Rechtssache T‑402/20

Zippo Manufacturing Co. u. a.

gegen

Europäische Kommission

Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 18. Oktober 2023

„Handelspolitik – Verordnung (EU) 2020/502 – Maßnahmen, die von den Vereinigten Staaten in Bezug auf die Einfuhr bestimmter derivativer Aluminiumerzeugnisse und bestimmter derivativer Stahlerzeugnisse eingeführt wurden – Entscheidung der Union, Handelszugeständnisse und sonstige gleichwertige Verpflichtungen auszusetzen – Zusätzliche Zölle auf Einfuhren von Waren mit Ursprung in den Vereinigten Staaten – Nichtigkeitsklage – Klagebefugnis – Zulässigkeit – Grundsatz der guten Verwaltung – Recht auf rechtliches Gehör“

  1. Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Individuelle Betroffenheit durch einen Rechtsakt allgemeinen Charakters – Voraussetzungen – Verordnung, mit der Maßnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts der Zugeständnisse in den Handelsbeziehungen mit Drittländern eingeführt werden – Klage eines Unternehmens, das die betreffende Ware herstellt und in die Union ausführt – Vorliegen einer besonderen Situation, die es aus dem Kreis aller übrigen Wirtschaftsteilnehmer heraushebt – Zulässigkeit

    (Art. 263 Abs. 4 AEUV)

    (vgl. Rn. 22, 24, 26-30)

  2. Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Unmittelbare Betroffenheit – Kriterien – Verordnung, mit der Maßnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts der Zugeständnisse in den Handelsbeziehungen mit Drittländern eingeführt werden – Unmittelbare Betroffenheit eines Unternehmens, das die betreffende Ware herstellt und in die Union ausführt

    (Art. 263 Abs. 4 AEUV)

    (Rn. 32, 33, 35-43)

  3. Nichtigkeitsklage – Zulässigkeitsvoraussetzungen – Natürliche oder juristische Personen – Von mehreren Klägern erhobene Klage gegen dieselbe Entscheidung – Klagebefugnis eines der Kläger – Zulässigkeit der Klage insgesamt

    (Art. 263 Abs. 4 AEUV)

    (vgl. Rn. 44-46)

  4. Nichtigkeitsklage – Rechtsschutzinteresse – Klageerhebung als maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Rechtsschutzinteresses – Verordnung, mit der Maßnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts der Zugeständnisse in den Handelsbeziehungen mit Drittländern eingeführt werden – Vorübergehende Aussetzung der Verordnung während des Verfahrens – Aufrechterhaltung des Interesses der Kläger an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Rechtsakts

    (Art. 263 Abs. 4 AEUV)

    (vgl. Rn. 47)

  5. Gemeinsame Handelspolitik – Schutz gegen Handelshemmnisse – Schutz gegen Maßnahmen, die von einem Drittland in Bezug auf die Einfuhr bestimmter Waren eingeführt wurden – Verordnung, mit der Maßnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts der Zugeständnisse in den Handelsbeziehungen mit diesem Land eingeführt werden – Einholung von Informationen vor dem Erlass der Verordnung – Information der betroffenen Parteien durch alle geeigneten öffentlichen Kommunikationsmittel – Verpflichtung, die betroffenen Parteien durch die Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union zu informieren – Fehlen

    (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 2 Buchst. a; Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates Nr. 654/2014, Art. 4 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1)

    (vgl. Rn. 54-58)

  6. Gemeinsame Handelspolitik – Schutz gegen Handelshemmnisse – Schutz gegen Maßnahmen, die von einem Drittland in Bezug auf die Einfuhr bestimmter Waren eingeführt wurden – Wahrung der Verteidigungsrechte – Recht auf rechtliches Gehör – Geltung – Unternehmen, die die betroffenen Waren herstellen oder ausführen und nicht an der Einholung von Informationen teilgenommen haben – Einbeziehung – Voraussetzungen – Identifizierung während des Erlassverfahrens

    (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 2 Buchst. a; Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates Nr. 654/2014, Art. 3 Buchst. c, Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. c und Art. 9 Abs. 1)

    (vgl. Rn. 59-77)

  7. Gemeinsame Handelspolitik – Schutz gegen Handelshemmnisse – Schutz gegen Maßnahmen, die von einem Drittland in Bezug auf die Einfuhr bestimmter Waren eingeführt wurden – Wahrung der Verteidigungsrechte – Recht auf rechtliches Gehör – Verstoß aufgrund einer fehlenden Konsultation eines Unternehmens, das während des Verfahrens zum Erlass der Verordnung identifiziert wurde – Folge – Nichtigerklärung der betreffenden Entscheidung – Voraussetzungen – Möglichkeit, dass sich das betroffene Unternehmen ohne diesen Fehler besser hätte verteidigen können – Einzelfallprüfung

    (WTO‑Übereinkommen über Schutzmaßnahmen, Art. 8 Abs. 2; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 2 Buchst. a und Art. 52 Abs. 1; Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates Nr. 654/2014, Art. 9 Abs. 1)

    (vgl. Rn. 78-86)

Zusammenfassung

Im April 2020 erachtete die Europäische Kommission es als erforderlich, als Reaktion auf die Einführung einer Zollerhöhung auf die Einfuhr bestimmter derivativer Aluminiumerzeugnisse und bestimmter derivativer Stahlerzeugnisse durch die Vereinigten Staaten von Amerika Maßnahmen gemäß der Verordnung Nr. 654/2014 ( 1 ) über die Ausübung der Rechte der Union in Bezug auf die Anwendung und die Durchsetzung internationaler Handelsregeln zu erlassen. Nachdem sie die betroffenen Parteien gemäß Art. 9 der Verordnung um eine Stellungnahme ersucht hatte, erließ sie die Durchführungsverordnung 2020/502 ( 2 ), die die Anwendung zusätzlicher Zölle auf die Einfuhr mechanischer Sturmfeuerzeuge aus Metall (im Folgenden: betroffene Waren) mit Ursprung in den Vereinigten Staaten vorsieht.

Die Klägerinnen, die Gesellschaft Zippo Manufacturing Co. (im Folgenden: ZMC) mit Sitz in den Vereinigten Staaten sowie ihre Tochtergesellschaften Zippo GmbH und Zippo SAS, sind im Bereich der Herstellung, des Vertriebs und der Vermarktung der betroffenen Waren in der Europäischen Union tätig. Da sie nicht an der Einholung von Informationen teilgenommen hatten, um die die Kommission ersucht hatte, erhoben sie eine Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Verordnung, soweit deren Bestimmungen sie betreffen.

Die Kommission erhob gegen die Klage eine Einrede der Unzulässigkeit mit der Begründung, die Klägerinnen verfügten nicht über die Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 AEUV, da die angefochtene Verordnung sie weder individuell noch unmittelbar betreffe.

Das Gericht wies die Einrede der Unzulässigkeit zurück und erklärte die Klage für zulässig. In der Sache erklärt es den Klagegrund des Verstoßes gegen den Grundsatz der guten Verwaltung für begründet und daher die angefochtene Verordnung für nichtig, soweit sie die von den Klägerinnen hergestellten und vertriebenen Waren betrifft. In diesem Zusammenhang stellt das Gericht fest, dass das Recht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 41 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im Verfahren der Einholung von Informationen, das die Kommission vor dem Erlass der angefochtenen Verordnung durchgeführt hat, missachtet wurde.

Würdigung durch das Gericht

Als Erstes prüft das Gericht die Zulässigkeit der Klage und weist zunächst darauf hin, dass nach Art. 263 Abs. 4 AEUV eine natürliche oder juristische Person nur dann eine Klage gegen einen Rechtsakt mit allgemeiner Geltung wie eine Verordnung erheben kann, wenn dieser Rechtsakt sie unmittelbar und individuell betrifft.

In Bezug auf die individuelle Betroffenheit entscheidet das Gericht, dass sich aus dem Akteninhalt ergibt, dass es eine Reihe von tatsächlichen und rechtlichen Umständen gibt, die eine besondere Situation begründen, die die ZMC aus dem Kreis aller übrigen Wirtschaftsteilnehmer heraushebt und ihre individuelle Betroffenheit durch die streitige Verordnung belegt. ZMC hat nämlich in rechtlich hinreichender Weise dargetan, dass sie insbesondere die einzige ausführende Herstellerin der betroffenen Waren aus den Vereinigten Staaten in die Union ist und dass der Staat Pennsylvania, in dem ZMC ihren Sitz hat, einen der Staaten der Vereinigten Staaten darstellt, der bei der Auswahl der Waren, die Gegenstand der Maßnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts sind, mit einbezogen worden sind.

Was die Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit betrifft, erfordert diese, dass zwei Kriterien erfüllt sind, nämlich dass sich der Rechtsakt unmittelbar auf die Rechtsstellung der in Rede stehenden Person auswirkt und dass er den Adressaten, die mit seiner Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessen lässt.

In diesem Zusammenhang stellt das Gericht erstens fest, dass die mit der Durchführung der angefochtenen Verordnung betrauten Mitgliedstaaten keinerlei Ermessen hinsichtlich des in Rede stehenden zusätzlichen Zolltarifs auf die Einfuhren in die Union und der Einführung dieser Zölle auf die in Rede stehenden Waren haben. Zweitens stellt es fest, dass zum einen ZMC in ihrer Eigenschaft als einzige ausführende Herstellerin der betroffenen Waren von den von der Kommission mit dem Erlass der streitigen Verordnung bezweckten negativen Auswirkungen unmittelbar betroffen ist. Zum anderen beeinträchtigt die streitige Verordnung, indem sie das Recht auf Zugang der Waren zum Unionsmarkt beschränkt, auch das Recht auf Zugang für die Waren von ZMC und entfaltet daher unmittelbare Rechtswirkung für sie.

Insbesondere aufgrund dieser Erwägungen kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass ZMC durch die streitige Verordnung individuell und unmittelbar betroffen und daher nach Art. 263 Abs. 4 AEUV klagebefugt ist.

Als Zweites prüft das Gericht in der Sache die Rüge der Klägerinnen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der guten Verwaltung, insbesondere ihr Recht auf rechtliches Gehör.

Hierzu stellt es fest, dass nach ständiger Rechtsprechung das in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta gewährleistete Recht auf rechtliches Gehör als Grundsatz und Grundrecht der Unionsrechtsordnung in allen Verfahren gelten muss, die zu einer beschwerenden Maßnahme, d. h. einer für die Interessen der betroffenen Person oder des betroffenen Mitgliedstaats nachteiligen Maßnahme führen können. Darüber hinaus gilt dieses Recht auch, wenn eine spezielle Regelung fehlt.

Im vorliegenden Fall stellt das Gericht zum einen fest, dass keine Bestimmung der Verordnung Nr. 654/2014 ausdrücklich das Recht auf rechtliches Gehör der Unternehmen ausschließt oder einschränkt, deren Waren Maßnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts gemäß dem von der Kommission nach der Verordnung erlassenen Durchführungsakt unterliegen. Zudem stellt Art. 9 Abs. 1 der Verordnung, soweit er die Pflicht der Kommission vorsieht, Informationen und Stellungnahmen zu den wirtschaftlichen Interessen der Union in Bezug auf bestimmte Waren oder Dienstleistungen oder auf bestimmte Sektoren einzuholen, keine Umsetzung des Rechts auf rechtliches Gehör der betroffenen Unternehmen dar. Zwar kann, wenn ein Unternehmen an einer solchen Einholung von Informationen teilgenommen hat, nicht ausgeschlossen werden, dass es seine Interessen oder individuellen Umstände sachdienlich und wirksam vorträgt. Hat jedoch ein Unternehmen, dessen Interessen durch die Maßnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts betroffen sein können, nicht an einer solchen Einholung von Informationen teilgenommen, kann nicht allein deshalb davon ausgegangen werden, dass sein Recht auf rechtliches Gehör beachtet wurde, weil die Kommission ihrer Pflicht, die Einholung zu organisieren, nachgekommen ist.

Zum anderen kann eine Maßnahme zur Wiederherstellung des Gleichgewichts, die gemäß der Verordnung Nr. 654/2014 erlassen worden ist, selbst wenn sie nicht nach einem Individualverfahren gegenüber Unternehmen, die die von ihr betroffenen Waren ausführen, erlassen wird, für die Interessen dieser Unternehmen nachteilig sein. Daraus folgt, dass sie sich insbesondere in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Kommission bei der Durchführung des Verfahrens zum Erlass des Durchführungsrechtsakts dazu veranlasst war, die genannten Unternehmen zu identifizieren, auf das Recht auf rechtliches Gehör berufen können.

Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen der Kommission in Frage gestellt, wonach sie nicht über ausreichend Zeit verfügt habe, um die Klägerinnen während des Verfahrens zum Erlass der angefochtenen Verordnung, die innerhalb der im Übereinkommen der Welthandelsorganisation (WTO) über Schutzmaßnahmen vorgesehenen Fristen erlassen werden musste, anzuhören.

Es oblag nämlich der Kommission, zum einen für die Einhaltung der Fristen, die sich aus dem WTO-Übereinkommen über Schutzmaßnahmen ergeben, zu sorgen, und zum anderen, die Klägerinnen anzuhören, die im Verfahren zum Erlass der streitigen Verordnung über das Recht auf rechtliches Gehör verfügten. Da die Kommission jedoch nicht bewiesen hat, dass es ihr unmöglich war, die Klägerinnen während des Verfahrens sachgerecht anzuhören, stellt das Gericht fest, dass sie über die erforderliche Zeit verfügte, um den Klägerinnen die Ausübung ihres Rechts auf rechtliches Gehör zu ermöglichen.

Zu den Folgen dieses Verfahrensfehlers ergibt sich aus gefestigter Rechtsprechung, dass ein Verstoß gegen die Verteidigungsrechte nur dann zur Nichtigerklärung einer am Ende eines Verfahrens erlassenen Entscheidung führt, wenn die Möglichkeit besteht, dass das Verfahren ohne diesen Fehler anders hätte ausgehen können. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn das betroffene Unternehmen nachweist, dass es sich ohne diesen Verfahrensfehler besser hätte verteidigen können.

Im vorliegenden Fall ist das Gericht der Ansicht, dass die Klägerinnen, wenn sie ihr Recht auf rechtliches Gehör im Lauf des Verfahrens hätten ausüben können, die in der Klageschrift genannten Argumente hätten vorbringen und sich somit besser hätten verteidigen können. Darüber hinaus kann, da ZMC die einzige ausführende Herstellerin der in Rede stehenden Waren ist, nicht ausgeschlossen werden, dass die streitige Verordnung einen anderen Inhalt gehabt hätte.

Nach alledem entscheidet das Gericht, dass sich die Verkennung des Rechts auf rechtliches Gehör der Klägerinnen möglicherweise auf das Ergebnis des Verfahrens ausgewirkt hat, und erklärt daher die streitige Verordnung für nichtig, soweit sie die betroffenen Waren betrifft.


( 1 ) Verordnung (EU) Nr. 654/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über die Ausübung der Rechte der Union in Bezug auf die Anwendung und die Durchsetzung internationaler Handelsregeln und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 3286/94 des Rates zur Festlegung der Verfahren der Gemeinschaft im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik zur Ausübung der Rechte der Gemeinschaft nach internationalen Handelsregeln, insbesondere den im Rahmen der Welthandelsorganisation vereinbarten Regeln (ABl. 2014, L 189, S. 50).

( 2 ) Durchführungsverordnung (EU) 2020/502 der Kommission vom 6. April 2020 über bestimmte handelspolitische Maßnahmen in Bezug auf bestimmte Waren mit Ursprung in den Vereinigten Staaten von Amerika (ABl. 2020, L 109, S. 10, im Folgenden: angefochtene Verordnung).