23.1.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 24/4


Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. November 2022 (Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag — Pays-Bas) — X/Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

(Rechtssache C-69/21) (1)

(Vorlage zur Vorabentscheidung - Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts - Art. 4, 7 und 19 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung - Achtung des Privat- und Familienlebens - Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung - Recht zum Aufenthalt aus medizinischen Gründen - Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger - Richtlinie 2008/115/EG - An einer schweren Krankheit leidender Drittstaatsangehöriger - Medizinische Behandlung zur Schmerzlinderung - Im Herkunftsland nicht verfügbare Behandlung - Voraussetzungen, unter denen die Abschiebung aufgeschoben werden muss)

(2023/C 24/05)

Verfahrenssprache: Niederländisch

Vorlegendes Gericht

Rechtbank Den Haag

Parteien des Ausgangsverfahrens

Kläger: X

Beklagter: Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

Tenor

1.

Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie mit deren Art. 19 Abs. 2

ist dahin auszulegen, dass

er dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet, entgegensteht, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Betroffene in dem Drittstaat, in den er abgeschoben würde, im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen, unumkehrbaren und raschen Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre, weil in diesem Staat die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung verboten ist. Ein Mitgliedstaat darf keine enge Frist vorsehen, innerhalb derer der Eintritt einer solchen Zunahme wahrscheinlich sein muss, damit dies der Rückkehrentscheidung oder der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegenstehen kann.

2.

Art. 5 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta der Grundrechte sowie mit deren Art. 19 Abs. 2

sind dahin auszulegen, dass

sie dem entgegenstehen, dass die Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher für den Gesundheitszustand eines Drittstaatsangehörigen von der zuständigen nationalen Behörde nur berücksichtigt werden, um zu prüfen, ob der Drittstaatsangehörige reisefähig ist.

3.

Die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7 sowie den Art. 1 und 4 der Charta der Grundrechte

ist dahin auszulegen, dass

sie den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet ein Drittstaatsangehöriger illegal aufhältig ist, nicht dazu verpflichtet, diesem einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn gegen ihn aus dem Grund weder eine Rückkehrentscheidung noch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen kann, dass ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Zunahme der durch die schwere Krankheit, an der er leidet, verursachten Schmerzen ausgesetzt wäre,

der Gesundheitszustand des Drittstaatsangehörigen und die Versorgung, die er in diesem Hoheitsgebiet aufgrund dieser Krankheit erhält, zusammen mit den übrigen relevanten Gesichtspunkten von der zuständigen nationalen Behörde bei der Prüfung, ob das Recht auf Achtung des Privatlebens dieses Drittstaatsangehörigen dem entgegensteht, dass gegen ihn eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen wird, zu berücksichtigen sind,

der Erlass einer solchen Entscheidung oder Maßnahme nicht allein deshalb gegen dieses Recht verstößt, weil der Drittstaatsangehörige im Fall seiner Rückkehr in das Zielland der Gefahr ausgesetzt wäre, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechtert, sofern diese Gefahr nicht die nach Art. 4 der Charta erforderliche Erheblichkeitsschwelle erreicht.


(1)  ABl. C 163 vom 3.5.2021.