URTEIL DES GERICHTS (Sechste erweiterte Kammer)

5. Juli 2023 ( *1 )

„Nichtigkeitsklage – Institutionelles Recht – Mitglied des Parlaments – Weigerung des Präsidenten des Parlaments, einem Antrag auf Schutz der Vorrechte und Befreiungen stattzugeben – Nicht anfechtbare Handlung – Unzulässigkeit“

In der Rechtssache T‑115/20,

Carles Puigdemont i Casamajó, wohnhaft in Waterloo (Belgien),

Antoni Comín i Oliveres, wohnhaft in Waterloo,

vertreten durch Rechtsanwälte P. Bekaert, G. Boye und S. Bekaert sowie durch B. Emmerson, KC,

Kläger,

gegen

Europäisches Parlament, vertreten durch N. Görlitz und J.‑C. Puffer als Bevollmächtigte,

Beklagter,

unterstützt durch

Königreich Spanien, vertreten durch A. Gavela Llopis und M. J. Ruiz Sánchez als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

erlässt

DAS GERICHT (Sechste erweiterte Kammer),

zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung der Präsidentin A. Marcoulli (Berichterstatterin) sowie der Richter S. Frimodt Nielsen, H. Kanninen, J. Schwarcz und R. Norkus,

Kanzler: M. Zwozdziak-Carbonne, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens, insbesondere des Beschlusses vom 17. Juni 2021, die Entscheidung über die vom Parlament erhobene Einrede der Unzulässigkeit dem Endurteil vorzubehalten,

auf die mündliche Verhandlung vom 24. November 2022

folgendes

Urteil

1

Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragen die Kläger, Herr Carles Puigdemont i Casamajó und Herr Antoni Comín i Oliveres, die Nichtigerklärung des Beschlusses des Präsidenten des Europäischen Parlaments, der in seinem Schreiben vom 10. Dezember 2019 enthalten sein soll, das als Antwort auf ihren Antrag an das Parlament, auf der Grundlage von Art. 9 seiner Geschäftsordnung ihre parlamentarische Immunität zu schützen, erging.

Vorgeschichte des Rechtsstreits und Sachverhalt nach Klageerhebung

2

Zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Ley 19/2017 del Parlamento de Cataluña, reguladora del referéndum de autodeterminación (Gesetz 19/2017 des Parlaments von Katalonien über das Referendum über die Selbstbestimmung) vom 6. September 2017 (DOGC 7449A vom 6. September 2017, S. 1), und der Ley 20/2017 del Parlamento de Cataluña, de transitoriedad jurídica y fundacional de la República (Gesetz 20/2017 des Parlaments von Katalonien über den Rechtsübergang und die Gründung der Republik), vom 8. September 2017 (DOGC 7451A vom 8. September 2017, S. 1), sowie zum Zeitpunkt der am 1. Oktober 2017 erfolgten Durchführung des Referendums über die Selbstbestimmung gemäß dem erstgenannten Gesetz, dessen Bestimmungen in der Zwischenzeit durch eine Entscheidung des Tribunal Constitucional (Verfassungsgericht, Spanien) außer Vollzug gesetzt worden waren, war der erste Kläger Präsident der Generalitat de Cataluña (Regionalregierung von Katalonien, Spanien) und der zweite Kläger Mitglied des Gobierno autonómico de Cataluña (Autonome Regierung von Katalonien, Spanien).

3

Nach dem Erlass dieser Gesetze und der Durchführung dieses Referendums leiteten das Ministerio Fiscal (Staatsanwaltschaft, Spanien), der Abogado del Estado (Vertreter des öffentlichen Interesses, Spanien) und die politische Partei VOX ein Strafverfahren gegen mehrere Personen, darunter die Kläger, ein und vertraten dabei die Auffassung, dass die fraglichen Personen Taten begangen hätten, die u. a. die Straftatbestände der Rebellion, des Aufruhrs und der Veruntreuung öffentlicher Gelder erfüllten.

4

Mit Beschluss vom 9. Juli 2018 stellte das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) nach der Flucht der Kläger aus Spanien deren Weigerung, vor Gericht zu erscheinen, fest und setzte das gegen sie eingeleitete Strafverfahren bis zu ihrer Wiederauffindung aus.

5

In der Folge kandidierten die Kläger bei den Wahlen der Mitglieder des Parlaments, die am 26. Mai 2019 in Spanien stattfanden (im Folgenden: Wahlen vom 26. Mai 2019). Dabei wurden sie in das Parlament gewählt, wie sich aus der amtlichen Bekanntgabe der Wahlergebnisse durch die Junta Electoral Central (Zentrale Wahlkommission, Spanien) in einer Entscheidung vom 13. Juni 2019 über die „Bekanntgabe der bei den Wahlen zum Europäischen Parlament vom 26. Mai 2019 gewählten Abgeordneten“ (BOE Nr. 142 vom 14. Juni 2019, S. 62477) ergab.

6

Mit Schreiben vom 14. Juni 2019 ersuchten die Kläger den damals amtierenden Präsidenten des Parlaments u. a. darum, die in der Bekanntgabe vom 13. Juni 2019 angeführten Ergebnisse der Wahlen vom 26. Mai 2019 zur Kenntnis zu nehmen.

7

Am 15. Juni 2019 wies der Ermittlungsrichter des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) einen Antrag der Kläger auf Aufhebung der nationalen Haftbefehle zurück, die von den spanischen Strafgerichten gegen sie erlassen worden waren, damit sie sich im Rahmen des oben in Rn. 3 genannten Strafverfahrens vor Gericht verantworteten.

8

Am 17. Juni 2019 übermittelte die Zentrale Wahlkommission dem Parlament die Liste der in Spanien gewählten Kandidaten, in der die Namen der Kläger nicht aufgeführt waren.

9

Am 20. Juni 2019 übermittelte die Zentrale Wahlkommission dem Parlament eine Entscheidung, in der sie feststellte, dass die Kläger nicht den nach Art. 224 Abs. 2 der Ley orgánica 5/1985 de régimen electoral general (Gesetz 5/1985 über die allgemeine Regelung für Wahlen) vom 19. Juni 1985 (BOE Nr. 147 vom 20. Juni 1985, S. 19110) vorgeschriebenen Eid auf die spanische Verfassung geleistet hätten, die den Klägern zugewiesenen Sitze im Parlament gemäß diesem Artikel für vakant erklärte und alle ihnen aufgrund ihres Amtes etwa zustehenden Vorrechte bis zur Eidesleistung aussetzte.

10

Mit Schreiben vom selben Tag ersuchten die Kläger den damals amtierenden Präsidenten des Parlaments u. a., auf der Grundlage von Art. 8 der damals geltenden Geschäftsordnung des Parlaments dringend alle zur Bestätigung ihrer Vorrechte und ihrer Immunität erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Ihr Antrag wurde am 24. Juni 2019 wiederholt.

11

Mit Schreiben vom 27. Juni 2019 antwortete der damals amtierende Präsident des Parlaments auf die Schreiben der Kläger vom 14., 20. und 24. Juni 2019 und teilte ihnen im Wesentlichen mit, dass er sie nicht als künftige Mitglieder des Parlaments behandeln könne, da ihre Namen nicht in der von den spanischen Behörden offiziell übermittelten Liste der gewählten Kandidaten aufgeführt seien.

12

Am 2. Juli 2019 wurde die erste Sitzung des neu gewählten Parlaments nach den Wahlen vom 26. Mai 2019 eröffnet.

13

Mit E‑Mail vom 10. Oktober 2019 unterbreitete die Europaabgeordnete A in Vertretung von drei bei den Wahlen vom 26. Mai 2019 als gewählt bekannt gegebenen Kandidaten, darunter die Kläger, dem am 3. Juli 2019 gewählten Präsidenten des Parlaments (im Folgenden: Präsident des Parlaments) sowie dem Vorsitzenden und dem stellvertretenden Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Parlaments einen Antrag von 38 Europaabgeordneten verschiedener Nationalitäten und politischer Parteien, darunter auch sie selbst, der u. a. darauf gerichtet war, dass das Parlament auf der Grundlage von Art. 9 der für die neunte Wahlperiode (2019‑2024) geltenden Geschäftsordnung des Parlaments in der Fassung vor ihrer Änderung durch den Beschluss des Parlaments vom 17. Januar 2023 (im Folgenden: Geschäftsordnung) die parlamentarische Immunität der Betroffenen nach Art. 9 Abs. 1 und 2 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 266, im Folgenden: Protokoll Nr. 7) schützt. Die zur Stützung dieses Antrags angeführten Dokumente wurden dem Parlament mit E‑Mail vom 26. November 2019 übermittelt.

14

Am 14. Oktober 2019 erließ der Ermittlungsrichter der Strafkammer des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) einen nationalen Haftbefehl, einen Europäischen Haftbefehl und einen internationalen Haftbefehl gegen den ersten Kläger, damit er sich im Rahmen des oben in Rn. 3 genannten Strafverfahrens vor Gericht verantworte. Am 4. November 2019 erließ der Ermittlungsrichter ebensolche Haftbefehle gegen den zweiten Kläger. Daraufhin wurden der erste Kläger und der zweite Kläger am 17. Oktober bzw. am 7. November 2019 in Belgien inhaftiert und noch am selben Tag unter Auflagen freigelassen.

15

Mit zwei ähnlich formulierten Schreiben vom 10. Dezember 2019, von denen das eine an Frau A und das andere an alle 38 Abgeordnete gerichtet war, beantwortete der Präsident des Parlaments den oben in Rn. 13 angeführten Antrag. In dem an Frau A gerichteten Schreiben (im Folgenden: angefochtene Handlung) machte der Präsident des Parlaments die Betroffene auf den Beschluss vom 1. Juli 2019, Puigdemont i Casamajó und Comín i Oliveres/Parlament (T‑388/19 R, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:467), und auf den Umstand aufmerksam, dass das Parlament die drei bei den fraglichen Wahlen vom 26. Mai 2019 als gewählt bekannt gegebenen Kandidaten nicht als Mitglieder des Parlaments ansehen könne, da über ihre Wahl seitens der spanischen Behörden keine offizielle Mitteilung im Sinne des dem Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 20. September 1976 (ABl. 1976, L 278, S. 1) beigefügten Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Parlaments in der durch den Beschluss 2002/772/EG, Euratom des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (ABl. 2002, L 283, S. 1) geänderten Fassung erfolgt sei. Der Präsident des Parlaments verwies auf frühere Schreiben in diesem Sinne, nämlich zum einen auf das Schreiben seines Vorgängers vom 27. Juni 2019 an die Kläger (siehe oben, Rn. 11) und zum anderen auf dessen Schreiben vom 22. August 2019 an Frau A, in dem es darum ging, dass das Parlament nicht in der Lage sei, in Bezug auf die behauptete Immunität des anderen gewählten Kandidaten etwas zu unternehmen. Der Präsident des Parlaments verwies auch auf das Urteil des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) vom 14. Oktober 2019 zu diesem anderen gewählten Kandidaten. Er erklärte dann, dass er die Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Junqueras Vies (C‑502/19, EU:C:2019:958) zur Kenntnis genommen habe und die endgültige Entscheidung des Gerichtshofs abwarten werde. Schließlich wies er darauf hin, dass sich ein Mitglied oder ehemaliges Mitglied des Parlaments nach Art. 9 Abs. 2 der Geschäftsordnung nur von einem einzigen anderen Mitglied vertreten lassen könne, nicht aber von 38 Mitgliedern. Der Präsident des Parlaments forderte Frau A daher auf, ihre eigenen Schlüsse aus diesen Erläuterungen zu ziehen.

16

Mit Urteil vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies (C‑502/19, EU:C:2019:1115), entschied der Gerichtshof u. a., dass eine Person, deren Wahl ins Parlament amtlich bekannt gegeben worden ist, der aber nicht gestattet wurde, bestimmten Anforderungen nachzukommen, die nach innerstaatlichem Recht nach einer solchen Bekanntgabe vorgesehen sind, und sich zum Parlament zu begeben, um an dessen erster Sitzung teilzunehmen, nach Art. 9 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 Immunität genießt.

17

In der Plenarsitzung vom 13. Januar 2020 nahm das Parlament im Anschluss an das Urteil vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies (C‑502/19, EU:C:2019:1115), zur Kenntnis, dass die Kläger mit Wirkung vom 2. Juli 2019 ins Parlament gewählt worden waren.

18

Am selben Tag übermittelte der Präsident des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) dem Parlament den Antrag des Vorsitzenden der Strafkammer dieses Gerichtshofs vom 10. Januar 2020, der sich aus einem Beschluss des Ermittlungsrichters dieser Kammer vom selben Tag betreffend die Aufhebung der Immunität der Kläger gemäß Art. 9 Abs. 3 des Protokolls Nr. 7 ergab.

19

Mit Beschlüssen vom 9. März 2021 gab das Parlament dem vorstehend in Rn. 18 genannten Antrag statt.

Anträge der Parteien

20

Die Kläger beantragen,

die angefochtene Handlung für nichtig zu erklären;

dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.

21

Das Parlament beantragt,

die Klage hinsichtlich der Immunität nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b des Protokolls Nr. 7 für erledigt zu erklären und die Klage im Übrigen als unzulässig oder, hilfsweise, als unbegründet abzuweisen;

hilfsweise, die Klage als unzulässig oder, höchst hilfsweise, als unbegründet abzuweisen;

den Klägern die Kosten aufzuerlegen.

22

Das Königreich Spanien beantragt,

die Klage als unzulässig oder, hilfsweise, als unbegründet abzuweisen;

den Klägern die Kosten aufzuerlegen.

Rechtliche Würdigung

Rechtsrahmen

Unionsrecht

23

Kapitel III („Mitglieder des Europäischen Parlaments“) des Protokolls Nr. 7 enthält u. a. folgenden Art. 8:

„Wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung dürfen Mitglieder des Europäischen Parlaments weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch festgenommen oder verfolgt werden.“

24

Art. 9 des Protokolls Nr. 7 bestimmt:

„Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments

a)

steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu,

b)

können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden.

Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments.

Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie steht auch nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben.“

25

Kapitel VII („Allgemeine Bestimmungen“) des Protokolls Nr. 7 enthält u. a. folgenden Art. 18:

„Bei der Anwendung dieses Protokolls handeln die Organe der Union und die verantwortlichen Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen.“

26

Art. 5 der Geschäftsordnung („Vorrechte und Immunitäten“) sieht vor:

„1.   Die Mitglieder genießen die Vorrechte und Befreiungen, die im Protokoll Nr. 7 … vorgesehen sind.

2.   Bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse hinsichtlich der Vorrechte und Befreiungen handelt das Parlament so, dass es seine Integrität als demokratische gesetzgebende Versammlung bewahrt und die Unabhängigkeit seiner Mitglieder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sicherstellt. Die parlamentarische Immunität ist kein persönliches Vorrecht eines Mitglieds, sondern eine Garantie der Unabhängigkeit des Parlaments als Ganzes und seiner Mitglieder.

…“

27

Art. 7 der Geschäftsordnung („Schutz der Vorrechte und der Immunität“) sieht vor:

„1.   In Fällen, in denen geltend gemacht wird, dass eine Verletzung der Vorrechte oder der Immunität eines Mitglieds oder eines ehemaligen Mitglieds durch die Behörden eines Mitgliedstaats stattgefunden hat oder bevorsteht, kann ein Antrag auf einen Beschluss des Parlaments, ob eine Verletzung dieser Vorrechte oder der Immunität vorlag oder wahrscheinlich vorliegen wird, gemäß Artikel 9 Absatz 1 eingereicht werden.

2.   Ein solcher Antrag auf Schutz der Vorrechte und der Immunität kann insbesondere dann gestellt werden, wenn die Auffassung vertreten wird, die Umstände würden eine verwaltungsmäßige oder sonstige Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Mitglieder bei der An- oder Abreise zum bzw. vom Tagungsort des Parlaments oder eine verwaltungsmäßige oder sonstige Beschränkung einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung darstellen oder dass die Umstände in den Anwendungsbereich von Artikel 9 des Protokolls Nr. 7 … fallen.

5.   In Fällen, in denen ein Beschluss gefasst wurde, die Vorrechte und die Immunität eines Mitglieds nicht zu schützen, kann das Mitglied durch die Vorlage neuen Beweismaterials gemäß Artikel 9 Absatz 1 ausnahmsweise einen Antrag auf Überprüfung des Beschlusses stellen. Der Antrag auf Überprüfung ist unzulässig, wenn gemäß Artikel 263 [AEUV] gegen den Beschluss Klage erhoben wurde oder wenn der Präsident [des Parlaments] die Auffassung vertritt, dass das neu vorgelegte Beweismaterial nicht hinreichend substantiiert ist, um eine Überprüfung zu rechtfertigen.“

28

Art. 9 („Immunitätsverfahren“) der Geschäftsordnung sieht vor:

„1.   Jeder an den Präsidenten [des Parlaments] gerichtete Antrag einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaates, die Immunität eines Mitglieds aufzuheben, oder eines Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds, Vorrechte und Immunität zu schützen, wird dem Parlament mitgeteilt und an den zuständigen Ausschuss überwiesen.

2.   Mit Zustimmung des betroffenen Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds kann der Antrag von einem anderen Mitglied gestellt werden, das das betroffene Mitglied oder ehemalige Mitglied in sämtlichen Stadien des Verfahrens vertritt.

3.   Der Ausschuss prüft die Anträge auf Aufhebung der Immunität oder auf Schutz der Vorrechte und der Immunität unverzüglich, aber unter Berücksichtigung ihrer relativen Komplexität.

5.   Der Ausschuss kann die betreffende Behörde des Mitgliedstaates um jede Information oder Auskunft ersuchen, die er für erforderlich hält, um sich eine Meinung darüber bilden zu können, ob die Immunität aufzuheben oder zu schützen ist.

…“

Spanisches Recht

29

In Art. 71 der spanischen Verfassung heißt es:

„1.   Die Abgeordneten und Senatoren genießen Unverletzlichkeit hinsichtlich der in Ausübung ihres Mandats geäußerten Meinungen.

2.   Ebenso genießen die Abgeordneten und Senatoren während ihrer Mandatszeit Immunität und dürfen nur bei Ergreifung auf frischer Tat festgenommen werden. Sie dürfen nur mit vorheriger Erlaubnis der betreffenden Kammer angeklagt oder gerichtlich verfolgt werden.

3.   Für Strafverfahren gegen Abgeordnete und Senatoren ist die Strafkammer des Tribunal Supremo [(Oberster Gerichtshof)] zuständig.

…“

30

Die Art. 750 bis 754 der Ley de Enjuiciamiento Criminal (Strafprozessordnung) haben folgenden Wortlaut:

„Artikel 750

Ein Richter oder ein Gericht, der oder das sich veranlasst sieht, gegen einen Senator oder Abgeordneten der Cortes [(Senat und Abgeordnetenkammer, Spanien)] wegen einer Straftat vorzugehen, nimmt während der Sitzungsperiode [des Senats und der Abgeordnetenkammer] davon Abstand, bis die gesetzgebende Körperschaft, der die Person angehört, die Erlaubnis hierfür erteilt hat.

Artikel 751

Wurde der Senator oder Abgeordnete der Cortes auf frischer Tat betroffen, kann er ohne die im vorstehenden Artikel genannte Erlaubnis inhaftiert und strafrechtlich verfolgt werden; die gesetzgebende Körperschaft, der er angehört, muss jedoch innerhalb von 24 Stunden nach der Inhaftierung oder der strafrechtlichen Verfolgung von dem Sachverhalt unterrichtet werden.

Ferner wird die jeweilige gesetzgebende Körperschaft davon in Kenntnis gesetzt, was einer Person zur Last gelegt wird, die während ihrer strafrechtlichen Verfolgung zum Senator oder Abgeordneten der Cortes gewählt wird.

Artikel 752

Wird ein Senator oder Abgeordneter der Cortes während einer parlamentslosen Zeit strafrechtlich verfolgt, muss der Richter oder das Gericht, der oder das mit der Sache befasst ist, die jeweilige gesetzgebende Körperschaft unverzüglich davon in Kenntnis setzen.

Das Gleiche gilt, wenn ein gewählter Senator oder Abgeordneter [des Senats oder der Abgeordnetenkammer] strafrechtlich verfolgt wird, bevor sie zusammentreten.

Artikel 753

In jedem Fall setzt der Gerichtssekretär das Verfahren ab dem Tag aus, an dem [der Senat und die Abgeordnetenkammer] informiert werden, unabhängig davon, ob die Sitzungsperiode läuft; die Sache bleibt in dem Stand, in dem sie sich befindet, bis die jeweilige gesetzgebende Körperschaft die ihr angemessen erscheinende Entscheidung getroffen hat.

Artikel 754

Lehnt [der Senat oder die Abgeordnetenkammer] die Erteilung der beantragten Erlaubnis ab, wird die Sache in Bezug auf den Senator oder Abgeordneten für erledigt erklärt; in Bezug auf die übrigen strafrechtlich verfolgten Personen wird das Verfahren hingegen fortgesetzt.“

31

Das Reglamento del Congreso de los Diputados (Geschäftsordnung der Abgeordnetenkammer) vom 10. Februar 1982 (BOE Nr. 55 vom 5. März 1982, S. 5765) sieht in Art. 11 vor:

„Ebenso genießen die Abgeordneten während ihrer Mandatszeit Immunität und dürfen nur bei Ergreifung auf frischer Tat festgenommen werden. Sie dürfen nur mit vorheriger Erlaubnis der betreffenden Kammer angeklagt oder gerichtlich verfolgt werden.“

32

Art. 12 der Geschäftsordnung der Abgeordnetenkammer lautet:

„Der Präsident der Kammer ergreift unverzüglich alle notwendigen Maßnahmen, um die Rechte und Befugnisse der Kammer und ihrer Mitglieder zu schützen, nachdem er von der Verhaftung eines Abgeordneten oder einer anderen gerichtlichen oder administrativen Maßnahme, die die Ausübung seines Mandats behindern könnte, Kenntnis erhalten hat.“

33

Das Reglamento del Senado (Geschäftsordnung des Senats) vom 3. Mai 1994 (BOE Nr. 114 vom 13. Mai 1994, S. 14687) sieht in Art. 22 Abs. 1 Folgendes vor:

„Während ihrer Mandatszeit genießen die Senatoren Immunität und dürfen nur bei Ergreifung auf frischer Tat in Gewahrsam genommen oder inhaftiert werden. Die Ingewahrsamnahme oder Inhaftierung wird dem Senatspräsidenten unverzüglich mitgeteilt.

Die Senatoren dürfen nur mit vorheriger Erlaubnis des Senats, die mittels des entsprechenden Antrags auf Aufhebung der Immunität beantragt wird, angeklagt oder gerichtlich verfolgt werden. Eine solche Erlaubnis ist auch erforderlich, wenn eine Person Senator wird, während sie im Rahmen eines Strafverfahrens gerichtlich verfolgt oder angeklagt wird.“

Zur Zulässigkeit der Klage

34

Das Parlament erhebt die Einrede der Unzulässigkeit nach Art. 130 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts. Es beruft sich auf den Unzulässigkeitsgrund des Fehlens einer anfechtbaren Handlung im Sinne von Art. 263 AEUV, der in erster Linie darauf gestützt wird, dass die angefochtene Handlung informativen Charakter habe oder eine Zwischenmaßnahme sei, und hilfsweise darauf, dass ein Beschluss, die in Art. 9 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität der Kläger gemäß den Art. 7 und 9 der Geschäftsordnung zu schützen, keine beschwerende Handlung darstelle.

35

Die Kläger widersprechen der Argumentation des Parlaments.

36

Nach ständiger Rechtsprechung sind alle Handlungen der Organe, die – unabhängig von ihrer Rechtsnatur oder Form – dazu bestimmt sind, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen, die die Interessen des Klägers durch eine qualifizierte Änderung seiner Rechtsstellung berühren können, als anfechtbare Handlungen im Sinne von Art. 263 AEUV anzusehen (Urteile vom 11. November 1981, IBM/Kommission, 60/81, EU:C:1981:264, Rn. 9, und vom 26. Januar 2010, Internationaler Hilfsfonds/Kommission, C‑362/08 P, EU:C:2010:40, Rn. 51).

37

Umgekehrt sind alle Handlungen der Union, die keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugen, von der in Art. 263 AEUV vorgesehenen gerichtlichen Kontrolle ausgenommen (vgl. Urteil vom 15. Juli 2021, FBF, C‑911/19, EU:C:2021:599, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Um festzustellen, ob eine Handlung verbindliche Rechtswirkungen erzeugt, ist auf ihr Wesen abzustellen und sind diese Wirkungen anhand objektiver Kriterien wie z. B. des Inhalts der Handlung zu beurteilen, wobei gegebenenfalls der Zusammenhang ihres Erlasses und die Befugnisse des die Handlung vornehmenden Organs zu berücksichtigen sind (vgl. Urteil vom 20. Februar 2018, Belgien/Kommission, C‑16/16 P, EU:C:2018:79, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung; Urteil vom 9. Juli 2020, Tschechische Republik/Kommission, C‑575/18 P, EU:C:2020:530, Rn. 47).

Zum Vorbringen, die angefochtene Handlung habe informativen Charakter oder sei eine Zwischenmaßnahme

39

Das Parlament macht in erster Linie geltend, dass die angefochtene Handlung rein informativ sei und dass sie als Zwischenmaßnahme zu betrachten sei. Ihr Inhalt enthalte weder einen Beschluss, mit dem der Antrag auf Schutz der Immunität der Kläger abgelehnt oder für unzulässig erklärt werde, noch ändere sie die Rechtslage der Kläger. Nach Ansicht des Parlaments beschränkt sich die angefochtene Handlung darauf, dem Adressaten Informationen über den Anwendungsbereich der Art. 7 und 9 der Geschäftsordnung und über bestimmte Verfahrenserfordernisse, eine beschreibende Zusammenfassung der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichts sowie bestimmte Zusammenhänge zu liefern. Das Parlament macht außerdem geltend, dass der Präsident des Parlaments angesichts des bevorstehenden Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache Junqueras Vies (Urteil vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies, C‑502/19, EU:C:2019:1115) nicht beabsichtigt habe, eine endgültige Position zu beziehen. Die Schlussfolgerung in der angefochtenen Handlung stelle klar, dass ihr einziger Zweck darin bestanden habe, Frau A alle in tatsächlicher, rechtlicher und verfahrensrechtlicher Hinsicht relevanten Informationen zu liefern, insbesondere im Hinblick auf die Zweifel an der Vereinbarkeit des Schutzantrags mit Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 1 der Geschäftsordnung, um es ihr zu ermöglichen, den Antrag anzupassen oder zurückzuziehen.

40

Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Handlung mit informativem Charakter weder die Interessen des Adressaten beeinträchtigen noch dessen Rechtslage gegenüber derjenigen vor Annahme dieser Handlung ändern (vgl. Urteil vom 11. Dezember 2012, Sina Bank/Rat, T‑15/11, EU:T:2012:661, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dasselbe gilt für eine Zwischenmaßnahme, die eine vorläufige Meinung des betreffenden Organs zum Ausdruck bringt, mit Ausnahme einer Zwischenmaßnahme, die eigenständige Rechtswirkungen erzeugt, soweit die mit diesem Rechtsakt verbundene Rechtswidrigkeit nicht im Rahmen einer Klage gegen die endgültige Entscheidung, deren Vorbereitung sie dient, beseitigt werden kann (vgl. Urteil vom 3. Juni 2021, Ungarn/Parlament, C‑650/18, EU:C:2021:426, Rn. 44 und 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Im vorliegenden Fall betont der Präsident des Parlaments mit der angefochtenen Handlung, dass nach der Geschäftsordnung ein auf die Art. 7 und 9 der Geschäftsordnung gestützter Antrag auf Schutz der Vorrechte und der Immunität nur auf den Schutz der Vorrechte und Immunität eines Mitglieds des Parlaments oder eines ehemaligen Mitglieds des Parlaments gerichtet sein könne. Er erläutert sodann im Wesentlichen unter Bezugnahme sowohl auf den Beschluss vom 1. Juli 2019, Puigdemont i Casamajó und Comín i Oliveres/Parlament (T‑388/19 R, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:467), als auch auf von seinem Vorgänger und von ihm selbst verfasste Schreiben, mangels einer offiziellen Mitteilung der spanischen Behörden, dass die Kläger gewählt seien, könne nicht davon ausgegangen werden, dass diese die Eigenschaft eines Mitglieds des Parlaments erlangt hätten. Schließlich weist er darauf hin, dass sich ein Mitglied oder ehemaliges Mitglied des Parlaments nach Art. 9 Abs. 2 der Geschäftsordnung nur von einem einzigen anderen Mitglied vertreten lassen könne, nicht aber von 38 Mitgliedern. Der Präsident des Parlaments fordert Frau A daher auf, ihre eigenen Schlüsse aus diesen Erläuterungen zu ziehen (siehe oben, Rn. 15).

42

Eine solche abschließende Formulierung, die dem Adressaten der Handlung die Verantwortung dafür überträgt, ihre Tragweite zu bestimmen, kann entgegen der Behauptung des Parlaments nicht als „eindeutige Klarstellung“ dessen angesehen werden, dass die angefochtene Handlung lediglich darauf abgezielt habe, Frau A tatsächliche, rechtliche und verfahrensrechtliche Informationen zu liefern.

43

Nach Art. 9 Abs. 1 der Geschäftsordnung teilt der Präsident des Parlaments einen Antrag eines Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds auf Schutz von Vorrechten und Immunität dem Parlament mit und überweist ihn an den zuständigen Ausschuss. Die angefochtene Handlung ist jedoch die einzige Folgemaßnahme, die auf den Antrag auf Schutz der Immunität der Kläger, der weder dem Parlament mitgeteilt noch an den zuständigen Ausschuss überwiesen wurde, hin ergriffen wurde.

44

Darüber hinaus findet sich die oben wiedergegebene abschließende Formulierung nach der Angabe von zehn Punkten, die im Wesentlichen erläutern sollen, dass die Kläger nicht als Personen betrachtet werden können, die die Eigenschaft eines Abgeordneten erworben haben und somit nicht in den Genuss der mit dieser Eigenschaft verbundenen Immunität kämen. In einem der Punkte wird auch in Zweifel gezogen, dass der Schutzantrag mit Art. 9 Abs. 2 der Geschäftsordnung in Einklang stehe.

45

In diesem Zusammenhang kann die Bezugnahme im vorletzten Punkt der angefochtenen Handlung auf das damals noch zu erlassende Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Junqueras Vies (Urteil vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies, C‑502/19, EU:C:2019:1115) nicht ausreichen, um der angefochtenen Handlung die vom Parlament behauptete Natur einer Zwischenmaßnahme zu verleihen, insbesondere da diese Bezugnahme als Antwort auf die Berufung der Kläger auf die Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in dieser Rechtssache gelesen werden kann.

46

Daher ist davon auszugehen, dass der Präsident des Parlaments es mit der angefochtenen Handlung in ihrer Gesamtheit im Wesentlichen implizit abgelehnt hat, den Antrag auf Schutz der Immunität der Kläger dem Parlament mitzuteilen und ihn zur Prüfung an den zuständigen Ausschuss zu überweisen.

47

Daraus folgt, dass die vom Parlament erhobene Einrede, soweit sie sich darauf stützt, dass die angefochtene Handlung informativen Charakter habe oder eine Zwischenmaßnahme sei, zurückzuweisen ist.

Zum Fehlen von Rechtswirkungen eines möglichen Beschlusses des Parlaments, die Immunität der Kläger zu schützen

48

Das Parlament macht geltend, dass die angefochtene Handlung keine Rechtswirkungen erzeuge, da ein Beschluss, die in Art. 9 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität der Kläger zu schützen, selbst keine Bindungswirkung gegenüber den nationalen Behörden entfalten würde. Auch wenn nicht von vornherein ausgeschlossen werden könne, dass ein Beschluss, die in Art. 9 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität eines Mitglieds zu schützen, Rechtswirkungen entfalte, hänge deren Bestehen von den Zuständigkeiten ab, die den parlamentarischen Versammlungen durch das nationale Recht, auf das Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls Nr. 7 verweise, eingeräumt würden. Es gebe jedoch keine Vorschrift im spanischen Recht, die den spanischen parlamentarischen Versammlungen die Befugnis verleihe, die Aussetzung der Strafverfolgung eines ihrer Mitglieder zu beantragen.

49

Das Parlament fügt hinzu, dass die nationalen Handlungen, die sich nach Ansicht der Kläger aus der angefochtenen Handlung ergeben, von den spanischen Behörden autonom und allein nach nationalem Recht erlassen worden seien. Es trägt ferner vor, dass es nicht möglich sei, aus Art. 9 des Protokolls Nr. 7 abzuleiten, dass ein Beschluss, die Immunität eines Mitglieds zu schützen, Rechtswirkungen entfalte. Das Parlament ergänzt schließlich, dass seine Geschäftsordnung keine rechtlichen Verpflichtungen gegenüber den Mitgliedstaaten begründen könne.

50

Die Kläger tragen erstens vor, dass ein Beschluss des Parlaments, die in Art. 9 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität eines Mitglieds zu schützen, durchaus Rechtswirkungen entfalte.

51

In diesem Zusammenhang machen sie geltend, dass es keine Entsprechung zwischen den Befugnissen des Parlaments in Bezug auf die in Art. 8 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität und denen in Bezug auf die in Art. 9 des Protokolls vorgesehene Immunität gebe. So beruhe hinsichtlich Letzterer die Befugnis des Parlaments, einen Beschluss zum Schutz der Immunität zu erlassen, der Rechtswirkungen entfalte, auf seiner Befugnis zur Aufhebung der Immunität gemäß Art. 9 Abs. 3 des Protokolls, aus dem sich ergebe, dass es über eine ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung darüber verfüge, ob die Immunität eines seiner Mitglieder in einem bestimmten Fall geschützt sei.

52

Die Kläger machen außerdem geltend, dass, selbst wenn die Zuständigkeit des Parlaments für den Schutz der Immunität eines Abgeordneten im nationalen Recht gesucht werden müsste, das spanische Recht den parlamentarischen Versammlungen die Befugnis verleihe, verbindliche Maßnahmen gegenüber den nationalen Justizbehörden zu ergreifen.

53

Zweitens machen die Kläger geltend, dass, wenn der Präsident des Parlaments ein Verfahren zum Schutz ihrer Immunität eingeleitet hätte, die nationalen Justizbehörden nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet gewesen wären, das gegen sie eingeleitete Verfahren zumindest bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Parlament auszusetzen. Dies hätte dem Erlass der Haftbefehle vom 14. Oktober und 4. November 2019 entgegengestanden. Darüber hinaus habe die angefochtene Handlung dazu geführt, dass ihnen bestimmte durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Rechte, darunter das Recht auf Ausübung ihres Mandats, vorenthalten würden.

– Einleitende Bemerkungen

54

Nach der Rechtsprechung ist die Antwort eines Unionsorgans auf einen an es gerichteten Antrag nicht notwendigerweise ein Beschluss im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV, gegen den der Adressat dieser Antwort mit einer Nichtigkeitsklage vorgehen kann (Beschluss vom 27. Januar 1993, Miethke/Parlament, C‑25/92, EU:C:1993:32, Rn. 10, Urteil vom 15. September 2022, PNB Banka/EZB, C‑326/21 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2022:693, Rn. 92, und Beschluss vom 5. September 2012, Farage/Parlament und Buzek, T‑564/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:403, Rn. 27).

55

Ein ablehnender Beschluss eines Unionsorgans ist nach der Art des Antrags zu beurteilen, der durch ihn beschieden wird (Urteile vom 8. März 1972, Nordgetreide/Kommission, 42/71, EU:C:1972:16, Rn. 5, vom 24. November 1992, Buckl u. a./Kommission, C‑15/91 und C‑108/91, EU:C:1992:454, Rn. 22, und vom 9. Oktober 2018, Multiconnect/Kommission, T‑884/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:665, Rn. 45). Insbesondere ist eine Weigerung eine im Wege der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV anfechtbare Handlung, wenn die Handlung, deren Vornahme das Unionsorgan ablehnt, nach dieser Vorschrift hätte angefochten werden können (vgl. Urteil vom 22. Oktober 1996, Salt Union/Kommission, T‑330/94, EU:T:1996:154, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daraus folgt, dass die Ablehnung eines an ein Organ gerichteten Antrags durch dieses Organ keine im Wege der Nichtigkeitsklage anfechtbare Handlung darstellt, wenn der Antrag nicht auf den Erlass einer Maßnahme mit verbindlichen Rechtswirkungen durch das Organ gerichtet ist (Beschlüsse vom 5. September 2012, Farage/Parlament und Buzek, T‑564/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:403, Rn. 27, und vom 1. Februar 2018, Collins/Parlament, T‑919/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:58, Rn. 19).

56

Daher muss im vorliegenden Fall zur Klärung der Frage, ob die Ablehnung des Antrags auf Schutz der Immunität der Kläger durch den Präsidenten des Parlaments eine anfechtbare Handlung nach Art. 263 AEUV ist, geprüft werden, ob der beantragte Schutzbeschluss Rechtswirkungen entfalten konnte, wobei daran zu erinnern ist, dass der Antrag den Schutz der parlamentarischen Immunität der Kläger im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 des Protokolls Nr. 7 zum Gegenstand hatte.

57

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Parlament gemäß Art. 5 Abs. 1 EUV und Art. 13 Abs. 2 EUV nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse handelt. Während jedoch die Aufhebung der Immunität eines Mitglieds des Europäischen Parlaments in Art. 9 Abs. 3 des Protokolls Nr. 7 ausdrücklich vorgesehen ist, ist der Schutz seiner Immunität nur in den Art. 7 und 9 der Geschäftsordnung vorgesehen.

58

Ferner wurde bereits entschieden, dass der Beschluss des Parlaments, die in Art. 8 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität zu schützen, eine Stellungnahme darstellt, die keine Bindungswirkung für die nationalen Gerichte entfaltet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Oktober 2008, Marra, C‑200/07 und C‑201/07, EU:C:2008:579, Rn. 39, und vom 6. September 2011, Patriciello, C‑163/10, EU:C:2011:543, Rn. 39). Diese Schlussfolgerung hat der Gerichtshof auf folgende Faktoren gestützt: Erstens sieht das Protokoll Nr. 7 nicht vor, dass das Parlament dafür zuständig ist, im Fall eines Gerichtsfahrens gegen einen Abgeordneten wegen seiner Äußerungen und Abstimmungen zu prüfen, ob die Voraussetzungen von Art. 8 des Protokolls Nr. 7 erfüllt sind. Zweitens kann sich eine solche Zuständigkeit auch nicht aus den Vorschriften der Geschäftsordnung ergeben, die als Maßnahme der internen Organisation nicht zugunsten des Parlaments Zuständigkeiten einführen kann, die nicht ausdrücklich durch einen Rechtsetzungsakt, im vorliegenden Fall das Protokoll Nr. 7, verliehen werden. Drittens bedeutet der Umstand, dass das Recht eines Mitgliedstaats ein Verfahren zum Schutz der Immunität der Mitglieder des nationalen Parlaments vorsieht, das diesem ein Eingreifen erlaubt, wenn das nationale Gericht die Immunität nicht anerkennt, nicht, dass das Europäische Parlament in Bezug auf die Europaabgeordneten dieses Staates dieselben Befugnisse hat, da Art. 8 des Protokolls Nr. 7 eine solche Zuständigkeit nicht ausdrücklich vorsieht und nicht auf die Vorschriften des nationalen Rechts verweist (Urteil vom 21. Oktober 2008, Marra, C‑200/07 und C‑201/07, EU:C:2008:579, Rn. 32, 38 und 40). Umgekehrt wurde entschieden, dass ein Beschluss des Parlaments, die in Art. 8 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität nicht zu schützen, ebenfalls keine Handlung darstellt, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugt (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 5. September 2012, Farage/Parlament und Buzek, T‑564/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:403, Rn. 28, und vom 1. Februar 2018, Collins/Parlament, T‑919/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:58, Rn. 21).

59

Die Kläger machen geltend, dass diese Rechtsprechung nicht auf Beschlüsse zum Schutz der in Art. 9 des Protokolls Nr. 7 vorgesehenen Immunität übertragbar sei. Ihrer Ansicht nach findet die Zuständigkeit des Parlaments für den Erlass von Beschlüssen zum Schutz dieser Immunität mit Bindungswirkung für die nationalen Justizbehörden ihre Grundlage in seiner ausschließlichen Zuständigkeit für die Aufhebung dieser Immunität gemäß Art. 9 Abs. 3 des Protokolls Nr. 7 oder gegebenenfalls im nationalen Recht, auf das Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls verweise.

60

Die beiden von den Klägern geltend gemachten Grundlagen sind daher nacheinander zu prüfen.

– Zuständigkeit des Parlaments aufgrund seines Rechts auf Aufhebung der Immunität

61

Die Kläger machen geltend, dass das in Art. 9 Abs. 3 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Recht, die Immunität aufzuheben, das Recht einschließe, die Immunität nicht aufzuheben, d. h. – ihrer Meinung nach – das Recht, die Immunität zu schützen. Sie argumentieren, dass der Beschluss, die Immunität nach einem Antrag der nationalen Behörden nicht aufzuheben, und der Beschluss, die Immunität nach einem Antrag eines Mitglieds zu schützen, die gleichen verbindlichen Wirkungen haben müssten. Das Parlament sei nämlich allein zuständig, verbindlich zu entscheiden, ob die in Art. 9 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität ein Mitglied in einem bestimmten Fall schütze. Somit erlaube das Protokoll Nr. 7 in Verbindung mit Art. 343 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 18 des Protokolls Nr. 7 dem Parlament, die Aufhebung der Immunität eines Mitglieds abzulehnen, also – nach Ansicht der Kläger – die Immunität zu schützen, und zwar auf Antrag des Mitglieds und nicht eines Mitgliedstaats. Dies sei die einzige Auslegung, die es ermögliche, die praktische Wirksamkeit der Immunität zu gewährleisten und die Einhaltung des Effektivitätsgrundsatzes sicherzustellen.

62

Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass Art. 9 Abs. 3 des Protokolls Nr. 7 dem Parlament das ausschließliche Recht verleiht, die in Art. 9 des Protokolls vorgesehene Immunität aufzuheben, d. h. das Recht, einem Mitglied den Schutz zu entziehen, den es nach dieser Vorschrift genießt. Ein solcher Beschluss stellt eine anfechtbare Handlung im Sinne von Art. 263 AEUV dar (Urteil vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T‑345/05, EU:T:2008:440, Rn. 31). Die Ausübung dieses Rechts setzt voraus, dass das Parlament von einer zuständigen Behörde mit einem Antrag auf Aufhebung der Immunität befasst wird. Diese hat somit bereits festgestellt, dass das Mitglied im Rahmen eines bestimmten Verfahrens die in Art. 9 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität genießt, und hat beim Parlament deren Aufhebung zum Zweck der Fortsetzung dieses Verfahrens beantragt. Das Parlament muss dann entscheiden, ob es die Immunität aufhebt, ohne dass das Protokoll Nr. 7 die Kriterien nennt, auf die es sich stützen muss. Es verfügt daher insoweit wegen des politischen Charakters eines solchen Beschlusses über ein sehr weites Ermessen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T‑346/11 und T‑347/11, EU:T:2013:23, Rn. 59, und vom 12. Februar 2020, Bilde/Parlament, T‑248/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:46, Rn. 19).

63

Dagegen kann das Parlament nur dann dazu aufgerufen werden, die in Art. 9 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität eines Mitglieds auf der Grundlage der Art. 7 und 9 der Geschäftsordnung zu schützen, wenn kein Antrag auf Aufhebung der Immunität vorliegt. Nach der Rechtsprechung kommt der Schutz dieser Immunität nämlich nur dann in Betracht, wenn diese bei Fehlen eines Antrags auf Aufhebung durch ein Verhalten der zuständigen Behörden gefährdet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T‑346/11 und T‑347/11, EU:T:2013:23, Rn. 52). Um über einen solchen Schutzantrag zu entscheiden, muss das Parlament gemäß Art. 7 Abs. 1 der Geschäftsordnung prüfen, ob eine Verletzung der in Art. 9 des Protokolls Nr. 7 vorgesehenen Immunität vorlag oder wahrscheinlich vorliegen wird.

64

Daraus folgt, dass die Prüfung eines Antrags auf Aufhebung der Immunität und die Prüfung eines Antrags auf Schutz der Immunität gemäß Art. 9 des Protokolls Nr. 7 in zwei getrennten Verfahren erfolgen.

65

Zweitens kann entgegen dem Vorbringen der Kläger das durch Art. 9 Abs. 3 des Protokolls Nr. 7 verliehene ausschließliche Recht, die in Art. 9 vorgesehene Immunität aufzuheben, nicht dahin ausgelegt werden, dass dem Parlament die ausschließliche Zuständigkeit übertragen wird, mit Bindungswirkung zu entscheiden, ob ein Mitglied in Bezug auf die ihm zur Last gelegten Handlungen die in Art. 9 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität genießt.

66

Diese Zuständigkeit liegt nämlich in erster Linie bei den Behörden, insbesondere bei den nationalen Justizbehörden, die die Gerichtsverfahren durchführen und in diesem Rahmen verpflichtet sind, die im Protokoll Nr. 7 vorgesehenen Vorschriften anzuwenden. Wenn diese Behörden also feststellen, dass die dem Abgeordneten vorgeworfenen Handlungen durch die Immunität nach Art. 9 des Protokolls Nr. 7, gegebenenfalls in Verbindung mit dem nationalen Recht, gedeckt sind, sind sie, sofern sie die genannten Verfahren fortsetzen wollen, verpflichtet, beim Parlament die Aufhebung der Immunität zu beantragen. Zum einen erfolgt die Ausübung dieser Zuständigkeit unbeschadet der Befugnis oder sogar Verpflichtung der nationalen Gerichte, die diese Vorschriften anzuwenden haben, dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV eine Frage zur Auslegung des Protokolls vorzulegen. Zum anderen schließt diese Zuständigkeit der nationalen Behörden nicht die Zuständigkeit aus, die das Parlament ausübt, wenn es, nachdem bei ihm ein Antrag auf Aufhebung der Immunität gestellt wurde, prüft, ob das Mitglied tatsächlich Immunität nach Art. 9 des Protokolls Nr. 7 genießt, bevor es über die Aufhebung entscheidet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T‑346/11 und T‑347/11, EU:T:2013:23, Rn. 47). Eine solche Prüfung fällt somit unter die dem Parlament durch Art. 9 Abs. 3 des Protokolls verliehene Zuständigkeit, wenn sie im Rahmen eines Antrags auf Aufhebung der Immunität durchgeführt wird.

67

Die Kläger machen geltend, dass eine solche Auslegung der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Parlament und den Mitgliedstaaten in Bezug auf Art. 9 des Protokolls Nr. 7 die praktische Wirksamkeit der den Mitgliedern des Parlaments zuerkannten Immunität und damit den mit ihr verfolgten Zweck des Schutzes der Arbeitsweise und der Unabhängigkeit des Parlaments beeinträchtigen würde.

68

Erstens darf jedoch die weite Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts zur Wahrung ihrer praktischen Wirksamkeit nicht dazu führen, dass die in den Verträgen vorgenommene Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten missachtet wird. Dies wäre aber der Fall, wenn aus Art. 9 Abs. 3 des Protokolls Nr. 7 abgeleitet würde, dass das Parlament die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung darüber besitzt, ob das gegen einen Abgeordneten geführte Gerichtsverfahren seine Immunität in Frage stellt. Zweitens ergibt sich der Schutz, den Art. 9 des Protokolls Nr. 7 den Abgeordneten gewährt, ebenso wie die Verpflichtung der Behörden der Mitgliedstaaten, ihn zu beachten, unmittelbar aus dem Protokoll Nr. 7 und nicht aus einer Vorschrift der Geschäftsordnung des Parlaments oder aus einem auf der Grundlage dieser Geschäftsordnung gefassten Beschluss des Parlaments. Daher ist dieser Schutz für Behörden, die Gerichtsverfahren durchführen, verbindlich. Diese nationalen Behörden sind somit verpflichtet, die Verfahren auszusetzen, wenn sie feststellen, dass die in Art. 9 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität betroffen ist, und beim Parlament einen Antrag auf Aufhebung zu stellen. Wird Art. 9 des Protokolls Nr. 7 von den nationalen Behörden nicht beachtet, kann dies zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Europäische Kommission führen, die nach Art. 258 AEUV Sorge dafür zu tragen hat, dass die Mitgliedstaaten die Bestimmungen der Verträge beachten.

69

Daraus folgt, dass der Beschluss, einem von nationalen Behörden gestellten Antrag auf Aufhebung der Immunität nicht stattzugeben, und der Beschluss, auf Antrag eines Abgeordneten die Immunität zu schützen, nicht innerhalb desselben Rechtsrahmens gefasst werden. Entgegen dem Vorbringen der Kläger müssen ihre Rechtswirkungen daher nicht notwendigerweise dieselben sein.

70

Die Kläger können daher nicht mit Erfolg geltend machen, dass das Parlament auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 des Protokolls Nr. 7 Beschlüsse zum Schutz der Immunität nach Art. 9 des Protokolls erlassen kann, die gegenüber den nationalen Justizbehörden verbindliche Rechtswirkungen entfalten.

– Zuständigkeit des Parlaments auf der Grundlage des nationalen Rechts

71

Das Parlament trägt vor, dass bei der Feststellung der Rechtswirkungen eines Beschlusses zum Schutz der Immunität gemäß Art. 9 des Protokolls Nr. 7 die in dieser Vorschrift enthaltene Verweisung auf das nationale Recht berücksichtigt werden müsse. Wenn das Recht eines Mitgliedstaats dem nationalen Parlament die Befugnis verleihe, die Aussetzung der Strafverfolgung eines seiner Mitglieder zu beantragen, habe das Europäische Parlament somit dieselbe Zuständigkeit in Bezug auf seine in diesem Staat gewählten Mitglieder. In einem solchen Fall entfalte ein Beschluss, die Immunität eines Mitglieds zu schützen, verbindliche Rechtswirkungen und könne ein Beschluss, die Immunität nicht zu schützen, Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein.

72

Die Kläger machen geltend, dass die Anknüpfung der Rechtswirkungen an das nationale Recht, auf das Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls Nr. 7 verweise, nicht angemessen sei, da sie eine unterschiedliche Behandlung der Immunitäten einführe und die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität ohne Antrag auf Aufhebung schutzlos lasse, obwohl sie ausschließlich durch das Unionsrecht geregelt sei. Darüber hinaus würde diese Anknüpfung an das nationale Recht den Grundsatz der Gleichheit der Mitglieder und die Freizügigkeit beeinträchtigen, da das Parlament im Fall einer Verletzung der Immunitäten durch ein und denselben Mitgliedstaat den in diesem Staat gewählten Abgeordneten schützen könnte, nicht aber einen in einem anderen Staat gewählten Abgeordneten.

73

Hilfsweise tragen die Kläger vor, dass, selbst wenn die Befugnis des Parlaments zum Schutz der Immunität eines Mitglieds im nationalen Recht gesucht werden müsste, Art. 12 der Geschäftsordnung der Abgeordnetenkammer und Art. 751 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 753 der Strafprozessordnung es dem Parlament ermöglichten, verbindliche Maßnahmen gegenüber den nationalen Justizbehörden zu ergreifen. Diese nationalen Vorschriften seien außerdem so auszulegen, dass sichergestellt sei, dass das Parlament in vollem Umfang in der Lage sei, seine Aufgaben zu erfüllen.

74

In diesem Zusammenhang ist erstens darauf hinzuweisen, dass den Mitgliedern des Parlaments nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls Nr. 7 im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern nach nationalem Recht zuerkannte Unverletzlichkeit zusteht (siehe oben, Rn. 24). Diese Vorschrift bedeutet, dass der Umfang und die Bedeutung der Immunität, die die Mitglieder des Europäischen Parlaments im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staats genießen, mit anderen Worten der materielle Inhalt dieser Immunität, nach den jeweiligen nationalen Rechten bestimmt werden, auf die sie verweist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2010, Gollnisch/Parlament, T‑42/06, EU:T:2010:102, Rn. 106).

75

Es steht fest, dass sich die nationalen Rechtsordnungen in Bezug auf den materiellen Inhalt der parlamentarischen Immunität unterscheiden. So kann diese Immunität darin bestehen, dass die Justiz- oder Polizeibehörden bestimmte Maßnahmen gegen Mitglieder des nationalen Parlaments nicht ergreifen dürfen, wenn sie nicht zuvor eine Erlaubnis, in der Regel von der parlamentarischen Versammlung, der die Mitglieder angehören, eingeholt haben. Sie kann auch in der Befugnis des nationalen Parlaments bestehen, von Amts wegen oder auf Antrag des betroffenen Mitglieds die Aussetzung bestimmter bereits gegen dieses Mitglied ergriffener Maßnahmen wie freiheitsentziehende Maßnahmen oder Strafverfolgungsmaßnahmen zu beantragen, insbesondere wenn diese Behörden die Immunität des Mitglieds nicht anerkennen. Diese dem nationalen Parlament übertragene Befugnis ist notwendigerweise Teil des materiellen Inhalts der Immunität der Mitglieder dieses Parlaments.

76

Folglich bedeutet die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls Nr. 7 vorgenommene Verweisung auf das nationale Recht, dass, wenn das Recht eines Mitgliedstaats ein Verfahren zum Schutz der Immunität der Mitglieder des nationalen Parlaments vorsieht, das es diesem erlaubt, bei den Justiz- oder Polizeibehörden zu intervenieren und insbesondere die Aussetzung der Strafverfolgung eines seiner Mitglieder zu verlangen, dieselben Befugnisse dem Europäischen Parlament in Bezug auf seine in diesem Staat gewählten Mitglieder zustehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2010, Gollnisch/Parlament, T‑42/06, EU:T:2010:102, Rn. 105 und 115).

77

Soweit die Kläger geltend machen, dass eine solche Auslegung zu einer unterschiedlichen Behandlung der Mitglieder des Parlaments je nach dem Staat, in dem sie gewählt wurden, führen würde, ist darauf hinzuweisen, dass sich diese Unterschiedlichkeit aus der in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls Nr. 7 vorgenommenen Verweisung auf das nationale Recht ergibt.

78

Zweitens ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass Art. 71 der spanischen Verfassung (siehe oben, Rn. 29) dem nationalen Parlament keine Befugnis verleiht, einzugreifen, wenn die nationalen Behörden die Immunität eines Mitglieds des nationalen Parlaments nicht anerkennen, indem dieses Parlament gegebenenfalls die Aussetzung der gegen das Mitglied eingeleiteten Strafverfolgung oder auch die Aussetzung seiner Inhaftierung verlangt.

79

Die Kläger machen jedoch geltend, dass Art. 751 Abs. 2 und Art. 753 der Strafprozessordnung einerseits und Art. 12 der Geschäftsordnung der Abgeordnetenkammer andererseits dem nationalen Parlament die Befugnis verliehen, gegenüber den Justizbehörden verbindliche Rechtsakte zu erlassen, um den Schutz der Immunität seiner Mitglieder zu gewährleisten, falls diese gefährdet ist.

80

In dieser Hinsicht ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 751 Abs. 2 und Art. 753 der Strafprozessordnung, dass sie dem spanischen Parlament keine eigene Befugnis verleihen, insbesondere nicht die Befugnis, die Aussetzung eines Strafverfahrens zu verlangen. Die in Art. 753 der Strafprozessordnung vorgesehene Aussetzung des Verfahrens ist eine automatische Wirkung der Unterrichtung des nationalen Parlaments über die Situation des betreffenden Abgeordneten durch die zuständigen Behörden. Diese Wirkung ist vorläufig, da die Aussetzung bis zu einer Entscheidung des nationalen Parlaments andauert.

81

Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Auslegung der oben in Rn. 79 genannten Vorschriften durch die Kläger vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) und vom Tribunal Constitutional (Verfassungsgericht) abgelehnt wurde. Insbesondere hat das Tribunal Constitutional (Verfassungsgericht) mit dem Urteil 70/2021 vom 18. März 2021, dessen Rechtsprechung in späteren Urteilen übernommen wurde, im Wesentlichen entschieden, dass das nationale Parlament, anders als in den Verfassungen anderer Staaten vorgesehen, nur die Befugnis hat, die Strafverfolgung eines seiner Mitglieder zu erlauben oder nicht, und keine weiteren Befugnisse wie etwa die Aussetzung der Inhaftierung oder Strafverfolgung besitzt. Das Tribunal Constitutional (Verfassungsgericht) hat außerdem darauf hingewiesen, dass die Bestimmungen der Strafprozessordnung und der Geschäftsordnungen des Senats und der Abgeordnetenkammer im Einklang mit Art. 71 der spanischen Verfassung auszulegen sind.

82

Die oben in den Rn. 29 bis 33 zitierten Vorschriften des nationalen Rechts verleihen daher in ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte dem spanischen Parlament nicht die Befugnis, die Immunität eines seiner Mitglieder zu schützen, wenn das nationale Gericht diese Immunität nicht anerkennt, insbesondere indem es die Aussetzung eines gegen dieses Mitglied eingeleiteten Gerichtsverfahrens verlangt. Folglich verfügt das Europäische Parlament auf der Grundlage des nationalen Rechts, auf das Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls Nr. 7 verweist, in Bezug auf seine im Königreich Spanien gewählten Mitglieder über keine solche Befugnis.

83

Nach alledem verfügt das Parlament nicht über eine auf einem Rechtsetzungsakt beruhende Befugnis, einen Beschluss zum Schutz der Immunität der Kläger zu erlassen, der verbindliche Rechtswirkungen gegenüber den spanischen Justizbehörden entfalten würde. Folglich konnte das Parlament auf den Antrag auf Schutz der Immunität der Kläger hin keinen Beschluss mit verbindlichen Rechtswirkungen erlassen.

84

Diese Schlussfolgerung wird durch das übrige Vorbringen der Kläger nicht erschüttert.

85

Was zum einen die Berufung der Kläger auf Wirkungen angeht, die sich aus der Anwendung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit ergeben sollen, sind die Mitgliedstaaten nach diesem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Nach Art. 18 des Protokolls Nr. 7, der insoweit den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz konkretisiert, sind die Organe der Union und die Behörden der Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit verpflichtet, um Konflikte bei der Auslegung und Anwendung der Bestimmungen des Protokolls zu vermeiden (vgl. Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Slowenien [Archiv der EZB], C‑316/19, EU:C:2020:1030, Rn. 119 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wenn daher gegen einen Europaabgeordneten Klage bei einem nationalen Gericht erhoben und diesem mitgeteilt wird, dass ein Verfahren zum Schutz der Vorrechte und Befreiungen des Abgeordneten eingeleitet worden ist, muss das Gericht das Gerichtsverfahren aussetzen (Urteil vom 21. Oktober 2008, Marra, C‑200/07 und C‑201/07, EU:C:2008:579, Rn. 43).

86

Den Klägern zufolge hatte die angefochtene Handlung notwendigerweise Rechtswirkungen, da die spanischen Justizbehörden das Strafverfahren gegen sie hätten aussetzen müssen, wenn der Präsident des Parlaments das Verfahren zum Schutz ihrer Immunität eingeleitet hätte, indem er es dem Parlament mitgeteilt und an den zuständigen Ausschuss überwiesen hätte.

87

In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung hinzuweisen, wonach die Wirkungen einer Handlung, mit der ein Antrag auf Erlass eines Beschlusses abgelehnt wird, im Hinblick auf die Wirkungen des beantragten Beschlusses zu beurteilen sind (siehe oben, Rn. 55). Folglich müssen die Wirkungen der angefochtenen Handlung im Hinblick auf die Wirkungen des beantragten Beschlusses zum Schutz der Immunität geprüft werden. Die Wirkungen eines solchen Beschlusses wären im vorliegenden Fall jedoch nicht vorhanden gewesen (siehe oben, Rn. 83). Ferner ist darauf hinzuweisen, dass sich die Aussetzungswirkung auf das nationale Gerichtsverfahren, auf die sich die Kläger berufen, nicht aus der Einleitung eines Verfahrens zum Schutz der Immunität eines Mitglieds des Parlaments ergibt, sondern aus den Konsequenzen, die das nationale Gericht aus seiner Unterrichtung über die Einleitung eines solchen Verfahrens unter Beachtung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit ziehen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2008, Marra, C‑200/07 und C‑201/07, EU:C:2008:579, Rn. 43), dessen Kontrolle dem Unionsrichter obliegt.

88

Zum anderen machen die Kläger geltend, der Präsident des Parlaments habe den spanischen Justizbehörden mit der angefochtenen Handlung erlaubt, weiter ihre Immunität und einige ihrer Grundrechte zu verletzen, insbesondere durch den Erlass der oben in Rn. 14 erwähnten Haftbefehle. Die behaupteten Rechtsverletzungen ergeben sich jedoch aus den auf nationaler Ebene erlassenen Rechtsakten, und das Parlament hatte keine Befugnis, sich durch einen rechtlich bindenden Beschluss deren Erlass zu widersetzen.

89

Aus alledem ergibt sich, dass gegen die angefochtene Handlung nicht mit der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV vorgegangen werden kann. Daher ist der vom Parlament erhobenen Einrede der Unzulässigkeit stattzugeben und die Klage folglich als unzulässig abzuweisen, ohne dass der vom Parlament gestellte Antrag auf Feststellung der teilweisen Erledigung der Hauptsache, die vom Königreich Spanien erhobene Einrede des fehlenden Rechtsschutzinteresses der Kläger oder die vom Parlament und vom Königreich Spanien erhobene Einrede der Unzulässigkeit hinsichtlich der von den Klägern in der mündlichen Verhandlung vorgelegten neuen Beweismittel geprüft zu werden braucht.

Kosten

90

Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

91

Da die Kläger unterlegen sind, sind ihnen gemäß dem Antrag des Parlaments ihre eigenen Kosten und die Kosten des Parlaments aufzuerlegen.

92

Das Königreich Spanien trägt gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung seine eigenen Kosten.

 

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT (Sechste erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Klage wird abgewiesen.

 

2.

Herr Carles Puigdemont i Casamajó und Herr Antoni Comín i Oliveres tragen ihre eigenen Kosten und die Kosten des Europäischen Parlaments.

 

3.

Das Königreich Spanien trägt seine eigenen Kosten.

 

Marcoulli

Frimodt Nielsen

Kanninen

Schwarcz

Norkus

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. Juli 2023.

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.