen für die Aufnahme und das Leben in Frauenhäusern solche Frauen zwangen, in ihren Haushalt, in dem sie Opfer von Missbrauch oder Ehrenverbrechen waren, zurückzukehren.

114.

Im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ergänzt der subsidiäre Schutz die in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Vorschriften über die Flüchtlingseigenschaft.

115.

Gemäß Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 ist eine „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz“ eine Person, die die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, die aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 dieser Richtlinie zu erleiden, und die den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will.

116.

Wie die Definition des Begriffs „Flüchtling“ in Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95, die den Nachweis verlangt, dass die Furcht des internationalen Schutz Beantragenden, bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland verfolgt zu werden, begründet ist, schreibt die Definition des Begriffs „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz“ in Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie gleichermaßen den Nachweis der Begründetheit der Gefahr vor, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, der der Antragsteller bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt ist. Ich erinnere daran, dass dieser Nachweis für die Feststellung erforderlich ist, dass der Betroffene den Schutz seines Herkunftslands nicht in Anspruch nehmen kann oder berechtigterweise nicht in Anspruch nehmen will, und von der zuständigen nationalen Behörde verlangt, dass sie auf der Grundlage von Art. 7 der Richtlinie die Fähigkeit oder den Willen dieses Landes prüft, die Gewaltakte zu verhindern, zu verfolgen und zu ahnden.

117.

Ich möchte insoweit klarstellen, dass sich die Anforderungen dieses Artikels hinsichtlich Art und Umfang des erforderlichen Schutzes sowohl auf die Verfolgung, der der Antragsteller ausgesetzt zu werden Gefahr läuft, als auch auf den ernsthaften Schaden beziehen, der ihm droht, wenn er in sein Herkunftsland zurückkehrt. Zu dem Zeitpunkt, zu dem die zuständige nationale Behörde prüft, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus erfüllt, hat diese Behörde aber bereits die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit sowie den Willen bzw. fehlenden Willen des Herkunftslands festgestellt, den in Art. 7 der Richtlinie 2011/95 geforderten Schutz zu gewährleisten, und zwar im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

118.

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die zuständige nationale Behörde in einem Fall, in dem eine Drittstaatsangehörige Gefahr zu laufen vorgibt, Opfer eines Ehrenverbrechens zu werden und geschlechtsspezifische Gewaltakte zu erleiden, wenn sie in ihr Herkunftsland rückgeführt wird, verpflichtet ist, festzustellen, ob der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat beherrschen, einen Schutz vor diesem ernsthaften Schaden bieten, der die Anforderungen von Art. 7 der genannten Richtlinie erfüllt, um ermitteln zu können, ob die Gefahr begründet ist.

V. Ergebnis

119.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien) wie folgt zu beantworten:

In einem Fall, in dem eine Drittstaatsangehörige einen Antrag auf internationalen Schutz stellt, weil sie befürchtet, Opfer eines Ehrenverbrechens oder einer Zwangsverheiratung zu werden und innerhalb ihres Haushalts begangenen Akten häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein, wenn sie in ihr Herkunftsland zurückkehrt, gilt Folgendes:

1.

Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an eine Person, die befürchtet, bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Opfer geschlechtsspezifischer Gewaltakte zu werden, anhand der in dieser Richtlinie hierfür vorgesehenen Bestimmungen geprüft werden müssen, welche gemäß Art. 78 Abs. 1 AEUV unter Beachtung des Abkommens der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Richtlinie und nicht unter Verweis auf die Definitionen und Begriffsbestimmungen des Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau und des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Übereinkommen von Istanbul), bei denen es sich nicht um „einschlägige Verträge“ im Sinne dieses Artikels handelt, auszulegen sind.

Bei dieser Auslegung sind zudem die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Rechte zu achten.

2.

Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

eine Drittstaatsangehörige aufgrund ihres Geschlechts als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden kann, sofern auf der Grundlage einer Würdigung der Tatsachen und Umstände nachgewiesen ist, dass sie über ihre bloße Geschlechtszugehörigkeit, d. h. ihre Identität und ihren Status als Frau, hinaus über eine eigene Identität in ihrem Herkunftsland verfügt, weil sie aufgrund der sozialen, rechtlichen oder religiösen Normen oder aber aufgrund der Riten und Bräuche ihres Landes oder der Gemeinschaft, der sie angehört, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig wahrgenommen wird. Im Rahmen dieser Beurteilung ist die Art der Handlungen, denen die Drittstaatsangehörige ausgesetzt zu werden fürchtet, wenn sie in ihr Herkunftsland rückgeführt wird, ein relevanter Faktor, den die zuständige nationale Behörde berücksichtigen muss.

3.

Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

die zuständige nationale Behörde im Fall von Verfolgungshandlungen, die von einem nicht staatlichen Akteur begangen werden, verpflichtet ist, nach einer individuellen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz unter Berücksichtigung aller mit dem Herkunftsland verbundenen relevanten Tatsachen, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften dieses Landes und der Weise, in der sie angewandt werden, festzustellen, ob ein Kausalzusammenhang zwischen den Gründen, auf denen diese Gewaltakte beruhen, nämlich der Zugehörigkeit der Drittstaatsangehörigen zu einer bestimmten sozialen Gruppe einerseits und dem Fehlen von Schutz seitens der Behörden des Herkunftslands im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2011/95 andererseits, besteht.

4.

Im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus sind Art. 2 Buchst. f und Art. 15 der Richtlinie 2011/95

dahin auszulegen, dass

die zuständige nationale Behörde, wenn sie nach einer umfassenden Beurteilung der spezifischen Umstände des konkreten Falls feststellt, dass die Drittstaatsangehörige bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht nur Gefahr läuft, im Namen der Ehre ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft getötet, sondern auch Opfer von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung zu werden, die sich aus Akten häuslicher Gewalt oder anderen geschlechtsspezifischen Gewaltakten ergibt, verpflichtet ist, diese Akte als „ernsthaften Schaden“ einzustufen.

Um ermitteln zu können, ob die Gefahr begründet ist, hat die zuständige nationale Behörde festzustellen, ob die staatlichen Behörden oder Parteien oder Organisationen, die den Staat beherrschen, einen Schutz vor diesem ernsthaften Schaden bieten, der die Anforderungen von Art. 7 der genannten Richtlinie erfüllt.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

( 3 ) In Anbetracht des Sachverhalts der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtssache werden die vorliegenden Schlussanträge auf die Frage häuslicher Gewalt gegen Frauen eingehen. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass häusliche Gewalt, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Grundsatzurteil vom 9. Juni 2009, Opuz/Türkei (CE:ECHR:2009:0609JUD003340102, § 132), entschieden hat, „nicht ausschließlich Frauen [betrifft]. Auch Männer können Opfer häuslicher Gewalt sein, ebenso Kinder, die häufig unmittelbar oder mittelbar von ihr betroffen sind“.

( 4 ) C‑930/19, EU:C:2021:225.

( 5 ) Nrn. 94 ff. dieser Schlussanträge.

( 6 ) EU:C:2021:198. Das am 7. April 2011 vom Ministerkomitee des Europarats verabschiedete Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (im Folgenden: Übereinkommen von Istanbul) ist am 1. August 2014 in Kraft getreten (Council of Europe Treaty Series, Nr. 210). Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben es unterzeichnet und ratifiziert, mit Ausnahme der Republik Bulgarien, der Tschechischen Republik, der Republik Lettland, der Republik Litauen, Ungarns und der Slowakischen Republik, die es nicht ratifiziert haben. Die Republik Türkei hat dieses Übereinkommen am 14. März 2012 ratifiziert, mit einem Schriftsatz vom 22. März 2021 aber ihren Austritt aus ihm angekündigt, der am 1. Juli 2021 in Kraft getreten ist.

( 7 ) Nr. 161 dieser Schlussanträge.

( 8 ) Am 22. April 1954 in Kraft getretenes Abkommen (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention), das durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt worden ist.

( 9 ) Von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 18. Dezember 1979 angenommenes und am 3. September 1981 in Kraft getretenes Übereinkommen (United Nations Treaty Series, Bd. 1249, S. 13, Nr. 20378 [1981]).

( 10 ) Auf der elften Sitzung (1992) angenommene Empfehlung.

( 11 ) Am 26. Juli 2017 angenommene Empfehlung.

( 12 ) Am 20. Dezember 1993 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Resolution 48/104 angenommene Erklärung.

( 13 ) Unterzeichnet am 4. November 1950 in Rom (im Folgenden: EMRK).

( 14 ) DV Nr. 54 vom 31. Mai 2002.

( 15 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).

( 16 ) Gemäß Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 muss die zuständige nationale Behörde feststellen, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt, bevor sie prüft, ob er Anspruch auf subsidiären Schutz hat. Vgl. insoweit Urteil vom 25. Juli 2018, Alheto (C‑585/16, EU:C:2018:584, Rn. 89).

( 17 ) Unter Berücksichtigung der jeweiligen besonderen Umstände glaube ich, dass diese Gewaltakte aufgrund ihrer Art oder Wiederholung eine „schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 darstellen oder im Sinne des Urteils vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung), einen „bestimmten Schweregrad“ erreichen können. Hierzu stellt der UNHCR in seinen Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 1: Geschlechtsspezifische Verfolgung im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: Richtlinien zur geschlechtsspezifischen Verfolgung) vom 8. Juli 2008 fest, dass es außer Zweifel stehe, dass „Vergewaltigung und andere Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt, etwa Gewalt im Zusammenhang mit der Mitgiftproblematik, Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsorgane, häusliche Gewalt und Menschenhandel …, Handlungen sind, die große Schmerzen und – sowohl psychisches als auch körperliches – Leid verursachen und von staatlichen und nichtstaatlichen Akteure[n] gleichermaßen als Methode der Verfolgung angewendet werden“ (Nr. 9). Vgl. in diesem Sinne auch Nr. 310 des Erläuternden Berichts zum Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Council of Europe Treaty Series, Nr. 210, im Folgenden: Erläuternder Bericht zum Übereinkommen von Istanbul).

( 18 ) In Nr. 44 des Erläuternden Berichts zum Übereinkommen von Istanbul heißt es, dass sich der Begriff „geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen“ insofern von anderen Formen der Gewalt unterscheidet, als „das Geschlecht des Opfers das Hauptmotiv für die unter Unterabsatz a [Gewalt gegen Frauen] beschriebenen Gewalttaten ist. Mit anderen Worten bezieht sich der Begriff geschlechtsspezifische Gewalt auf jeden einer Frau widerfahrenen Schaden und stellt sowohl die Ursache als auch die Folge ungleicher Machtverhältnisse dar, die auf zwischen Männern und Frauen wahrgenommenen Unterschieden beruhen und zur Unterordnung der Frau in öffentlichen und privaten Bereichen führen“.

( 19 ) Nr. 300 dieses Erläuternden Berichts.

( 20 ) Vgl. auch Art. 18 der Charta sowie die Erwägungsgründe 3, 4, 12, 23 und 24 der Richtlinie 2011/95 (Urteile vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Militärdienst und Asyl], C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 20).

( 21 ) Vgl. Erwägungsgründe 23 und 24 der Richtlinie 2011/95. Vgl. auch Urteile vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 81 und 83 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 19).

( 22 ) C‑238/19, EU:C:2020:945.

( 23 ) Rn. 49 dieses Urteils. Vgl. auch Urteil vom 24. April 2018, MP (Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen) (C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 54 bis 56), in dem der Gerichtshof die mit der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12) geschaffenen Mechanismen von denen unterschieden hat, die mit dem von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1984 in New York angenommenen Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (United Nations Treaty Series, Bd. 1465, S. 85, Nr. 24841 [1987]) eingeführt worden sind.

( 24 ) Nr. 6 dieser Richtlinien. Der UNHCR stellt in Nr. 5 der genannten Richtlinien fest, dass „die Flüchtlingsdefinition [historisch] aufgrund männlicher Erfahrungen interpretiert [wurde], was dazu führte, dass viele Fälle von Frauen und Homosexuellen unberücksichtigt blieben. Im letzten Jahrzehnt wurden jedoch in Bezug auf die Analyse und das Verständnis von ‚sex‘ und ‚gender‘ im Flüchtlingswesen sowohl in der Spruchpraxis als auch ganz allgemein in der staatlichen Praxis und in wissenschaftlichen Abhandlungen beachtliche Fortschritte gemacht. Diese Entwicklungen vollzogen sich parallel zur Weiterentwicklung des Völkerrechts und der Standards auf dem Gebiet der Menschenrechte … sowie in verwandten Bereichen des Völkerrechts, etwa auch durch die Spruchpraxis der Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda und das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs“.

( 25 ) Wie der 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 belegt, sind die Aspekte im Zusammenhang mit dem Begriff des sozialen Geschlechts anlässlich der Neufassung der Richtlinie 2004/83 eingeführt worden und haben den zuvor verwendeten Begriff des biologischen Geschlechts ersetzt.

( 26 ) Vgl. insoweit Urteil vom 23. Mai 2019, Bilali (C‑720/17, EU:C:2019:448, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95.

( 27 ) Nr. 3 dieser Richtlinien.

( 28 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (ABl. 2012, L 315, S. 57).

( 29 ) Vgl. insoweit Gutachten 1/19 (Übereinkommen von Istanbul) vom 6. Oktober 2021 (EU:C:2021:832). Der nächste Schritt, nämlich der offizielle Beitritt der Union zum Übereinkommen von Istanbul, verlangt den Erlass eines Beschlusses des Rates der Europäischen Union nach Zustimmung des Europäischen Parlaments. Die Vollendung des Beitritts der Union zu diesem Übereinkommen ist ein vorrangiges Ziel der Unionsstrategie für die Gleichstellung von Männern und Frauen für den Zeitraum 2020‑2025: vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, die mit „Eine Union der Gleichheit: Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020‑2025“ überschrieben ist (COM[2020] 152 final) (S. 4).

( 30 ) Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben alle Mitgliedstaaten das Übereinkommen von Istanbul unterzeichnet, und 21 von ihnen haben es ratifiziert (vgl. Fn. 6 der vorliegenden Schlussanträge), obwohl die Republik Polen am 25. Juli 2020 ihre Absicht mitgeteilt hat, aus diesem Übereinkommen auszutreten, was die Union und der Europarat verurteilt haben (vgl. Bulletin Quotidien Europe Nr. 12536, Agence Europe, 28. Juli 2020, S. 7 und 8).

( 31 ) Beispielsweise verlangt Art. 12 Abs. 1 des Übereinkommens von Istanbul von den Vertragsstaaten, „die erforderlichen Maßnahmen [zu treffen], um Veränderungen von sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Frauen und Männern mit dem Ziel zu bewirken, Vorurteile, Bräuche, Traditionen und alle sonstigen Vorgehensweisen, die auf der Vorstellung der Unterlegenheit der Frau oder auf Rollenzuweisungen für Frauen und Männer beruhen, zu beseitigen“.

( 32 ) Vgl. Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 33 ) Vgl. insoweit Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova (C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 34 ) Vgl. auch 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95.

( 35 ) Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Abs. 2 dieses Artikels zu lesen ist. Im Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova (C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 86), hat der Gerichtshof entschieden: „Unabhängig von der Frage, ob die Beteiligung eines Staatsangehörigen von Aserbaidschan an der Erhebung einer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen dieses Land, um Verstöße des dort an der Macht befindlichen Regimes gegen die Grundrechte feststellen zu lassen, eine ‚politische Überzeugung‘ dieses Staatsangehörigen zum Ausdruck bringt, ist im Rahmen der Prüfung der in dessen Antrag auf internationalen Schutz vorgetragenen Verfolgungsgründe zu klären, ob es gute Gründe für die Befürchtung gibt, dass die Beteiligung an der Beschwerde von diesem Regime als ein Akt politischen Widerstands aufgefasst wird, gegen den es Repressalien ergreifen könnte.“

( 36 ) Vgl. Art. 12 Buchst. d des Vorschlags für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen (KOM[2001] 510 endgültig).

( 37 ) C‑199/12 bis C‑201/12, EU:C:2013:720.

( 38 ) Rn. 46 dieses Urteils. Der Gerichtshof hat in derselben Randnummer hinzugefügt: „Diese Auslegung wird durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 2 [der Richtlinie 2004/83] bestätigt, wonach je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten kann, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet.“

( 39 ) Vgl. Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 2: „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: Richtlinien zur Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) vom 8. Juli 2008 (Nrn. 2 und 14). Das bedeutet jedoch nicht, wie die Kommission in ihren Erklärungen hervorhebt, dass alle Personen, die befürchten, Verfolgungshandlungen in ihrem Herkunftsland ausgesetzt zu sein, als einer bestimmten sozialen Gruppe zugehörig im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 angesehen werden könnten, da eine solche Auslegung den anderen in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie aufgeführten Gründen jede praktische Wirksamkeit nähme. Dies ist auch die Meinung des UNHCR, der in seinen Richtlinien zur Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe davon ausgeht, dass die soziale Gruppe unabhängig von der Verfolgung identifizierbar sein müsse, Verfolgungshandlungen gegen eine Gruppe aber dennoch ein maßgeblicher Faktor bei der Bestimmung der Erkennbarkeit dieser Gruppe in einer bestimmten Gesellschaft sein könnten (Nrn. 2 und 14).

( 40 ) In seinen Richtlinien zur Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hebt der UNHCR hervor, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe entwicklungsabhängig, offen für die vielfältigen und sich wandelnden Erscheinungsformen von Gruppen in verschiedenen Gesellschaften und abhängig von den Entwicklungen im Bereich der internationalen Menschenrechtsnormen, zu verstehen sei (Nr. 3).

( 41 ) Im Erläuternden Bericht zum Übereinkommen von Istanbul heißt es, dass „der Begriff ‚Geschlecht‘ auf den beiden Geschlechtern – männlich und weiblich – [basiert] und … aus[drückt], dass es auch gesellschaftlich entwickelte Rollen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmale gibt, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht“ (Nr. 43).

( 42 ) Interessanterweise wurde in Art. 12 Buchst. d des in Fn. 36 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Vorschlags der Kommission ausdrücklich festgestellt, dass der Begriff „soziale Gruppe“„auch Gruppen von Personen [umfasst], die nach dem Gesetz als ‚minderwertig‘ gelten“. Vgl. auch Richtlinien zur geschlechtsspezifischen Verfolgung (Nr. 30).

( 43 ) Vgl. Richtlinien zur geschlechtsspezifischen Verfolgung (Nr. 31).

( 44 ) Wie der UNHCR in seinen Richtlinien zur geschlechtsspezifischen Verfolgung feststellt, bedeutet eine geschlechtsgerechte Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht, dass alle Frauen automatisch Anspruch auf Flüchtlingsstatus haben (Nr. 4).

( 45 ) Vgl. Fn. 39 der vorliegenden Schlussanträge.

( 46 ) Vgl. Richtlinien zur Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nrn. 2 und 14).

( 47 ) Vgl. beispielsweise in der französischen Rechtsprechung Denis-Linton, M., und Malvasio, F., Trente ans de jurisprudence de la Cour nationale du droit d’asile et du Conseil d’État sur l’asile, Principales décisions de 1982 au 31 décembre 2011, März 2012. Vgl. auch Urteil des Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) vom 21. Dezember 2012, Mme A… B… (Nr. 332491), und Urteil der Cour nationale du droit d’asile (Nationaler Asylgerichtshof, CNDA) (Frankreich) vom 25. März 2021, Mmes S. (Nrn. 20006893 und 20006894 C), in dem die CNDA einem in Frankreich geborenen senegalesischen Kind mit Soninké-Ethnie die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, da Beschneidungen von Frauen innerhalb dieser Ethnie nach wie vor sehr häufig vorkommen.

( 48 ) Schlussanträge in der Rechtssache Noorzia (C‑338/13, EU:C:2014:288, Nr. 3). In diesen Schlussanträgen fügt Generalanwalt Mengozzi hinzu, dass im Rahmen von Zwangsehen zumindest einer der beiden Ehegatten ohne sein freies und uneingeschränktes Einverständnis heiratet und der „Wille [insbesondere von Frauen] physischen oder psychologischen Formen von Zwang unterliegt, wie z. B. Drohungen oder anderen Formen emotionalen oder, in schwereren Fällen, körperlichen Missbrauchs“ (Nr. 2). Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Belgische Staat (Verheirateter minderjähriger Flüchtling) (C‑230/21, EU:C:2022:477, Nr. 2).

( 49 ) Zum Begriff „häusliche Gewalt“ vgl. Art. 3 Buchst. b des Übereinkommens von Istanbul. Wie der Erläuternde Bericht zu diesem Übereinkommen klarstellt, umfasst häusliche Gewalt hauptsächlich zwei Arten von Gewalt: die Gewalt zwischen Beziehungspartnern unabhängig davon, ob die Beziehung noch besteht oder beendet ist, und die generationenübergreifende Gewalt, insbesondere zwischen Eltern und Kindern.

( 50 ) Früher Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO). Um es den zuständigen nationalen Behörden zu ermöglichen, die Anforderungen von Art. 4 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 täglich zu erfüllen, und zu einer Harmonisierung der Verfahren zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten zu gelangen, ist der EUAA die Aufgabe übertragen worden, Informationsberichte mit einer thematisch gegliederten Prüfung der Lage in dem Land oder der Region zu erstellen, aus dem bzw. der die Person, die internationalen Schutz beantragt, stammt. Diese Berichte werden auf der Grundlage einer Sammlung „sachdienlicher, belastbarer, objektiver, präziser und aktueller“ Informationen über die Herkunftsländer unter Nutzung aller einschlägigen Informationsquellen, einschließlich bei internationalen Organisationen – insbesondere beim UNHCR und anderen maßgeblichen Organisationen –, einschließlich der Mitglieder der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union und des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD), erstellt (vgl. Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Verordnung [EU] 2021/2303 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2021 über die Asylagentur der Europäischen Union und zur Aufhebung der Verordnung [EU] Nr. 439/2010 [ABl. 2021, L 468, S. 1]).

( 51 ) Vgl. beispielsweise in der französischen Rechtsprechung Urteil der Beschwerdekommission für Flüchtlinge (Commission des recours des réfugiés, im Folgenden: CRR, seit dem 1. Januar 2009 nunmehr die CNDA) (Frankreich) vom 16. Juni 2005, Mlle S. (Nr. 492440), betreffend eine malische Staatsangehörige, die in ihrer Kindheit beschnitten worden war und sich geweigert hatte, eine – von ihrem zukünftigen Ehemann geforderte – neuerliche (vollständige) Beschneidung vornehmen zu lassen, woraufhin sie seitens des familiären Umfelds und der örtlichen Brauchtumsbehörden unter Druck gesetzt und bedroht worden war. Die CRR hat die Auffassung vertreten, dass die Furcht vor Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit dieser Staatsangehörigen zur sozialen Gruppe der Frauen, die beabsichtigten, sich weiblichen Genitalverstümmelungen zu entziehen, begründet sei, da die Betroffene von den Behörden keinerlei Schutz erhalte.

( 52 ) EUAA, Report on Female Genital Mutilation/Cutting in Ethiopia, 12. Mai 2022, insbesondere Nr. 4.2: „Consequences for refusing to undergo FGM“, S. 32. Vgl. auch EUAA, Informationsblatt „Protecting women and girls in the asylum procedure“, Dezember 2021, insbesondere S. 2, sowie Middelburg, A., und Balta, A., „Female Genital Mutilation/Cutting as a Ground for Asylum in Europe“, International Journal of Refugee Law, Bd. 28, Nr. 3, Oxford University Press, Oxford, 2016, S. 416 bis 452.

( 53 ) Vgl. beispielsweise Urteil der CNDA vom 29. März 2021, Mme T. (Nr. 20024823 C+), in dem einer ivorischen Staatsangehörigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, weil sie sich einer Zwangsehe entzogen hatte, die überdies mit einer drohenden Genitalverstümmelung einhergegangen war.

( 54 ) Vgl. insoweit in der französischen Rechtsprechung Urteil der CRR vom 15. Oktober 2004, Mlle NN. (Nr. 444000).

( 55 ) In diesem Zusammenhang vertritt der UNHCR in seinen Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 9: Anträge auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder der geschlechtlichen Identität im Zusammenhang mit Artikel 1 (A) 2 des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 23. Oktober 2012 die Auffassung, dass, „[w]enn sich die Ablehnung durch die Familie oder die Gemeinschaft beispielsweise in der Androhung schwerer körperlicher Gewalt bis hin zu einem ‚Ehrenmord‘ durch Familienmitglieder oder jemanden aus der Gemeinschaft im weiteren Sinn äußert, … dies eindeutig als Verfolgung einzustufen [ist]“ (Nr. 23).

( 56 ) Vgl. UNHCR-Dokument „Submission by the Office of the United Nations High Commissioner for Refugees in case numbers 201701423/1/V2, 201704575/1/V2 and 201700575/1/V2 before the Council of State“ (Nr. 16).

( 57 ) Country Guidance: Afghanistan, Januar 2023. In Nr. 3.12 stellt dieser Bericht speziell auf das Sittlichkeitsverbrechen „Zina“ ab, das sämtliche gegen die Scharia verstoßenden Verhaltensweisen wie beispielsweise unerlaubten oder vorehelichen Geschlechtsverkehr und Ehebruch umfasst, die mit der Todesstrafe oder im Namen der Ehre begangenen Gewalttaten, darunter Ehrenverbrechen, die insbesondere gegenüber Frauen angewandt werden, bedroht sind (S. 74).

( 58 ) Vgl. Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 26. Oktober 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (C‑456/21, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:901). In der Rechtssache C‑646/21 wird u. a. die Frage aufgeworfen, ob die Werte und die Lebensregeln, die sich eine junge Frau während ihres langfristigen Aufenthalts im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats – in einem wichtigen Lebensabschnitt, in dem sich ihre Identität ausprägt – angeeignet hat, sowie das Verhalten, das sie während ihres Aufenthalts an den Tag gelegt hat, als Elemente eines „gemeinsamen Hintergrund[s], der nicht verändert werden kann“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 oder eher als „Merkmale …, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“, im Sinne dieses Artikels anzusehen sind.

( 59 ) Urteil vom 20. Januar 2021, Secretary of State for the Home Department (C‑255/19, EU:C:2021:36, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie der Gerichtshof anerkannt hat, sind die Furcht vor Verfolgung und der Schutz vor Verfolgungshandlungen Voraussetzungen, die auf das Engste miteinander verbunden sind (Rn. 56 dieses Urteils).

( 60 ) C‑91/20, EU:C:2021:384, Nr. 82.

( 61 ) Wie Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention übernimmt die Richtlinie 2011/95 den Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Schutzes sowohl im Rahmen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch im Rahmen des Erlöschens (Art. 11 der Richtlinie 2011/95) oder des Ausschlusses der Flüchtlingseigenschaft (Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95). Vgl. insoweit Nr. 90 des Handbuchs über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, UNHCR, Genf, 1992. In der Rechtslehre vgl. insbesondere Hathaway, J. C., und Foster, M., The law of refugee status, 2. Aufl., Cambridge University Press, Cambridge, 2014, S. 55: „Dem Flüchtlingsrecht liegt die Annahme zugrunde, dass der nationale Schutz, wenn er zur Verfügung steht, dem ersatzweisen internationalen Schutz vorgeht“, und S. 462: „Der Zweck des Flüchtlingsrechts besteht darin, einen ersatzweisen Schutz zu gewähren, bis ein nennenswerter nationaler Schutz wieder hergestellt oder eingerichtet worden ist“, sowie S. 494 und 495. Vgl. auch Goodwin-Gill, G. S., und McAdam, J., The refugee in international law, 3. Aufl., Oxford University Press, Oxford, 2007, S. 421: „Das Fehlen oder die Verweigerung des Schutzes ist ein Hauptmerkmal der Flüchtlingseigenschaft, und es obliegt dem Völkerrecht, seinerseits seinen eigenen Schutz an die Stelle des Schutzes zu setzen, den das Herkunftsland nicht gewähren kann oder will“ (freie Übersetzungen). Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Bundesrepublik Deutschland (Wahrung des Familienverbands) (C‑91/20, EU:C:2021:384, Nr. 82 und Fn. 52).

( 62 ) Vgl. auch 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95.

( 63 ) Art. 7 Abs. 2 stellt auf Schritte, die eingeleitet werden, um Verfolgungshandlungen zu verhindern, und auf das Bestehen wirksamer Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung solcher Handlungen ab (vgl. zu Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83, der mit Art. 7 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2011/95 identisch ist, Urteil vom 20. Januar 2021, Secretary of State for the Home Department,C‑255/19, EU:C:2021:36, Rn. 44).

( 64 ) Vgl. Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 65 ) Vgl. Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 53).

( 66 ) In Art. 4 Abs. 5 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 heißt es: „Wenden die Mitgliedstaaten den Grundsatz an, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese Aussagen keines Nachweises, wenn … festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen[.]“

( 67 ) Informationsbericht über das Herkunftsland: Türkei, Länderstudie, verfügbar unter folgender Internetadresse: https://coi.euaa.europa.eu/administration/easo/PLib/EASOCOI_Turkey_Nov2016.pdf (Nr. 5.4.4).

( 68 ) Auch wenn sich verschiedene Rechtstexte direkt oder indirekt auf Gewalt gegen Frauen beziehen, beispielsweise die Verfassung, das Zivilgesetzbuch und das Strafgesetzbuch sowie Bestimmungen des Arbeits- und des Gemeinderechts, ist das wichtigste Element das Gesetz Nr. 6284 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt gegen Frauen vom 8. März 2012.

( 69 ) Vgl. Fn. 6 der vorliegenden Schlussanträge.

( 70 ) EGMR, 22. März 2016 (CE:ECHR:2016:0322JUD000064610, §§ 96, 97 und 116).

( 71 ) EGMR, 9. Juni 2009 (CE:ECHR:2009:0609JUD003340102, § 198).

( 72 ) EGMR, 13. November 2014 (CE:ECHR:2014:1113JUD000362107, § 65).

( 73 ) Vgl. – im Rahmen der Vorarbeiten zur Richtlinie 2004/83 – Mitteilung der Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union an den Strategischen Ausschuss für Einwanderungs‑, Grenz- und Asylfragen vom 25. September 2002, 12148/02, verfügbar unter folgender Internetadresse: https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST‑12148-2002‑INIT/fr/pdf (S. 5). Auch wenn die Richtlinie 2004/83 durch die Richtlinie 2011/95 aufgehoben und ersetzt worden ist, hat dieser Normenwechsel zu keiner Änderung der rechtlichen Regelung für die Gewährung subsidiären Schutzes oder der Nummerierungen der betreffenden Bestimmungen geführt. Daher ist der Wortlaut von Art. 15 der Richtlinie 2011/95 mit dem von Art. 15 der Richtlinie 2004/83 identisch, so dass die Rechtsprechung zur letztgenannten Bestimmung für die Auslegung der erstgenannten relevant ist.

( 74 ) Vgl. Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji (C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 28).

( 75 ) Vgl. Urteil vom 10. Juni 2021, Bundesrepublik Deutschland (Begriff ernsthafte individuelle Bedrohung) (C‑901/19, EU:C:2021:472, Rn. 25 und 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 76 ) Hervorhebung nur hier.

( 77 ) Vgl. Europarat, Istanbul Convention – Crimes committed in the name of so-called „honour“, 2019, und Resolution 2395 (2021) „Strengthening the fight against so-called ‚honour‘ crimes“, angenommen von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats am 28. September 2021.

( 78 ) EGMR, 9. Juni 2009 (CE:ECHR:2009:0609JUD003340102).

( 79 ) Vgl. §§ 128 und 129 dieses Urteils. Vgl. auch – im Fall häuslicher Gewalt – Urteile des EGMR vom 15. Januar 2009, Branko Tomašić u. a./Kroatien (CE:ECHR:2009:0115JUD004659806, §§ 52 und 53), sowie vom 8. Juli 2021, Tkhelidze/Georgien (CE:ECHR:2021:0708JUD003305617, § 57).

( 80 ) Ich erinnere daran, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein facettenreiches Phänomen ist. Ehrenverbrechen können u. a. die Form von Freiheitsberaubungen, Entführungen, Folter, Verstümmelungen oder aber Zwangsehen annehmen, wobei diese Handlungen mit einer Beschneidung einhergehen können, während es sich bei häuslicher Gewalt um ein Phänomen handelt, das sich nicht nur durch körperliche und sexuelle Übergriffe, sondern auch durch psychische Gewalt zeigen kann, die eine Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen materiellen Verlust verursachen kann (vgl. Erklärung über Grundprinzipien der rechtmäßigen Behandlung von Verbrechensopfern und Opfern von Machtmissbrauch, angenommen von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 29. November 1985 in der Resolution 40/34).

( 81 ) Obwohl Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 verlangt, dass die Mitgliedstaaten „berücksichtigen …, ob sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend verändert haben, dass die Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, tatsächlich nicht länger Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden“.

( 82 ) EGMR, 20. Juli 2010 (CE:ECHR:2010:0720JUD002350509, § 60).