30.5.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 189/2


Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 18. April 2023 (Vorabentscheidungsersuchen des Corte costituzionale — Italien) — Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen E. D. L.

(Rechtssache C-699/21 (1), E. D. L. [Ablehnung aus gesundheitlichen Gründen])

(Vorlage zur Vorabentscheidung - Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen - Europäischer Haftbefehl - Rahmenbeschluss 2002/584/JI - Art. 1 Abs. 3 - Art. 23 Abs. 4 - Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten - Ablehnungsgründe - Art. 4 Abs. 3 EUV - Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit - Aussetzung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls - Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung - Schwere, chronische und möglicherweise irreversible Krankheit - Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit der mit dem Europäischen Haftbefehl gesuchten Person)

(2023/C 189/02)

Verfahrenssprache: Italienisch

Vorlegendes Gericht

Corte costituzionale

Parteien des Ausgangsverfahrens

Kläger: E. D. L.

Beteiligter: Presidente del Consiglio dei Ministri

Tenor

Art. 1 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung im Licht von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

sind wie folgt auszulegen:

Bestehen ernsthafte Gründe für die Annahme, dass im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Übergabe einer gesuchten Person offensichtlich eine Gefährdung für deren Gesundheit darstellt, kann die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe ausnahmsweise aussetzen.

Hat sie im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls über die Übergabe einer gesuchten Person zu entscheiden, die schwer krank ist, und ist sie der Auffassung, dass es ernsthafte und nachgewiesene Gründe für die Annahme gibt, dass für die gesuchte Person im Fall der Übergabe die reale Gefahr einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung oder einer raschen, ernsten und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands besteht, hat die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe auszusetzen und die ausstellende Justizbehörde zu ersuchen, sie umfassend darüber zu unterrichten, unter welchen Bedingungen die gesuchte Person der Strafverfolgung unterzogen oder inhaftiert werden soll, und welche Möglichkeiten es gibt, diese Bedingungen, um zu verhindern, dass sich die genannte Gefahr verwirklicht, dem Gesundheitszustand der gesuchten Person anzupassen.

Geht aus den von der ausstellenden Justizbehörde gemachten Angaben und sämtlichen Informationen, über die die vollstreckende Justizbehörde verfügt, hervor, dass die genannte Gefahr nicht in angemessener Frist abgewandt werden kann, hat die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen. Kann die genannte Gefahr hingegen in angemessener Frist abgewandt werden, ist mit der ausstellenden Justizbehörde ein neues Übergabedatum zu vereinbaren.


(1)  ABl. C 73 vom 14.2.2022.