SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 27. Oktober 2022 ( 1 )

Verbundene Rechtssachen C‑514/21 und C‑515/21

LU (C‑514/21),

PH (C‑515/21)

gegen

Minister for Justice and Equality

(Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal [Irland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe – Gründe, aus denen die Übergabe verweigert werden kann – Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 – ‚Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat‘ – Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung – Verteidigungsrechte – Art. 6 EMRK – Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

I. Einleitung

1.

Eine Person beging eine Straftat und wurde in einem fairen Verfahren für schuldig befunden. Dieser Schuldspruch führte zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe. Danach wurde dieselbe Person wegen einer während der Bewährungszeit wegen der ersten Straftat begangenen zweiten Straftat angeklagt. Das zweite Verfahren wurde in Abwesenheit durchgeführt und endete mit einem Schuldspruch und der Verhängung einer Freiheitsstrafe. Dies hatte zur Folge, dass die Strafaussetzung zur Bewährung für die erste Straftat widerrufen wurde. Da sich die betreffende Person im Ausland aufhielt, wurde ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung der Haftstrafe für die erste Straftat ausgestellt.

2.

Kann die vollstreckende Behörde auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung der Strafe für die erste Straftat die Übergabe verweigern, weil das zweite Verfahren in Abwesenheit durchgeführt wurde? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es der Auslegung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI ( 2 ). Insbesondere bedarf es der Klärung, ob der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ auch dieses zweite Verfahren umfasst.

3.

Neben der Auslegung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl geht es bei diesen Vorlagen auch um ein grundlegenderes Problem des Systems des Europäischen Haftbefehls. Sie werfen die Frage auf, ob die vollstreckende Behörde über die im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl normierten Fälle hinaus die Übergabe dann soll ablehnen dürfen (oder sogar ablehnen muss), wenn sie feststellt, dass ein Grundrecht (oder zumindest der Wesensgehalt dieses Rechts) der zu übergebenden Person durch den Ausstellungsstaat verletzt werden würde.

4.

Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl enthält eine erschöpfende Aufzählung der Fälle, in denen die vollstreckende Behörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern muss oder verweigern kann ( 3 ). Daneben hat der Gerichtshof dem Rahmenbeschluss eine weitere Möglichkeit entnommen. Nach seiner Rechtsprechung kann die vollstreckende Behörde die Übergabe auch dann ablehnen, wenn im Ausstellungsstaat systemische oder allgemeine Mängel, die eine bestimmte Personengruppe oder eine bestimmte Haftanstalt betreffen ( 4 ), oder auch allgemeine oder systemische Mängel im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit ( 5 ) vorliegen. Bestehen derartige systemische Probleme, hat die vollstreckende Behörde vor einer Ablehnung der Übergabe ergänzend zu ermitteln, ob für die zu übergebende Person eine echte Gefahr der Verletzung ihrer Grundrechte im Ausstellungsstaat besteht ( 6 ).

5.

Im vorliegenden Fall – und das gilt auch für eine Reihe weiterer, zum Zeitpunkt der Verlesung dieser Schlussanträge beim Gerichtshof anhängiger Rechtssachen ( 7 ) – werden jedoch keine systemischen Mängel im Ausstellungsstaat geltend gemacht. Das wirft eine neue Frage auf: Genügt eine potenzielle einzelne Verletzung der Grundrechte der zu übergebenden Person dafür, dass die vollstreckende Behörde die Übergabe ablehnen kann? Dies wirft auch (erneut) die Frage auf, ob die vollstreckende Behörde überhaupt zur Prüfung der Frage befugt ist, ob die Grundrechte der zu übergebenden Person vom Ausstellungsstaat gewahrt werden. In allen diesen Fällen, einschließlich der vorliegenden Vorlagen, kommen die Probleme der vollstreckenden Justizbehörden, die sich an den Grundsatz der automatischen gegenseitigen Anerkennung halten, auf dem das System des Europäischen Haftbefehls beruht, zum Vorschein ( 8 ).

6.

Die Vorlagefragen können in einer dem vorlegenden Gericht dienlichen Art und Weise beantwortet werden, ohne dass zur Frage weiterer Möglichkeiten für die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ein allgemeingültiger Standpunkt eingenommen wird. Die Vorlagefragen stellen sich nämlich, wie gezeigt werden wird, in einem Kontext, in dem sich eine mögliche Grundrechtsverletzung daraus ergibt, dass eine Gerichtsverhandlung in Abwesenheit stattgefunden hat. Für diese Situation hat der Unionsgesetzgeber Einvernehmen darüber hergestellt, unter welchen Umständen nationale Gerichte Abwesenheitsurteile anzuerkennen haben ( 9 ). Gleichwohl werde ich auf einige Gesichtspunkte aufmerksam machen, die dafür sprechen, dass weitere Gründe für die Ablehnung der Übergabe auf ein Mindestmaß zu beschränken sind ( 10 ).

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl

7.

Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

8.

Nach Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls aus folgenden Gründen abgelehnt werden:

„(1)   Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats

a)

rechtzeitig

i)

entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,

und

ii)

davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

oder

b)

in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist;

oder

c)

nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:

i)

ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht;

oder

ii)

innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat;

oder

d)

die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber

i)

sie unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:

und

ii)

von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie gemäß dem einschlägigen Europäischen Haftbefehl verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.“

B.   Rahmenbeschluss 2009/299

9.

Art. 4a wurde mit dem Rahmenbeschluss 2009/299 als zusätzlicher fakultativer Grund für die Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl aufgenommen. In diesem Zusammenhang sind folgende Erwägungsgründe des Rahmenbeschlusses 2009/299 von Bedeutung:

„(1)

Das Recht eines Angeklagten, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen, ist Teil des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Gerichtshof hat aber auch darauf hingewiesen, dass das Recht des Angeklagten, persönlich zu der Verhandlung zu erscheinen, nicht absolut ist und dass der Angeklagte unter bestimmten Bedingungen aus freiem Willen ausdrücklich oder stillschweigend aber eindeutig auf das besagte Recht verzichten kann.

(6)

Die Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses zur Änderung anderer Rahmenbeschlüsse legen die Bedingungen fest, unter denen die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist, nicht [verweigert werden] darf. Es handelt sich dabei um alternative Bedingungen; wenn eine der Bedingungen erfüllt ist, gewährleistet die ausstellende Behörde durch das Ausfüllen des entsprechenden Abschnitts des Europäischen Haftbefehls oder der Bescheinigungen gemäß den anderen Rahmenbeschlüssen, dass die Anforderungen erfüllt wurden bzw. erfüllt werden, was für den Zweck der Vollstreckung der betreffenden Entscheidung auf der Grundlage des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ausreichen sollte.“

III. Sachverhalt der Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10.

Der im Wesentlichen übereinstimmende Inhalt der beiden verbundenen Rechtssachen ist in den einleitenden Nummern der vorliegenden Schlussanträge zusammengefasst worden. Zu Beginn werde ich den Sachverhalt der beiden verbundenen Rechtssachen näher erläutern.

A.   LU (C‑514/21)

11.

Eine ungarische Justizbehörde beantragt die Übergabe von LU, dem Berufungskläger des Ausgangsverfahrens, zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und hat zu diesem Zweck einen Europäischen Haftbefehl erlassen. Das vorlegende Gericht, der Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) ist in diesem Zusammenhang die vollstreckende Justizbehörde ( 11 ).

12.

Der High Court (Obergericht), der in erster Instanz über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls entscheidet, übermittelte insgesamt sieben Ersuchen um zusätzliche Informationen gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl an die ausstellende Justizbehörde.

13.

LU beging im August 2005 mehrere Straftaten, nämlich häusliche Gewalt gegen seine frühere Ehefrau, das gemeinsame Kind und seine Schwiegermutter, einschließlich tätlicher Angriffe auf seine frühere Ehefrau und Freiheitsberaubung gegenüber ihr und dem gemeinsamen Kind. Ich bezeichne diese Straftaten im Folgenden als „erste Straftaten“.

14.

LU wurde im Oktober 2006 wegen der ersten Straftaten verurteilt, und diese Verurteilung wurde im April 2007 im Berufungsverfahren bestätigt. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts bestätigte die ausstellende Justizbehörde, dass LU bei beiden Verfahren entweder anwesend oder durch den von ihm gewählten Verteidiger vertreten war. LU wurde wegen der ersten Straftaten zu einer Haftstrafe von einem Jahr verurteilt, die für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde ( 12 ).

15.

Im Dezember 2010 wurde LU in erster Instanz wegen einer Straftat der Nichtzahlung von Kindesunterhalt verurteilt, die ich als „auslösende Straftat“ bezeichne. Er war bei zwei mündlichen Verhandlungen anwesend, jedoch nicht bei Verkündung der Entscheidung. Im Ergebnis verhängte das erstinstanzliche Gericht eine Geldstrafe, erließ aber keinen Beschluss bezüglich der Bewährungsstrafe für die ersten Straftaten ( 13 ).

16.

Gegen diese Verurteilung wurde Berufung eingelegt; die Gerichtsakte enthält jedoch keine Informationen darüber, wer die Berufung eingeleitet hat ( 14 ). LU wurde zur mündlichen Verhandlung vorgeladen, aber die Vorladung wurde nicht abgeholt, was nach ungarischem Recht als ordnungsgemäße Zustellung gilt. Da LU bei der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war, bestellte das Berufungsgericht für ihn einen Verteidiger, der ihn in der Verhandlung vertrat.

17.

Im Juni 2012 änderte das Berufungsgericht das ursprüngliche Urteil (die Geldstrafe), verurteilte LU zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten und schloss ihn für ein Jahr von der Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten aus. Gleichzeitig widerrief das Berufungsgericht die Strafaussetzung zur Bewährung und ordnete die Vollstreckung der wegen der ersten Straftaten verhängten Strafe an ( 15 ).

18.

Zu diesem Zeitpunkt, im September 2012, stellte die ungarische Justizbehörde einen Europäischen Haftbefehl zur Verbüßung der für die ersten Straftaten und die auslösende Straftat verhängten Strafen aus. LU widersprach vor dem High Court der Übergabe; dieser lehnte es ab, seine Übergabe anzuordnen.

19.

Schließlich stellte LU einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens in Bezug auf die ersten Straftaten; sein Antrag wurde in erster Instanz im Oktober 2016 abgelehnt, was in der Berufungsinstanz im März 2017 bestätigt wurde. In beiden Verfahren erschien LU nicht persönlich, sondern ließ sich durch einen von ihm bestellten Verteidiger vertreten. Infolge dieser rechtskräftigen Ablehnung eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens war die Freiheitsstrafe für die ersten Straftaten nach ungarischem Recht wieder vollstreckbar. Eine ungarische Justizbehörde stellte daher im Juli 2017 einen zweiten Europäischen Haftbefehl aus, der sich ausschließlich auf die Verurteilung wegen der ersten Straftaten bezog ( 16 ). Dieser zweite Europäische Haftbefehl liegt derzeit dem vorlegenden Gericht als vollstreckender Justizbehörde zur Entscheidung vor.

20.

Das vorlegende Gericht ist der vorläufigen Auffassung, dass die Verhandlung wegen der auslösenden Straftat nicht mit Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK) vereinbar sei. Wäre diese Gerichtsverhandlung als die „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“, anzusehen, könnte die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nach Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl verweigert werden.

21.

LU machte geltend, dass die Haftstrafe für die ersten Straftaten lediglich aufgrund des Verfahrens wegen der auslösenden Straftat vollstreckbar sei. Deshalb müsse die Verhandlung wegen der auslösenden Straftat als die „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ angesehen werden. Da diese Verhandlung in Abwesenheit durchgeführt worden sei, erfülle sie keine der in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl genannten Voraussetzungen für eine Übergabe. Außerdem gebe es keine Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens in Bezug auf die auslösende Straftat, so dass seine Übergabe ein „eklatanter Verstoß“ gegen seine Rechte aus Art. 6 EMRK sowie gegen die Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) darstellen würde.

22.

Der Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichberechtigung), der Berufungsbeklagte des Ausgangsverfahrens, machte dagegen geltend, dass das Verfahren wegen der auslösenden Straftat lediglich eine „Modalität der Strafvollstreckung“ betreffe und daher auf der Grundlage der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl falle. Daher sei der Europäische Haftbefehl zu vollstrecken, und mutmaßliche Verstöße gegen Art. 6 EMRK fielen in die Zuständigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats.

23.

Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Weiteres auf den vorliegenden Fall angewandt werden kann.

24.

Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

a)

Wenn um die Übergabe der gesuchten Person zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe ersucht wird, die zunächst zur Bewährung ausgesetzt worden war, deren Vollstreckung aber später aufgrund der Verurteilung der gesuchten Person wegen einer weiteren Straftat angeordnet wurde, und wenn dieser Vollstreckungsbeschluss von dem Gericht erlassen wurde, das die gesuchte Person wegen dieser weiteren Straftat verurteilt hat, ist dann das Verfahren, das zu dieser späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“?

b)

Ist es für die Antwort auf Frage 1 Buchst. a von Bedeutung, ob das Gericht, das den Vollstreckungsbeschluss erlassen hat, dazu rechtlich verpflichtet war oder ob der Vollstreckungsbeschluss in seinem Ermessen stand?

2.

Ist die vollstreckende Justizbehörde unter den in Frage 1 dargelegten Umständen berechtigt, zu prüfen, ob die Verhandlungen, die zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt haben und die in Abwesenheit der gesuchten Person stattfanden, im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt wurden, und insbesondere, ob die Abwesenheit der gesuchten Person zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte und/oder des Rechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren geführt hat?

3.

a)

Ist die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie sich unter den in Frage 1 genannten Umständen davon überzeugt hat, dass das Verfahren, das zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, nicht im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt wurde, und insbesondere davon, dass die Abwesenheit der gesuchten Person eine Verletzung der Verteidigungsrechte und/oder des Rechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren darstellt, berechtigt und/oder verpflichtet, a) die Übergabe der gesuchten Person mit der Begründung abzulehnen, dass eine solche Übergabe gegen Art. 6 EMRK und/oder Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verstoßen würde, und/oder b) von der ausstellenden Justizbehörde als Bedingung für die Übergabe die Garantie zu verlangen, dass die gesuchte Person nach der Übergabe Anspruch auf ein Wiederaufnahmeverfahren oder ein Berufungsverfahren hat, an dem sie teilnehmen kann und das eine erneute Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht, die zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung in Bezug auf die Verurteilung, die zum Vollstreckungsbeschluss geführt hat, führen kann?

b)

Ist für die Zwecke der vorstehenden Frage 3 Buchst. a zu prüfen, ob die Übergabe der gesuchten Person den Wesensgehalt ihrer Grundrechte aus Art. 6 EMRK und/oder Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verletzen würde, und wenn ja, reicht der Umstand, dass die Verhandlung, die zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, in Abwesenheit durchgeführt wurde und dass die gesuchte Person im Fall ihrer Übergabe kein Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf einen Rechtsbehelf haben wird, aus, um der vollstreckenden Justizbehörde die Feststellung zu ermöglichen, dass die Übergabe den Wesensgehalt dieser Rechte verletzen würde?

B.   PH (C‑515/21)

25.

Eine polnische Justizbehörde ersucht um die Übergabe von PH, dem Berufungskläger des Ausgangsverfahrens, zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und hat zu diesem Zweck einen Europäischen Haftbefehl erlassen. Der Court of Appeal, der über das Rechtsmittel gegen die Entscheidung des High Court entscheidet, ist in diesem Zusammenhang die vollstreckende Justizbehörde.

26.

PH wurde im Mai 2015 wegen Computersabotage gegen ein Breslauer Wirtschaftsunternehmen im Wege der Herbeiführung einer Serverüberlastung („denial of service attack“ ( 17 )) verbunden mit der Drohung, den Angriff fortzusetzen, wenn er nicht eine Geldzahlung erhalte, verurteilt. Ich bezeichne dies als „erste Straftat“.

27.

PH war von dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren in Kenntnis gesetzt worden und war bei der Verhandlung anwesend. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, die für fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Er legte keine Berufung gegen seine Verurteilung oder die ihm auferlegte Strafe ein.

28.

Im Februar 2017 erfolgte die Verurteilung für das, was ich wiederum als „auslösende Straftat“ bezeichne. Im Einzelnen wurde PH des Einbruchs in einen Wohnwagen und des Diebstahls von Gegenständen aus ihm für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten verurteilt. Er hatte von der Verhandlung keine Kenntnis und war weder persönlich zu dieser Verhandlung erschienen, noch war er durch einen Rechtsanwalt vertreten.

29.

Im Mai 2017 ordnete das Gericht, das die Verurteilung wegen der ersten Straftat ausgesprochen hatte, im Hinblick darauf, dass die auslösende Straftat innerhalb der Bewährungszeit für die erste Straftat begangen wurde, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe für die erste Straftat an ( 18 ). PH hatte keine Kenntnis von dieser Verhandlung und war zu der Verhandlung, die zur Vollstreckung der Strafe für die erste Straftat führte, weder persönlich erschienen, noch war er durch einen Rechtsanwalt vertreten.

30.

Im Februar 2019 wurde ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt, mit dem um die Übergabe von PH lediglich in Bezug auf die Freiheitsstrafe für die erste Straftat ersucht wurde. Es wurde kein Europäischer Haftbefehl in Bezug auf die Haftstrafe aufgrund der Verurteilung wegen der auslösenden Straftat ausgestellt.

31.

Auf Nachfrage des High Court (der vollstreckenden Justizbehörde in erster Instanz) teilte die polnische Justizbehörde weiter mit, dass die Frist für die Einlegung der Berufung gegen die Verurteilung wegen der auslösenden Straftat abgelaufen sei. Allerdings stehe es nach polnischem Recht jeder Partei frei, „einen außerordentlichen Rechtsbehelf (Aufhebungsantrag, Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens)“ einzulegen. Weitere Einzelheiten zu diesem Verfahren wurden nicht übermittelt.

32.

Der Widerspruch von PH vor dem High Court gegen diese Übergabe blieb erfolglos. Das vorlegende Gericht entscheidet über die Berufung gegen die Entscheidung des High Court, den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken.

33.

Im Rahmen dieses Verfahrens hat der Court of Appeal dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Wenn um die Übergabe der gesuchten Person zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe ersucht wird, die zunächst zur Bewährung ausgesetzt worden war, deren Vollstreckung aber später aufgrund der späteren Verurteilung der gesuchten Person wegen einer weiteren Straftat angeordnet wurde, und wenn dieser Vollstreckungsbeschluss aufgrund dieser Verurteilung zwingend vorgeschrieben war, ist dann das Verfahren, das zu dieser späteren Verurteilung, und/oder das Verfahren, das zu dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“?

2.

Ist die vollstreckende Justizbehörde unter den in Frage 1 genannten Umständen berechtigt und/oder verpflichtet, zu prüfen, ob die Verhandlungen, die zu der späteren Verurteilung und/oder dem Vollstreckungsbeschluss geführt haben und die in Abwesenheit der gesuchten Person stattfanden, im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt wurden, und insbesondere, ob die Abwesenheit der gesuchten Person in dieser Verhandlung zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte und/oder des Rechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren geführt hat?

3.

a)

Ist die vollstreckende Justizbehörde, die sich unter den in Frage 1 genannten Umständen davon überzeugt hat, dass das Verfahren, das zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, nicht im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt wurde, und insbesondere, dass die Abwesenheit der gesuchten Person eine Verletzung der Verteidigungsrechte und/oder des Rechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren darstellt, berechtigt und/oder verpflichtet, a) die Übergabe der gesuchten Person mit der Begründung abzulehnen, dass eine solche Übergabe gegen Art. 6 EMRK und/oder Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verstoßen würde, und/oder b) von der ausstellenden Justizbehörde als Bedingung für die Übergabe die Garantie zu verlangen, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe Anspruch auf ein Wiederaufnahmeverfahren oder ein Berufungsverfahren hat, an dem sie teilnehmen kann und das eine erneute Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht, die zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung in Bezug auf die Verurteilung, die zum Vollstreckungsbeschluss geführt hat, führen kann?

b)

Ist für die Zwecke der vorstehenden Frage 3 Buchst. a zu prüfen, ob die Übergabe der gesuchten Person den Wesensgehalt ihrer Grundrechte aus Art. 6 EMRK und/oder Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verletzen würde, und wenn ja, reicht der Umstand, dass die Verhandlung, die zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, in Abwesenheit durchgeführt wurde und dass die gesuchte Person im Fall ihrer Übergabe kein Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf einen Rechtsbehelf haben wird, aus, um der vollstreckenden Justizbehörde die Feststellung zu ermöglichen, dass die Übergabe den Wesensgehalt dieser Rechte verletzen würde?

IV. Verfahren vor dem Gerichtshof

34.

Die an den Ausgangsverfahren in den beiden Rechtssachen beteiligten Parteien, Irland und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Am 13. Juli 2022 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, bei der LU, PH, Irland und die Kommission mündliche Ausführungen gemacht haben.

V. Würdigung

35.

Die vorliegenden verbundenen Rechtssachen betreffen mehrere Verfahren, die man im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl als „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ ansehen könnte. In einem ersten Verfahren kam es für die jeweils erste Straftat zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung. Die Personen, um deren Übergabe es geht, waren bei diesem Verfahren anwesend. In einem zweiten Verfahren kam es zu einer Verurteilung wegen der auslösenden Straftat. Die Personen, um deren Übergabe es geht, waren bei diesem Verfahren nicht anwesend. Das dritte Verfahren schließlich ist dasjenige, in dem entschieden wurde, die Aussetzung der Haftstrafe wegen der ersten Straftat zu widerrufen. In der Rechtssache C‑514/21 wurde über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung von demselben Gericht in derselben Verhandlung entschieden, in der die Schuld festgestellt und die Strafe für die auslösende Straftat verhängt wurde. In der Rechtssache C‑515/21 wurde über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung jedoch durch ein anderes Gericht in einem anderen Verfahren als dem wegen der auslösenden Straftat entschieden.

36.

Das vorlegende Gericht hält es für eindeutig, dass die Abwesenheit der Personen, um deren Übergabe ersucht wird, bei der Verhandlung wegen der auslösenden Straftat als Verstoß gegen ihr Recht auf ein faires Verfahren anzusehen sei. Es möchte daher im Wesentlichen wissen, ob es die Vollstreckung der in Rede stehenden Europäischen Haftbefehle verweigern kann, und zwar entweder unmittelbar auf der Grundlage von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (erste Frage) oder auf der Grundlage von Art. 6 EMRK und der Art. 47 und 48 der Charta (zweite und dritte Frage).

37.

Im Rahmen meiner Unterstützung des Gerichtshofs bei der Beantwortung der Vorlagefragen werde ich wie folgt vorgehen: In Abschnitt A werde ich erläutern, warum die Formulierung „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl dahin auszulegen ist, dass sie die Art von Verfahren einschließt, um die es in Bezug auf die auslösenden Straftaten in den beiden vorliegenden Rechtssachen geht. Das bedeutet, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl auf die Sachverhalte in beiden Fällen Anwendung findet und dass das vorlegende Gericht, sofern keine der Voraussetzungen nach Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d erfüllt ist, die Übergabe der Rechtsmittelführer an Polen bzw. Ungarn ablehnen kann. Da sich ein Großteil der Erörterungen in den schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung um die drei früheren einschlägigen Rechtssachen – Tupikas ( 19 ), Zdziaszek ( 20 ) und Ardic ( 21 ) – gedreht hat, werde ich in diesem Abschnitt meine Ansicht zu deren Bedeutung für die vorliegenden Fälle darlegen.

38.

In Abschnitt B werde ich die zweite und die dritte Vorlagefrage in beiden Rechtssachen zusammen behandeln; sie werfen meines Erachtens Fragen auf, die für das gesamte System des Europäischen Haftbefehls, wie es vom Unionsgesetzgeber entwickelt und vom Gerichtshof ausgelegt worden ist, von Bedeutung sind. Das vorlegende Gericht hat diese Fragen nicht so formuliert, dass sie von der Bejahung oder Verneinung der ersten Frage abhängig sind. In Anbetracht dessen werde ich meine Antworten auf die zweite und die dritte Frage für beide Lösungsmöglichkeiten geben: sowohl für den Fall, dass der Gerichtshof feststellen sollte, dass die verbundenen Rechtssachen vom Anwendungsbereich des Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl erfasst werden, wie es meinem Vorschlag entspräche, als auch für den Fall, dass der Gerichtshof feststellen sollte, dass der Anwendungsbereich dieser Bestimmung sie nicht erfasst.

A.   Erste Frage

39.

Im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl werden die Gründe für die obligatorische (Art. 3) und die fakultative (Art. 4 und 4a) Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls erschöpfend aufgezählt. Art. 4a des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, um dessen Auslegung ersucht wird, kommt nur dann zur Anwendung, wenn die zu übergebende Person, in der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung[, mit der die Vollstreckung beschlossen wurde, derentwegen um Übergabe ersucht wird] geführt hat“, nicht anwesend war.

40.

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, wie der Begriff „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Einleitungssatz von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl auszulegen ist. Konkret möchte es wissen, welche Tragweite dieser Begriff hat und ob er die Verhandlungen wegen der auslösenden Straftaten erfasst. Dabei geht es auch um die Frage, ob die getrennten Verfahren zum Widerruf der Strafaussetzung und zur Vollstreckung der Haftstrafen für die ersten Straftaten unter den Begriff „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ fallen.

41.

Wenn diese Fragen zu bejahen sind, fallen die Sachverhalte in beiden Rechtssachen in den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl. Die Antwort des Gerichtshofs entscheidet daher darüber, ob die vollstreckende Justizbehörde die Möglichkeit hat, die Vollstreckung der fraglichen Europäischen Haftbefehle zu verweigern, wenn sie feststellen sollte, dass keiner der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses aufgeführten Fälle gegeben ist.

42.

Um diese Frage zu beantworten, werde ich wie folgt vorgehen. Zunächst werde ich einen kurzen Überblick über die früheren Rechtssachen geben, in denen der Gerichtshof den Begriff „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ ausgelegt hat. Ich werde dann gemäß dem Zweck des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung eine allgemein anwendbare Auslegung dieses Begriffs vorschlagen. Diese Auslegung steht, wie ich noch zeigen werde, im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung. Zur Beantwortung der Vorlagefrage 1 Buchst. b in der Rechtssache C‑514/21 werde ich darauf eingehen, welche Rolle dem Ermessen der Behörden des Ausstellungsstaats beim Erlass des Vollstreckungsbeschlusses zukommt. Abschließend werde ich auf einige weitere Fragen eingehen, die im Lauf des Verfahrens aufgeworfen worden sind, wie die Wirksamkeit des Systems des Europäischen Haftbefehls und die Gefahr von Straflosigkeit.

1. Die bestehende Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ und ihre Anwendbarkeit auf die vorliegenden Rechtssachen

43.

Der Gerichtshof, der diesen Begriff als autonomen Begriff des Unionsrechts betrachtet, hat bereits mehrfach, insbesondere in den Rechtssachen Tupikas ( 22 ), Zdziaszek ( 23 ) und Ardic ( 24 ), den Begriff der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ausgelegt. Das vorlegende Gericht wirft die Frage auf, welche Auswirkungen diese Urteile auf die vorliegenden Rechtssachen haben; dies ist auch von den Verfahrensbeteiligen erörtert worden.

44.

Sowohl das Rechtsmittelverfahren (Urteil Tupikas) als auch das Verfahren zur Bildung einer Gesamtstrafe aus mehreren Freiheitsstrafen (Urteil Zdziaszek) fallen nach Auffassung des Gerichtshofs unter den Begriff der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“. Dagegen hat der Gerichtshof bei der Auslegung dieses Begriffs entschieden, dass er nicht für Verfahren gilt, die den Widerruf einer Entscheidung über die vorzeitige Entlassung aus der Haft betreffen (Urteil Ardic).

45.

Die Situation in den vorliegenden Fällen ähnelt den drei vorgenannten Urteilen insofern, als die ursprüngliche Freiheitsstrafe zunächst in der Hauptverhandlung zur Feststellung der Schuld verhängt und in einem späteren Verfahren geändert wurde, in dem nicht die Feststellung der Schuld, sondern nur die Dauer des Freiheitsentzugs erneut geprüft wurde. Die endgültige Entscheidung über die Strafe war somit, wie in den vorliegenden Fällen, das Ergebnis mehrerer Verfahren.

46.

Trotz dieser Ähnlichkeiten lassen sich die drei Urteile auch von der Situation abgrenzen, die den vorliegenden Rechtssachen zugrunde liegt. Vor allem war in keinem der drei Urteile die Abänderung der ursprünglich verhängten Freiheitsstrafe von der Feststellung der Schuld und der Verurteilung wegen einer anderen Straftat abhängig. Außerdem hat der Gerichtshof in diesen Fällen nur unter Berücksichtigung der besonderen Umstände entschieden und keine klaren oder detaillierten allgemeinen Kriterien dafür aufgestellt, was als „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl anzusehen ist ( 25 ). Daher können die Schlussfolgerungen in diesen Rechtssachen nicht automatisch auf die vorliegenden Rechtssachen übertragen werden.

47.

Im Folgenden werde ich eine allgemeine Auslegung des Begriffs „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ vorschlagen und dann zeigen, dass eine solche Auslegung, auch wenn sie sich nicht unmittelbar aus den früheren Rechtssachen ergibt, zu keiner von ihnen im Widerspruch steht.

2. Vorschlag für die Auslegung der Wendung „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“

48.

Bei der Auslegung der Wendung „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl halte ich es für wichtig, darauf abzustellen, warum die Rechtsordnung der Union das Recht einer Person auf Anwesenheit in der Verhandlung als Grundrecht schützt.

49.

Im Urteil Tupikas hat der Gerichtshof ausgeführt, dass „die betroffene Person in der Lage sein muss, ihre Verteidigungsrechte uneingeschränkt auszuüben, um ihren Standpunkt wirksam darzulegen und so die endgültige Entscheidung, durch die ihr möglicherweise ihre persönliche Freiheit entzogen wird, zu beeinflussen“ ( 26 ). Im Urteil Zdziaszek hat der Gerichtshof ergänzt, dass die betroffene Person in der Lage sein muss, ihre Verteidigungsrechte bei Entscheidungen, die sich auf die Höhe der Strafe auswirken, in Anbetracht der bedeutenden Konsequenzen, die dies für die betroffene Person hat, wirksam wahrzunehmen ( 27 ).

50.

Meines Erachtens – und die angeführte Rechtsprechung bestätigt dies – ist die Möglichkeit einer Person, Einfluss auf einen Richter zu nehmen, der für die Feststellung ihrer Schuld und die Verhängung einer Strafe gegen sie zuständig ist, der Wesensgehalt des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung. Insbesondere wenn eine Entscheidung den Freiheitsentzug einer Person beinhaltet, muss diese daher die Möglichkeit haben, persönlich auf die endgültige Entscheidung Einfluss zu nehmen. Ist die endgültige Entscheidung das Ergebnis mehrerer Verfahren, muss die betreffende Person die Möglichkeit haben, an allen Verfahren teilzunehmen.

51.

Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl zielt darauf ab, dieses Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung im Rahmen eines Übergabeverfahrens zur Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Sanktion zu gewährleisten. Daher ist unter der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“, jeder Verfahrensabschnitt zu verstehen, der zur endgültigen Entscheidung über den Freiheitsentzug im Ausstellungsstaat beigetragen hat.

52.

Durch die Entscheidung, mit der die ursprüngliche Aussetzung einer Freiheitsstrafe widerrufen wird, wird dem Betroffenen die Freiheit entzogen. Meines Erachtens ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Betroffene bei allen für den Erlass dieser Entscheidung maßgeblichen Stufen anwesend ist.

53.

Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, den Begriff „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl dahin auszulegen, dass damit jeder Verfahrensschritt gemeint ist, der maßgeblichen Einfluss auf die endgültige Entscheidung über den Freiheitsentzug einer Person hat.

54.

Das bedeutet, dass, wie von der Kommission vorgeschlagen, alle Verhandlungen, die Teil dieser Rechtssachen sind – die Verhandlungen, in denen die ursprünglich ausgesetzte Freiheitsstrafe verhängt wurde, die Verhandlungen, in denen dieselben Personen wegen der auslösenden Straftaten verurteilt wurden und die Verhandlungen (falls gesondert), in denen die ursprünglich ausgesetzte Freiheitsstrafe abgeändert wurde – als „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ anzusehen sind. Sie alle sind maßgeblich für den Freiheitsentzug, dessentwegen um Übergabe der betreffenden Personen ersucht wird.

55.

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ lässt diese vorgeschlagene Auslegung zu und bestätigt sie sogar.

3. Die bestehende Rechtsprechung als Bestätigung der vorgeschlagenen Auslegung

a) Kann die „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ mehrere Verfahren umfassen?

56.

Im Urteil Tupikas hat der Gerichtshof wie folgt entschieden: „Wenn das Verfahren mehrere Instanzen umfasst hat, die zu aufeinanderfolgenden Entscheidungen geführt haben, von denen mindestens eine in Abwesenheit ergangen ist, erfasst die Wendung „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses [über den Europäischen Haftbefehl] folglich das Verfahren, das zur letzten dieser Entscheidungen geführt hat …“ ( 28 )

57.

Dieser Satz könnte nahelegen, dass nur das letzte Verfahren für die Frage, ob Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl zur Anwendung kommt, von Bedeutung sei.

58.

Im Urteil Zdziaszek, das am selben Tag erging wie das Urteil Tupikas, hat der Gerichtshof jedoch Folgendes ausgeführt: „[In] einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem im Anschluss an ein Rechtsmittelverfahren, in dem der Sachverhalt erneut geprüft wurde, eine Entscheidung ergangen ist, durch die die betroffene Person rechtskräftig für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, deren Höhe jedoch durch eine nachfolgende Entscheidung des zuständigen Organs geändert wurde, bei deren Erlass dieses die Strafe in Ausübung des ihm insoweit eingeräumten Ermessens endgültig festgesetzt hat, [ist] bei der Anwendung des Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses [über den Europäischen Haftbefehl] auf beide Entscheidungen abzustellen.“ ( 29 )

59.

Dies deutet darauf hin, dass der Gerichtshof den Standpunkt vertritt, dass bei mehreren Verfahrensabschnitten alle für die Anwendung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl relevant sind, wenn sie für die freiheitsentziehende Strafe einer Person maßgeblich sind. Die oben angeführte Randnummer aus dem Urteil Tupikas ist daher im Kontext dieser Rechtssache zu verstehen: Der Gerichtshof hat die Frage des vorlegenden Gerichts beantwortet, ob es sich bei einem Berufungsverfahren um die „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ handelt, wenn die Person zwar in erster Instanz, nicht aber im Berufungsverfahren erschienen war. Diese Feststellung steht der vorgeschlagenen Auslegung nicht entgegen, wonach alle Verfahren, die zu einer Entscheidung über den Freiheitsentzug beitragen ( 30 ), von dem Begriff „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ erfasst werden.

60.

Die vorliegenden Rechtssachen unterscheiden sich von den früheren dadurch, dass die Verfahren wegen der auslösenden Straftaten, die in Abwesenheit stattfanden, nicht in Bezug auf die ausgesetzte Freiheitsstrafe, für die der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, durchgeführt wurden. Die Auswirkungen dieser Verfahren auf die endgültige Entscheidung über die Strafen für die erste Straftat waren nur mittelbar. Zugleich waren sie aber auch maßgeblich dafür.

61.

Zwar wird nicht unmittelbar beantwortet, ob es sich bei einer solchen Verhandlung um eine Verhandlung handelt, die „zu der Entscheidung geführt hat“, doch steht die frühere Rechtsprechung einer Auslegung nicht entgegen, nach der eine solche Verhandlung, wenn sie für die endgültige Entscheidung über die Strafe maßgeblich ist, in den Anwendungsbereich dieses Begriffs fällt.

62.

Die Entscheidungen über den Widerruf der Aussetzung der Freiheitsstrafe für die erste Straftat waren abhängig von der Feststellung der Schuld für die auslösenden Straftaten im zweiten Verfahren sowie von Art und Dauer der für diese Straftaten verhängten Strafe. Da die Verhandlungen wegen der auslösenden Straftaten der maßgebliche Teil der Entscheidungen zur Aufhebung der Aussetzung der Freiheitsstrafe wegen der ersten Straftat waren, sind sie Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl.

b) Sind Entscheidungen über den Widerruf der Aussetzung der Freiheitsstrafe nur eine Modalität der Strafvollstreckung und damit nicht umfasst vom Begriff „Verhandlung …, die zur Entscheidung geführt hat“?

63.

Im Urteil Zdziaszek ( 31 ) hat der Gerichtshof unter Bezugnahme auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) ( 32 ) zwischen der endgültigen Entscheidung über Art und Höhe der verhängten Strafe und den Modalitäten der Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe unterschieden. Er kam zu dem Schluss, dass die „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“, die erste Gruppe von Verfahren umfasse, nicht aber die zweite ( 33 ).

64.

Diese Feststellung hat im Urteil Ardic eine maßgebliche Rolle gespielt. Das vorlegende Gericht konzentriert sich, wie alle Verfahrensbeteiligten vor dem Gerichtshof, in erster Linie auf die Konsequenzen, die aus diesem Urteil für die Entscheidung der beiden in Rede stehenden verbundenen Rechtssachen zu ziehen sind.

65.

In der Rechtssache Ardic ging es um den Widerruf der vorläufigen Haftentlassung vor Ablauf der Freiheitsstrafe. Herr Ardic, ein deutscher Staatsangehöriger, war in Deutschland durch zwei Urteile zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nachdem er einen Teil dieser Strafe verbüßt hatte, wurde die Vollstreckung der Reststrafe ausgesetzt. Nach deutschem Recht kann nämlich nach Verbüßung eines bestimmten Teils der Freiheitsstrafe und bei Vorliegen zusätzlicher Voraussetzungen die restliche Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt und eine vorläufige Haftentlassung gewährt werden ( 34 ).

66.

Herr Ardic erfüllte jedoch nicht die mit der vorläufigen Entlassung verbundenen Bedingungen. Daraufhin widerrief ein deutsches Gericht die vorläufige Haftentlassung in einem Verfahren, bei dem Herr Ardic nicht anwesend war. In der Rechtssache Ardic hatte der Gerichtshof die von der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande), die über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu entscheiden hatte, gestellte Frage zu beantworten, ob das Verfahren zum Widerruf der vorläufigen Haftentlassung eine „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl darstellte.

67.

Im Urteil Ardic hat der Gerichtshof in der Tat wiederholt, dass nach der Rechtsprechung des EGMR detaillierte Regelungen über die Modalitäten der Vollstreckung oder Anwendung von Freiheitsstrafen nicht unter Art. 6 Abs. 1 EMRK und somit auch nicht unter Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl fallen ( 35 ). In Anwendung dieser Grundsätze auf die Situation von Herrn Ardic stellte er fest, dass die fragliche Entscheidung nicht unter Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl fiel.

68.

Zum Urteil in der Rechtssache Ardic ist eine gewisse Kritik angebracht. So ist beispielsweise keineswegs klar, warum die Rechtsprechung des EGMR zur Auslegung des Begriffs „strafrechtliche Anklage“ (der für die Anwendung von Art. 6 EMRK relevant ist) automatisch auf die Auslegung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl zu übertragen ist ( 36 ). Die fast ausschließliche Berufung des Gerichtshofs auf die Rechtssache Boulois/Luxemburg ( 37 ), in der es um die Ablehnung eines Antrags auf vorübergehende Entlassung aus der Haft für einen Tag ging ( 38 ), um die Feststellung zu rechtfertigen, dass eine Entscheidung über den Widerruf der vorläufigen Entlassung eine Modalität der Strafvollstreckung sei, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Die Reduzierung des Urteils Ardic auf eine formalistische Lesart, wonach Entscheidungen immer entweder als „Modalitäten der Strafvollstreckung“ oder als „Entscheidung über Art und Maß der Strafe“ einzuordnen sind, wird der Argumentation des Gerichtshofs jedoch nicht gerecht.

69.

Die wichtigste Feststellung des Gerichtshofs im Urteil Ardic ist meines Erachtens Folgende: „Nach alledem ist daher festzustellen, dass der Begriff ‚Entscheidung‘ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses [über den Europäischen Haftbefehl] eine Entscheidung über die Vollstreckung oder Anwendung einer zuvor verhängten Freiheitsstrafe nicht erfasst, es sei denn, dass diese Entscheidung eine Änderung der Art oder des Maßes der Strafe bezweckt oder bewirkt und die sie erlassende Behörde insoweit über ein Ermessen verfügt hat.“ ( 39 )

70.

Die formale Unterscheidung zwischen Entscheidungen über die Strafvollstreckung einerseits und solchen über die Art und das Maß der Strafe andererseits hat für die Feststellung, ob es sich um eine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl handelt, offenbar keine entscheidende Rolle gespielt. Ausschlaggebend war, dass die Entscheidung eine Änderung der zuvor verhängten Strafe bezweckte oder bewirkte. Wichtig war auch, dass die Änderung der Strafe nicht automatisch erfolgte, sondern vom Ermessen der die Entscheidung erlassenden Behörde abhing, worauf ich im nachstehenden Abschnitt zurückkomme.

71.

Unabhängig davon, ob man mit der Anwendung dieser Auslegung auf die Situation in der Rechtssache Ardic einverstanden ist oder nicht, scheint der Gerichtshof in dieser Rechtssache von der Tatsache beeinflusst worden zu sein, dass Herr Ardic Deutschland verlassen und damit eindeutig gegen die an seine vorläufige Entlassung geknüpften Auflagen verstoßen hatte ( 40 ). Es war also keine gerichtliche Entscheidung, die den Widerruf der Aussetzung der vorläufigen Entlassung auslöste, sondern die Tatsache, dass Herr Ardic ganz offensichtlich gegen die Auflagen für die vorläufige Entlassung verstoßen hatte.

72.

In Anbetracht des besonderen Sachverhalts in der Rechtssache Ardic bedeutet diese Feststellung nicht, dass in den vorliegenden Rechtssachen die Verfahren sowohl in Bezug auf die auslösenden Straftaten als auch in Bezug auf den Widerruf der Aussetzung der Freiheitsstrafen nach den Verurteilungen wegen dieser Straftaten nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl fallen.

73.

Die Verfahren wegen der auslösenden Straftaten bewirkten, dass die Änderung der in den ersten Verfahren verhängten Strafen entweder unvermeidlich oder zumindest möglich geworden war. Daher hätte den Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden müssen, sich in der Verhandlung über die auslösenden Straftaten selbst zu verteidigen ( 41 ). Die Anwesenheit in diesen Verhandlungen war natürlich wichtig für ihr Recht, sich in Bezug auf die auslösenden Straftaten selbst zu verteidigen. Dies ist allerdings unter dem Gesichtspunkt von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl nicht von Bedeutung. Wichtig ist, dass ihre Verteidigung in den Verfahren wegen der auslösenden Straftaten die Abänderung der Strafen für die ersten Straftaten, für die die Europäischen Haftbefehle ausgestellt wurden, hätte beeinflussen können ( 42 ).

74.

Was das Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung anbelangt, so besteht sein Zweck, wenn es gesondert von der Verhandlung wegen der auslösenden Straftaten durchgeführt wird, einzig und allein in einer möglichen Abänderung der früheren Strafentscheidung. Verfügt die erlassende Behörde bei der Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung über ein Ermessen, wird dieses Verfahren daher von der oben in Nr. 69 wiedergegebenen Äußerung des Gerichtshofs im Urteil Ardic erfasst.

75.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die bisherige Rechtsprechung der Schlussfolgerung, dass jedes Verfahren, das (durch seine Wirkung oder seinen Zweck) maßgeblichen Einfluss auf die endgültige Entscheidung über die Verhängung der Freiheitsstrafe hat, für die ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt worden ist, eine „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ ist, nicht entgegensteht, sondern sie sogar stützt.

76.

Dem Vorbringen des Minister for Justice and Equality und Irlands, die aus dem Urteil Ardic ableiten, dass die vorliegenden verbundenen Rechtssachen lediglich Modalitäten der Vollstreckung beträfen und daher nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl fielen, ist daher nicht zu folgen.

77.

Dass LU und PH in den Verfahren wegen der auslösenden Straftaten ihre Verteidigungsrechte nicht geltend machen konnten, kann daher ein Grund für die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sein, sofern keine der Voraussetzungen von Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl vorliegt.

4. Ermessen der Behörde, die über die Abänderung des Strafausspruchs entscheidet

78.

Mit Frage 1 Buchst. b in der Rechtssache C‑514/21 möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Bedeutung es hat, wenn das Gericht im Ausstellungsstaat bei der Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung über ein Ermessen verfügt.

79.

Wie bereits im Zusammenhang mit den Auswirkungen des Urteils Ardic auf die vorliegenden Rechtssachen erläutert, ist es für die Frage, ob eine Entscheidung in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl fällt, von Bedeutung, ob die die Entscheidung treffende Stelle über ein Ermessen verfügt. Das in der Rechtssache C‑514/21 offenbar bestehende Ermessen der Behörde, die über den Widerruf der Strafaussetzung entscheidet, schließt jedoch nicht aus, dass das Verfahren wegen der auslösenden Straftaten in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl fällt.

80.

Ich möchte dies näher erläutern.

81.

Die Entscheidungen über den Widerruf der Strafaussetzung – ob automatisch (wie in der Rechtssache C‑515/21) oder im Ermessen der Entscheidungsinstanz (wie in der Rechtssache C‑514/21) liegend – hätten ohne die Schuldfeststellung und die Verhängung der Freiheitsstrafen für die auslösenden Straftaten nicht getroffen werden können. Wären die Personen, um deren Auslieferung ersucht wird, zu den Verhandlungen über die auslösenden Straftaten erschienen, hätten sie möglicherweise ihre Unschuld darlegen oder das Urteil beeinflussen können. Das Gericht, das über die auslösenden Straftaten entschied, verfügte nämlich über ein gewisses Ermessen in Bezug auf Art und Höhe der verhängten Strafe ( 43 ).

82.

Wäre die Schuld hinsichtlich der auslösenden Straftaten nicht festgestellt worden, oder wäre es bei einer Geldstrafe geblieben, hätte es das Verfahren zum Widerruf der Strafaussetzung gar nicht gegeben. Die Verhandlungen über die auslösenden Straftaten waren der Auslöser (daher die Bezeichnung) für die Änderung des Strafausspruchs für die ersten Straftaten.

83.

Dies gilt natürlich in einer Situation, in der der Widerruf der Strafaussetzung automatisch zu erfolgen hat. Es gilt jedoch auch in einer Situation, in der die die Entscheidung erlassende Behörde in Bezug auf den Widerruf der Strafaussetzung über ein Ermessen verfügt. Dieses Ermessen hätte keine Rolle gespielt, wenn es nicht zu einer Strafe wegen der auslösenden Straftaten gekommen wäre. Um ihre Verteidigungsrechte angemessen zu wahren, hätten die Betroffenen daher, wenn die Behörden in diesen Verfahren über ein Ermessen verfügten, imstande sein müssen, sowohl bei der Verhandlung über die auslösenden Straftaten als auch bei dem gesonderten Verfahren zur Änderung der ersten Haftstrafe anwesend zu sein.

84.

Dass das Organ, das über den Widerruf der Strafaussetzung entscheidet, über ein Ermessen verfügt, hat somit keinen Einfluss auf die Feststellung, dass die Verhandlungen über die auslösenden Straftaten in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl fallen. Es ist jedoch für die Frage von Bedeutung, ob ein solches Verfahren, wenn es gesondert stattfindet, wie es wohl in der Rechtssache C‑515/21 der Fall ist, ebenfalls vom Begriff „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ erfasst wird ( 44 ).

85.

Die Person, deren Freiheit auf dem Spiel steht, muss die Möglichkeit haben, in diesem Verfahren persönlich zu erscheinen, wenn es im Ermessen der die Entscheidung erlassenden Behörde steht, die Aussetzung der Haftstrafe nach der Feststellung der Schuld hinsichtlich der auslösenden Straftat nicht oder nur teilweise zu widerrufen. Diese Verfahren sind daher, neben den Verhandlungen über die auslösende Straftat, ebenfalls als „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ anzusehen, und die zu übergebende Person muss die Möglichkeit erhalten, in beiden Verfahren anwesend zu sein.

86.

Wenn hingegen die Entscheidung über den Widerruf der Aussetzung einer Haftstrafe nur deklaratorisch erfolgt und sich automatisch aus der Feststellung der Schuld und der Festsetzung der Strafe für die auslösenden Straftaten ergibt, ist nur das letztgenannte Verfahren (und nicht das Verfahren über den Widerruf, falls es gesondert durchgeführt wird) die „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl. Das scheint in der Rechtssache C‑515/21 der Fall zu sein.

5. Wirksamkeit des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls

87.

Der Gerichtshof hat im Urteil Ardic davor gewarnt, dass eine Überdehnung des Begriffs der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ die Wirksamkeit des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls gefährden könnte ( 45 ).

88.

Ich bin wie er der Ansicht, dass der Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl nicht weit ausgelegt werden darf, da er die Ausnahme von der allgemeinen Regel darstellt, dass die vollstreckende Behörde der ausstellenden Behörde zu vertrauen und den Europäischen Haftbefehl automatisch zu vollstrecken hat ( 46 ). Mit der Einfügung von Art. 4a in den Rahmenbeschluss sollte jedoch nicht nur das Verfahren des Europäischen Haftbefehls effizienter gestaltet, sondern auch das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung besser geschützt werden ( 47 ).

89.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4a Abs. 1 in der ursprünglichen Fassung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl nicht enthalten war, sondern durch den Änderungsrahmenbeschluss 2009/299 eingefügt wurde. Mit dieser Änderung im Jahr 2009 sollte „eine präzise und einheitliche Grundlage für die Nichtanerkennung von Entscheidungen geschaffen werden, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist“ ( 48 ), und die für die verschiedenen Rechtsvorschriften der Union im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen gilt ( 49 ).

90.

Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, der auf die vorgenannten Änderungen zurückgeht, harmonisiert die Voraussetzungen, unter denen die Behörde, die in einem Mitgliedstaat einen Europäischen Haftbefehl vollstreckt, einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung eines Gerichts des Ausstellungsstaats die Anerkennung versagen darf. Die Änderung trägt der Tatsache Rechnung, dass das Recht, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen, Teil von Art. 6 EMRK in der Auslegung des EGMR ist, dass dieses Recht aber nicht absolut gilt ( 50 ).

91.

Insbesondere kann der Angeklagte aus freiem Willen, ausdrücklich oder stillschweigend, aber eindeutig auf sein Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung verzichten ( 51 ).

92.

Um dies festzustellen, sieht Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl Sachverhalte vor, bei denen die vollstreckende Behörde davon auszugehen hat, dass die Person, um deren Übergabe mit einem Europäischen Haftbefehl ersucht wird, auf ihr Recht auf persönliches Erscheinen bei der Verhandlung (oder Wiederaufnahme des Verfahrens) im Ausstellungsstaat verzichtet hat (Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis c des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl). Liegt eine dieser Voraussetzungen vor oder besteht die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens im Ausstellungsstaat nach der Übergabe (Art. 4a Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl), muss die vollstreckende Behörde die mit einem Europäischen Haftbefehl gesuchte Person übergeben ( 52 ). Ist nämlich eine dieser Voraussetzungen erfüllt, hatte die Person die Möglichkeit (oder wird sie die Möglichkeit haben), an der Verhandlung teilzunehmen und die endgültige Entscheidung zu beeinflussen. Ist hingegen keine dieser Voraussetzungen erfüllt, dann – und nur dann – ermächtigt der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl die vollstreckende Behörde, die Übergabe abzulehnen.

93.

Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ebnet daher den Weg für eine harmonisierte und einfache Übergabe, wahrt aber gleichzeitig das hohe Niveau des Schutzes der Personen, die einer Straftat angeklagt sind, indem ihnen die Möglichkeit gegeben wird, sich in ihrem Verfahren selbst zu verteidigen.

94.

Die Wirksamkeit des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls darf daher nicht zulasten der Grundrechte gehen, die der Einzelne im Rahmen der Verfassungsordnung der Union genießt.

95.

Welche Grenzen des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung aus Sicht der Europäischen Union akzeptabel sind, wird in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl klar dargelegt. Diese Grenzen enthalten ein höheres Schutzniveau als das durch Art. 6 EMRK gewährte ( 53 ). Diese Entscheidung des Unionsgesetzgebers wurde mit der Richtlinie 2016/343 bestätigt ( 54 ).

96.

Eine Person, der möglicherweise die Freiheit entzogen wird, muss eine reale Möglichkeit haben, eine solche Entscheidung zu beeinflussen. Dazu ist es, wie ich bereits ausgeführt habe, erforderlich, dass die betreffende Person die Möglichkeit hat, in allen Verfahrensabschnitten anwesend zu sein, die für die Entscheidung über den Freiheitsentzug von maßgeblicher Bedeutung sind.

97.

Selbst wenn man also die Auffassung vertreten könnte, dass es die Wirksamkeit des Systems des Europäischen Haftbefehls erhöhen würde, wenn die Verhandlungen über die auslösenden Straftaten nicht Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ wären, würde eine solche Auslegung dem auf Unionsebene harmonisierten Schutzniveau des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung zuwiderlaufen.

98.

Das vom Unionsgesetzgeber gewählte und in allen Mitgliedstaaten wirksame Schutzniveau darf nicht aus Sorge um die Wirksamkeit des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls abgesenkt werden.

99.

Dem Argument, dass die Auslegung, wonach jeder Verfahrensabschnitt, der Einfluss auf die freiheitsentziehende Entscheidung haben kann, als „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ anzusehen sei, den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beeinträchtigen würde, kann daher nicht gefolgt werden.

6. Gefahr der Straflosigkeit

100.

Wie steht es um die Straflosigkeit? Würden LU und PH möglicherweise um eine Freiheitsstrafe, die sie in den Ausstellungsmitgliedstaaten zu verbüßen hätten, herumkommen, wenn die Verhandlungen wegen der auslösenden Straftat in den Begriff „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ einbezogen werden? Ich glaube nicht.

101.

Die gegen sie im Anschluss an das Verfahren wegen ihrer ersten Straftat verhängte Strafe führte nicht zu einer Freiheitsentziehung. Falls das nachfolgende Verfahren, das die Freiheitsentziehung auslöst, mit Mängeln behaftet ist, würde dies auch für die Freiheitsentziehung als solche gelten. Insofern weist die Kommission zutreffend darauf hin, dass es ohne die Verfahren wegen der auslösenden Straftat nicht möglich gewesen wäre, in beiden Rechtssachen einen Europäischen Haftbefehl auszustellen. Ein Ausschluss der anschließenden Gerichtsverfahren vom Anwendungsbereich des Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl würde daher womöglich zu einem rechtswidrigen Freiheitsentzug führen.

7. Zwischenergebnis

102.

Der Begriff „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ist daher meines Erachtens dahin auszulegen, dass er jeden Abschnitt des Verfahrens erfasst, der maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung über den Freiheitsentzug einer Person hat. Der Grund dafür ist, dass die betreffende Person die Möglichkeit haben muss, die endgültige Entscheidung über ihre Freiheit zu beeinflussen.

103.

Ich komme daher zu dem Schluss, dass beide Verhandlungen (wegen der ersten Straftaten und wegen der auslösenden Straftaten) in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl fallen.

B.   Zweite und dritte Frage

104.

Mit seinen Fragen 2 und 3 in beiden Rechtssachen, die ich zusammen prüfen werde, möchte das vorlegende Gericht Folgendes wissen: Ist es berechtigt (oder sogar verpflichtet), zu prüfen, ob mit den Verfahren wegen der auslösenden Straftaten und den daraus resultierenden Vollstreckungsbeschlüssen im Ausstellungsstaat gegen das in Art. 6 EMRK garantierte Recht auf ein faires Verfahren verstoßen wurde? Ist die vollstreckende Behörde – sollte eine Verletzung dieser Bestimmung festgestellt werden – berechtigt oder sogar verpflichtet, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen oder die Übergabe an den Ausstellungsstaat an Bedingungen zu knüpfen? Muss dabei geprüft werden, ob das durch Art. 6 EMRK garantierte Grundrecht in seinem Wesensgehalt verletzt ist, und was ist der Wesensgehalt dieses Rechts in einer Situation, in der das Verfahren in Abwesenheit durchgeführt wurde?

105.

Diese Fragen sind, je nachdem wie die Antwort auf die erste Frage ausfällt, in verschiedener Weise zu prüfen. Die Antwort hängt mit anderen Worten davon ab, ob die Verhandlungen wegen der auslösenden Straftaten und die daraus resultierenden Vollstreckungsbeschlüsse in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl fallen oder nicht. Um den Gerichtshof umfassend zu unterstützen, werde ich zu jeder der beiden Lösungsmöglichkeiten, zwischen denen der Gerichtshof zu entscheiden haben wird, meine Auffassung darlegen.

106.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich diese Fragen aus dem Konflikt zwischen der Verpflichtung der nationalen Gerichte ergeben, einerseits die Einhaltung von Art. 6 EMRK zu überprüfen und zu gewährleisten und andererseits dem Gedanken des gegenseitigen Vertrauens zu folgen, auf dem der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beruht, wonach die vollstreckende Behörde einen Europäischen Haftbefehl grundsätzlich automatisch vollstrecken muss, ohne die Verfahren im Ausstellungsstaat in Frage zu stellen.

1. Option 1: Die Verfahren für die auslösenden Straftaten fallen in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl

107.

Sollte der Gerichtshof, wie von mir vorgeschlagen, befinden, dass es sich bei den Verhandlungen wegen der auslösenden Straftaten um die „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ handelt, fände Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl Anwendung. In einem solchen Fall hängt die Verpflichtung zur Übergabe oder die Möglichkeit, nicht zu übergeben, ausschließlich von den in dieser Vorschrift festgelegten Voraussetzungen ab.

108.

Stellt die vollstreckende Behörde fest, dass eine dieser Voraussetzungen erfüllt ist, beispielsweise die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens im Ausstellungsstaat nach der Übergabe gemäß Art. 4a Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl besteht, hat sie den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken ( 55 ). Ist eine der Voraussetzungen von Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d dieses Rahmenbeschlusses erfüllt, liegt keine Verletzung von Art. 6 EMRK vor. Folglich bedarf es dann keiner weiteren Untersuchung möglicher Verstöße gegen diese Bestimmung.

109.

Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus dem Zweck von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl. Wie oben in Nr. 89 erläutert, wurde diese Bestimmung eingeführt, um die Voraussetzungen zu harmonisieren, unter denen das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung eingeschränkt werden kann. Diese Voraussetzungen erfüllen die Anforderungen von Art. 6 EMRK und seiner Auslegung in vollem Umfang ( 56 ) oder bieten sogar im Vergleich zur EMRK ein höheres Schutzniveau für dieses Grundrecht ( 57 ).

110.

Kommt die vollstreckende Behörde ihrer Übergabepflicht gemäß Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl nach, erfüllt sie daher zwangsläufig auch ihre Verpflichtungen aus Art. 6 EMRK.

111.

Ist hingegen keine der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl genannten Voraussetzungen erfüllt, hat die vollstreckende Behörde die Möglichkeit, die Vollstreckung des Haftbefehls abzulehnen. Sie kann also entscheiden, ob sie den Europäischen Haftbefehl vollstreckt oder nicht.

112.

Eine weitere Frage ist daher, in welcher Art und Weise die vollstreckende Behörde dieses Ermessen auszuüben hat. Richtet sich seine Ausübung nach dem Unionsrecht, den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl eingeschlossen?

113.

Meines Erachtens bedarf es für die Möglichkeit, die Übergabe abzulehnen, unionsrechtlich lediglich der Feststellung, dass keine der Voraussetzungen von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl erfüllt ist.

114.

Das Schutzniveau im Rahmen von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl kann jedoch unter bestimmten Umständen höher sein als das Schutzniveau nach Art. 6 EMRK ( 58 ). Folglich besteht die Möglichkeit, dass kein Verstoß gegen Art. 6 EMRK vorliegt, auch wenn das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung im Sinne der Unionsrechtsordnung nicht beachtet wurde. Muss sich die vollstreckende Behörde in einem solchen Fall vergewissern, dass Art. 6 EMRK nicht verletzt wurde, bevor sie eine Übergabe beschließt? Meines Erachtens betrifft die Antwort darauf nicht das Unionsrecht.

115.

Selbst wenn die vollstreckende Behörde festgestellt hat, dass die Voraussetzungen von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl nicht erfüllt sind, kann sie – muss aber nicht – andere Umstände berücksichtigen, die ihr Gewissheit darüber verschaffen, dass die Übergabe der betreffenden Person keine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte nach Art. 6 EMRK impliziert, und die Person dann übergeben ( 59 ).

116.

Schwieriger ist die Antwort auf folgende Frage: Kann die vollstreckende Behörde die Übergabe einer Person auch dann anordnen, wenn die Voraussetzungen von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl nicht erfüllt sind, die Übergabe aber zu einer Verletzung von Art. 6 EMRK führen könnte?

117.

Meines Erachtens räumt der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl der vollstreckenden Behörde in einem solchen Fall immer noch eine Wahlmöglichkeit ein und steht einer Übergabeentscheidung nicht entgegen. Der naheliegende Einwand gegen diese Schlussfolgerung wäre, dass sie die Möglichkeit eines Verstoßes gegen das Grundrecht der betreffenden Person auf ein faires Verfahren eröffnet. Kann dies nach der Charta oder nach Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl zugelassen werden? Selbstverständlich nicht. Die Verantwortung für den Grundrechtsschutz liegt bei einer solchen Sachlage jedoch beim Ausstellungsstaat (wie ich bei der Analyse für den Fall, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl in den vorliegenden Rechtssachen keine Anwendung findet, näher erläutern werde).

118.

Daraus folgt, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl sich darin erschöpft, der vollstreckenden Behörde die Möglichkeit zu eröffnen, die Übergabe abzulehnen.

119.

Schließlich kann meines Erachtens die vollstreckende Justizbehörde bei der Entscheidung über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls im Rahmen ihres Ermessens nach Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl der ausstellenden Justizbehörde keine Auflagen erteilen. Dies würde dem reibungslosen Funktionieren des Systems des Europäischen Haftbefehls zuwiderlaufen und das gegenseitige Vertrauen zwischen den beiden Justizbehörden belasten. Die in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl vorgesehene Wahlmöglichkeit zwischen Vollstreckung und Nichtvollstreckung gibt der vollstreckenden Justizbehörde nicht die Befugnis, die Art und Weise der Vollstreckung zu beeinflussen ( 60 ).

2. Zwischenergebnis

120.

Fällt ein Sachverhalt unter Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, braucht die vollstreckende Behörde lediglich zu prüfen, ob die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen vorliegen. Damit kommt sie zwangsläufig auch ihrer Verpflichtung zur Einhaltung von Art. 6 EMRK nach.

3. Option 2: Die Verfahren für die auslösenden Straftaten fallen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl

121.

Die zweite und die dritte Frage sind in den beiden Rechtssachen dann von Bedeutung, wenn der Gerichtshof die Ansicht vertritt, dass die Verhandlungen wegen der auslösenden Straftaten (oder die Verhandlung über die Vollstreckung) nicht Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ sind. Bei diesem Szenario hat die vollstreckende Behörde nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl keine Möglichkeit, die Vollstreckung der Europäischen Haftbefehle abzulehnen.

122.

In Anbetracht der aktuellen Auslegung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ist die Frage, ob die vollstreckende Behörde mögliche Verstöße gegen Art. 6 EMRK untersuchen und, gegebenenfalls, beschließen kann, den Europäischen Haftbefehl nicht zu vollstrecken, einfach zu beantworten: Nein, sie kann dies nicht. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl enthält eine erschöpfende Liste der Gründe für die Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, und die Mitgliedstaaten dürfen keine Gründe hinzufügen, die nicht in dieser Liste aufgeführt sind ( 61 ).

123.

Dies ist jedoch für eine wachsende Zahl nationaler Gerichte, die mit der Vollstreckung Europäischer Haftbefehle befasst sind und sich dabei zugleich verpflichtet sehen, Art. 6 EMRK einzuhalten, offenbar ein Problem ( 62 ). Das vorlegende Gericht scheint der Ansicht zu sein, dass eine Übergabe in den beiden vorliegenden Fällen auf eine „eklatante Rechtsverweigerung“ ( 63 ) hinauslaufen und es somit gegen seine eigenen Verpflichtungen aus der EMRK verstoßen würde. Diese Bedenken der nationalen vollstreckenden Behörden sind ernst zu nehmen.

124.

In diesen Rechtssachen stellt sich implizit die Frage, ob Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl weitere Gründe für die Ablehnung der Übergabe zulässt, insbesondere dann, wenn die Übergabe zu einer „eklatanten Rechtsverweigerung“ oder, wie in den Fragen des vorlegenden Gerichts formuliert, zu einer Verletzung des Wesensgehalts des Grundrechts auf ein faires Verfahren führen würde.

125.

In Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl wird klargestellt, dass die Anwendung dieses Rechtsakts nicht zu einer Verletzung der in der Unionsrechtsordnung niedergelegten Grundrechte und Rechtsgrundsätze führen darf. Die Frage des vorlegenden Gerichts ist daher dahin zu verstehen, dass es wissen möchte, ob es berechtigt ist, die Übergabe abzulehnen, auch wenn keine der im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl aufgeführten Situationen vorliegt, es aber gleichwohl zu dem Schluss kommt, dass nach der Übergabe die Möglichkeit einer Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren im Ausstellungsstaat besteht.

126.

Der Gerichtshof hat bisher eine derartige Möglichkeit auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl in zwei Fällen bejaht. Erstens befand er im Urteil Aranyosi und Căldăraru ( 64 ), dass die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, die eine Verletzung eines absoluten Grundrechts ( 65 ) darstellt, ein Grund für die Ablehnung der Übergabe ist. Zweitens entschied er im Urteil LM ( 66 ), dass auch die Gefahr einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren eine Ablehnung der Übergabe rechtfertigen kann ( 67 ).

127.

In beiden Fällen wurde jedoch der Zweifel daran, dass ein Grundrecht der zu übergebenden Person möglicherweise nicht gewahrt wird, durch die vorherige Feststellung der vollstreckenden Behörde ausgelöst, dass es im Ausstellungsstaat ein allgemeines oder systemisches Problem mit dem Schutz der Grundrechte gebe. In den Rechtssachen Aranyosi und Căldăraru ( 68 ) war die Möglichkeit der vollstreckende Behörde, zu beurteilen, ob die Person, um deren Übergabe ersucht wurde, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt würde, von der vorherigen Feststellung abhängig, dass systemische oder allgemeine Mängel vorliegen, die bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffen. In der Rechtssache LM ( 69 ) und in späteren Fällen ( 70 ) hatte die vollstreckende Behörde, bevor sie zu dem Schluss kam, dass das Recht einer zu übergebenden Person auf ein faires Verfahren gefährdet sei, zunächst zu prüfen, ob ein systemischer oder allgemeiner Mangel an Unabhängigkeit der Gerichte des ausstellenden Mitgliedstaats vorliegt.

128.

Die Feststellungen des Gerichtshofs in den dargestellten Rechtssachen sind damit begründet worden, dass das gegenseitige Vertrauen, das die Grundlage für die gegenseitige Anerkennung bildet, bei systemischen Mängeln nicht gegeben ist. Die Kenntnis solcher Mängel ermöglicht es der vollstreckenden Behörde daher, Zweifel an den Verfahren im Ausstellungsstaat zu äußern und zu prüfen, ob die Gefahr besteht, dass das Recht der zu übergebenden Person verletzt würde.

129.

Abgesehen von solchen systemischen und allgemeinen Mängeln sehe ich jedoch keinen Grund für die vollstreckende Behörde, über die im Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl genannten Fälle hinaus zu prüfen, ob das Recht der zu übergebenden Person durch den Ausstellungsstaat verletzt wird.

130.

Im Gegenteil, die Zulassung solcher Überprüfungen würde dem Gedanken des gegenseitigen Vertrauens zuwiderlaufen, der dem Mechanismus des Europäischen Haftbefehls zugrunde liegt. Dieser Mechanismus beruht auf der Vorstellung, dass jeder Mitgliedstaat die gemeinsamen Grundwerte achtet und sich bemüht, ihren Schutz zu gewährleisten ( 71 ).

131.

Der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls wurde eingeführt, um auf der Grundlage des Vertrauens in die Institutionen der anderen Staaten eine rasche Übergabe zu ermöglichen. Die Möglichkeit, die Einhaltung der Grundrechte in jedem Einzelfall zu überprüfen, würde eine Abkehr vom Mechanismus des Europäischen Haftbefehls zu etwas bedeuten, das eher den zuvor bestehenden Auslieferungsverfahren ähnelt.

132.

Sollte dies erforderlich sein, wäre es meiner Meinung nach nicht Sache des Gerichtshofs, sondern des Unionsgesetzgebers, eine solche Änderung des durch den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl eingeführten Mechanismus vorzunehmen.

133.

Es lässt sich nicht ausschließen, dass es Situationen gibt, in denen sich eine Überprüfung möglicher individueller Verletzungen der Grundrechte der Person, um deren Übergabe ersucht wird, unabhängig davon als notwendig erweist, ob es im Ausstellungsstaat systemische Mängel gibt. In einem Bereich, in dem eine Harmonisierung auf Unionsebene stattgefunden hat, wie es bei den zulässigen Einschränkungen des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung der Fall ist ( 72 ), sehe ich jedoch keinen Grund, das im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorgesehene System des Europäischen Haftbefehls um Ausnahmen zu erweitern.

134.

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass eine Person, um deren Übergabe durch den Vollstreckungsstaat ersucht wird, dem nicht entgegenhalten kann, dass der Ausstellungsstaat die Richtlinie 2016/343 nicht umgesetzt hat, mit der u. a. bestimmte Aspekte des Rechts auf Teilnahme in der Verhandlung in Strafverfahren harmonisiert wurden. Er hat ferner ausgeführt, dass die Verpflichtung des Ausstellungsmitgliedstaats, im Rahmen seiner Rechtsordnung alle Bestimmungen des Unionsrechts, einschließlich der Richtlinie 2016/343, einzuhalten, unberührt bleibt ( 73 ). Der Ausstellungsstaat muss einen Rechtsbehelf vorsehen, der vor seinen Gerichten eingelegt werden kann, um die Einhaltung dieser Richtlinie durchzusetzen.

135.

Die Verpflichtung der vollstreckenden Behörde, eine Person außerhalb einer der im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl genannten Sachverhalte zu übergeben, hat somit keine Änderung der in Art. 6 EUV verankerten Pflicht zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze zur Folge ( 74 ). Nach der Übergabe – darauf hat Irland hingewiesen – ist der ausstellende Mitgliedstaat nach wie vor für die Gewährleistung der Grundrechte verantwortlich ( 75 ).

136.

Sollte der Gerichtshof feststellen, dass die Verhandlungen wegen der auslösenden Straftaten nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl fallen, ist daher meines Erachtens die vollstreckende Behörde zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verpflichtet. Wenn keine Bedenken wegen systemischer Mängel im Ausstellungsmitgliedstaat vorliegen, sollte es der vollstreckenden Behörde nicht gestattet sein, die Einhaltung von Art. 6 EMRK im erstgenannten Staat in Bezug auf die Person, deren Übergabe beantragt wird, zu prüfen; sie ist vielmehr verpflichtet, den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken.

137.

Schließlich möchte das vorlegende Gericht mit Frage 3 Buchst. b in beiden Rechtssachen wissen, ob die Beurteilung möglicher Verstöße, die es der vollstreckenden Behörde erlauben würden, die Übergabe zu verweigern, auf solche beschränkt sein sollte, die den Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren betreffen.

138.

Meines Erachtens bietet der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls der vollstreckenden Behörde, abgesehen von den im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl genannten Fällen und sofern es keine systemischen Mängel im Justizsystem des ausstellenden Mitgliedstaats gibt, keinen Raum, zu prüfen, ob das Grundrecht der gesuchten Personen auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt verletzt ist oder verletzt werden würde.

4. Zwischenergebnis

139.

Wenn ein Sachverhalt nicht unter Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl fällt und keine systemischen Mängel im Justizsystem des ausstellenden Mitgliedstaats vorliegen, kann die vollstreckende Behörde nicht prüfen, ob das Grundrecht der gesuchten Personen auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt verletzt ist oder verletzt werden würde, sondern muss den Europäischen Haftbefehl vollstrecken.

140.

Nach der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bleibt der Ausstellungsstaat für die Gewährleistung der Grundrechte der überstellten Person verantwortlich.

VI. Ergebnis

141.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Court of Appeal (Irland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.

Der Begriff „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass er jeden Abschnitt des Verfahrens erfasst, der maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung über den Freiheitsentzug einer Person hat. Der Grund dafür ist, dass die betreffende Person die Möglichkeit haben muss, die endgültige Entscheidung über ihre Freiheit zu beeinflussen.

a)

Wird die Übergabe zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe begehrt, die zunächst zur Bewährung ausgesetzt worden war, deren Vollstreckung jedoch später aufgrund der Verurteilung wegen einer weiteren Straftat angeordnet wurde, und wurde dieser Vollstreckungsbeschluss von dem Gericht erlassen, das die gesuchte Person wegen der weiteren Straftat verurteilt hat, sind das Verfahren, das zu der späteren Verurteilung geführt hat, und der Vollstreckungsbeschluss Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584.

b)

Für die Einstufung des Verfahrens, das zu der späteren Verurteilung geführt hat, als „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ist es unerheblich, ob das Gericht, das den Vollstreckungsbeschluss erlassen hat, dazu rechtlich verpflichtet war oder ob es über ein Ermessen verfügte. Erheblich ist hingegen, dass dieses Verfahren für die erneute Befassung mit der Entscheidung über die Strafe, die zu dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, ausschlaggebend war.

2)

Fällt ein Sachverhalt unter Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584, braucht die vollstreckende Behörde lediglich zu prüfen, ob die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen vorliegen. Damit kommt sie zwangsläufig auch ihrer Verpflichtung zur Einhaltung von Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention nach.

Wenn ein Sachverhalt nicht unter Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt und keine systemischen Mängel im Justizsystem des ausstellenden Mitgliedstaats vorliegen, kann die vollstreckende Behörde nicht prüfen, ob das Grundrecht der gesuchten Personen auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt verletzt ist oder verletzt werden würde, sondern muss den Europäischen Haftbefehl vollstrecken. Nach der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bleibt der Ausstellungsstaat für die Gewährleistung der Grundrechte der überstellten Person verantwortlich.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1), geändert durch Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. 2009, L 81, S. 24) (im Folgenden: Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl).

( 3 ) Diese sind in den Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses festgelegt.

( 4 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89).

( 5 ) Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 61).

( 6 ) Oben in den Fn. 4 und 5 genannte Rechtssachen sowie Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde) (C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 51 und 52), vgl. auch Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie (Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht) (C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 50, 52, 67 und 68).

( 7 ) Rechtssache C‑158/21, Puig Gordi u. a.; Rechtssache C‑699/21, E. D. L. (Auf Krankheit beruhender Ablehnungsgrund); Rechtssache C‑261/22, GN.

( 8 ) Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 37 und 63); Gutachten 2/13 (Beitritt der Europäischen Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 191).

( 9 ) Vgl. hierzu den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24). Vgl. auch die Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) sowie Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 62 und 63).

( 10 ) Vgl. in diesem Sinne auch die Schlussanträge des Generalanwalts Richard de la Tour in der Rechtssache Puig Gordi u. a. (C‑158/21, EU:C:2022:573, Nr. 60). Zum Zeitpunkt der Verlesung der vorliegenden Schlussanträge ist diese Rechtssache noch beim Gerichtshof anhängig.

( 11 ) Es ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht über den Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des High Court (Obergericht, Irland) entscheidet, der in erster Instanz mit dem in Rede stehenden Europäischen Haftbefehl befasst war und seine Vollstreckung angeordnet hat.

( 12 ) Da der Berufungskläger des Ausgangsverfahrens sich während des erstinstanzlichen Verfahrens einen Monat in Untersuchungshaft befand, hat er noch eine Reststrafe von höchstens elf Monaten zu verbüßen.

( 13 ) Nach den vorliegenden Informationen wurde die auslösende Straftat im Jahr 2008 und damit während der Bewährungszeit für die ersten Straftaten begangen.

( 14 ) Die Parteien konnten in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof nicht angeben, wer dieses Rechtsmittel eingelegt hat.

( 15 ) Den Akten lässt sich nicht entnehmen, ob die Entscheidung über den Widerruf dieser Strafaussetzung im Ermessen des Gerichts stand. Anders als in der Rechtssache C‑515/21 stellt das vorlegende Gericht daher in der vorliegenden Rechtssache auch die Frage nach der Erheblichkeit eines möglichen Ermessens beim Widerruf der Strafaussetzung für die ersten Straftaten.

( 16 ) Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Strafe für die auslösende Straftat aufgrund von Verjährung nun erloschen sei; dies ist auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigt worden.

( 17 ) Ein Denial-of-Service-Angriff ist ein Cyberangriff, bei dem der Täter versucht, einen Computer oder eine Netzwerkressource für die vorgesehenen Nutzer unzugänglich zu machen, indem er die Dienste eines mit einem Netzwerk verbundenen Hosts vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit unterbricht. Dies wird in der Regel dadurch erreicht, dass der betreffende Rechner oder die betreffende Ressource mit überflüssigen Anfragen überflutet wird, um die Systeme zu überlasten und zu verhindern, dass einige oder alle legitimen Anfragen erfüllt werden.

( 18 ) Wie aus den verfügbaren Informationen zu diesem Vorgang hervorgeht, bezeichnete die ausstellende Justizbehörde den Beschluss über die Vollstreckung der verhängten Strafe als „obligatorisch“.

( 19 ) Urteil vom 10. August 2017, Tupikas (C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628).

( 20 ) Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629).

( 21 ) Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026).

( 22 ) Urteil vom 10. August 2017, Tupikas (C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628).

( 23 ) Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629).

( 24 ) Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026).

( 25 ) Mitsilegas, V., Autonomous concepts, diversity management and mutual trust in Europe’s area of criminal justice, Common Market Law Review, Bd. 57(1), 2020, S. 45 bis 78 (62).

( 26 ) Urteil vom 10. August 2017, Tupikas (C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 84) (Hervorhebung nur hier).

( 27 ) Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 87 und 91).

( 28 ) Urteil vom 10. August 2017, Tupikas (C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 81).

( 29 ) Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 93).

( 30 ) Aus der früheren Rechtsprechung ergibt sich auch eindeutig, dass eine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl entweder die endgültige Feststellung der Schuld oder die endgültige Verhängung einer Strafe oder beides betreffen kann. Vgl. Urteile vom 10. August 2017, Tupikas (C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 78 und 83), sowie vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 94). In den vorliegenden Rechtssachen beziehen sich die Vorlagefragen auf Entscheidungen über Freiheitsstrafen für die erste Straftat und nicht auf Entscheidungen zur Feststellung der Schuld für diese Straftat.

( 31 ) Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 85 und 87).

( 32 ) Der Gerichtshof hat auf folgende Urteile des EGMR Bezug genommen: EGMR, 21. September 1993, Kremzow/Österreich (CE:ECHR:1993:0921JUD001235086, § 67) (keine Teilnahme an der Berufungsverhandlung wegen der Umwandlung einer langjährigen Freiheitsstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe und der Entscheidung, ob diese in einer normalen Haftanstalt oder in einer Anstalt für psychisch Kranke verbüßt werden soll; der EGMR sah darin einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK), 3. April 2012, Boulois/Luxemburg (CE:ECHR:2012:0403JUD003757504, § 87) (Ablehnung eines Antrags auf eintägigen Hafturlaub, der nach Auffassung des EGMR nicht Teil des strafrechtlichen Teils von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist) und 28. November 2013, Dementyev/Russland (CE:ECHR:2013:1128JUD004309505, § 23) (keine Teilnahme an der Verhandlung zur Festsetzung einer Gesamtstrafe, die dem strafrechtlichen Teil des Art. 6 Abs. 1 EMRK zuzuordnen ist).

( 33 ) Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 85).

( 34 ) Zum einschlägigen Rechtsrahmen in der Rechtssache von Herrn Ardic vgl. Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 19 bis 30), und Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1013, Nrn. 29 bis 33).

( 35 ) Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 75).

( 36 ) Insoweit verweise ich auf die Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1013, Nr. 46).

( 37 ) EGMR, 3. April 2012, Boulois/Luxemburg (CE:ECHR:2012:0403JUD003757504, § 87). Anzumerken ist, dass die Rechtsprechung des EGMR nicht eindeutig ist, wenn es darum geht, eine klare Regel dafür zu schaffen, was eine Entscheidung über Art oder Maß einer Strafe und das eine Entscheidung über die Modalitäten der Vollstreckung einer Strafe darstellt.

( 38 ) Dies ist kaum mit der Aussetzung des Rests einer Freiheitsstrafe vergleichbar, wie LU in seinen schriftlichen Erklärungen zu Recht hervorgehoben hat.

( 39 ) Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 77) (Hervorhebung nur hier).

( 40 ) Vgl. hierzu Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 80). Alle Verfahrensbeteiligten waren sich in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof darin einig, dass sich das Urteil Ardic in tatsächlicher Hinsicht von den beiden vorliegenden Rechtssachen unterscheide. Der Widerruf der vorläufigen Entlassung in der Rechtssache Ardic beruhte nicht auf einem Schuldspruch, sondern auf der Feststellung, dass Herr Ardic Deutschland unter Verstoß gegen die Auflagen für seine vorläufige Entlassung verlassen hatte. In den beiden vorliegenden Fällen ist der Widerruf die Folge eines Strafverfahrens, das zu einem Schuldspruch führte, bei dem die beiden Berufungskläger nicht anwesend waren.

( 41 ) Die Tatsache, dass die zu übergebenden Personen wussten, dass eine Verurteilung wegen einer neuen Straftat zum Widerruf der Aussetzung der ersten Freiheitsstrafe führen würde oder könnte, ändert nichts an dieser Schlussfolgerung. Im Urteil Ardic hat der Gerichtshof allerdings in der Tatsache, dass Herrn Ardic bewusst war, dass er das Land nicht verlassen durfte, ein Argument dafür gesehen, dass die Entscheidung über den Widerruf der Haftentlassung nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl fiel (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 83). Dies lässt sich jedoch durch die Feststellung des Gerichtshofs erklären, dass ein solcher Verstoß gegen die Bedingungen der Haftentlassung zum automatischen Widerruf der bedingten Entlassung führt. In den vorliegenden Fällen war der Widerruf der Strafaussetzung jedoch durch die gerichtliche Feststellung der Schuld wegen einer Straftat bedingt, die zu einer Freiheitsstrafe führte. Im Falle von Herrn Ardic ließ sich an der Tatsache, dass er das Land verlassen hatte, nichts ändern, wohingegen die Berufungskläger in den vorliegenden Rechtssachen die Entscheidung über die Schuld und das Strafmaß durch ihre Teilnahme an der Verhandlung über die auslösenden Straftaten hätten beeinflussen können.

( 42 ) Die beiden Berufungskläger der Ausgangsverfahren machten geltend, dass die Aktivierung der Freiheitsstrafe wegen der ersten Straftat die unmittelbare Folge der zweiten Verurteilung sei und daher ein so enger Zusammenhang bestehe, dass die zweite Verurteilung bei der Entscheidung über die Vollstreckung der Europäischen Haftbefehle berücksichtigt werden müsse. In gleicher Weise ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass zwischen den beiden Verfahren ein enger Zusammenhang bestehe, der es rechtfertige, die zweite Verhandlung als die Verhandlung anzusehen, die zu der Entscheidung geführt habe. Ich schließe mich dieser Haltung an.

( 43 ) Dies wird durch die Situation in der Rechtssache C‑514/21 deutlich, in der das erstinstanzliche Gericht nach der Feststellung der Schuld an den auslösenden Straftaten lediglich eine Geldstrafe als Strafe verhängte, während das Berufungsgericht diese Strafe in eine Haftstrafe umwandelte.

( 44 ) Nach den vorliegenden Informationen war das Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung in der Rechtssache C‑515/21 ein gesondertes Verfahren, bei dem der entscheidende Richter jedoch nicht über ein Ermessen verfügte.

( 45 ) Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 87). Vgl. auch die Schlussanträge des Generalanwalts Richard de la Tour in der Rechtssache Puig Gordi u. a. (C‑158/21, EU:C:2022:573, Nr. 12).

( 46 ) Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl.

( 47 ) Vgl. hierzu den vierten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2009/299, in dem es heißt: „Diese einheitliche Grundlage soll mit diesem Rahmenbeschluss geschaffen werden, damit die vollstreckende Behörde die Entscheidung unter uneingeschränkter Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person auch dann vollstrecken kann, wenn die Person nicht zur Verhandlung erschienen ist.“

( 48 ) Vierter Erwägungsgrund des Rahmenbeschluss 2009/299.

( 49 ) Vgl. den dritten und den fünften Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2009/299.

( 50 ) Vgl. den ersten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2009/299.

( 51 ) Urteil vom 24. Mai 2016, Dworzecki (C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346, Rn. 42).

( 52 ) Die gleichen Voraussetzungen werden offenbar in der Richtlinie 2016/343 aufgestellt. Vgl. insbesondere deren Art. 8 Abs. 2 und Art. 9.

( 53 ) Dies gilt beispielsweise für das Erfordernis, dass die Person gemäß Art. 4a Abs. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl tatsächlich offiziell von der anberaumten Verhandlung in Kenntnis gesetzt worden sein muss (siehe unten, Fn. 58). Vgl. auch Brodersen, K. H., Glerum, V., und Klip, A., „The European arrest warrant and in absentia judgments: The cause of much trouble“, New Journal of European Criminal Law, Bd. 13(1), S. 7 bis 27, S. 12 und 21; Klip, A., Brodersen, K. H., und Glerum, V., The European Arrest Warrant and In Absentia Judgments, Maastricht Law Series, Bd. 12, Eleven International Publishing, Den Haag, 2020, S. 110.

( 54 ) Vgl. Urteile vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg (C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 43 und 44), und vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten) (C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 34, 35 und 37).

( 55 ) Insoweit werfen die vorliegenden Rechtssachen übrigens eine weitere Frage auf: Wann muss die vollstreckende Behörde zu der Überzeugung gelangen, dass eine der Voraussetzungen von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl gegeben ist? Die Kommunikation zwischen der vollstreckenden und der ausstellenden Behörde erfolgt auf der Grundlage des Formulars im Anhang zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, das, da es vorgegebene Kästchen zum Ankreuzen enthält, für eine sachdienliche Kommunikation nur bedingt geeignet erscheint. In den vorliegenden Rechtssachen gab es mehrmals einen Informationsaustausch zwischen vollstreckenden und ausstellenden Behörden auf der Grundlage von Art. 15 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl. Dem vorlegenden Gericht reichte dies jedoch nicht aus, um mit Gewissheit darüber zu entscheiden, ob das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung verletzt worden war. In der Rechtssache C‑515/21 beispielsweise erklärte die ausstellende Behörde, dass die Möglichkeit eines außerordentlichen Rechtsbehelfs bestehe, um das Verfahren wegen der auslösenden Straftat wieder aufzunehmen. Die vollstreckende Behörde war jedoch offenbar noch nicht davon überzeugt, dass die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl genannte Voraussetzung erfüllt ist.

( 56 ) Vgl. die Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Melloni (C‑399/11, EU:C:2012:600, Nrn. 80 bis 82).

( 57 ) Siehe oben, Fn. 53.

( 58 ) Dies zeigt z. B. die Rechtssache, in der das Urteil vom 24. Mai 2016, Dworzecki (C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346), ergangen ist. Polen hatte einen Europäischen Haftbefehl erlassen, um die Übergabe von Herrn Dworzecki zu erwirken. Obwohl die Verhandlung in Abwesenheit stattfand, gab die polnische ausstellende Behörde an, Herr Dworzecki sei offiziell von der anberaumten Verhandlung in Kenntnis gesetzt worden; die Vorladung sei unter der von ihm angegebenen Adresse einem erwachsenen Haushaltsmitglied zugestellt worden. Obwohl dies nach polnischem Recht als ordnungsgemäße Zustellung gilt, erfüllte es nicht die Voraussetzung von Art. 4a Abs. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, wonach die Vorladung „persönlich“ zugestellt werden muss. Der Gerichtshof entschied, dass die vollstreckende Justizbehörde in diesem Fall die Übergabe gleichwohl vornehmen kann, indem sie andere Umstände berücksichtigt, um sich zu vergewissern, dass die Verteidigungsrechte von Herrn Dworzecki nicht verletzt wurden (vgl. Rn. 47 bis 52 dieses Urteils). Die Absicht, sich dem Verfahren zu entziehen, ist vom EGMR als berechtigter Grund für die Ablehnung einer Wiederaufnahme des Verfahrens nach einem in Abwesenheit ergangenen Urteil angesehen worden. Vgl. z. B. EGMR, 14. Juni 2001, Medenica/Schweiz (CE:ECHR:2001:0614JUD002049192, §§ 55 und 56).

( 59 ) Vgl. hierzu Urteile vom 24. Mai 2016, Dworzecki (C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346, Rn. 50), und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg (C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 51).

( 60 ) Ausgenommen sind die in Art. 5 des Rahmenbeschlusses genannten Fälle, von denen keiner auf die beiden vorliegenden Rechtssachen zutrifft (erstens der Fall einer Straftat, die mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bedroht ist, und zweitens der Fall, dass der Europäische Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung ausgestellt wird).

( 61 ) Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 70).

( 62 ) Siehe oben, Fn. 7.

( 63 ) Dies ist die Formulierung des EGMR. Vgl. z. B. EGMR, 9. Juli 2019, Kislov/Russland, (CE:ECHR:2019:0709JUD000359810, §§ 107 und 115).

( 64 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 88).

( 65 ) Dieses Recht wird in Art. 3 EMRK und in Art. 4 der Charta als absolutes Recht geschützt.

( 66 ) Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 61, 68, 76 und 78).

( 67 ) Urteile vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde) (C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 52), und vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie (Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht) (C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 52).

( 68 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89).

( 69 ) Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 61 und 68).

( 70 ) Dies wird auch in den Urteilen vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde) (C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 54 und 66), und vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie (Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht) (C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 50 und 52), bestätigt.

( 71 ) Siehe oben, Fn. 8.

( 72 ) Vgl. in diesem Zusammenhang den Rahmenbeschluss 2009/299 und die Richtlinie 2016/343.

( 73 ) Vgl. hierzu Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg (C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 55). Eine abweichende Meinung vertritt Böse, M., „European Arrest Warrants and Minimum Standards for Trials in absentia – Blind Trust vs. Transnational Direct Effect?“, European Criminal Law Review, Bd. 11(3), 2021, S. 275 bis 287, speziell S. 285 und 286. Böse meint, dass die Ablehnung auch dann zulässig sei, „wenn im Ausstellungsmitgliedstaat ein offensichtlicher Mangel an Rechtsschutz besteht, der dem Beschuldigten das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nimmt“, und dass die Person, die Gegenstand des Europäischen Haftbefehls ist, sich auch im Übergabeverfahren auf die Richtlinie 2016/343 berufen können sollte.

( 74 ) Vgl. in diesem Sinne die Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1013, Nr. 78), in denen er darauf hinweist, dass nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl dem ausstellenden Mitgliedstaat die Hauptrolle bei der Wahrung der Rechte von Angeklagten zukomme.

( 75 ) Vgl. auch die Schlussanträge des Generalanwalts Richard de la Tour in der Rechtssache Puig Gordi u. a. (C‑158/21, EU:C:2022:573, Nrn. 85, 87 und 116).