BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

10. September 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Art. 63 AEUV – Freier Kapitalverkehr – Straßenverkehr – Zulassung und Besteuerung von Kraftfahrzeugen – Fahrer mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat – Fahrzeug, das in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen ist – Fahrzeug, das kurzzeitig unentgeltlich zur Verfügung gestellt wird – Verpflichtung, im Fahrzeug stets den Nachweis über die rechtmäßige Nutzung dieses Fahrzeugs mitzuführen – Verhältnismäßigkeit“

In den verbundenen Rechtssachen C‑41/20 bis C‑43/20

betreffend drei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Gericht Erster Instanz Eupen (Belgien) mit Entscheidungen vom 6. Januar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2020, in den Verfahren

DQ (C‑41/20),

FS (C‑42/20),

HU (C‑43/20)

gegen

Wallonische Region

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan, der Richterin C. Toader und des Richters N. Jääskinen (Berichterstatter),


Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 20, 21, 45, 49, 56, 63 und 64 AEUV.

2        Sie ergehen im Rahmen dreier Rechtsstreitigkeiten zwischen DQ, FS bzw. HU und der Wallonischen Region (Belgien) wegen einer aufgrund eines Verstoßes gegen die nationale Regelung betreffend die Inbetriebnahme eines Fahrzeugs im Königreich Belgien gegen sie verhängten Geldbuße und der Zahlung der Steuern, die in dieser Regelung für die Nutzung eines in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenen Fahrzeugs durch die betroffenen Personen mit Wohnsitz in Belgien, das ihnen unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde, vorgesehen sind.

 Rechtlicher Rahmen

3        Gemäß Art. 3 § 1 des Königlichen Erlasses vom 20. Juli 2001 über die Zulassung von Fahrzeugen (Moniteur belge vom 8. August 2001, S. 27022) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Königlicher Erlass vom 20. Juli 2001) müssen in Belgien wohnhafte Personen Fahrzeuge, die sie in Belgien in Betrieb nehmen möchten, in das Fahrzeugverzeichnis eintragen lassen, auch wenn diese Fahrzeuge bereits im Ausland zugelassen sind.

4        Art. 3 § 2 Nr. 6 dieses Königlichen Erlasses bestimmt:

„In folgenden Fällen ist die Zulassung in Belgien von Fahrzeugen, die im Ausland zugelassen sind und von den in § 1 erwähnten Personen in Betrieb genommen werden, nicht Pflicht. Diese Fälle betreffen:

...

Nr. 6            das Fahrzeug, welches einer natürlichen in § 1 erwähnten Person für höchstens einen Monat kostenlos zur Verfügung gestellt wird; ein durch den ausländischen Inhaber ausgestelltes Dokument, aus dem hervorgeht, dass dieser die Erlaubnis erteilt, das Fahrzeug während eines bestimmten Zeitraums unter Angabe des Enddatums zu benutzen, ist im Fahrzeug mitzuführen“.

 Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

 Rechtssache C41/20

5        Am 6. Juli 2017 musste sich DQ, der in Eupen (Belgien) wohnt, aus privaten Gründen nach Aachen (Deutschland) begeben. Er lieh sich dafür ein in Deutschland zugelassenes Fahrzeug, das einer in Deutschland wohnhaften Bekannten gehört.

6        DQ wurde auf belgischen Straßen vom Öffentlichen Dienst der Wallonie (SPW, Belgien) kontrolliert, als er am Steuer dieses Fahrzeugs saß. Bei dieser Kontrolle konnte er das nach dem Königlichen Erlass vom 20. Juli 2001 erforderliche Dokument nicht vorlegen, das bestätigen sollte, dass der gebietsfremde Halter dieses Fahrzeugs die Erlaubnis zu dessen Nutzung während eines begrenzten Zeitraums von höchstens einem Monat erteilt hat (im Folgenden: Nachweis der vorübergehenden Nutzung).

7        Infolge dieser Kontrolle stellten die zuständigen Finanzbehörden des SPW in einem Protokoll den Verstoß gegen den Königlichen Erlass vom 20. Juli 2001 fest und setzten gegen DQ Verkehrsteuer, Zuschlagszehntel hierauf, Zulassungsteuer und einen Ökomalus sowie eine Geldbuße aufgrund dieses Verstoßes fest. Dementsprechend wurde DQ ein Gesamtbetrag von 1 926,72 Euro auferlegt.

8        Am 12. Juli 2017 übermittelte DQ der zuständigen Behörde einen Nachweis der vorübergehenden Nutzung, aus dem hervorging, dass ihm die Halterin die Nutzung des Fahrzeugs vom 1. bis zum 30. Juli 2017 gestattet hatte.

9        Am 6. Juli 2018 erhielt er einen Steuerbescheid mit der Aufforderung zur Zahlung des im Protokoll angegebenen Betrags.

10      Am 22. Juli 2018 legte DQ bei der Wallonischen Region Einspruch ein, um die Aufhebung dieses Bescheids zu erwirken.

11      Mit Bescheid vom 11. Januar 2019 lehnte die Wallonische Region diesen Einspruch mit der Begründung ab, dass DQ bei der Kontrolle keinen Nachweis der vorübergehenden Nutzung des von ihm betriebenen Fahrzeugs habe vorlegen können. Außerdem lasse sich dem am 12. Juli 2017 übermittelten Dokument nicht entnehmen, dass es sich um eine solche Nutzung gehandelt habe.

12      Am 9. April 2019 erhob DQ beim vorlegenden Gericht, dem Gericht Erster Instanz Eupen (Belgien), Klage gegen diesen Bescheid.

13      Nach Angaben des vorlegenden Gerichts beruft sich DQ auf den Beschluss vom 26. September 2019, Wallonische Region (C‑315/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:792), der die Verpflichtung einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Person betreffe, in einem ihr von ihrem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgeber zur Verfügung gestellten und dort zugelassenen Fahrzeug stets einen Nachweis über die rechtmäßige Nutzung dieses Fahrzeugs mitzuführen, mit dem der Gerichtshof festgestellt habe, dass diese Verpflichtung gegen Art. 45 AEUV verstoße, um geltend zu machen, dass der Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer einen speziellen Anwendungsfall des tragenden Grundsatzes der Freizügigkeit von Personen innerhalb der Europäischen Union gemäß den Art. 20 und 21 AEUV darstelle. Nach Auffassung von DQ sei die Antwort, die der Gerichtshof in diesem Beschluss gegeben habe, auf den vorliegenden Fall anwendbar. Außerdem mache DQ, hilfsweise, auch eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs geltend.

14      Die Wallonische Region mache hingegen geltend, dass die vom Gerichtshof im Beschluss vom 26. September 2019, Wallonische Region (C‑315/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:792), gewählte Lösung nur dann anwendbar sei, wenn es um die in Art. 45 AEUV gewährleistete Freizügigkeit der Arbeitnehmer gehe, und daher nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden könne.

15      Das vorlegende Gericht hält die Erhebung aller im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Steuern sowie die Verhängung einer Geldbuße im Hinblick auf den Zweck der Zahlung dieser Steuern sowie darauf, dass die im Königlichen Erlass vom 20. Juli 2001 vorgesehenen Voraussetzungen auf Grundlage der nachgereichten Unterlagen hätten überprüft werden können, für unverhältnismäßig.

 Rechtssache C42/20

16      Am 9. November 2017 wurde FS, der in Belgien wohnhaft ist, auf belgischen Straßen vom SPW kontrolliert, als er am Steuer eines in Deutschland zugelassenen und seinem dort ansässigen Vater gehörenden Fahrzeugs saß. Nach Angaben von FS nutzte er dieses Fahrzeug für seinen Umzug nach Belgien.

17      Bei dieser Kontrolle konnte FS keinen Nachweis der vorübergehenden Nutzung dieses Fahrzeugs vorlegen.

18      Infolge dieser Kontrolle stellten die zuständigen Finanzbehörden des SPW in einem Protokoll den Verstoß gegen den Königlichen Erlass vom 20. Juli 2001 fest und setzten gegen FS Verkehrsteuer, Zuschlagszehntel hierauf, Zulassungsteuer und einen Ökomalus sowie eine Geldbuße aufgrund dieses Verstoßes fest. Dementsprechend wurde FS ein Gesamtbetrag von 5 549,70 Euro auferlegt.

19      Am 13. November 2017 legte der Kläger bei der Wallonischen Region Einspruch ein, um die Aufhebung dieses Protokolls zu erwirken.

20      Mit Bescheid vom 4. Mai 2018 lehnte die Wallonische Region diesen Einspruch mit der Begründung ab, dass FS bei der Kontrolle keinen Nachweis der vorübergehenden Nutzung habe vorlegen können.

21      Am 27. Juli 2018 erhob FS beim vorlegenden Gericht Klage gegen diesen Bescheid.

22      Die Parteien des Ausgangsverfahrens dieser Rechtssache vertreten wie die in der Rechtssache C‑41/20 unterschiedliche Auffassungen im Hinblick auf die Frage, ob die vom Gerichtshof im Beschluss vom 26. September 2019, Wallonische Region (C‑315/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:792), gewählte Lösung auf den vorliegenden Fall übertragen werden könne.

 Rechtssache C43/20

23      Am 8. März 2018 wurde HU, der in Belgien wohnhaft ist, auf belgischen Straßen vom SPW kontrolliert, als er am Steuer eines in Deutschland zugelassenen Fahrzeugs saß, das einem deutschen Unternehmen gehört und ihm von einem Bekannten seines Vaters kurzzeitig zur Verfügung gestellt wurde. HU nutzte dieses Fahrzeug eigenen Angaben zufolge ausschließlich für Fahrten zu seinem Arbeitsplatz.

24      Da HU keinen Nachweis der vorübergehenden Nutzung des Fahrzeugs vorlegen konnte, erstellte der SPW ein Protokoll, mit dem HU ein Gesamtbetrag von 1 153 Euro auferlegt wurde.

25      Nachdem die Wallonische Region den Einspruch von HU auf Aufhebung dieses Protokolls abgelehnt hatte, erhob HU beim vorlegenden Gericht Klage gegen den ablehnenden Bescheid.

26      Unter diesen Umständen hat das Gericht Erster Instanz Eupen in diesen drei Rechtssachen mit vergleichbarem rechtlichen und tatsächlichen Hintergrund entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof jeweils zwei, in den Rechtssachen C‑42/20 und C‑43/20 gleichlautende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

27      Die in der Rechtssache C‑41/20 vorgelegten Fragen lauten wie folgt:

1.      Steht eine nationale Regelung, so wie sie durch die Behörden angewandt wird, nämlich dass die Nutzung ohne erneute Anmeldepflicht eines ausländischen Fahrzeugs, das einem in Belgien wohnhaften Bürger durch eine[n] in einem anderen Unionsmitgliedstaat niedergelassenen Bürger sporadisch und kurzzeitig zur Verfügung gestellt wird, davon abhängig gemacht wird, dass dieser in Belgien wohnhafte Bürger die private Nutzungsbescheinigung im Fahrzeug mit sich führt, d. h. eine Bescheinigung im Sinne des Art. 3 § 2 Nr. 6 des Königlichen Erlasses vom 20. Juli 2001 zur Immatrikulierung der Fahrzeuge, den einschlägigen europäischen Rechtsnormen entgegen und insbesondere einerseits den Art. 20 und 21 AEUV bezüglich der Personenfreiheit und Kapitalverkehr, und/oder andererseits den Art. 63 und 64 AEUV bezüglich des freien Kapitalverkehrs als zwei von vier Grundfreiheiten der Union?

2.      Ist eine nationale Regelung, so wie hiervor beschrieben und umgesetzt durch die Wallonische Region, durch Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit oder anderer Schutzmaßnahmen gerechtfertigt und ist die Einhaltung der nationalen Regelung, welche so ausgelegt wird, dass sie zwingend vorsieht, dass ein durch den ausländischen Inhaber des Fahrzeugs ausgestelltes Dokument mit einer zeitlich begrenzten Erlaubnis für den Gebrauch des Fahrzeugs mit Angabe der Gültigkeitsdauer im Fahrzeug mitgeführt werden muss, erforderlich, ohne Möglichkeit, solche Unterlagen nachzureichen, um das angestrebte Ziel zu erreichen, oder hätte das Ziel auch mit weniger strikten und formalistischen Mitteln erreicht werden können?

28      Die in den Rechtssachen C‑42/20 und C‑43/20 vorgelegten Fragen lauten wie folgt:

1.      Steht eine nationale Regelung, so wie sie durch die Behörden angewandt wird, nämlich dass die Nutzung ohne erneute Anmeldepflicht eines ausländischen Fahrzeugs, das einem in Belgien wohnhaften Bürger durch eine[n] in einem anderen Unionsmitgliedstaat niedergelassenen Bürger sporadisch und kurzzeitig zur Verfügung gestellt wird, davon abhängig gemacht wird, dass dieser in Belgien wohnhafte Bürger die private Nutzungsbescheinigung im Fahrzeug mit sich führt, d. h. eine Bescheinigung im Sinne des Art. 3 § 2 Nr. 6 des Königlichen Erlasses vom 20. Juli 2001, den einschlägigen europäischen Rechtsnormen entgegen und insbesondere den Art. 20 und 21 AEUV bezüglich der Personenfreiheit, dem Art. 45 AEUV (Freizügigkeit der Arbeitnehmer), dem Art. 49 AEUV (Niederlassungsfreiheit) und dem Art. 56 AEUV (Dienstleistungsfreiheit)?

2.      Ist eine nationale Regelung, so wie hiervor beschrieben und umgesetzt durch die Wallonische Region, durch Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit oder anderer Schutzmaßnahmen gerechtfertigt und ist die Einhaltung der nationalen Regelung, welche so ausgelegt wird, dass sie zwingend vorsieht, dass ein durch den ausländischen Inhaber des Fahrzeugs ausgestelltes Dokument mit einer zeitlich begrenzten Erlaubnis für den Gebrauch des Fahrzeugs mit Angabe der Gültigkeitsdauer mitgeführt werden muss, erforderlich, um das angestrebte Ziel zu erreichen, oder hätte das Ziel auch mit weniger strikten und formalistischen Mitteln erreicht werden können?

29      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 12. März 2020 sind die Rechtssachen C‑41/20 bis C‑43/20 zu gemeinsamem schriftlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

 Zu den Vorlagefragen

30      Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, u. a. wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung einer solchen Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

31      Diese Bestimmung ist in den vorliegenden Rechtssachen anzuwenden.

32      Zunächst ist im Hinblick auf die auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Bestimmungen des AEUV festzustellen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof als Erstes mit seinen Vorlagefragen in der Rechtssache C‑41/20 um Auslegung der Art. 20, 21, 63 und 64 AEUV ersucht.

33      Aus der Vorlageentscheidung in dieser Rechtssache geht hervor, dass DQ als in Belgien ansässiger Bürger ein in Deutschland zugelassenes Fahrzeug auf belgischen Straßen genutzt hat, das ihm von einer dort Bekannten unentgeltlich geliehen worden war.

34      Der Gerichtshof hat aber zu einer zwischen in verschiedenen Mitgliedstaaten wohnhaften Bürgern vereinbarten Leihe entschieden, dass es sich beim grenzüberschreitenden unentgeltlichen Verleih eines Kraftfahrzeugs um Kapitalverkehr im Sinne von Art. 63 AEUV handelt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. April 2012, van Putten, C‑578/10 bis C‑580/10, EU:C:2012:246, Rn. 36, und vom 29. Oktober 2015, Nagy, C‑583/14, EU:C:2015:737, Rn. 23).

35      Da Art. 63 AEUV anwendbar ist, sind die Vorlagefragen in der Rechtssache C‑41/20 daher zunächst im Licht von Art. 63 AEUV und anschließend gegebenenfalls im Hinblick auf die Art. 20 und 21 AEUV zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Oktober 2015, Nagy, C‑583/14, EU:C:2015:737, Rn. 24 und 25).

36      Als Zweites ersucht das vorlegende Gericht zur Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten in den Rechtssachen C‑42/20 und C‑43/20 den Gerichtshof um Auslegung der Art. 20, 21, 45, 49 und 56 AEUV.

37      Es ist jedoch festzustellen, dass die Vorlageentscheidungen in diesen Rechtssachen keine Angaben enthalten, die darauf schließen lassen, dass zwischen den in den Ausgangsverfahren dieser Rechtssachen in Rede stehenden Sachverhalten und der Ausübung der in Art. 49 AEUV vorgesehenen Niederlassungsfreiheit oder der in Art. 56 AEUV vorgesehenen Dienstleistungsfreiheit ein Zusammenhang besteht.

38      Ebenso wenig enthält die Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑42/20 Angaben zu einem Zusammenhang zwischen dem im Ausgangsverfahren dieser Rechtssache in Rede stehenden Sachverhalt und der Ausübung der in Art. 45 AEUV vorgesehenen Freizügigkeit der Arbeitnehmer. In der Rechtssache C‑43/20 ist der Vorlageentscheidung zwar zu entnehmen, dass das in Rede stehende Fahrzeug von HU für Fahrten zu seinem Arbeitsplatz genutzt wurde, doch geht aus dieser Entscheidung nicht klar hervor, dass HU „Arbeitnehmer“ im Sinne des Unionsrechts ist.

39      Außerdem ist der Gerichtshof, auch wenn das vorlegende Gericht seine Fragen in den Rechtssachen C‑42/20 und C‑43/20 der Form nach auf die Auslegung der Art. 20, 21, 45, 49 und 56 AEUV beschränkt hat, nicht daran gehindert, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Verfahren von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat (vgl. u. a. Urteil vom 29. Oktober 2015, Nagy, C‑583/14, EU:C:2015:737, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Die gestellten Fragen müssen nämlich im Licht sämtlicher Bestimmungen des Vertrags und des abgeleiteten Rechts, die für die aufgeworfene Problematik von Bedeutung sein können, beantwortet werden (vgl. u. a. Urteil vom 29. Oktober 2015, Nagy, C‑583/14, EU:C:2015:737, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Aus den Vorlageentscheidungen in den Rechtssachen C‑42/20 und C‑43/20 geht hervor, dass FS und HU, die in Belgien wohnhaft sind, wie im in der Rechtssache C‑41/20 in Rede stehenden Sachverhalt auf belgischen Straßen in Deutschland zugelassene Fahrzeuge genutzt haben, die ihnen von dort ansässigen Personen unentgeltlich geliehen worden waren.

42      Unter diesen Umständen sind die in den Rechtssachen C‑42/20 und C‑43/20 vorgelegten Fragen in Anbetracht der in den Rn. 34 und 35 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung zunächst ebenfalls im Licht von Art. 63 AEUV und anschließend gegebenenfalls im Hinblick auf die Art. 20 und 21 AEUV zu prüfen.

43      Folglich sind die Vorlagefragen in den vorliegenden Rechtssachen, die zusammen zu prüfen sind, dahin umzuformulieren, dass mit ihnen in Erfahrung gebracht werden soll, ob die Art. 20, 21 und 63 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach sich eine dort wohnhafte Person für ein Fahrzeug, das ihr von dessen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Halter unentgeltlich kurzzeitig zur Verfügung gestellt wurde und dort zugelassen ist, nur dann auf eine Ausnahme von der in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat geltenden Zulassungspflicht berufen kann, wenn die Dokumente, die belegen, dass die betroffene Person die Voraussetzungen für diese Ausnahme erfüllt, stets im Fahrzeug mitgeführt werden, ohne dass die Möglichkeit besteht, diese nachzureichen.

44      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich hierzu, dass Maßnahmen eines Mitgliedstaats Beschränkungen im Sinne von Art. 63 Abs. 1 AEUV darstellen, wenn sie geeignet sind, die Gebietsansässigen davon abzuhalten, in einem anderen Mitgliedstaat Darlehen aufzunehmen (vgl. u. a. Urteile vom 26. September 2000, Kommission/Belgien, C‑478/98, EU:C:2000:497, Rn. 18, und vom 29. Oktober 2015, Nagy, C‑583/14, EU:C:2015:737, Rn. 26).

45      Der Gerichtshof hat befunden, dass es als offensichtlich unverhältnismäßig anzusehen ist, wenn für den Verstoß gegen die Verpflichtung, stets die Dokumente zum Nachweis über das Vorliegen der Voraussetzungen für die Ausnahme von der Zulassungsverpflichtung für ein Fahrzeug mitzuführen, dieselbe Geldbuße verhängt wird, die bei einem Verstoß gegen die Zulassungsverpflichtung fällig würde, da der erstgenannte Verstoß deutlich weniger schwer wiegt als die Nichtzulassung eines Fahrzeugs (Beschluss vom 26. September 2019, Wallonische Region, C‑315/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:792, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      In den Ausgangsverfahren wird der Verstoß gegen die Pflicht, die Dokumente, anhand deren das Recht der betroffenen Person auf Befreiung von der Zulassungsverpflichtung nachgewiesen werden kann, stets im Fahrzeug mitzuführen, nicht nur mit einer Geldbuße geahndet, sondern hat auch die Verpflichtung zur Folge, alle mit der Benutzung eines Fahrzeugs im Straßenverkehr verbundenen Steuern zu zahlen. Diese Sanktion, die die vollständige Zahlung all dieser Steuern vorsieht, entspricht in ihren Rechtsfolgen einem Festhalten an der Zulassungsverpflichtung für Fahrzeuge in Belgien (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 26. September 2019, Wallonische Region, C‑315/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:792, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Die Situation eines in Belgien Ansässigen, der im belgischen Straßennetz ein Fahrzeug nutzt, das dort zugelassen ist und ihm unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde, ist objektiv mit der Situation vergleichbar, in der ein solcher Gebietsansässiger unter denselben Umständen ein in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenes Fahrzeug nutzt. Nun unterliegt aber die Nutzung eines unentgeltlich überlassenen Fahrzeugs, wenn dieses in Belgien zugelassen ist, nicht der Verpflichtung, deren Verletzung mit einer Geldbuße sowie der Pflicht zur Zahlung aller mit der Benutzung eines Fahrzeugs im Straßenverkehr verbundenen Steuern geahndet wird, nämlich stets die Dokumente mitzuführen, die belegen, dass der Halter des Fahrzeugs dessen Nutzung für einen begrenzten Zeitraum erlaubt.

48      Eine solche Ungleichbehandlung, die danach unterscheidet, in welchem Staat das geliehene Fahrzeug zugelassen ist, kann die Einwohner Belgiens davon abhalten, den ihnen von Einwohnern eines anderen Mitgliedstaats angebotenen Verleih eines dort zugelassenen Kraftfahrzeugs für eine kurzzeitige Nutzung anzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2012, van Putten u. a., C‑578/10 bis C‑580/10, EU:C:2012:246, Rn. 40).

49      Demnach stellt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 63 Abs. 1 AEUV dar, es sei denn, dass das in einem anderen Mitgliedstaat zugelassene Fahrzeug im Wesentlichen dauerhaft in Belgien benutzt werden soll oder tatsächlich benutzt wird, was zu prüfen Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Oktober 2015, Nagy, C‑583/14, EU:C:2015:737, Rn. 30).

50      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine solche Beschränkung einer der durch den AEU‑Vertrag garantierten Grundfreiheiten nur zulässig sein, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit diesem Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. In einem solchen Fall muss aber die Anwendung einer solchen Maßnahme auch geeignet sein, die Verwirklichung des verfolgten Zwecks zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zu seiner Erreichung erforderlich ist (vgl. u. a. Beschluss vom 10. Oktober 2013, Kovács, C‑5/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:705, Rn. 31, und Urteil vom 29. Oktober 2015, Nagy, C‑583/14, EU:C:2015:737, Rn. 31).

51      Allerdings ist festzustellen, dass die mit der in den Ausgangsverfahren der vorliegenden Rechtssachen in Rede stehenden Regelung verfolgten Ziele nicht eindeutig aus den Vorlageentscheidungen hervorgehen. Das vorlegende Gericht nimmt in seinen Fragen lediglich auf Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit und anderer Schutzmaßnahmen Bezug.

52      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass insbesondere in Bezug auf die Ziele der Bekämpfung des Steuerbetrugs in den Bereichen der Zulassungsteuer und der Kfz‑Steuer sowie der Wirksamkeit von Verkehrskontrollen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Vorschriften, die der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung entsprechen und wonach es – wie im vorliegenden Fall – der betroffenen Person nicht erlaubt war, die Dokumente, aus denen hervorgeht, dass sie die Voraussetzungen für die Ausnahme von der Zulassungspflicht für die Fahrzeuge erfüllt, kurz nach der Kontrolle nachzureichen, und die ihr somit jede Möglichkeit nahmen, die rechtswidrige Situation zu beheben, nicht im Verhältnis zu diesen Zielen stehen (Beschluss vom 26. September 2019, Wallonische Region, C‑315/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:792, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53      Im Übrigen ergibt sich in Bezug auf das Ziel der Verhinderung von Missbrauch aus der Rechtsprechung, dass zwar die missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Unionsrecht nicht gestattet ist, dass aber eine allgemeine Missbrauchsvermutung nicht darauf gestützt werden kann, dass eine Person mit Wohnsitz in Belgien in diesem Mitgliedstaat ein Fahrzeug nutzt, das in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen und ihr von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Person unentgeltlich geliehen wurde (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 26. September 2019, Wallonische Region, C‑315/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:792, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Ebenso wenig kann im vorliegenden Fall die Verkehrssicherheit geltend gemacht werden, da das betreffende Fahrzeug in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen ist und daher einer technischen Kontrolle unterzogen wurde, deren Ergebnisse von den anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen sind (Beschluss vom 26. September 2019, Wallonische Region, C‑315/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:792, Rn. 35).

55      Schließlich kann nach ständiger Rechtsprechung die Verringerung von Steuereinnahmen nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses betrachtet werden, der zur Rechtfertigung einer grundsätzlich gegen eine Grundfreiheit verstoßenden Maßnahme angeführt werden kann (vgl. u. a. Urteile vom 7. September 2004, Manninen, C‑319/02, EU:C:2004:484, Rn. 49, und vom 22. November 2018, Sofina u. a., C‑575/17, EU:C:2018:943, Rn. 61).

56      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass eine Regelung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende einen Verstoß gegen den Grundsatz des freien Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 63 AEUV darstellt. Daher ist über die Auslegung der Art. 20 und 21 AEUV nicht zu entscheiden.

57      Folglich ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 63 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach sich eine dort wohnhafte Person für ein Fahrzeug, das ihr von dessen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Halter unentgeltlich kurzzeitig zur Verfügung gestellt wurde und dort zugelassen ist, nur dann auf eine Ausnahme von der in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat geltenden Zulassungspflicht berufen kann, wenn die Dokumente, die belegen, dass die betroffene Person die Voraussetzungen für diese Ausnahme erfüllt, stets im Fahrzeug mitgeführt werden, ohne dass die Möglichkeit besteht, diese nachzureichen.

 Kosten

58      Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 63 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach sich eine dort wohnhafte Person für ein Fahrzeug, das ihr von dessen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Halter unentgeltlich kurzzeitig zur Verfügung gestellt wurde und dort zugelassen ist, nur dann auf eine Ausnahme von der in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat geltenden Zulassungspflicht berufen kann, wenn die Dokumente, die belegen, dass die betroffene Person die Voraussetzungen für diese Ausnahme erfüllt, stets im Fahrzeug mitgeführt werden, ohne dass die Möglichkeit besteht, diese nachzureichen.

Luxemburg, den 10. September 2020

Der Kanzler

 

Der Präsident der Sechsten Kammer

A. Calot Escobar

 

M. Safjan


*      Verfahrenssprache: Deutsch.