Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 22. Februar 2022(1)

Verbundene Rechtssachen C14/21 und C15/21

Sea Watch e. V.

gegen

Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti,

Capitaneria di Porto di Palermo (C14/21)

Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti,

Capitaneria di Porto di Porto Empedocle (C15/21)

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia [Regionales Verwaltungsgericht Sizilien, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Seeverkehr – Tätigkeit der Such- und Rettungseinsätze auf See – Auf Schiffe anwendbare Rechtsvorschriften – Richtlinie 2009/16/EG – Kontrollbefugnisse des Hafenstaats – Art. 3 – Geltungsbereich – Art. 11 – Voraussetzungen für eine zusätzliche Überprüfung – Art. 13 – Gründlichere Überprüfung – Umfang der Kontrollbefugnisse – Art. 19 – Festhalten von Schiffen“






I.      Einleitung

1.        Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen sind vom Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia (Regionales Verwaltungsgericht Sizilien, Italien) im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten, in der ersten Rechtssache zwischen dem Sea Watch e. V. und dem Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti (Ministerium für Infrastruktur und Verkehr, Italien) sowie der Capitaneria di Porto di Palermo (Hafenbehörde Palermo, Italien), und in der zweiten Rechtssache zwischen dem Sea Watch e. V. und der Capitaneria di Porto di Porto Empedocle (Hafenbehörde Porto Empedocle, Italien), über zwei Anordnungen der jeweiligen Hafenbehörden zum Festhalten der Schiffe mit der Bezeichnung Sea Watch 4 bzw. Sea Watch 3 (im Folgenden: in Rede stehende Schiffe) eingereicht worden.

2.        Die Vorlagefragen betreffen im Wesentlichen den Umfang der Kontrollbefugnisse des Hafenstaats nach der Richtlinie 2009/16/EG(2) und anderer internationaler Vorschriften, die auf private Schiffe anwendbar sind, die systematisch und ausschließlich Such- und Rettungseinsätze zur Rettung von Personen, die sich auf See in Gefahr befinden (im Folgenden: SAR-Einsätze auf See), durchführen. Der Gerichtshof wird insbesondere den Geltungsbereich der Richtlinie 2009/16, die Häufigkeit und die Intensität der Kontrollen sowie die Grundlage für die Festhaltemaßnahmen zu klären haben.

3.        Die Hauptschwierigkeit in den vorliegenden Rechtssachen besteht darin, dass es keine internationalen oder europäischen Rechtsvorschriften gibt, die einen Rahmen für die systematische Durchführung von SAR-Einsätzen auf See durch private Einrichtungen vorgeben(3), wobei solche Einsätze in den letzten Jahren aufgrund des Versagens staatlicher und internationaler Organisationen angesichts der zunehmend kritischen Sicherheitslage von Menschen, die das Mittelmeer in kaum seetüchtigen Booten überqueren, erheblich zugenommen haben.

4.        Bis heute haben es die internationalen und europäischen Gesetzgeber versäumt, diese Lücke zu schließen und damit direkt zu diesem Phänomen Stellung zu nehmen(4), dessen heutige Bedeutung dadurch belegt wird, dass private Schiffe, die systematisch SAR-Einsätze auf See durchführen, in der Praxis mit den staatlichen Such- und Rettungssystemen auf See zusammenarbeiten(5). Das Fehlen besonderer Regeln für diese Übung kann jedoch zu unklaren Situationen führen, in denen die Präsenz privater Schiffe, die regelmäßig SAR-Einsätze auf See durchführen, zur Umgehung der Einreisebestimmungen in das Hoheitsgebiet der Union führen und sogar einen Anreiz für diese Art von Tätigkeit schaffen kann. Ich weise jedoch gleich zu Beginn darauf hin, dass die vorliegenden Rechtssachen nicht die SAR-Einsätze selbst, sondern ein davon getrenntes und späteres Stadium betreffen, nämlich die Überprüfung der Schiffe nach der Ausschiffung der „Schiffbrüchigen“.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

5.        Die Richtlinie 2009/16(6) betrifft die Kontrolle von Schiffen durch den Hafenstaat. Im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie heißt es:

„Die Kontrolle, ob Schiffe international vereinbarte Normen für die Sicherheit, die Verhütung von Verschmutzung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord einhalten, ist in erster Linie die Aufgabe des Flaggenstaats. Der Flaggenstaat, der sich gegebenenfalls der Unterstützung anerkannter Organisationen versichert, gewährleistet in jeder Hinsicht die Vollständigkeit und Wirksamkeit der Überprüfungen und Besichtigungen, die im Hinblick auf die Ausstellung der einschlägigen Zeugnisse durchgeführt werden. Das für das Schiff verantwortliche Unternehmen hat die Aufgabe, im Anschluss an die Besichtigung den Zustand des Schiffes und seiner Ausrüstung zu erhalten, um die Anforderungen der für das Schiff geltenden Übereinkommen zu erfüllen. Allerdings wies die Umsetzung und Durchsetzung internationaler Normen durch eine Reihe von Flaggenstaaten ernsthafte Mängel auf. Deshalb sollten die Hafenstaaten als zweite Verteidigungslinie gegen den Einsatz unternormiger Schiffe künftig auch die Einhaltung international vereinbarter Normen für die Sicherheit, die Verhütung von Verschmutzung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord kontrollieren, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Hafenstaatkontrolle keine Besichtigung ist und die entsprechenden Überprüfungsformulare keine Seetüchtigkeitszeugnisse darstellen.“

6.        Art. 3 („Geltungsbereich“) der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für Schiffe, die einen Hafen oder Ankerplatz eines Mitgliedstaats anlaufen, in dem eine Schnittstelle Schiff/Hafen erfolgen soll, und ihre Besatzung.

Die den Mitgliedstaaten im Rahmen der einschlägigen Übereinkommen verliehenen Rechte auf Interventionen bleiben von diesem Artikel unberührt.

(4)      Fischereifahrzeuge, Kriegsschiffe, Flottenhilfsschiffe, Holzschiffe einfacher Bauart, staatliche Schiffe, die für nichtgewerbliche Zwecke verwendet werden, und Vergnügungsjachten, die nicht dem Handelsverkehr dienen, sind vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgeschlossen.

…“

7.        Art. 11 („Häufigkeit der Überprüfungen“) der Richtlinie sieht vor:

„Schiffe, die Häfen oder Ankerplätze in der [Union] anlaufen, werden wie folgt wiederkehrenden Überprüfungen oder zusätzlichen Überprüfungen unterzogen:

a)      Die Schiffe werden wiederkehrenden Überprüfungen in zuvor festgelegten Abständen unterzogen, die sich nach ihrem Risikoprofil … richten …

b)      Die Schiffe werden unabhängig von der Zeit, die seit der letzten wiederkehrenden Überprüfung vergangen ist, wie folgt zusätzlichen Überprüfungen unterzogen:

–      Die zuständige Behörde sorgt dafür, dass Schiffe, für die in Anhang I Teil II Abschnitt 2A aufgeführte Prioritätsfaktoren gelten, überprüft werden.

–        Schiffe, für die in Anhang I Teil II Abschnitt 2B aufgeführte unerwartete Faktoren gelten, können überprüft werden. Die Entscheidung, eine solche zusätzliche Überprüfung durchzuführen, unterliegt der fachlichen Beurteilung der zuständigen Behörde.

8.        Art. 13 („Erstüberprüfung und gründlichere Überprüfung“) der Richtlinie 2009/16 lautet:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Schiffe, die gemäß Artikel 12 oder Artikel 14a für eine Überprüfung ausgewählt werden, wie folgt einer Erstüberprüfung oder einer gründlicheren Überprüfung unterzogen werden:

1.      Bei jeder Erstüberprüfung eines Schiffes stellt die zuständige Behörde sicher, dass der Besichtiger mindestens

a)      die … Zeugnisse … überprüft, die gemäß den [unionsrechtlichen] Vorschriften für den Seeverkehr und gemäß Übereinkommen über Sicherheit und Gefahrenabwehr an Bord mitzuführen sind;

c)      sich einen Eindruck vom Gesamtzustand des Schiffes, einschließlich der hygienischen Verhältnisse, einschließlich des Maschinenraums und der Unterkunftsräume, verschafft.

3.      Eine gründlichere Überprüfung einschließlich einer weiteren Kontrolle, ob die betrieblichen Anforderungen an Bord erfüllt werden, wird durchgeführt, wenn es nach der Überprüfung im Sinne von Nummer 1 triftige Gründe für die Annahme gibt, dass der Zustand eines Schiffes oder seiner Ausrüstung oder seine Besatzung die anwendbaren Vorschriften eines Übereinkommens im Wesentlichen nicht erfüllt.

‚Triftige Gründe‘ liegen vor, wenn der Besichtiger auf Anzeichen stößt, die nach seinem fachlichen Urteil eine gründlichere Überprüfung des Schiffes, der Ausrüstung oder der Besatzung erforderlich machen.

Anhang V enthält Beispiele für ‚triftige Gründe‘.“

9.        Art. 19 („Mängelbeseitigung und Festhalten“) der Richtlinie bestimmt:

(1)      Die zuständige Behörde muss sich davon überzeugen, dass bei der Überprüfung bestätigte oder festgestellte Mängel entsprechend den Übereinkommen beseitigt werden.

(2)      Bei Mängeln, die eindeutig eine Gefahr für die Sicherheit, Gesundheit oder Umwelt darstellen, sorgt die zuständige Behörde des Hafenstaats, in dem das Schiff überprüft wird, dafür, dass das Schiff festgehalten oder der Betrieb, bei dem die Mängel festgestellt werden, eingestellt wird. Die Anordnung des Festhaltens oder der Einstellung des Betriebs wird so lange nicht aufgehoben, wie die Gefahr nicht beseitigt ist oder diese Behörde nicht feststellt, dass das Schiff unter den erforderlichen Auflagen auslaufen oder der Betrieb wieder aufgenommen werden kann, ohne dass dies eine Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit der Fahrgäste oder der Besatzung oder eine Gefahr für andere Schiffe oder eine unangemessene Gefährdung der Meeresumwelt darstellt.

(6)      Wird das Schiff festgehalten, so unterrichtet die zuständige Behörde die Verwaltung des Flaggenstaats, oder, wenn dies nicht möglich ist, den Konsul oder, falls keine konsularische Vertretung erreichbar ist, die nächstgelegene diplomatische Vertretung dieses Staates unverzüglich schriftlich und unter Beifügung des Überprüfungsberichts über alle Umstände, derentwegen das Eingreifen für erforderlich gehalten wurde. Zusätzlich werden gegebenenfalls die bestellten Besichtiger oder anerkannten Organisationen, die für die Ausstellung der Klassifikationszertifikate oder der vorgeschriebenen Zeugnisse gemäß den Übereinkommen verantwortlich sind, benachrichtigt …

…“

10.      Anhang I („Bestandteile des Hafenstaatüberprüfungssystems der Gemeinschaft“) der Richtlinie enthält in seinem Teil II einen Abschnitt 2 („Zusätzliche Überprüfungen“), in dem es unter 2B („Unerwartete Faktoren“) heißt:

„Schiffe, für die folgende unerwartete Faktoren gelten, können unabhängig von der Zeit, die seit der letzten wiederkehrenden Überprüfung vergangen ist, einer Überprüfung unterzogen werden. Die Entscheidung, eine solche zusätzliche Überprüfung durchzuführen, unterliegt dem fachlichen Urteil der zuständigen Behörde.

–        Schiffe, die auf sonstige Weise so betrieben wurden, dass von ihnen Gefahren für Personen, Sachen oder die Umwelt ausgehen;

–        …“

11.      Anhang V („Beispiele für ‚triftige Gründe‘“) der Richtlinie führt in der Liste der „triftige[n] Gründe für eine gründlichere Überprüfung“ (Abschnitt A) die folgenden Beispiele auf:

„1.      Das Schiff gehört zu den in Anhang I Teil II Abschnitte 2A und 2B genannten Schiffen.

3.      Bei der Prüfung der Zeugnisse und anderen Unterlagen werden Unstimmigkeiten festgestellt.

…“

B.      Italienisches Recht

12.      Die Richtlinie 2009/16 wurde durch das Decreto legislativo n. 53 – Attuazione della direttiva [2009/16] recante le norme internazionali per la sicurezza delle navi, la prevenzione dell’inquinamento e le condizioni di vita e di lavoro a bordo per le navi che approdano nei porti comunitari e che navigano nelle acque sotto la giurisdizione degli Stati membri (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 53 – Umsetzung der Richtlinie [2009/16] über internationale Regeln für die Sicherheit von Schiffen, die Verhütung von Verschmutzung sowie die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord von Schiffen, die EU-Häfen anlaufen und in Hoheitsgewässern der Mitgliedstaaten fahren) vom 24. März 2011(7) in italienisches Recht umgesetzt.

III. Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

13.      Sea Watch ist eine humanitäre Organisation ohne Gewinnerzielungsabsicht mit Sitz in Berlin (Deutschland), deren Zweck gemäß ihrer Satzung insbesondere in der Durchführung von SAR-Einsätzen auf See besteht. Sie geht dieser Tätigkeit in internationalen Gewässern des Mittelmeers mit Schiffen nach, die in ihrem Eigentum stehen und auch von ihr betrieben werden. Zu diesen Schiffen gehören u. a. die in Rede stehenden Schiffe, die unter deutscher Flagge fahren und von einer anerkannten Klassifikations- und Zertifikationsstelle in Deutschland (im Folgenden: Klassifizierungsstelle) als „general cargo/multipurpose“ zertifiziert wurden(8).

14.      Im Sommer 2020 wurden die in Rede stehenden Schiffe nach der Durchführung von Rettungseinsätzen in den internationalen Gewässern des Mittelmeers und nach der mit Genehmigung und nach Anweisung der italienischen Behörden erfolgten Ausschiffung der aus Seenot geretteten Personen in den Häfen von Palermo (Italien) und Porto Empedocle (Italien) Reinigungs- und Desinfektionsprozeduren und anschließend Überprüfungen an Bord seitens der jeweiligen Hafenbehörden dieser beiden Städte sowie insbesondere einer gründlicheren Überprüfung im Sinne von Art. 13 der Richtlinie 2009/16(9) unterzogen.

15.      Diese gründlicheren Überprüfungen waren auf das Vorliegen eines „Prioritätsfaktors“ im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2009/16(10) gestützt, der darin bestanden habe, dass die in Rede stehenden Schiffe für SAR-Einsätze auf See eingesetzt würden, obwohl sie dafür nicht zertifiziert seien, und dass sie eine weit höhere Zahl von Personen als in den Sicherheitszeugnissen für diese Schiffe angegeben an Bord aufgenommen hätten.

16.      Nach Angaben der italienischen Behörden ergaben diese gründlicheren Überprüfungen eine Reihe technischer und operativer Mängel im Hinblick auf die Bestimmungen der Unionsvorschriften und der anwendbaren internationalen Übereinkommen(11). Einige dieser Mängel seien einzeln oder zusammen als eindeutig gefährlich für die Sicherheit, die Gesundheit oder die Umwelt anzusehen und für so schwerwiegend zu erachten, dass sie das Festhalten dieser Schiffe gemäß Art. 19 der Richtlinie 2009/16(12) rechtfertigten. Die beiden betroffenen Hafenbehörden ordneten daher das Festhalten dieser Schiffe an. Seitdem wurden einige dieser Mängel von Sea Watch behoben, wobei diese zugleich der Ansicht war, dass die übrigen Mängel (im Folgenden: in Rede stehende Mängel(13)) nicht erwiesen seien.

17.      Nach dem Festhalten der in Rede stehenden Schiffe erhob Sea Watch beim Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia (Regionales Verwaltungsgericht Sizilien), dem vorlegenden Gericht, zwei Klagen auf Nichtigerklärung der Bescheide über das Festhalten dieser Schiffe, gegen die diesen Bescheiden vorangegangenen Kontrollberichte und „jede andere vorausgehende, damit zusammenhängende oder nachfolgende Handlung“. Zur Stützung ihrer Klagen machte sie im Wesentlichen geltend, dass die Hafenbehörden, von denen diese Maßnahmen erlassen wurden, die dem Hafenstaat eingeräumten Befugnisse, wie sie sich aus der Richtlinie 2009/16, ausgelegt im Licht des anwendbaren Völkergewohnheitsrechts und anwendbarer internationaler Übereinkommen, ergäben, überschritten hätten.

18.      Das vorlegende Gericht weist allgemein darauf hin, dass in Bezug auf das Vorliegen der in Rede stehenden Mängel nicht nur zwischen den Parteien der Ausgangsverfahren, sondern auch bei den zuständigen Behörden des Hafenstaats (Italien) und des Flaggenstaats (Deutschland)(14) divergierende Auffassungen bestünden und dass die Ausgangsrechtsstreitigkeiten komplexe, neue Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung aufwürfen, die insbesondere den Rechtsrahmen und die Rechtsvorschriften beträfen, die auf Schiffe anwendbar seien, die von humanitären Nichtregierungsorganisationen betrieben würden, um zielgerichtet und nicht nur zufällig SAR-Einsätze auf See durchzuführen. Nach diesen Ausführungen stellt dieses Gericht im Wesentlichen zum einen die Frage, ob die Richtlinie 2009/16 auf die fraglichen Schiffe anwendbar ist, und zum anderen die Frage nach den Voraussetzungen und Grundlagen der Kontroll- und Festhaltebefugnisse des Hafenstaats.

19.      Unter diesen Umständen hat das Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia (Regionales Verwaltungsgericht Sizilien) in beiden Ausgangsrechtsstreitigkeiten beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden gleichlautenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. a)      Umfasst der Geltungsbereich der Richtlinie 2009/16 ein Schiff, das von der Klassifizierungsstelle des Flaggenstaates als Frachtschiff eingestuft wurde, das aber im konkreten Fall ausschließlich und systematisch eine nicht kommerzielle Tätigkeit, sogenannte „search and rescue“ („SAR“ oder „Such- und Rettungseinsätze“) durchführt (wie sie von Sea Watch mit den in Rede stehenden Schiffen auf der Grundlage ihrer eigenen Satzung durchgeführt werden), und kann demnach die PSC („Port State Control“ oder „Hafenstaatkontrolle“) auch bei einem solchen Schiff durchgeführt werden?

b)      Falls der Gerichtshof der Auffassung sein sollte, dass die betroffenen Schiffe auch vom Geltungsbereich der Richtlinie 2009/16 erfasst werden: Steht der dahin ausgelegten Richtlinie eine nationale Regelung wie die in Art. 3 des Decreto legislativo Nr. 53/2011 enthaltene entgegen, mit der Art. 3 dieser Richtlinie umgesetzt wurde, die aber in Abs. 1 des Art. 3 des genannten Decreto legislativo den Anwendungsbereich der PSC ausdrücklich so festlegt, dass er auf die zu kommerziellen Zwecken verwendeten Schiffe beschränkt wird und nicht nur Sportboote, sondern auch Frachtschiffe ausnimmt, die im konkreten Fall keine kommerzielle Tätigkeit ausüben und somit nicht für eine solche Tätigkeit verwendet werden?

c)      Kann begründetermaßen auch die Auffassung vertreten werden, dass infolge der 2017 erfolgten Änderungen in den Geltungsbereich der Richtlinie, soweit er auch Passagierschiffe einschließt, Frachtschiffe fallen, die systematisch sogenannte SAR-Einsätze von Personen auf dem Meer durchführen, wodurch der Transport der aus dem Meer in Lebensgefahr geretteten Personen dem Personentransport gleichstellt wird?

2.      Kann der Umstand, dass das Schiff eine Zahl von Personen transportiert hat, die weit höher ist als die, die in der Bescheinigung über die Sicherheitsausrüstung vermerkt ist, auch wenn dies das Ergebnis sogenannter SAR-Einsätze war, oder dass jedenfalls eine Bescheinigung über die Sicherheitsausrüstung vorhanden ist, die auf eine Zahl von Personen Bezug nimmt, die weitaus niedriger ist als die tatsächlich transportierten Personen, rechtmäßig unter die Prioritätsfaktoren im Sinne von Anhang I Teil II Abschnitt 2A oder die unerwarteten Faktoren im Sinne von Anhang I Teil II Abschnitt 2B, die in Art. 11 der Richtlinie 2009/16 genannt werden, fallen?

3.      Kann und/oder muss die Befugnis zur PSC‑Überprüfung in Form der gründlicheren Überprüfung im Sinne von Art. 13 der Richtlinie 2009/16 auf Schiffen, die unter der Flagge von Mitgliedstaaten fahren, auch die Befugnis umfassen, zu überprüfen, was unabhängig von der Tätigkeit, für die ihm vom Flaggenstaat und der entsprechenden Klassifizierungsstelle die Klassenbescheinigung und die daraus folgenden Sicherheitsbescheinigungen ausgestellt wurden, konkret die tatsächlich mit dem Schiff ausgeübte Tätigkeit ist, und folglich die Befugnis, zu prüfen, ob für dieses Schiff die Bescheinigungen vorliegen und, im Allgemeinen, die Anforderungen und/oder Vorschriften erfüllt werden, die auf internationaler Ebene im Bereich der Sicherheit, der Verhütung der Verschmutzung und der Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord erlassen wurden? Falls dies bejaht wird: Kann diese genannte Befugnis auch gegenüber einem Schiff ausgeübt werden, das konkret systematisch sogenannte SAR-Einsätze durchführt?

4. a)      Wie ist Art. 1 Buchst. b des Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See – das in Art. 2 der Richtlinie 2009/16 ausdrücklich genannt wird und dessen einheitliche unionsrechtliche Auslegung für die Zwecke der PSC daher zu gewährleisten ist – auszulegen, wonach sich „[d]ie Vertragsregierungen verpflichten …, alle Gesetze, Verordnungen, Ausführungsbestimmungen und sonstigen Vorschriften zu erlassen und alle sonstigen Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um diesem Übereinkommen volle Wirksamkeit zu verleihen und dadurch zu gewährleisten, dass sich ein Schiff im Hinblick auf den Schutz des menschlichen Lebens für seinen Verwendungszweck eignet“? Insbesondere: Muss man sich in Bezug auf die Beurteilung der Geeignetheit des Schiffes für seinen Verwendungszweck, die die Hafenstaaten mittels der PSC‑Überprüfungen beurteilen müssen, darauf beschränken, als ausschließlichen Prüfparameter die Vorgaben heranzuziehen, die auf der Grundlage der Klassifizierung und der maßgeblichen Sicherheitszeugnisse gemacht wurden, die für das Schiff vorliegen und die auf der Grundlage der abstrakt erklärten Tätigkeit ausgestellt wurden, oder kann vielmehr auch auf den Dienst, für den das Schiff konkret bestimmt ist, abgestellt werden?

b)      Haben, auch in Bezug auf den genannten internationalen Parameter, die Verwaltungsbehörden der Hafenstaaten die Befugnis, nicht nur die Übereinstimmung der Bordausrüstung mit den Vorgaben zu überprüfen, die nach den Bescheinigungen vorgesehen sind, die vom Flaggenstaat erteilt wurden und sich aus der abstrakten Klassifizierung des Schiffes ergeben, sondern auch die Befugnis, zu beurteilen, ob die Bescheinigungen, die für das Schiff vorliegen, und die entsprechende Bordausrüstung mit der konkreten ausgeübten Tätigkeit, die sich von der in der Klassenzertifizierung angegebenen unterscheidet, übereinstimmen?

c)      Dieselben Erwägungen sind für den Punkt 1.3.1 des Anhangs der IMO-Entschließung zur Hafenstaatkontrolle anzustellen, in dem bestimmt wird: „Under the provisions of the relevant conventions set out in section 1.2 above, the Administration (i.e. the Government of the flag State) is responsible for promulgating laws and regulations and for taking all other steps which may be necessary to give the relevant conventions full and complete effect so as to ensure that, from the point of view of safety of life and pollution prevention, a ship is fit for the service for which it is intended and seafarers are qualified and fit for their duties.“ („Nach den in Abschnitt 1.2 genannten einschlägigen Übereinkünften ist die Verwaltung [das heißt die Regierung des Flaggenstaates] für den Erlass von Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften sowie für die Ergreifung aller anderen Schritte verantwortlich, die erforderlich sein können, um der jeweiligen Übereinkunft in vollem Umfang Wirksamkeit zu verleihen und so zu gewährleisten, dass ein Schiff im Hinblick auf den Schutz des menschlichen Lebens und die Verhütung der Meeresverschmutzung für den vorgesehenen Dienst geeignet ist und dass die Seeleute über die erforderlichen Befähigungen verfügen sowie diensttüchtig sind.“).

5. a)      Kann, wenn das Bestehen einer Befugnis des Hafenstaates bestätigt werden sollte, das Vorliegen der Bescheinigungen und die Erfüllung der Anforderungen und/oder Vorgaben auf der Grundlage der Tätigkeit zu überprüfen, für die das Schiff konkret bestimmt ist, der Hafenstaat, der die PSC‑Überprüfung durchgeführt hat, das Vorliegen der Bescheinigungen und die Erfüllung von Anforderungen und/oder Vorgaben an die Sicherheit und die Verhütung von Meeresverschmutzung verlangen, die im Vergleich zu denjenigen, die für das Schiff vorliegen, weitergehender sind und sich auf die konkret ausgeübte Tätigkeit beziehen, insbesondere im vorliegenden Fall von sogenannten SAR-Einsätzen, um das Festhalten des Schiffes zu vermeiden?

b)      Wenn Frage 5 a bejaht wird: Kann das Vorliegen von Bescheinigungen und die Erfüllung von Anforderungen und/oder Vorgaben, die im Vergleich zu denjenigen, die für das Schiff vorliegen, weitergehender sind und sich auf die konkret ausgeübte Tätigkeit beziehen, insbesondere im vorliegenden Fall von sogenannten SAR-Einsätzen, um das Festhalten des Schiffes zu vermeiden, nur dann verlangt werden, wenn ein internationaler rechtlicher Rahmen und/oder unionsrechtlicher Rahmen besteht, der eindeutig und zuverlässig ist in Bezug auf die Klassifizierung der sogenannten SAR-Einsätze und die entsprechenden Bescheinigungen und Anforderungen und/oder Vorgaben zur Sicherheit und der Verhütung von Meeresverschmutzung?

c)      Wenn Frage 5 b verneint wird: Müssen das Vorliegen von Bescheinigungen und die Erfüllung von Anforderungen und/oder Vorgaben, die im Vergleich zu denjenigen, die für das Schiff vorliegen, weitergehender sind und sich auf die konkret ausgeübte Tätigkeit beziehen, insbesondere im vorliegenden Fall von sogenannten SAR-Einsätzen, um das Festhalten des Schiffes zu vermeiden, auf der Grundlage der nationalen Vorschriften des Flaggenstaates und/oder auf der des Hafenstaates verlangt werden, und ist dafür eine gesetzliche Vorschrift erforderlich oder ist auch eine untergesetzliche Vorschrift oder nur eine allgemeine Verwaltungsvorschrift geeignet?

d)      Wenn Frage 5 c bejaht wird: Obliegt es dem Hafenstaat, bei der PSC‑Überprüfung punktuell und speziell anzugeben, auf der Grundlage welcher (im Sinne von Frage 5 c festgelegten) nationalen Regelung mit Gesetzes- oder Verordnungscharakter oder welcher auf einen allgemeinen Verwaltungsakt zurückführbaren Regelung die technischen Anforderungen und/oder Vorgaben an die Sicherheit und die Verhütung von Meeresverschmutzung festgestellt werden müssen, die das Schiff, das einer PSC‑Überprüfung unterzogen wird, erfüllen muss, um sogenannte SAR-Einsätze durchzuführen, und welche Korrekturen oder Berichtigungen verlangt werden, um die Einhaltung der genannten Vorschriften sicherzustellen?

e)      Wenn es keine Regelung des Hafenstaates und/oder des Flaggenstaates gibt, die Gesetzes- oder Verordnungscharakter hat oder auf einen allgemeinen Verwaltungsakt zurückgeführt werden kann: Kann die Verwaltung des Hafenstaates für den konkreten Fall die technischen Anforderungen und/oder Vorgaben an die Sicherheit, die Verhütung von Meeresverschmutzung und den Lebens- und Arbeitsschutz an Bord festlegen, die das Schiff, das einer PSC‑Überprüfung unterzogen wird, erfüllen muss, um sogenannte SAR-Einsätze durchzuführen?

f)      Wenn die Fragen 5 d und e verneint werden: Können sogenannte SAR-Einsätze, wenn spezifische Angaben des Flaggenstaates in diesem Rahmen fehlen, als zwischenzeitlich genehmigt angesehen werden und daher nicht durch den Erlass einer Anordnung des Festhaltens verhindert werden, wenn das Schiff, das einer PSC‑Überprüfung unterzogen wird, die oben genannten Anforderungen und/oder Vorgaben einer anderen Kategorie (insbesondere eines Frachtschiffes) erfüllt, deren Vorliegen im konkreten Fall der Flaggenstaat bestätigt hat?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

20.      In seinen Vorlageentscheidungen hat das Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia (Regionales Verwaltungsgericht Sizilien) beantragt, die vorliegenden Rechtssachen dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

21.      Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 2. Februar 2021 sind diese Rechtssachen zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren verbunden worden, und mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. Februar 2021 hat dieser den Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens zurückgewiesen und zugleich festgestellt, dass die besonderen Umstände dieser Rechtssachen es rechtfertigen, dass der Gerichtshof sie gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung mit Vorrang behandelt.

22.      Sea Watch, die italienische, die spanische und die norwegische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Beteiligten haben auch in der mündlichen Verhandlung vom 30. November 2021 mündliche Ausführungen gemacht.

V.      Würdigung

23.      Die vom vorlegenden Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen betreffen den Geltungsbereich der Richtlinie 2009/16 (Abschnitt A) und den Umfang der Kontrollbefugnisse des Hafenstaates, und zwar erstens in Bezug auf die Voraussetzungen für eine zusätzliche gründlichere Überprüfung nach Art. 11 der Richtlinie (Abschnitt B), zweitens in Bezug auf den Umfang der Überprüfungsbefugnisse entweder gemäß Art. 13 der Richtlinie oder in Anwendung des Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und der IMO-Entschließung zur Hafenstaatkontrolle (Abschnitt C), und drittens in Bezug auf die Voraussetzungen für das Festhalten eines Schiffes nach Art. 19 der Richtlinie (Abschnitt D).

A.      Zur ersten Vorlagefrage (Geltungsbereich der Richtlinie 2009/16)

24.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2009/16 auf Schiffe anwendbar ist, die zwar als Frachtschiffe eingestuft und zertifiziert wurden, jedoch ausschließlich und systematisch für SAR-Einsätze auf See eingesetzt werden (Frage 1 a), und ob der Einsatz dieser Schiffe gegebenenfalls als dem Personentransport gleichstellte Tätigkeit in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen kann (Frage 1 c). Für den Fall, dass dies zu bejahen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 53/2011, der Art. 3 der Richtlinie 2009/16 umsetzt, indem er deren Geltungsbereich auf Schiffe beschränkt, die zu kommerziellen Zwecken verwendet werden, mit dieser Richtlinie vereinbar ist (Frage 1 b).

25.      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Richtlinie 2009/16 dahin zu verstehen sei, dass sie nicht auf Schiffe wie die in Rede stehenden anwendbar sei, so dass diese nicht Gegenstand einer auf der Grundlage dieser Richtlinie durchgeführten Überprüfung sein könnten.

26.      Erstens bin ich entgegen dem vorlegenden Gericht der Ansicht, dass die Richtlinie 2009/16 auf Schiffe wie die in Rede stehenden anwendbar ist, die zwar als „Mehrzweckfrachtschiffe“ eingetragen wurden, aber SAR-Einsätze auf See durchführen.

27.      Zum einen bestimmt nämlich Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/16, dass diese für Schiffe, die einen Hafen oder Ankerplatz eines Mitgliedstaats anlaufen, in dem eine Schnittstelle Schiff/Hafen erfolgen soll, und ihre Besatzung gilt. Die in Rede stehenden Schiffe sind indessen als „Schiffe“(15) eingetragen. Außerdem liegt es meines Erachtens auf der Hand, dass diese Schiffe für Tätigkeiten zum Einsatz kommen, die u. a. eine Beförderung von Personen vom Schiff und zum Hafen mit sich bringen und dass sie daher bei einer „Schnittstelle Schiff/Hafen“(16) zum Einsatz kommen, wobei der Umstand, dass diese Tätigkeit nicht in einem regelmäßigen oder vorhersehbaren Rhythmus ausgeübt wird, die fragliche Definition nicht beeinträchtigt.

28.      Zum anderen bestimmt Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/16, dass staatliche Schiffe, die für nicht gewerbliche Zwecke verwendet werden, und Vergnügungsjachten, die nicht dem Handelsverkehr dienen, vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind. Es trifft zwar zu, dass die in Rede stehenden Schiffe wie die beiden vorgenannten Kategorien von Schiffen für nicht gewerbliche Zwecke eingesetzt werden, doch können sie nicht allein aus diesem Grund „staatlichen Schiffen“ oder „Vergnügungsjachten“ gleichgestellt werden.

29.      Hierzu stelle ich zunächst fest, dass diese Schiffe, auch wenn sie de facto die SAR-Einsätze auf See, die grundsätzlich den Behörden des Küstenstaats obliegen, sicherzustellen helfen und in gewissem Umfang zur Zusammenarbeit mit dem Koordinierungssystem für Seenotrettung(17) verpflichtet sind, keine „staatlichen“ Schiffe im Sinne von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 2009/16 darstellen. Im Übrigen scheint mir diese Ausnahme nicht mit dem im öffentlichen Interesse liegenden Charakter der ausgeübten Tätigkeit zusammenzuhängen, sondern vielmehr mit der vollständigen Immunität von der Hoheitsgewalt jedes anderen als des Flaggenstaats, die insbesondere in Art. 96 des Seerechtsübereinkommens(18) für „[e]inem Staat gehörende oder von ihm eingesetzte Schiffe, die im Staatsdienst ausschließlich für andere als Handelszwecke genutzt werden“, garantiert wird.

30.      Sodann können die in Rede stehenden Schiffe keine „Vergnügungsjachten“ sein, da sie als Mehrzweckfrachtschiffe eingetragen sind und eine Tätigkeit versehen, die zwar löblich ist, bei der es sich jedoch nicht um eine Freizeit‑, Sport- oder ähnliche Tätigkeit handelt.

31.      Schließlich bin ich der Ansicht, dass der ausdrückliche Ausschluss dieser beiden Kategorien von Schiffen, mit denen einer nicht gewerblichen Tätigkeit nachgegangen wird, keinen zusätzlichen Anhaltspunkt dafür darstellen kann, dass der Unionsgesetzgeber die Kategorie von Schiffen, mit denen keine Tätigkeiten gewerblicher Art ausgeübt werden, sämtlich vom Geltungsbereich der Richtlinie 2009/16 ausschließen wollte. Vielmehr scheint mir die Erwähnung zweier ganz spezifischer Ausnahmen, die Schiffe betreffen, die für nicht gewerbliche Zwecke genutzt werden (nämlich staatliche Schiffe und Vergnügungsjachten) eher dafür zu sprechen, dass der Gesetzgeber die fragliche Ausnahme auf diese beiden Kategorien beschränken wollte.

32.      In Anbetracht des Wortlauts von Art. 3 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2009/16 ist daher festzustellen, dass Schiffe, die für nicht gewerbliche Zwecke eingesetzt werden, mit Ausnahme der beiden oben genannten Kategorien in den sachlichen Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen.

33.      Diese Feststellung wird meines Erachtens durch die teleologische Auslegung der Richtlinie 2009/16 bestätigt, die nach ihrem Art. 1 und ihrem vierten Erwägungsgrund zu einer drastischen Verringerung der Anzahl unternormiger Schiffe in den Hoheitsgewässern der Mitgliedstaaten beitragen soll, um insbesondere die Sicherheit, die Verhütung von Verschmutzung sowie die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord zu verbessern. Der Umstand, dass die in Rede stehenden Schiffe zu nicht gewerblichen Zwecken systematisch SAR-Einsätze auf See durchführen, kann diese Schiffe für sich genommen nicht den Befugnissen des Hafenstaats entziehen, insbesondere was die Kontrolle der Einhaltung international vereinbarter Normen für die Sicherheit, die Verhütung von Verschmutzung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord anbelangt. So kann beispielsweise nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass diese Schiffe aufgrund der Art ihrer Nutzung zu Problemen im Zusammenhang mit der Sicherheit, der Verschmutzung und den Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord Anlass geben können(19). Eine solche Ausnahme stünde im Übrigen im Widerspruch zu dem erklärten Ziel dieser Richtlinie, da Schiffe, mit denen eine gleiche oder ähnliche Tätigkeit mit Gewinnerzielungsabsicht ausgeübt wird und die ihrer Art nach die gleiche Gefahr für Sicherheit, Verschmutzung und Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord darstellen, an die in der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen gebunden wären.

34.      Im Übrigen bin ich entgegen dem Vorbringen von Sea Watch nicht der Auffassung, dass SAR-Einsätze auf See als nicht gewerbliche Tätigkeiten nicht Gegenstand eines auf der Grundlage von Art. 80 Abs. 2 EG (jetzt Art. 100 Abs. 2 AEUV) erlassenen Unionsrechtsakts wie der Richtlinie 2009/16 sein können. Diese Bestimmung sieht nämlich im Wesentlichen vor, dass der Unionsgesetzgeber geeignete Vorschriften für die Seeschifffahrt und die Luftfahrt festlegen kann und nimmt keine Unterscheidung zwischen gewerblichen und nicht gewerblichen Tätigkeiten vor. Außerdem betrifft die auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassene Richtlinie 2009/16 nicht unmittelbar die Tätigkeit der Schiffe, auf die diese Richtlinie Anwendung findet, sondern die Bedingungen der Schifffahrt und insbesondere die diesbezüglichen Kontrollbefugnisse des Hafenstaats.

35.      Was schließlich die vom vorlegenden Gericht angesprochene Möglichkeit betrifft, die Richtlinie 2009/16 auf die in Rede stehenden Schiffe anzuwenden, weil ihre Tätigkeit dem Personentransport gleichgestellt werden könne, bin ich der Ansicht, dass angesichts der Tatsache, dass die Richtlinie diese Schiffe unabhängig von ihrer Klassifizierung nach dem Recht des Flaggenstaats betrifft, die Gleichstellung dieser Tätigkeit mit der des Personentransports weder erforderlich noch relevant ist, um die Richtlinie auf die fraglichen Schiffe anwenden zu können(20).

36.      Was zweitens die Vereinbarkeit von Art. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 53/2011 mit dem Unionsrecht betrifft, sofern diese Bestimmung die Anwendung der Richtlinie 2009/16 auf Schiffe, die eine gewerbliche Tätigkeit ausüben, zu beschränken scheint, stelle ich fest, dass diese Richtlinie einen einheitlichen Ansatz zugrunde legt, um die tatsächliche Einhaltung der international vereinbarten Normen für die Sicherheit, die Verhütung von Verschmutzung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord von Schiffen, die in den Hoheitsgewässern der Mitgliedstaaten fahren und deren Häfen anlaufen(21), sicherzustellen, und dabei das Ziel verfolgt, zu einer drastischen Verringerung der Anzahl unternormiger Schiffe in diesen Gewässern beizutragen(22). Meines Erachtens gewährt die Richtlinie den Mitgliedstaaten daher keinerlei Ermessensspielraum, um den Geltungsbereich der Richtlinie auf Schiffe zu beschränken, mit denen eine gewerbliche Tätigkeit ausgeübt wird.

37.      Nach dieser Klarstellung ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Art. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 53/2011 grundsätzlich den Geltungsbereich der Richtlinie 2009/16 einschränkt, und, wenn dies der Fall sein sollte, zu beurteilen, ob es möglich ist, diese Bestimmung im Einklang mit Art. 3 der Richtlinie auszulegen, oder aber andernfalls die Konsequenzen aus der teilweisen Unvereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Unionsrecht zu ziehen, so dass diese Bestimmung gegebenenfalls nicht zur Anwendung kommen kann(23).

38.      Ich schlage daher vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2009/16 auf Schiffe anwendbar ist, die zwar vom Flaggenstaat als „Mehrzweckfrachtschiffe“ klassifiziert und zertifiziert sind, jedoch ausschließlich und systematisch SAR-Einsätze auf See durchführen, und dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, daraus alle Konsequenzen hinsichtlich der Auslegung und Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie zu ziehen.

B.      Zur zweiten Vorlagefrage (Voraussetzungen für eine zusätzliche Überprüfung nach Art. 11 der Richtlinie 2009/16)

39.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Umstand, dass während der Rettungsmaßnahmen, die den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen zugrunde liegen, eine über der Höchstzahl von Personen, die von den in Rede stehenden Schiffen gemäß ihren Sicherheitszeugnissen befördert werden dürfen, liegende Zahl von Personen befördert wurde, einen „Prioritätsfaktor“ oder einen „unerwarteten Faktor“ im Sinne von Anhang I Teil II Abschnitte 2A und 2B der Richtlinie 2009/16 und insbesondere den unerwarteten Faktor darstellen kann, der darin besteht, dass „[die in Rede stehenden] Schiffe … auf sonstige Weise so betrieben wurden, dass von ihnen Gefahren für Personen, Sachen oder die Umwelt ausgehen“(24), und der eine zusätzliche Überprüfung dieser Schiffe auf der Grundlage von Art. 11 dieser Richtlinie rechtfertigt.

40.      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, zwar stellten die Rettung von Personen aus dem Meer und die etwaige Unzulänglichkeit der Sicherheitszeugnisse, die vom Flaggenstaat ausgestellt worden seien, in Bezug auf die Zahl der tatsächlich an Bord befindlichen Personen weder „Prioritätsfaktoren“ noch „unerwartete Faktoren“ im Sinne der vorgenannten Bestimmungen dar, doch könnten die offensichtliche Diskrepanz zwischen der Zahl der Personen, die nach den Zeugnissen befördert werden dürften, und den Personen, die bei den Rettungsmaßnahmen tatsächlich befördert worden seien, sowie die insoweit bestehende offensichtliche Unzulänglichkeit als „unerwarteter Faktor“ eingestuft werden.

41.      In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/16 hervorgeht, dass die Kontrolle, ob Schiffe international vereinbarte Normen für die Sicherheit, die Verhütung von Verschmutzung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord einhalten, zwar in erster Linie die Aufgabe des Flaggenstaats ist, die Hafenstaaten als zweite Verteidigungslinie gegen den Einsatz unternormiger Schiffe jedoch auch die Einhaltung dieser Normen kontrollieren sollten, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Kontrolle durch den letztgenannten Staat keine Besichtigung (im Hinblick auf die Ausstellung der Zeugnisse) ist und die entsprechenden Überprüfungsformulare keine Seetüchtigkeitszeugnisse darstellen(25).

42.      Nach Art. 11 dieser Richtlinie werden Schiffe vom Hafenstaat zusätzlichen Kontrollen nur unterzogen, wenn „Prioritätsfaktoren“ oder „unerwartete Faktoren“ vorliegen; die genannten Faktoren werden in Anhang I Teil II Abschnitte 2A und 2B der Richtlinie abschließend aufgeführt(26). Zu den unerwarteten Faktoren gehört der vom vorlegenden Gericht angeführte Faktor, dessen Auslegung ihm Schwierigkeiten bereitet und der „Schiffe [betrifft], die auf sonstige Weise so betrieben wurden, dass von ihnen Gefahren für Personen, Sachen oder die Umwelt ausgehen“.

43.      Insoweit liegt es meines Erachtens auf der Hand, dass ein Schiff, das regelmäßig mehr als die Höchstzahl der Personen befördert, die seinen Zeugnissen gemäß befördert werden dürfen, unter bestimmten Umständen eine Gefahr für Personen, Sachen oder die Umwelt darstellen kann. Ein solcher Umstand kann grundsätzlich einen „unerwarteten Faktor“ im Sinne von Anhang I Teil II Abschnitt 2B der Richtlinie 2009/16 bilden und eine „zusätzliche Überprüfung“ im Sinne von Art. 11 dieser Richtlinie rechtfertigen.

44.      Indessen ist vom nationalen Gericht eine Sachverhaltsprüfung in jedem Einzelfall anzustellen, die sich nicht auf die formale Feststellung eines Unterschieds zwischen der Zahl der beförderten Personen und der Zahl der Personen, deren Beförderung zertifikatsgemäß gestattet ist(27), beschränken darf, sondern konkret die Risiken eines solchen Verhaltens beurteilen muss(28).

45.      Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass diese Situation mitunter, wie im vorliegenden Fall, die unmittelbare und notwendige Folge einer Beförderung sein kann, die durchgeführt wird, um die dem Kapitän des Schiffes nach dem Völkergewohnheitsrecht obliegende und u. a. in Art. 98 des Seerechtsübereinkommens niedergelegte Verpflichtung zur Rettung auf See(29) (im Folgenden: Verpflichtung zur Seenotrettung) zu erfüllen. Das Seegewohnheitsrecht stellt nämlich Schiffe, sofern sie dieser Pflicht nachkommen, von den aus der Klassifikation des Schiffes folgenden Anforderungen frei(30). Unter diesen Umständen kann die bloße Tatsache, dass das Schiff eine Anzahl von Personen befördert hat, die lediglich seine maximale Kapazität übersteigt, für sich genommen nicht als „unerwarteter Faktor“ im Sinne von Art. 11 und Anhang I Teil II Abschnitt 2B der Richtlinie 2009/16 angesehen werden(31).

46.      Allerdings lässt sich nicht grundsätzlich ausschließen, dass Schiffe zwar der Verpflichtung zur Seenotrettung nachkommen, dabei im konkreten Fall jedoch zugleich so betrieben werden, dass sie eine Gefahr für Personen, Sachen oder die Umwelt darstellen, was einen „unerwarteten Faktor“ im Sinne von Art. 11 und Anhang I Teil II Abschnitt 2B der Richtlinie 2009/16 bilden kann. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn nachgewiesen wird, dass ein Schiff durch seine überwiegende Verwendung ungeachtet der Normen über die Schiffsklassifikation systematisch gegen Schiffssicherheitsvorschriften verstößt(32). Es ist letztlich Sache der zuständigen nationalen Behörden, nachzuweisen, dass die in Rede stehenden Schiffe im vorliegenden Fall in einer Weise betrieben wurden, die – über die zur Erfüllung der Verpflichtung zur Seenotrettung unbedingt erforderlichen Tätigkeiten hinaus – eine Gefahr für Personen, Sachen oder die Umwelt darstellt.

47.      Ich schlage daher vor, auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 11 und Anhang I Teil II Abschnitte 2A und 2B der Richtlinie 2009/16 im Licht der u. a. in Art. 98 des Seerechtsübereinkommens übernommenen Verpflichtung zur Seenotrettung dahin auszulegen sind, dass der bloße Umstand, dass ein Schiff nach Rettungsmaßnahmen auf See eine Anzahl von Personen befördert hat, die über die im Sicherheitszeugnis angegebene Höchstanzahl hinausgeht, für sich genommen nicht als „Prioritätsfaktor“ oder „unerwarteter Faktor“ angesehen werden kann, der zusätzliche Überprüfungen im Sinne dieser Bestimmungen erfordert bzw. rechtfertigt. Indessen lässt sich nicht grundsätzlich ausschließen, dass die systematische Beförderung einer deutlich über den Kapazitäten des Schiffes liegenden Personenzahl es derart beeinträchtigen kann, dass es eine Gefahr für Personen, Sachen oder die Umwelt darstellen kann, die einen „unerwarteten Faktor“ im Sinne der genannten Bestimmungen bildet; dies zu überprüfen, obliegt dem vorlegenden Gericht.

C.      Zur dritten und zur vierten Vorlagefrage (Umfang der Befugnisse zur Überprüfung nach Art. 13 der Richtlinie 2009/16, Art. I Buchst. b des Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und Punkt 1.3.1 der IMO-Entschließung zur Hafenstaatkontrolle)

48.      Mit seiner dritten und vierten Frage, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 13 der Richtlinie 2009/16 einerseits oder Art. I Buchst. b des Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und Punkt 1.3.1 des Anhangs der IMO-Entschließung über die Hafenstaatkontrolle andererseits es dem Hafenstaat ermöglichen, zu überprüfen, ob für ein Schiff die erforderlichen Zeugnisse vorliegen und die internationalen Regeln für die Sicherheit, die Verhütung von Verschmutzung sowie die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord dieses Schiffes eingehalten werden, die sich auf die mit diesem Schiff tatsächlich durchgeführten Tätigkeiten, im vorliegenden Fall die Durchführung von SAR-Einsätzen auf See, unabhängig von der Tätigkeit, für die es klassifiziert wurde, beziehen(33).

49.      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die vom Hafenstaat ausgeübte Kontrolle die im Flaggenstaat durchgeführte Kontrolle und die dort getroffenen Entscheidungen nicht in Frage stellen könne und stellt zum einen fest, dass weder die internationalen Übereinkommen noch das Unionsrecht oder das italienische oder deutsche Recht präzise Anforderungen an private Schiffe vorsähen, die systematisch SAR-Einsätze auf See durchführten(34), und zum anderen, dass die internationalen Übereinkommen im Hinblick auf das Ziel der Seenotrettung ausdrücklich von den Anforderungen abwichen, die sich gegebenenfalls auf der Grundlage der Schiffsklassifikation ergäben(35).

50.      Gemäß Art. 13 Nr. 3 der Richtlinie 2009/16 umfasst eine gründlichere Überprüfung wie die, um die es in den Ausgangsverfahren geht, eine „[weitere] Kontrolle, ob die betrieblichen Anforderungen an Bord erfüllt werden“, und wird durchgeführt, wenn es nach einer Erstüberprüfung „triftige Gründe“ für die Annahme gibt, dass der Zustand eines Schiffes oder seiner Ausrüstung oder seine Besatzung die anwendbaren Vorschriften eines Übereinkommens im Wesentlichen nicht erfüllt(36). Anhang V dieser Richtlinie enthält Beispiele für „triftige Gründe“(37).

51.      Soweit im vorliegenden Fall relevant, beruhten die gründlicheren Überprüfungen nach Art. 13 Nr. 3 der Richtlinie 2009/16 der Vorlageentscheidung zufolge auf dem in Anhang V Abschnitt A Nr. 3 dieser Richtlinie genannten „triftigen Grund“, nämlich darauf, dass „[b]ei der Prüfung der Zeugnisse und anderen Unterlagen … Unstimmigkeiten festgestellt [werden]“, und zwar im vorliegenden Fall bei der Prüfung des Sicherheitszeugnisses gemäß Kapitel XI-2 Regel 9 des Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See(38). Darüber hinaus weist die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen darauf hin, dass die Befugnis zur Durchführung der gründlicheren Überprüfungen im Ausgangsverfahren insbesondere auf Kapitel I Regel 19 der Anlage zu diesem Übereinkommen beruhe(39).

52.      Art. 13 Nr. 3 der Richtlinie 2009/16 legt zwar den Rahmen fest, innerhalb dessen eine gründlichere Überprüfung zulässig ist, bestimmt jedoch nicht in klarer Form die Grenzen dieser Überprüfung. Somit stellt sich die Frage, ob sich die „[weitere] Kontrolle, ob die betrieblichen Anforderungen an Bord erfüllt werden“ allein auf die Anforderungen beschränkt, die aufgrund der Klassifikation des Schiffes gelten, oder auch die Anforderungen betrifft, die auf die mit dem Schiff konkret ausgeübte Tätigkeit anwendbar sind.

53.      Um den Umfang der Kontrolle des Hafenstaats im Sinne dieser Vorschrift zu bestimmen, ist meines Erachtens zum einen festzustellen, dass diese eine Kontrollbefugnis verleiht, die zwangsläufig über die der „Erstüberprüfung“ nach Art. 13 Nr. 1 dieser Richtlinie, der im Wesentlichen die Zeugnisse und den Gesamtzustand des Schiffes betrifft, hinausgeht, und zum anderen, dass diese Kontrolle die Prüfung der Übereinstimmung mit „anwendbaren Vorschriften eines Übereinkommens“ zum Gegenstand hat. Eine solche Kontrolle kann sich daher nicht auf die formalen Anforderungen beschränken, die in den Zeugnissen über die Klassifikation des Schiffes durch die Klassifizierungsstelle vorgesehen sind, sondern sie betrifft vielmehr die Frage, ob dieses Schiff mit allen einschlägigen Regeln der internationalen Übereinkommen im Bereich der Sicherheit, der Verhütung von Verschmutzung und der Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord in Einklang steht, wobei der tatsächliche Zustand des Schiffes und seiner Ausrüstung sowie die tatsächlich mit ihm ausgeübten Tätigkeiten insbesondere dann zu berücksichtigen sind, wenn diese von den mit seiner Klassifikation zusammenhängenden Tätigkeiten abweichen(40).

54.      Daher kann grundsätzlich, wie die italienische Regierung geltend macht, der Schluss gezogen werden, dass der Umstand, dass ein Schiff nicht entsprechend seinen Zertifikaten betrieben wird, einen Verstoß gegen die Vorschriften über die Betriebsabläufe an Bord darstellen und insbesondere eine Gefahr für Personen, Sachen oder die Umwelt mit sich bringen kann, was die zuständige Verwaltung auf der Grundlage der Vorschriften nachzuweisen hat, die für die mit diesem Schiff tatsächlich ausgeübte Tätigkeit gelten.

55.      Nach diesen Feststellungen ist jedoch mit dem vorlegenden Gericht darauf hinzuweisen, dass es weder im Unionsrecht noch im Völkerrecht eine Klassifikation für Schiffe zur Durchführung von SAR-Einsätzen auf See gibt(41). In Ermangelung einer solchen Klassifikation kann daher nicht der Schluss gezogen werden, dass die bloße Einstufung der in Rede stehenden Schiffe als „general cargo/multipurpose“ für sich genommen einen „triftigen Grund“ für die Annahme darstellt, dass der Zustand eines Schiffes oder seiner Ausrüstung oder seine Besatzung gemäß Art. 13 Nr. 3 der Richtlinie 2009/16 die „anwendbaren Vorschriften eines Übereinkommens“ im Wesentlichen nicht erfüllt, es sei denn, die systematische Verwendung dieses Schiffes verstößt gegen die Vorschriften über seine Klassifikation(42).

56.      Ich schlage daher vor, auf die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass die Befugnis des Hafenstaats, ein unter der Flagge eines Mitgliedstaats fahrendes Schiff einer gründlicheren Überprüfung gemäß Art. 13 der Richtlinie 2009/16 zu unterziehen, auch die Befugnis umfasst, zu prüfen, ob dieses Schiff im Bereich der Sicherheit, der Verhütung von Verschmutzung und der Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord die Vorschriften, die auf die mit ihm tatsächlich durchgeführten Tätigkeiten anwendbar sind, einhält, wobei zugleich die Tätigkeiten, für die das Schiff klassifiziert wurde, zu berücksichtigen sind.

D.      Zur fünften Vorlagefrage (Möglichkeit des Festhaltens eines Schiffes nach Art. 19 der Richtlinie 2009/16 für eine andere als die zertifizierte Tätigkeit)

57.      Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht zunächst im Wesentlichen wissen, ob die Behörden des Hafenstaats befugt sind, zur Vermeidung eines Festhaltens des Schiffes zu verlangen, dass Bescheinigungen vorliegen und Anforderungen oder Vorgaben auf dem Gebiet der Sicherheit und der Verhütung von Meeresverschmutzung eingehalten werden, die sich auf die konkret mit dem Schiff ausgeübte Tätigkeit, im vorliegenden Fall die der SAR-Einsätze auf See, beziehen (Frage 5 a), und, wenn dies der Fall sein sollte, ob diese Bescheinigungen und Anforderungen bzw. Vorgaben nur dann obligatorisch sein können, wenn ein internationaler rechtlicher Rahmen oder unionsrechtlicher Rahmen besteht, der in Bezug auf die Klassifikation der SAR-Einsätze auf See und die entsprechenden Bescheinigungen, Anforderungen oder Vorgaben eindeutig und zuverlässig ist (Frage 5 b), oder ob diese vielmehr auf der Grundlage der nationalen Vorschriften des Flaggenstaats oder auf der des Hafenstaats obligatorisch sein müssen und ob dafür eine gesetzliche oder untergesetzliche Vorschrift erforderlich oder eine allgemeine Verwaltungsvorschrift hinreichend ist (Frage 5 c).

58.      Sodann wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob es dem Hafenstaat obliegt, anlässlich der Überprüfung anzugeben, auf der Grundlage welcher nationalen Regelung (Gesetz, Verordnung oder Verwaltungsvorschrift) die Bestimmung der auferlegten Anforderungen oder Vorgaben erfolgen muss und welche Korrekturen oder Berichtigungen erforderlich sind, um die Einhaltung dieser Vorschriften sicherzustellen (Frage 5 d), und ob die Verwaltung des Hafenstaats, wenn es keine solche Regelung gibt, für den konkreten Fall die Anforderungen festlegen kann, die das Schiff, das einer Überprüfung unterzogen wird, erfüllen muss (Frage 5 e).

59.      Schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob SAR-Einsätze, wenn eine solche Regelung und spezifische Angaben des Flaggenstaats fehlen, als genehmigt (und daher nicht durch eine Festhaltemaßnahme verhinderbar) angesehen werden können, wenn das Schiff die Anforderungen oder Vorgaben einer anderen Kategorie erfüllt, deren Vorliegen im konkreten Fall der Flaggenstaat bestätigt hat (Frage 5 f).

60.      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich die zuständige Behörde nach Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 2009/16 davon überzeugen muss, dass bei der Überprüfung bestätigte oder festgestellte Mängel entsprechend den Übereinkommen beseitigt werden, und dass die zuständige Behörde des Hafenstaats nach Art. 19 Abs. 2 der Richtlinie bei bei der Überprüfung bestätigten oder festgestellten Mängeln, die eindeutig eine Gefahr namentlich für die Sicherheit darstellen, dafür sorgt, dass das Schiff festgehalten wird.

61.      Wie sich aus den Antwortvorschlägen für die vorstehenden Vorlagefragen ergibt, kann der Hafenstaat gemäß Art. 13 Nr. 3 der Richtlinie 2009/16 die Einhaltung der in den Bereichen der Sicherheit auf See, der Gefahrenabwehr im Seeverkehr, des Schutzes der Meeresumwelt sowie der Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord geltenden internationalen Übereinkommen und Unionsvorschriften unter Berücksichtigung der tatsächlich mit dem Schiff durchgeführten Tätigkeiten sicherstellen, sofern eine solche Kontrolle weder in die Zuständigkeit des Flaggenstaats für die Klassifikation des Schiffes eingreift noch die Erfüllung der Verpflichtung zur Seenotrettung beeinträchtigt.

62.      Die bloße Tatsache, dass ein Schiff systematisch SAR-Einsätze auf See durchführt, entbindet dieses Schiff daher nicht von der Beachtung der nach dem Völkerrecht oder dem Unionsrecht für es geltenden Anforderungen und schließt nicht aus, dass dieses Schiff im Sinne von Art. 19 der Richtlinie festgehalten wird, wenn es gegen diese Regeln verstößt. Mit anderen Worten: Zwar sind die Schiffe, wie das vorlegende Gericht feststellt, von der Anwendung der internationalen Vorschriften über die Sicherheit der Schifffahrt und den Schutz der Meeresumwelt ausgenommen, soweit sie punktuelle Seenotrettungseinsätze durchführen, doch sind sie nicht von jeder anderen für Schiffe auf der Grundlage des Völkerrechts geltenden Vorschrift befreit, wobei auf die tatsächlich durchgeführte Tätigkeit abzustellen ist.

63.      Ich schlage daher vor, auf die fünfte Vorlagefrage zunächst zu antworten, dass die Richtlinie 2009/16 dahin auszulegen ist, dass die Behörden des Hafenstaats befugt sind, zu verlangen, dass Bescheinigungen vorliegen und Anforderungen oder Vorgaben auf dem Gebiet der Sicherheit und der Verhütung von Meeresverschmutzung eingehalten werden, die sich auf die Tätigkeiten beziehen, für die ein Schiff klassifiziert ist, sowie jedwede andere Bescheinigung, Anforderung oder Vorgabe einzufordern, die auf dem Rechtsrahmen des Völker- oder des Unionsrechts beruht(43).

64.      Sodann bin ich der Ansicht, dass diese Richtlinie dahin auszulegen ist, dass es dem Hafenstaat obliegt, bei der Überprüfung anzugeben, auf der Grundlage welcher Vorschriften die Bestimmung der Anforderungen oder Vorgaben, deren Verletzung festgestellt wird, erfolgen muss und welche Korrekturen oder Berichtigungen erforderlich sind, um die Einhaltung dieser Vorschriften sicherzustellen.

65.      Schließlich ist diese Richtlinie meiner Auffassung nach dahin auszulegen, dass bei einem Schiff, das systematisch SAR-Einsätze auf See durchführt, nicht davon auszugehen ist, dass es als solches nicht für Festhaltemaßnahmen in Betracht kommt, wenn es gegen Anforderungen verstößt, die – unbeschadet der Verpflichtung zur Seenotrettung – nach dem Völkerrecht oder dem Unionsrecht für das Schiff gelten(44).

VI.    Ergebnis

66.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia (Regionales Verwaltungsgericht Sizilien, Italien) wie folgt zu beantworten:

1.      Die Richtlinie 2009/16/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über die Hafenstaatkontrolle in der durch die Richtlinie 2013/38/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. August 2013, die Verordnungen (EU) Nr. 1257/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 und 2015/757 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2015 sowie die Richtlinie (EU) 2017/2110 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. November 2017 geänderten Fassung ist auf Schiffe anwendbar, die zwar vom Flaggenstaat als „Mehrzweckfrachtschiffe“ klassifiziert und zertifiziert sind, jedoch ausschließlich SAR-Einsätze auf See durchführen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, daraus alle Konsequenzen hinsichtlich der Auslegung und Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie zu ziehen.

2.      Art. 11 und Anhang I Teil II Abschnitte 2A und 2B der Richtlinie 2009/16 sind im Licht der dem Schiffskapitän nach Völkergewohnheitsrecht obliegenden und u. a. in Art. 98 des am 10. Dezember 1982 in Montego Bay geschlossenen Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen übernommenen Verpflichtung zur Seenotrettung dahin auszulegen, dass der Umstand, dass ein Schiff nach Rettungsmaßnahmen auf See eine Anzahl von Personen befördert hat, die über die im Ausrüstungs-Sicherheitszeugnis angegebene Höchstanzahl hinausgeht, für sich genommen nicht als „Prioritätsfaktor“ oder „unerwarteter Faktor“ angesehen werden kann, der zusätzliche Überprüfungen im Sinne dieser Bestimmungen erfordert bzw. rechtfertigt. Indessen lässt sich nicht grundsätzlich ausschließen, dass die systematische Beförderung einer deutlich über den Kapazitäten des Schiffes liegenden Personenzahl es derart beeinträchtigen kann, dass es eine Gefahr für Personen, Sachen oder die Umwelt darstellen kann, die einen „unerwarteten Faktor“ im Sinne der genannten Bestimmungen bildet; dies zu überprüfen, obliegt dem vorlegenden Gericht.

3.      Die Befugnis des Hafenstaats, ein unter der Flagge eines Mitgliedstaats fahrendes Schiff einer gründlicheren Überprüfung gemäß Art. 13 der Richtlinie 2009/16 zu unterziehen, umfasst auch die Befugnis, zu prüfen, ob dieses Schiff im Bereich der Sicherheit, der Verhütung von Verschmutzung und der Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord die Vorschriften, die auf die mit ihm tatsächlich durchgeführten Tätigkeiten anwendbar sind, einhält, wobei zugleich die Tätigkeiten, für die das Schiff klassifiziert wurde, zu berücksichtigen sind.

4. a)      Die Richtlinie 2009/16 in der durch die Richtlinie 2013/38, die Verordnungen Nrn. 1257/2013 und 2015/757 sowie die Richtlinie 2017/2110 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Behörden des Hafenstaats befugt sind, zu verlangen, dass Bescheinigungen vorliegen und Anforderungen oder Vorgaben auf dem Gebiet der Sicherheit und der Verhütung von Meeresverschmutzung eingehalten werden, die sich auf die Tätigkeiten beziehen, für die ein Schiff klassifiziert ist, sowie jedwede andere Bescheinigung, Anforderung oder Vorgabe einzufordern, die auf dem Rechtsrahmen des Völker- oder des Unionsrechts beruht.

b)      Diese Richtlinie ist dahin auszulegen, dass es dem Hafenstaat obliegt, bei der Überprüfung anzugeben, auf der Grundlage welcher Vorschriften die Bestimmung der Anforderungen oder Vorgaben, deren Verletzung festgestellt wird, erfolgen muss und welche Korrekturen oder Berichtigungen erforderlich sind, um die Einhaltung dieser Vorschriften sicherzustellen.

c)      Die Richtlinie ist dahin auszulegen, dass bei einem Schiff, das systematisch SAR-Einsätze auf See durchführt, nicht davon auszugehen ist, dass es als solches nicht für Festhaltemaßnahmen in Betracht kommt, wenn es gegen Anforderungen verstößt, die – unbeschadet der Verpflichtung zur Seenotrettung – nach dem Völkerrecht oder dem Unionsrecht für das Schiff gelten.



1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über die Hafenstaatkontrolle (ABl. 2009, L 131, S. 57, berichtigt in ABl. 2013, L 32, S. 23) in der durch die Richtlinie 2013/38/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. August 2013 (ABl. 2013, L 218, S. 1), die Verordnungen (EU) Nr. 1257/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 (ABl. 2013, L 330, S. 1) und 2015/757 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2015 (ABl. 2015, L 23, S. 55) sowie durch die Richtlinie (EU) 2017/2110 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. November 2017 (ABl. 2017, L 315, S. 61) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2009/16).


3      Die einzige Regelung betreffend private Schiffe und somit deren Betreiber ist die Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. 2002, L 328, S. 17) (vgl. insoweit, Dumas, P., „L’obligation de prêter assistance aux personnes en détresse en mer au prisme du droit de l’Union“, Revue des affaires européennes, 12/2019, S. 305 bis 327). Dagegen sind die Regeln für SAR-Einsätze auf See im Rahmen der von den Mitgliedstaaten an ihren Seeaußengrenzen durchgeführten Grenzüberwachungseinsätze in der Verordnung (EU) Nr. 656/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierten operativen Zusammenarbeit (ABl. 2014, L 189, S. 93) vorgesehen. Außerdem beziehen sich die einzigen bestehenden Übereinkommen auf die Rettung auf See in Fällen, die wesentliche Elemente aufweisen, nämlich den „unfallbedingten“ und „außergewöhnlichen“ Charakter dieser Rettung. Diese Bestimmungen sind indessen so weit auszulegen und anzuwenden, wie es ihre Formulierung und ihr rechtlicher Kontext zulassen, ohne jedoch darüber hinauszugehen.


4      Die einzige „Regelung“ der Europäischen Union, die sich ausdrücklich mit dieser Frage befasst, ist meines Wissens die Empfehlung (EU) 2020/1365 der Kommission vom 23. September 2020 zur Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei Such- und Rettungsaktionen, für die im Eigentum privater Einrichtungen befindliche oder von solchen betriebene Schiffe eingesetzt werden (ABl. 2020, L 317, S. 23), die sich, da sie ihrem Wesen nach nicht verbindlich ist, darauf beschränkt, eine Verpflichtung der zuständigen Behörden der betroffenen Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit aufzustellen.


5      Beispielsweise müssen die Organisationen, die diese Schiffe betreiben, mit den Seenotleitstellen der Küstenmitgliedstaaten, die ihnen Weisungen zu den Möglichkeiten der Ausschiffung und des Umstiegs der geretteten Personen in dem betreffenden Mitgliedstaat erteilen, zusammenarbeiten.


6      Die Richtlinie 2009/16 wurde auf der Grundlage von Art. 80 Abs. 2 EG (jetzt Art. 100 Abs. 2 AEUV) erlassen, um die seit ihrem Erlass mehrfach geänderte Richtlinie 95/21/EG des Rates vom 19. Juni 1995 über die Kontrolle von Schiffen durch den Hafenstaat (ABl. 1995, L 157, S. 1) neu zu fassen und die durch diese Richtlinie eingeführten Mechanismen zu stärken. Die Richtlinie 2009/16 gehört zu einer Gesamtheit von Rechtsakten des Sekundärrechts, die am selben Tag angenommen wurden und zu der auch die Richtlinie 2009/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über die Erfüllung der Flaggenstaatpflichten (ABl. 2009, L 131, S. 132), die Richtlinie 2009/15/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über gemeinsame Vorschriften und Normen für Schiffsüberprüfungs- und ‑besichtigungsorganisationen und die einschlägigen Maßnahmen der Seebehörden (ABl. 2009, L 131, S. 47) sowie die Verordnung (EG) Nr. 391/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über gemeinsame Vorschriften und Normen für Schiffsüberprüfungs- und ‑besichtigungsorganisationen (ABl. 2009, L 131, S. 11) gehören.


7      GURI Nr. 96 vom 27. April 2011, S. 1, im Folgenden: gesetzesvertretendes Dekret Nr. 53/2011.


8      Wie in der mündlichen Verhandlung bestätigt wurde, fuhren die fraglichen Schiffe bis Ende 2019 unter niederländischer Flagge und wurden, da die zuständigen niederländischen Behörden auf Ersuchen der italienischen Behörden eine Änderung der Klassifikation in Betracht zogen, anschließend in Deutschland registriert.


9      In der durch Art. 16 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 53/2011 umgesetzten Fassung.


10      In der durch Art. 8 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 53/2011 umgesetzten Fassung.


11      Das vorlegende Gericht bezieht sich insbesondere auf Art. I Buchst. b des am 1. November 1974 in London geschlossenen Internationalen Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (United Nations Treaty Series, Bd. 1185, Nr. 18961, S. 3, im Folgenden: Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See) und auf Punkt 1.3.1 der IMO-Entschließung A.1138(31) („Verfahren für die Hafenstaatkontrolle, 2019“) der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (im Folgenden: IMO-Entschließung zur Hafenstaatkontrolle).


12      In der durch Art. 22 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 53/2011 umgesetzten Fassung.


13      Diese Mängel hängen im Wesentlichen damit zusammen, dass die in Rede stehenden Schiffe zunächst nicht zertifiziert seien, um mehrere Hundert Personen an Bord aufzunehmen und zu befördern, wie sie es im Sommer des Jahres 2020 systematisch getan hätten; sodann seien diese Schiffe nicht mit der geeigneten technischen Ausrüstung zur Durchführung dieser Einsätze ausgestattet, obwohl sie in Wirklichkeit für solche Einsätze bestimmt und tatsächlich ausschließlich hierfür genutzt worden seien (insbesondere seien die Abwasserbehandlungsanlagen, mit denen sie ausgestattet seien, für 22 bzw. 30 Personen und nicht für mehrere Hundert Personen ausgelegt, und es seien zusätzliche Toiletten sowie Duschen direkt auf dem Deck installiert worden, deren Abwässer unmittelbar in das Meer abgelassen würden); schließlich würden die von den Besatzungsmitgliedern durchgeführten Rettungseinsätze nicht auf ihre Arbeitszeit angerechnet.


14      In der mündlichen Verhandlung stellte die italienische Regierung jedoch klar, dass nach späteren Kontakten zwischen den italienischen und den deutschen Behörden Letztere Sea Watch als Reeder aufgegeben hätten, die zur Behebung der genannten Mängel erforderlichen Reparaturen vorzunehmen. Sea Watch gab an, dass sie Änderungen vorgenommen habe, um diesen Weisungen, obwohl sie außerhalb jeglichen Rechtsrahmens erteilt worden seien, nachzukommen, um das Risiko eines weiteren Festhaltens zu vermeiden.


15      Insoweit stellt Art. 2 Nr. 5 der Richtlinie 2009/16 klar, dass der Begriff „Schiff“ im Sinne dieser Richtlinie „ein seegehendes Fahrzeug [umfasst], auf das eines oder mehrere Übereinkommen Anwendung finden und das eine andere Flagge als diejenige des Hafenstaats führt“.


16      Hierzu stellt Art. 2 Nrn. 5 und 6 der Richtlinie 2009/16 klar, dass der Begriff „Schnittstelle Schiff/Hafen“ „Interaktionen [beschreibt], die auftreten, wenn ein Schiff direkt und unmittelbar von Tätigkeiten betroffen ist, die im Zusammenhang mit der Beförderung von Personen oder Gütern oder mit der Erbringung von Hafendienstleistungen vom oder zum Schiff stehen“.


17      Ich weise darauf hin, dass nach einer in den letzten Jahren fest etablierten Praxis die nach den Rettungsaktionen im Ausgangsverfahren erfolgten Ausschiffungen vom Ministero degli Interni (Innenministerium, Italien) genehmigt und vom Italian Maritime Rescue Coordination Centre (Italienische Seenotrettungsleitstelle) koordiniert worden sind.


18      Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, abgeschlossen am 10. Dezember 1982 in Montego Bay (United Nations Treaty Series, Bd. 1833, 1834 und 1835, S. 3, im Folgenden: Seerechtsübereinkommen). Das Übereinkommen trat am 16. November 1994 in Kraft. Es wurde mit dem Beschluss 98/392/EG des Rates vom 23. März 1998 (ABl. 1998, L 179, S. 1) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt.


19      Im Übrigen sind die vom Geltungsbereich der Richtlinie 2009/16 ausgeschlossenen Kategorien, wie die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie weniger gefahrenträchtig wären als die Schiffe, auf die diese Richtlinie Anwendung findet. Die besonderen Gründe für die Nichtanwendung der fraglichen Regelung auf die ausgeschlossenen Kategorien finden sich jeweils in spezifischen Quellen der Unions- und der Völkerrechtsordnung.


20      Jedenfalls weise ich darüber hinaus darauf hin, dass alle Fragen im Zusammenhang mit der Klassifikation dieser Schiffe, wie sie von der Klassifizierungsstelle vorgenommen wird, in den Zuständigkeitsbereich des Flaggenstaats fallen und für die Befugnisse des Hafenstaats nach der Richtlinie 2009/16 nicht relevant sind. Darüber hinaus bezweifle ich, wie von der spanischen Regierung ausgeführt, dass die SAR-Einsätze auf See dem Personentransport gleichgestellt werden können, da die letztgenannte Tätigkeit unterschiedliche Merkmale aufweist, wie insbesondere die absolute Vorhersehbarkeit der Dienstleistung (die für eine genau festgelegte Anzahl von Personen auf festgelegten Routen und zu festgelegten Bedingungen erbracht wird) und ihre vertragliche Natur.


21      Vgl. insbesondere siebter Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/16 und zwölfter Erwägungsgrund der Empfehlung 2020/1365, die sich auf „entsprechend ausgerüstet[e]“ Schiffe beziehen.


22      Vgl. insbesondere Art. 1 der Richtlinie 2009/16.


23      Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov (C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).


24      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die italienische Verwaltung in den Formularen für die Überprüfungsberichte diesen Umstand zwar als „Prioritätsfaktor“ im Sinne von Anhang I Teil II Abschnitt 2A der Richtlinie 2009/16 und nicht als „unerwarteten Faktor“ im Sinne von Anhang I Teil II Abschnitt 2B dieser Richtlinie bezeichnet habe, dies jedoch darauf zurückzuführen sei, dass diese Formulare keinen speziell für die Angabe der unerwarteten Faktoren bestimmten Teil enthielten, und dass daher davon auszugehen sei, dass die Formulare in dem Teil, in dem sie den „Prioritätsfaktor“ angäben, allgemein auf die Voraussetzungen für die Durchführung einer zusätzlichen Inspektion gemäß Art. 11 der Richtlinie 2009/16 Bezug nähmen.


25      Der Unionsgesetzgeber berücksichtigt insoweit die am 26. Januar 1982 in Paris unterzeichnete Pariser Vereinbarung über die Hafenstaatkontrolle, in deren viertem und fünftem Erwägungsgrund es heißt, dass die Hauptverantwortung für die wirksame Anwendung der in internationalen Übereinkünften festgelegten Normen den Behörden des Flaggenstaats obliegt, die Hafenstaaten jedoch wirksame Maßnahmen ergreifen müssen, um den Betrieb von Schiffen, die den internationalen Normen nicht genügen, zu verhindern.


26      Was den Unterschied zwischen den beiden Faktoren angeht, so sind die „unerwarteten Faktoren“ im Allgemeinen weniger gravierend oder weniger offenkundig schwerwiegend; sie hängen mit Problemen ähnlicher Art, wie z. B. Verstößen gegen geltende Vorschriften, Mängel, Beschwerden und früheren Festhaltemaßnahmen, zusammen (vgl. Pimm, M., „VIII. Commentary on Directive 2009/16/EC of the European Parliament and of the Council of 23 April 2009 on Port State Control“, EU Maritime Transport Law, 03/2016, S. 872). Im Übrigen ergibt sich aus Art. 11 Buchst. b der Richtlinie 2009/16, dass die zusätzliche Überprüfung bei Vorliegen von Prioritätsfaktoren zwingend zu sein scheint, während bei Vorliegen unerwarteter Faktoren die Entscheidung über die Vornahme einer solchen Prüfung im Ermessen der zuständigen Behörde liegt.


27      Die Einhaltung der in den Sicherheitszeugnissen eines Schiffes vorgesehenen Voraussetzungen, insbesondere derjenigen, die sich auf die Zahl der an Bord beförderten Personen bezieht, fällt nämlich in die Zuständigkeit des Flaggenstaats. Gleiches gilt für die ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich des Flaggenstaats fallende Frage, ob das für die Ausübung der Tätigkeit, für die die Schiffe bestimmt sind, erteilte Zeugnis in abstracto angemessen ist.


28      Ich halte es für besonders schwierig, darzutun, dass ein Schiff, dem die Beförderung von beispielsweise 100 Personen gestattet ist, eine Gefahr für Personen, Sachen oder die Umwelt darstellen kann, wenn es einige Personen mehr befördert. Anders verhält es sich dann, wenn ein grundsätzlich nicht für die Personenbeförderung bestimmtes Schiff, für das wie im vorliegenden Fall nach den Sicherheitszeugnissen maximal 30 Personen als Besatzungsmitglieder an Bord zugelassen sind, beispielsweise etwa 400 Personen an Bord nimmt.


29      Diese Bestimmung („Pflicht zur Hilfeleistung“) lautet in Abs. 1: „Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist, a) jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten; b) so schnell wie möglich Personen in Seenot zu Hilfe zu eilen, wenn er von ihrem Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält, soweit diese Handlung vernünftigerweise von ihm erwartet werden kann; …“


30      Insoweit weise ich zunächst darauf hin, dass Art. IV Buchst. b des in Art. 2 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2009/16 angeführten Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See vorsieht, dass Personen, die sich namentlich wegen der Verpflichtung des Kapitäns an Bord befinden, Schiffbrüchige aufzunehmen, bei der Feststellung, ob eine Bestimmung dieses Übereinkommens auf ein Schiff anzuwenden ist, außer Betracht bleiben, sodann darauf, dass die Anhänge des am 2. November 1973 in London unterzeichneten und durch das Protokoll vom 17. Februar 1978 ergänzten Internationalen Übereinkommens zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe, das ebenfalls in Art. 2 Nr. 1 Buchst. c der Richtlinie 2009/16 angeführt wird, Ausnahmen von den Vorschriften zum Einleiten von Stoffen ins Meer vorsehen, wenn dies zur Rettung von Menschenleben auf See erforderlich ist, und schließlich darauf, dass das ebenfalls in Art. 2 Nr. 1 Buchst. i der Richtlinie 2009/16 angeführte Seearbeitsübereinkommen von 2006 ein Recht des Kapitäns vorsieht, von den Seeleuten eine Verlängerung der Arbeitszeit über die vertraglich festgelegten Grenzen hinaus zu verlangen, wenn dies zur Hilfeleistung für andere Schiffe oder Personen, die sich in Seenot befinden, erforderlich ist.


31      Das vorlegende Gericht hat zu Recht ausgeschlossen, dass die von den zuständigen nationalen Behörden vorgebrachten Begründungen „Prioritätsfaktoren“ im Sinne von Art. 11 und Anhang I Teil II Abschnitt 2A der Richtlinie 2009/16 darstellen können. Keiner der von diesen Behörden vorgebrachten Gründe entspricht nämlich den Fallkonstellationen, die abschließend als „Prioritätsfaktoren“ aufgeführt sind.


32      Was die in Rede stehenden Mängel anbelangt, so könnte es sich dabei z. B. um Verstöße im Hinblick auf die zusätzlichen Abwasserbehandlungsanlagen handeln, die ihre Abwässer unmittelbar in das Meer einleiten.


33      Insbesondere ist die vierte Vorlagefrage, die die Anwendung der angeführten Übereinkünfte betrifft, meines Erachtens insoweit akzessorisch zur dritten, die Anwendung von Art. 13 Nr. 3 der Richtlinie 2009/16 betreffenden Frage, als das vorlegende Gericht mit seiner vierten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob, wenn es dem Hafenstaat nicht möglich sein sollte, im Sinne dieser Richtlinie die Einhaltung der im Hinblick auf die tatsächliche Tätigkeit dieses Schiffes geltenden Anforderungen zu überprüfen, eine solche Befugnis dennoch auf eine der angeführten Übereinkünfte gestützt werden kann.


34      Das Fehlen solcher Anforderungen im Völker- oder Unionsrecht werde durch die Empfehlung 2020/1365 bestätigt, wenn sie im zwölften Erwägungsgrund feststelle, dass es im Interesse der „öffentlichen Ordnung“ und Sicherheit sei, dass diese Schiffe ordnungsgemäß registriert und entsprechend ausgerüstet seien, so dass sie die Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit erfüllten und keine Gefahr für die Besatzung oder die geretteten Personen darstellten. Andernfalls gebe es, so das vorlegende Gericht, keinen Grund, sich insoweit auf die öffentliche Ordnung zu berufen.


35      Außerdem ist nach Auffassung des vorlegenden Gerichts, wenn die angeführten Übereinkünfte vorsähen, dass sich die vertragsschließenden Regierungen im Wesentlichen verpflichteten, alle Maßnahmen zu treffen, die erforderlich seien, um zu gewährleisten, dass sich ein Schiff im Hinblick auf den Schutz des menschlichen Lebens „für seinen Verwendungszweck eignet“, die Geeignetheit des Schiffes für seinen Verwendungszweck in einem abstrakten Sinn in Ansehung der Schiffsart gemäß ihrer Klassifikation und nicht konkret und in Anbetracht der spezifischen Art der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit zu verstehen, da andernfalls ein Begriff wie „verwendet“ oder ein ähnlicher Begriff gebraucht worden wäre. Das genannte Gericht räumt jedoch ein, dass der Rückgriff auf den Begriff „Verwendungszweck“ auch eine Auslegung zulasse, wonach sich die fragliche Zweckbestimmung weder auf die dem Schiff selbst inhärenten Merkmale noch auf die merkmalsspezifische Verwendung beziehen könne, sondern auch auf den Zweck, dem das Schiff von seinem Reeder tatsächlich zugeführt werde.


36      Nach dieser Bestimmung liegen solche „triftigen Gründe“ vor, wenn der Besichtiger die gründlichere Überprüfung nach seinem fachlichen Urteil für gerechtfertigt hält.


37      Darüber hinaus bin ich der Ansicht, dass Art. 13 Nr. 3 der Richtlinie 2009/16, weil er auf anwendbare Vorschriften eines Übereinkommens verweist, wie etwa das in Art. 2 der Richtlinie aufgeführte Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See, insbesondere im Licht von Art. I Buchst. b dieses Übereinkommens auszulegen ist. Auch wenn nämlich die Union nicht Vertragspartei dieses Übereinkommens ist (dagegen sind alle Mitgliedstaaten Unterzeichner des Übereinkommens), kann der Gerichtshof dessen Bestimmungen bei der Auslegung eines Rechtsakts des abgeleiteten Rechts berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a., C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 47 bis 52).


38      Kapitel XI-2 Regel 9 des Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See sieht eine beschränkte Kontrolle der Gültigkeit der in Nr. 1.1 dieser Regel genannten Zeugnisse und insbesondere des Internationalen Zeugnisses über die Gefahrenabwehr vor. Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die gründlicheren Überprüfungen mit der Begründung angeordnet worden waren, dass die Formulare mit vor Ankunft der Schiffe im Hafen zu machenden Angaben zur Gefahrenabwehr nicht ordnungsgemäß ausgefüllt worden seien, da insbesondere die Nummer des Unternehmens, die Position der Schiffe zum Zeitpunkt der Erstellung der Erklärung, die Behörde, durch die die Internationalen Zeugnisse zur Gefahrenabwehr ausgestellt worden seien, und die Gültigkeitsdauer dieser Zeugnisse gefehlt hätten. Außerdem sei angegeben worden, dass die Ergebnisse der Pläne zur Gefahrenabwehr auf den Schiffen genehmigt worden seien, obwohl dies noch nicht der Fall gewesen sei.


39      In Kapitel I Regel 19 des Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See, die die Sicherheitszeugnisse für das Schiff betrifft, heißt es unter Buchst. b, dass solche Zeugnisse, sofern sie gültig sind, akzeptiert werden, sofern nicht triftige Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Zustand eines Schiffes oder seiner Ausrüstung den Angaben eines der Zeugnisse nicht im Wesentlichen entspricht oder dass ein Schiff und seine Ausrüstung nicht den Bestimmungen der Regel 11 Buchst. a und b dieses Kapitels entsprechen. Nach Regel 11 Buchst. a dieses Kapitels muss der Zustand des Schiffes und seiner Ausrüstung im Einklang mit den Bestimmungen des Übereinkommens gehalten werden, damit das Schiff ohne Gefahr für das Schiff oder die Personen an Bord auslaufen kann. Dagegen ist Kapitel I Regel 11 Buchst. b des Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See im vorliegenden Fall nicht einschlägig, da diese Bestimmung das Verbot betrifft, nach einer gemäß den Regeln 7 bis 10 dieses Kapitels durchgeführten Überprüfung Änderungen vorzunehmen.


40      Dieses Ergebnis wird meines Erachtens auch nicht durch die Auslegung von Art. 13 Nr. 1 der Richtlinie 2009/16 im Licht von Art. I Buchst. b des Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und von Punkt 1.3.1 im Anhang der IMO-Entschließung zur Hafenstaatkontrolle in Frage gestellt. Diese Bestimmungen können nämlich, wenn sie die Möglichkeit vorsehen, zu überprüfen, ob sich „ein Schiff für seinen Verwendungszweck eignet“, dahin gehend ausgelegt werden, dass jede Beurteilung hinsichtlich der Eignung des Schiffes unter Berücksichtigung des von diesem tatsächlich ausgeführten Einsatzes sowie der einschlägigen Vorschriften erfolgen muss.


41      Im Übrigen scheint es eine solche auch im deutschen oder italienischen Recht nicht zu geben.


42      Ich gebe zu, dass es mir schwerfällt, zu akzeptieren, dass die Beförderung von Menschen in Seenot in gewissem Maße mit dem Transport von „Fracht“ gleichgesetzt werden kann, obwohl ich es ebenfalls für notwendig halte, zu vermeiden, dass die Klassifikation der in Rede stehenden Schiffe, wie sie von der Klassifizierungsstelle des Flaggenstaats vorgenommen wurde, in Frage gestellt wird. Im Übrigen sieht das Seerechtsübereinkommen für den Fall, dass der Hafenstaat mit der Klassifikation eines Schiffes nicht einverstanden ist, ein Meldeverfahren vor, wonach ein Staat, der eindeutige Gründe zu der Annahme hat, dass keine ordnungsgemäße Hoheitsgewalt und Kontrolle über ein Schiff ausgeübt worden sind, dem Flaggenstaat die Tatsachen mitteilen kann. Dieser hat eine diesbezügliche Untersuchung durchzuführen und gegebenenfalls die notwendigen Abhilfemaßnahmen zu ergreifen (Art. 94 Abs. 6 des Seerechtsübereinkommens). Diese Herangehensweise entspricht der in Nr. 1.3.3 des Anhangs der IMO-Entschließung über die Hafenstaatkontrolle zugrunde gelegten.


43      Erfüllt das Schiff dagegen nicht die nach den Rechtsvorschriften des Flaggenstaats oder des Hafenstaats vorgeschriebenen Voraussetzungen oder ist der Hafenstaat nicht mit der Klassifikation eines Schiffes einverstanden, so kann er (oder muss er sogar) dies dem Flaggenstaat mitteilen und mit diesem zusammenarbeiten, um eine Lösung für die festgestellten Mängel zu finden.


44      Ich erlaube mir an dieser Stelle eine letzte Bemerkung. Das menschliche Leben und seine Rettung sind selbstverständlich der Wert, dem gegenüber jeder anderen Erwägung der Vorrang gebührt. Die „Samariterpflicht“ ist jedoch nicht frei von Auflagen. So hat etwa der neutestamentarische Barmherzige Samariter, soweit hier relevant, einen Menschen zwar ohne Zögern aus Gefahr errettet. Er brachte ihn dann jedoch auf eigene Kosten und mit dem verlässlichsten Transportmittel, seinem Esel, an einen sicheren Ort, eine Herberge, und nahm sich seiner an, ohne diese „Last“ auf andere abzuwälzen. Dem Wirt gab er von seinem eigenen Geld, damit dieser sich unterdessen um ihn kümmere, wobei er versprach: „Wenn du mehr für ihn ausgibst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.“ Vergleiche sind manchmal schwierig…