SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY COLLINS

vom 9. März 2023 ( 1 )

Rechtssache C‑568/21

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

Beteiligte:

E.,

S.

und deren minderjährige Kinder

(Vorabscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verordnung [EU] Nr. 604/2013 – Art. 2 Buchst. 1 – Begriff „Aufenthaltstitel“ – Von einem Mitgliedstaat ausgestellter Diplomatenausweis – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats – Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen – Vorrechte und Immunitäten – Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats“

I. Einleitung

1.

Die vorliegenden Schlussanträge betreffen die Frage, ob Diplomatenausweise, die von einem Mitgliedstaat gemäß dem am 18. April 1961 in Wien geschlossenen Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (im Folgenden: Wiener Übereinkommen) ( 2 ) an Drittstaatsangehörige als Personal einer diplomatischen Vertretung in diesem Staat ausgestellt werden, Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung) ( 3 ), sind mit der Folge, dass dieser Mitgliedstaat für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz, die von Inhabern solcher Ausweise gestellt werden, zuständig ist.

II. Dublin‑III-Verordnung

2.

Die Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin‑III-Verordnung lauten:

„(4)

Entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(5)

Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.“

3.

In Art. 1 („Gegenstand“) der Dublin‑III-Verordnung heißt es: „Diese Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen (im Folgenden ‚zuständiger Mitgliedstaat‘).“

4.

Im Sinne der Dublin‑III-Verordnung wird in deren Art. 2 Buchst. l der Begriff „Aufenthaltstitel“ definiert als „jede von den Behörden eines Mitgliedstaats erteilte Erlaubnis, mit der der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats gestattet wird, einschließlich der Dokumente, mit denen die Genehmigung des Aufenthalts im Hoheitsgebiet im Rahmen einer Regelung des vorübergehenden Schutzes oder bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die eine Ausweisung verhindernden Umstände nicht mehr gegeben sind, nachgewiesen werden kann; ausgenommen sind Visa und Aufenthaltstitel, die während der zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats entsprechend dieser Verordnung erforderlichen Frist oder während der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz oder eines Antrags auf Gewährung eines Aufenthaltstitels erteilt wurden.“

5.

Gemäß Art. 7 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung „[finden die] Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats … in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung“.

6.

In Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 der Dublin‑III-Verordnung sind die maßgebenden Kriterien festgelegt. Art. 12 („Ausstellung von Aufenthaltstiteln oder Visa“) Abs. 1 bestimmt: „Besitzt der Antragsteller einen gültigen Aufenthaltstitel, so ist der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel ausgestellt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.“ Art. 14 („Visafreie Einreise“) der Dublin‑III-Verordnung lautet:

„(1)   Reist ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ein, in dem für ihn kein Visumzwang besteht, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.

(2)   Der Grundsatz nach Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Drittstaatsangehörige oder Staatenlose seinen Antrag auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat stellt, in dem er ebenfalls kein Einreisevisum vorweisen muss. In diesem Fall ist dieser andere Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.“

7.

Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung bestimmt:

„Die Überstellung des Antragstellers … aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt … spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.“

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

8.

Die Personen, die internationalen Schutz beantragt haben (im Folgenden: Antragsteller), sind Drittstaatsangehörige, die eine Familie bilden. Der Ehemann arbeitete in der Botschaft seines Herkunftsstaats im Mitgliedstaat X. Der Ehemann, die Ehefrau und die beiden Kinder besaßen die Vorrechte und Immunitäten nach dem Wiener Übereinkommen und erhielten vom Außenministerium dieses Staates Diplomatenausweise. Einige Jahre später verließ die Familie den Mitgliedstaat X und beantragte internationalen Schutz in den Niederlanden ( 4 ).

9.

Am 31. Juli 2019 teilte der Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande, im Folgenden: Staatssekretär) den Antragstellern mit, dass nach seiner Auffassung der Mitgliedstaat X für die Prüfung ihrer Anträge zuständig sei, und zwar entweder nach Art. 12 Abs. 1 oder nach Art. 12 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung.

10.

Am 30. August 2019 lehnte der Mitgliedstaat X die Aufnahmegesuche des Staatssekretärs ab und wies darauf hin, dass er den Antragstellern weder Aufenthaltstitel noch Visa erteilt habe, da sie sich ausschließlich aufgrund ihres Diplomatenstatus in diesem Mitgliedstaat aufgehalten hätten. Die Antragsteller seien mit einem von ihrem Herkunftsstaat ausgestellten Diplomatenpass in den Mitgliedstaat X und in die Niederlande eingereist und hätten daher kein Visum benötigt. Gemäß Art. 14 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung seien somit die Niederlande für die Prüfung ihrer Anträge zuständig.

11.

Am 11. September 2019 ersuchte der Staatssekretär den Mitgliedstaat X, die Aufnahmegesuche nochmals zu prüfen. Unter Berufung auf das Handbuch des Mitgliedstaats X über diplomatische Vorrechte und Immunitäten vertrat der Staatssekretär die Auffassung, dass die vom Mitgliedstaat X ausgestellten Diplomatenausweise einen Aufenthaltstitel darstellten. Die Zuständigkeit für die Prüfung der Anträge liege gemäß Art. 12 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung beim Mitgliedstaat X.

12.

Am 25. September 2019 gab der Mitgliedstaat X den Aufnahmegesuchen statt.

13.

Mit Bescheiden vom 29. Januar 2020 lehnte der Staatssekretär die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz ab.

14.

Die Antragsteller klagten gegen diese Bescheide. Sie machten vor der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) geltend, dass der Mitgliedstaat X für die Prüfung ihrer Anträge nicht zuständig sei, da sich ihr Recht auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat aus dem Wiener Übereinkommen herleite. Die vom Mitgliedstaat X ausgestellten Diplomatenausweise seien deklaratorisch und würden dieses Recht bloß bestätigen.

15.

Die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) gab der Klage statt und hob die Bescheide des Staatssekretärs mit der Begründung auf, dass die Diplomatenausweise nicht als Aufenthaltserlaubnis im Mitgliedstaat X angesehen werden könnten, da die Antragsteller nach dem Wiener Übereinkommen bereits ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat hätten. Die Diplomatenausweise hätten daher für dieses Aufenthaltsrecht eine rein deklaratorische (und nicht konstitutive) Bedeutung. Der Staatssekretär sei daher verpflichtet, ihre Anträge zu prüfen.

16.

Der Staatssekretär legte gegen das Urteil Rechtsmittel beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande) ein.

17.

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist der Begriff „Aufenthaltstitel“ weder durch den Wortlaut noch durch den Zusammenhang von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung hinreichend klar definiert. In dieser Verordnung sei nicht ausdrücklich festgelegt, dass dieser ein nach nationalem Recht ausgestelltes Dokument sein müsse. Es müsse sich zwar um eine von den Behörden eines Mitgliedstaats ausgestellte Erlaubnis zum Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet handeln, aber es werde nicht im Einzelnen gesagt, was diese Erlaubnis beinhalten müsse. Auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich insoweit keine Klarheit. Das Wiener Übereinkommen verpflichte die Vertragsstaaten, dem diplomatischen Personal und seinen Familienangehörigen den Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet zu gestatten. Der Empfangsstaat sei nicht befugt, Diplomaten die Erlaubnis zum Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu erteilen oder zu verweigern ( 5 ).

18.

In Anbetracht dieser Feststellungen hat das vorlegende Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen, dass ein von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage des Wiener Übereinkommens ausgestellter Diplomatenausweis ein Aufenthaltstitel im Sinne dieser Bestimmung ist?

19.

Die Antragsteller, die niederländische und die österreichische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV. Prüfung der Vorlagefrage

A.   Zulässigkeit

20.

Die österreichische Regierung hält die Vorlage nach den ihr vorliegenden Informationen für möglicherweise unzulässig. Der Mitgliedstaat X habe den Aufnahmegesuchen am 25. September 2019 stattgegeben, die Überstellung der Antragsteller sei aber nicht innerhalb der nachfolgenden sechs Monate erfolgt. Nach Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung seien daher die Niederlande für die Prüfung der Anträge zuständig, das Rechtsmittel des Staatssekretärs gehe ins Leere und die Vorlagefrage bedürfe keiner Beantwortung mehr ( 6 ).

21.

Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass der Staatssekretär bei der Einlegung des Rechtsmittels beim Raad van State (Staatsrat) eine einstweilige Anordnung beantragt hat, um die in Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Sechsmonatsfrist auszusetzen. Das vorlegende Gericht gab diesem Antrag am 24. März 2020 statt. Daraus folgt, dass der Rechtsstreit zwischen den Parteien vor dem vorlegenden Gericht anhängig und die Vorlage daher zulässig ist ( 7 ).

B.   Zur Sache

1. Zusammenfassung des Vorbringens der Verfahrensbeteiligten

22.

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts kommen zwei Auslegungsmöglichkeiten in Betracht: Ein Diplomatenausweis ist ein Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung, und der Mitgliedstaat X ist daher für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz zuständig. Ein Diplomatenausweis ist kein derartiger Aufenthaltstitel, so dass die Niederlande für die Prüfung der Anträge zuständig sind.

23.

Die niederländische Regierung und die Kommission sprechen sich für die erstgenannte Auslegung aus. Die Definition des Begriffs „Aufenthaltstitel“ in der Dublin‑III-Verordnung sei hinreichend weit gefasst, um auch Diplomatenausweise zu erfassen. Sie berufen sich auf die Auslegung der Art. 12 bis 14 dieser Verordnung durch den Gerichtshof, wonach die Anwendung der in diesen Bestimmungen festgelegten Kriterien grundsätzlich dazu führe, dass die Zuständigkeit für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrags auf internationalen Schutz dem Mitgliedstaat zugewiesen werde, der die Einreise dieses Staatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder den dortigen Aufenthalt zu verantworten habe.

24.

Die Kommission ist allerdings nicht davon überzeugt, dass Diplomatenausweise deklaratorisch und nicht konstitutiv seien. Die Vertragsstaaten des Wiener Übereinkommens hätten nämlich einen gewissen Beurteilungsspielraum bei der Auswahl der Personen, die sie als diplomatisches Personal in ihr Hoheitsgebiet aufnehmen. Sie könnten z. B. Personen zur „persona non grata“ oder unerwünschten Person erklären. Jedenfalls liefe es den Zielen der Dublin‑III-Verordnung zuwider, wäre ein Mitgliedstaat, der einen Drittstaatsangehörigen als Mitglied des diplomatischen Personals aufgenommen habe, nicht verpflichtet, den Antrag dieser Person auf internationalen Schutz zu bearbeiten.

25.

Nach Ansicht der niederländischen Regierung verlautbaren die Diplomatenausweise die Rechte nach Art. 39 des Wiener Übereinkommens einschließlich des Rechts auf Aufenthalt im Mitgliedstaat X, doch ergäben sich diese Rechte letztlich aus den Entscheidungen des Mitgliedstaats X und des Herkunftsstaats der Antragsteller, dem Wiener Übereinkommen beizutreten und diplomatische Beziehungen aufzunehmen. In diesem Zusammenhang habe der Mitgliedstaat X den Aufenthalt der Antragsteller in seinem Hoheitsgebiet erlaubt, unbeschadet seines Ermessens, jeden von ihnen für „non grata“ oder unerwünscht zu erklären. Darin zeige sich die Bedeutung der Rolle, die der Mitgliedstaat X bei der Erlaubnis des Aufenthalts der Antragsteller in seinem Hoheitsgebiet gespielt habe.

26.

Die Antragsteller und die österreichische Regierung vertreten die zweite Auslegung allerdings mit unterschiedlichen Ansätzen. Die Antragsteller berufen sich auf ein Urteil des Raad van State (Staatsrat), wonach sich der privilegierte Status des diplomatischen Personals und seiner Familienangehörigen unmittelbar aus dem Wiener Übereinkommen ergebe und nicht davon abhängig sei, dass sie im Besitz eines Ausweises seien ( 8 ). In gleicher Weise ergebe sich das Recht der Antragsteller, sich im Mitgliedstaat X aufzuhalten, unmittelbar aus dem Wiener Übereinkommen, und ein Diplomatenausweis sei lediglich die Bescheinigung für ein bereits bestehendes Aufenthaltsrecht. Nach dem Wiener Übereinkommen könne der Empfangsstaat, von sehr begrenzten Ausnahmen abgesehen, einem Diplomaten sein Aufenthaltsrecht nicht entziehen. Daraus folge, dass dieses Recht nicht vom Empfangsstaat gewährt werde. Sie weisen auch darauf hin, dass Diplomaten vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ( 9 ) ausgeschlossen seien.

27.

Nach Ansicht der österreichischen Regierung weist ein Diplomatenausweis die Vorrechte und Immunitäten aus, die das diplomatische Personal nach dem Wiener Übereinkommen genieße. Dazu gehöre nicht das Recht, in den Empfangsstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten. Die nach dem Wiener Übereinkommen ausgestellten Diplomatenausweise seien daher keine Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung. Viele Mitgliedstaaten, darunter auch Österreich, verpflichteten das diplomatische Personal dazu, ein Einreisevisum zu beantragen, das, wenn es ausgestellt werde, de facto eine Genehmigung zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat darstelle.

2. Würdigung

28.

Ich werde zunächst auf den rechtlichen Rahmen eingehen, in dem der Mitgliedstaat X die Diplomatenausweise der Antragsteller ausgestellt hat. Danach werde ich auf das Vorbringen der Verfahrensbeteiligten zur Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Aufenthaltsrecht von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten eingehen und deren Bedeutung im vorliegenden Zusammenhang prüfen. Abschließend werde ich den Wortlaut und den Zusammenhang der einschlägigen Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung bewerten und zu dem Ergebnis gelangen, dass diese Bestimmungen für die Beantwortung der Vorlagefrage ausschlaggebend sind.

a) Die Diplomatenausweise der Antragsteller

29.

Das Wiener Übereinkommen ist ein völkerrechtliches Übereinkommen, das von Mitgliedstaaten und Drittstaaten in Ausübung ihrer Hoheitsgewalt im Bereich der diplomatischen Beziehungen unterzeichnet und ratifiziert wurde. Es betrifft nicht die Beziehungen zur Europäischen Union, die nicht Vertragspartei dieses Abkommens ist ( 10 ).

30.

Die Vertragsstaaten des Wiener Übereinkommens vereinbaren, dem Personal der diplomatischen Vertretungen bestimmte Vorrechte und Immunitäten zu gewähren, um die „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und … die Förderung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen“ zu erleichtern; „diese Vorrechte und Immunitäten [dienen] nicht dem Zweck …, einzelne zu bevorzugen, sondern [haben] zum Ziel …, den diplomatischen Missionen als Vertretungen von Staaten die wirksame Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu gewährleisten“ ( 11 ).

31.

Die österreichische Regierung weist darauf hin, dass das Wiener Übereinkommen dem diplomatischen Personal nicht ausdrücklich das Recht einräume, in das Hoheitsgebiet eines Empfangsstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten, und dass die Vertragsstaaten Verfahren zur Regelung solcher Angelegenheiten einrichten könnten. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass es für eine effiziente Wahrnehmung der Aufgaben diplomatischer Missionen erforderlich ist, dass das Personal einer Mission nicht nur in das Hoheitsgebiet des Empfangsstaats einreisen, sondern sich dort auch aufhalten darf ( 12 ).

32.

Dieses Recht gilt nicht uneingeschränkt. Das Wiener Übereinkommen räumt den Vertragsstaaten ein erhebliches Ermessen in Bezug auf die Identität und die Anzahl der Personen ein, die sie als Personal der diplomatischen Missionen akzeptieren, sowie in Bezug auf die Dauer ihres Verbleibs nach Beendigung ihrer Tätigkeit ( 13 ).

33.

Der Mitgliedstaat X ist ein Unterzeichnerstaat des Wiener Übereinkommens, das er in den 1990er Jahren ratifiziert hat. Aus dem Sachverhalt der Vorlage ergibt sich, dass der Mitgliedstaat X und der Herkunftsstaat der Antragsteller diplomatische Beziehungen aufgenommen haben, die durch dieses Übereinkommen geregelt werden. Der Mitgliedstaat X hat daher zugestimmt, dem Personal dieser diplomatischen Mission die Vorrechte und Immunitäten des Wiener Übereinkommens zum Zwecke der wirksamen Erfüllung der Aufgaben dieser Mission zu gewähren, unbeschadet der Ausübung seines in der vorstehenden Nummer der vorliegenden Schlussanträge dargestellten Ermessens.

34.

In der Vorlageentscheidung heißt es, dass die in Rede stehenden Diplomatenausweise folgende Angaben enthielten: „Diplomatenausweis, Dienststelle, Name, Vornamen, Geburtsdatum, Personalnummer, Dienststellung, Ausstellungs- und Ablaufdatum sowie Unterschrift des Inhabers.“ Der Status ist ebenfalls angegeben. Die nationale Gerichtsakte enthält keine Kopie der den Antragstellern ausgestellten Ausweise.

35.

Die niederländische Regierung verweist auf das Handbuch über diplomatische Vorrechte und Immunitäten des Mitgliedstaats X ( 14 ), wonach ein Diplomatenausweis die im Wiener Übereinkommen genannten Vorrechte und Immunitäten gewähre. Er sei die Rechtsgrundlage für den Aufenthalt des diplomatischen Personals und deren Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat. Zusammen mit einem Reisepass berechtige er zur Einreise in die und zum Reisen innerhalb der Schengen-Staaten ( 15 ).

36.

Der Mitgliedstaat X hat auch ein Dokument veröffentlicht, das ein Muster für die von ihm ausgestellten Diplomatenausweise enthält ( 16 ). Es trägt die Überschrift „Diplomatenausweis“ und ist mit einem Foto des Inhabers auf der linken Seite versehen. Die Seite, auf der das Foto zu sehen ist, enthält die in Nr. 34 der vorliegenden Schlussanträge genannten Angaben. Der Text auf der Rückseite besagt, dass der Ausweis den Inhaber berechtige, sich bis zum Ablaufdatum des Ausweises im Mitgliedstaat X aufzuhalten und bei Vorlage eines gültigen Reisedokuments in das Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten einzureisen. Das Dokument, das das Ausweismuster enthält, weist darauf hin, dass auf der Rückseite des Ausweises Angaben über die Vorrechte des Inhabers zu finden seien.

37.

Entgegen dem Vorbringen der österreichischen Regierung ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass die Diplomatenausweise der Antragsteller ihr Recht auf Aufenthalt im Mitgliedstaat X für den auf den Ausweisen angegebenen Zeitraum im Einklang mit dem Wiener Übereinkommen bescheinigen ( 17 ).

b) Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Aufenthaltsrecht und zu Aufenthaltstiteln

38.

Die Antragsteller berufen sich auf eine sinngemäße Anwendung der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort zu den vom Vertrag genannten Zwecken aufzuhalten, ein Recht darstelle, das unmittelbar aus dem Vertrag oder gegebenenfalls aus den zu seiner Durchführung erlassenen Vorschriften erwachse. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels an einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats sei nicht als rechtsbegründende Maßnahme (konstitutives Dokument), sondern als Maßnahme zu betrachten, die dazu diene, die individuelle Situation eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats im Hinblick auf die Bestimmungen des Unionsrechts zu bescheinigen (deklaratorisches Dokument) ( 18 ). Diese Rechtsprechung lasse sich auf die Situation von Drittstaatsangehörigen im Rahmen des Wiener Übereinkommens übertragen; die Diplomatenausweise der Antragsteller bescheinigten lediglich Rechte, die ihnen nach dem Übereinkommen bereits zustünden, so dass die Behörden des Mitgliedstaats X ihnen keine Aufenthaltstitel im Sinne der Dublin‑III-Verordnung ausgestellt hätten.

39.

In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick in eines der ersten Urteile des Gerichtshofs zur Frage, worauf das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten, beruht, und zwar in das Urteil Royer ( 19 ).

40.

Der Gerichtshof hat darin festgestellt, dass das Recht der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort zu den vom Vertrag genannten Zwecken aufzuhalten, unmittelbar aus dem Vertrag oder, je nach Sachlage, aus den zu seiner Durchführung ergangenen Bestimmungen fließe. Folglich werde dieses Recht unabhängig von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis durch die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats erworben. Die Erteilung dieser Erlaubnis sei nicht als rechtsbegründende Maßnahme zu betrachten, sondern als Nachweis der persönlichen Stellung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats nach den Bestimmungen des Unionsrechts. Ferner verpflichte die Richtlinie Nr. 68/360 ( 20 ) die Mitgliedstaaten, in ihrem Hoheitsgebiet das Aufenthaltsrecht denjenigen Personen zu gewähren, die die in dieser Richtlinie aufgeführten Dokumente vorlegten, und stelle die Aufenthaltserlaubnis den Nachweis des Aufenthaltsrechts dar. Die einschlägigen Bestimmungen dieser Richtlinie sollten also die praktischen Einzelheiten für die Ausübung unmittelbar aus dem Vertrag fließender Rechte festlegen. Folglich hätten die Behörden der Mitgliedstaaten das Aufenthaltsrecht jedem zu gewähren, der zu den in dieser Richtlinie genannten Gruppen gehöre und in der Lage sei, durch Vorlage der genannten Unterlagen nachzuweisen, dass er einer dieser Gruppen angehöre. Da es um die Ausübung eines unmittelbar aufgrund des Vertrags erworbenen Rechts gehe, könne die Nichtbeachtung rechtlicher Formalitäten für sich genommen nicht als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit angesehen werden, der den Erlass einer Ausweisungsverfügung rechtfertigen könne ( 21 ).

41.

Aus diesem Urteil ergeben sich zwei wichtige Punkte.

42.

Erstens ist es, da es sich um rechtlich und sachlich unterschiedliche Zusammenhänge handelt, nicht möglich, die Feststellungen des Gerichtshofs zu den Rechten, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten aus den Verträgen im Rahmen der Unionsrechtsordnung und der Lehre von der unmittelbaren Wirkung erwachsen, auf die Vorrechte und Immunitäten zu übertragen, die Drittstaatsangehörigen nach dem Wiener Übereinkommen im Rahmen der Rechtsordnung eines bestimmten Mitgliedstaats gewährt werden.

43.

Zweitens hat der Gerichtshof angesichts einer Situation, in der einige Mitgliedstaaten die Rechte von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in unzulässiger Weise eingeschränkt hatten, festgestellt, dass sich diese Rechte unmittelbar aus den Verträgen ergäben und dass sie unabhängig von der Erteilung eines Aufenthaltstitels gälten. Die vorliegende Situation ist anders. Es wird nicht geltend gemacht, dass es eine Diskrepanz gebe zwischen den Rechten, die den Antragstellern unmittelbar oder mittelbar aus dem Wiener Übereinkommen erwachsen, und den Rechten, die in den Diplomatenausweisen bescheinigt werden, oder denjenigen, die die Antragsteller sonst innehatten.

44.

In Anbetracht dessen bin ich der Auffassung, dass die Klärung der Frage, ob die Diplomatenausweise der Antragsteller im Sinne des Urteils Royer deklaratorischen oder konstitutiven Charakter haben, nicht zur Lösung der dem Gerichtshof vorliegenden Frage beiträgt, ob es sich bei diesen Ausweisen um Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung handelt. Die nachfolgende Analyse des Wortlauts und des Zusammenhangs zeigt jedoch, dass es auch nicht notwendig ist, darauf einzugehen.

c) Analyse von Art. 2 Buchst. l und Art. 12 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung nach Wortlaut und Zusammenhang

45.

Nach dem Wortlaut von Art. 2 Buchst. l und Art. 12 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung stellt eine Behörde eines Mitgliedstaats, die der Auffassung ist, dass ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser zum Aufenthalt in dessen Hoheitsgebiet berechtigt ist, eine entsprechende Erlaubnis aus. Der Mitgliedstaat X hat genau dies getan, als er den Antragstellern Diplomatenausweise ausstellte ( 22 ).

46.

Aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen geht nicht hervor, dass Erlaubnisse, die aufgrund der Tatsache, dass der betreffende Mitgliedstaat Vertragspartei eines internationalen Übereinkommens wie des Wiener Übereinkommens ist, oder aufgrund einschlägiger nationaler Durchführungsvorschriften erteilt werden, von der Definition des Begriffs „Aufenthaltstitel“ ausgenommen sind. Ebenso ist es entgegen dem Vorbringen der Antragsteller unerheblich, dass das Dokument als deklaratorisch oder konstitutiv bezeichnet werden kann und/oder dass es sich formal oder inhaltlich von den Aufenthaltstiteln unterscheidet, die anderen Personen, z. B. den Bürgern oder dauerhaft Aufenthaltsberechtigten des Mitgliedstaats X, erteilt werden. Die Dublin‑III-Verordnung nimmt auf derartige Erwägungen nicht Bezug.

47.

Diese Auslegung des Wortlauts dieser Bestimmungen steht im Einklang mit dem Zusammenhang, in dem sie stehen. Die Dublin‑III-Verordnung zielt darauf ab, eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats festzulegen ( 23 ). Diesem Ziel entspricht es, dass alle Dokumente, die die Mitgliedstaaten ausstellen, um Personen den Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet zu erlauben, als Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 2 Buchst. l dieser Verordnung anzusehen sind. Diese Auslegung entspricht auch dem vom Gerichtshof vertretenen Verständnis der mit der Dublin‑III-Verordnung verfolgten Ziele ( 24 ).

48.

Die niederländische Regierung und die Kommission weisen außerdem darauf hin, dass die stärkste Verbindung der Antragsteller zum Mitgliedstaat X besteht. Sie sind aufgrund der diplomatischen Beziehungen zwischen ihrem Herkunftsstaat und dem Mitgliedstaat X in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten eingereist und haben dort mehrere Jahre gearbeitet und gelebt.

49.

Die Feststellung, dass der Mitgliedstaat X für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz zuständig ist, steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Dublin‑III-Verordnung, die die folgenden drei Ergebnisse sicherstellen soll: Erstens, dass die Zuständigkeit für die Prüfung der Anträge bei dem Mitgliedstaat liegt, in den ein Ausländer zuerst eingereist ist oder in dem er sich nach seiner Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufgehalten hat. Zweitens, dass die Rolle des Mitgliedstaats dabei zu berücksichtigen ist, dass sich die Antragsteller im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befinden. Drittens, dass in einem Raum der Freizügigkeit jeder Mitgliedstaat gegenüber allen anderen Mitgliedstaaten für seine Handlungen im Bereich der Einreise und des Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen verantwortlich ist. Jeder Mitgliedstaat hat daher die Konsequenzen seines Handels im Einklang mit den Grundsätzen der Solidarität und der loyalen Zusammenarbeit zu tragen ( 25 ).

50.

Eine andere Auslegung würde, wie das vorlegende Gericht und die niederländische Regierung ausführen, darauf hinauslaufen, dass Drittstaatsangehörige in der Situation der Antragsteller, die nach dem Wiener Übereinkommen Vorrechte und Immunitäten genießen, die Wahl hätten, in welchem Mitgliedstaat sie einen Antrag auf internationalen Schutz stellen, während andere, deren Aufenthaltstitel eine andere Rechtsgrundlage hätten, diese Wahl nicht hätten. Dies würde den einheitlichen Verfahren und Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zuwiderlaufen, die mit der Dublin‑III-Verordnung angestrebt werden ( 26 ). Dabei ist es unerheblich, dass sich nur wenige Personen in der Situation der Antragsteller befinden mögen.

51.

Schließlich bin ich auch nicht davon überzeugt, dass der Ausschluss von Diplomaten vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109 irgendeinen Einfluss auf dieses Ergebnis hat. Mit dieser Richtlinie sollen Personen von deren Anwendungsbereich ausgeschlossen werden, die keinen Daueraufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten anstreben, wie z. B. Personen, die einen Rechtsstatus nach dem Wiener Übereinkommen genießen ( 27 ). Dies hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, ihnen Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung auszustellen.

V. Ergebnis

52.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Art. 2 Buchst. l der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist,

ist dahin auszulegen, dass

ein gemäß dem am 18. April 1961 in Wien geschlossenen Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen ausgestellter Diplomatenausweis ein Aufenthaltstitel im Sinne dieser Bestimmung ist.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) United Nations Treaty Series, Bd. 500, S. 95.

( 3 ) ABl. 2013, L 180, S. 31.

( 4 ) Zum Schutz der Identität der Antragsteller enthält der Vorlagebeschluss weder die Angabe ihrer Staatsangehörigkeit noch des Mitgliedstaats ihrer diplomatischen Mission, der als Mitgliedstaat X bezeichnet wird. Die vorliegenden Schlussanträge folgen diesem Ansatz.

( 5 ) Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ergibt sich das Recht des diplomatischen Personals auf Aufenthalt in den Niederlanden unmittelbar aus dem Wiener Übereinkommen und nicht aus dem nationalen Recht.

( 6 ) Vgl. z. B. Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie (Urkundenfälschung) (C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 7 ) Vgl. entsprechend Urteile vom 26. Juli 2017, A.S. (C‑490/16, EU:C:2017:585, Rn. 56 bis 60), und vom 25. Oktober 2017, Shiri (C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 46). Zur Frage der Rechtmäßigkeit der Aussetzung nach der Dublin‑III-Verordnung möchte ich nicht Stellung nehmen.

( 8 ) Urteil des Raad van State (Staatsrat) vom 27. März 2008 (NL:RVS:2008:BC8570).

( 9 ) ABl. 2004, L 16, S. 44. Vgl. Art. 3 Abs. 2 Buchst. f dieser Richtlinie.

( 10 ) Urteil vom 22. März 2007, Kommission/Belgien (C‑437/04, EU:C:2007:178, Rn. 33).

( 11 ) Wiener Übereinkommen, Präambel Sätze 2 und 4.

( 12 ) Vgl. Denza, E., Diplomatic Law – Commentary on the Vienna Convention on Diplomatic Relations, 4. Aufl., Oxford University Press, 2016, S. 50: „Obwohl das Recht, in das Hoheitsgebiet des Empfangsstaats einzureisen und dort sich dort aufzuhalten, im [Wiener Übereinkommen] nicht ausdrücklich als Vorrecht genannt wird, wird es in der Praxis als aus Art. 7 abgeleitet betrachtet und im innerstaatlichen Einwanderungsrecht umgesetzt, soweit dies in einigen Staaten erforderlich ist“ (Fußnote ausgelassen). Art. 7 des Wiener Übereinkommens sieht vor, dass der Entsendestaat die Mitglieder des Personals seiner Mission vorbehaltlich bestimmter Vorbehalte nach freiem Ermessen ernennen kann.

( 13 ) Nach dem Wiener Übereinkommen hat sich der Entsendestaat zu vergewissern, dass die Person, die er als Missionschef bei dem Empfangsstaat zu beglaubigen beabsichtigt, dessen Agrément erhalten hat; das Agrément kann ohne Grund verweigert werden (Art. 4). Angehörige des Empfangsstaats dürfen nur mit dessen Zustimmung zu Mitgliedern des diplomatischen Personals der Mission ernannt werden (Art. 8 Abs. 2). Es ist dem Empfangsstaat gestattet, eine Person jederzeit und ohne Angabe von Gründen als „persona non grata“ oder unerwünscht zu erklären (Art. 9). Der Empfangsstaat kann den Umfang der Mission und damit die Zahl der Mitarbeiter begrenzen (Art. 11). Der Empfangsstaat hat ein Ermessen bei der Festlegung des Zeitraums, den er für angemessen hält, damit ein Missionsmitarbeiter sein Hoheitsgebiet nach Beendigung seiner Tätigkeit verlassen kann, sowie bei der Festlegung des Zeitraums, in dem Familienangehörige nach dem Tod eines Missionsmitarbeiters verbleiben können (Art. 39 Abs. 2 und 3). Aktuelle Ereignisse machen die Ausübung dieses Ermessens deutlich. Am 7. April 2022 gab das Außenministerium der Republik Österreich bekannt, dass es sich gezwungen sehe, drei Mitgliedern der Botschaft der Russischen Föderation in Wien und einem Mitglied des Generalkonsulats der Russischen Föderation in Salzburg den Diplomatenstatus abzuerkennen. Diese Personen hatten Handlungen begangen, die mit ihrem Diplomatenstatus unvereinbar waren, weshalb sie gemäß Art. 9 des Wiener Übereinkommens zu personae non gratae erklärt und aufgefordert wurden, das österreichische Hoheitsgebiet bis zum 12. April 2022 zu verlassen.

( 14 ) Dieses Dokument wurde dem Gerichtshof nicht zur Verfügung gestellt; die aktuelle Fassung ist im Internet abrufbar.

( 15 ) Art. 19 Abs. 2 sowie Anhang VII Nr. 4.3 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105 S. 1).

( 16 ) Dieses Muster der Ausweise wurde der Kommission gemäß Art. 34 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodexes übermittelt und gemäß dessen Art. 34 Abs. 2 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Das frühere Muster, das wahrscheinlich zum Zeitpunkt der Ankunft der Antragsteller im Mitgliedstaat X in Gebrauch war, wurde drei Jahre zuvor im Amtsblatt veröffentlicht. Für die vorliegenden Zwecke gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Fassungen.

( 17 ) Nach dem Primärrecht des Mitgliedstaats X, das dem Gerichtshof nicht vorliegt, aber im Internet abrufbar ist, bilden völkerrechtliche Verträge und Instrumente die Rechtsgrundlage für den vorübergehenden Aufenthalt und die Wohnsitznahme für diplomatisches Personal in diesem Staat. Ebenso wie die Niederlande versteht sich der Mitgliedstaat X gemeinhin als monistisch, d. h., er akzeptiert internationale Verträge, die er ratifiziert hat, als Teil des nationalen Rechts, ohne dass es einer nationalen Umsetzung bedarf.

( 18 ) Vgl. z. B. Urteile vom 23. März 2006, Kommission/Belgien (C‑408/03, EU:C:2006:192, Rn. 62 und 63 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 21. Juli 2011, Dias (C‑325/09, EU:C:2011:498, Rn. 54). Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache I (C‑195/16, EU:C:2017:374, Nrn. 37 und 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 19 ) Urteil vom 8. April 1976, Royer (48/75, EU:C:1976:57). Vgl. auch Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG,75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).

( 20 ) Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft (ABl. 1968, L 257, S. 13).

( 21 ) Urteil vom 8. April 1976, Royer (48/75, EU:C:1976:57, Rn. 18 bis 40).

( 22 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 26. Juli 2017, Jafari (C‑646/16, EU:C:2017:586, Rn. 58). Vorliegend war die Grundlage des Aufenthalts der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats X nicht dessen bloße Duldung.

( 23 ) Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin‑III-Verordnung.

( 24 ) Vgl. z. B. Urteil vom 9. Dezember 2021, BT (Klage gegen den Versicherten) (C‑708/20, EU:C:2021:986, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 25 ) Urteile vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 79), und vom 26. Juli 2017, Jafari (C‑646/16, EU:C:2017:586, Rn. 86 bis 88 und 91).

( 26 ) Vgl., entsprechend, Urteil vom 2. April 2019, H. und R. (C‑582/17 und C‑583/17, EU:C:2019:280, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 27 ) Vgl. Art. 3 Abs. 2 Buchst. f der Richtlinie und Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Singh (C‑502/10, EU:C:2012:294, Nrn. 36 bis 39).