URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

29. April 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Art. 4 Nr. 5 – Gesuchte Person, die wegen derselben Handlung in einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist – Sanktion, die bereits vollstreckt worden ist oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann – Umsetzung – Ermessen der vollstreckenden Justizbehörde – Begriff ‚dieselbe Handlung‘ – Straferlass durch eine Behörde, die keine Justizbehörde ist, im Rahmen einer allgemeinen Begnadigungsmaßnahme“

In der Rechtssache C‑665/20 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 7. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Dezember 2020, im Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

X

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Fünften Kammer sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), C. Lycourgos und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: G. Hogan,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. März 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von X, vertreten durch D. W. H. M. Wolters und S. W. Kuijpers, advocaten,

des Openbaar Ministerie, vertreten durch N. Bakkenes und K. van der Schaft,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und F. Halabi als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und F. Wilman als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. April 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).

2

Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in den Niederlanden, den das Amtsgericht Berlin-Tiergarten (Deutschland) am 19. September 2019 zum Zweck der Strafverfolgung gegen X erlassen hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

SDÜ

3

Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ), der zu Kapitel 3 („Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem“) von Titel III des SDÜ gehört, sieht vor:

„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

Rahmenbeschluss

4

In den Erwägungsgründen 5, 6, 10 und 12 des Rahmenbeschlusses heißt es:

„(5)

Aus dem der [Europäischen] Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. …

(6)

Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

(10)

Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EUV] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 [EUV] mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.

(12)

Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EUV] anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. …“

5

Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses lautet:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten.“

6

Art. 3 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist“) des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats (nachstehend ‚vollstreckende Justizbehörde‘ genannt) lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab,

1.

wenn die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsstaat unter eine Amnestie fällt und dieser Staat nach seinem eigenen Strafrecht für die Verfolgung der Straftat zuständig war;

2.

wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

3.

wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters für die Handlung, die diesem Haftbefehl zugrunde liegt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.“

7

Art. 4 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

5.

wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

…“

Niederländisches Recht

8

Der Rahmenbeschluss wurde durch die Wet tot implementatie van het kaderbesluit van de Raad van de Europese Unie betreffende het Europees aanhoudingsbevel en de procedures van overlevering tussen de lidstaten van de Europese Unie (Gesetz zur Durchführung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union) vom 29. April 2004 (Stb. 2004, Nr. 195), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 22. Februar 2017 (Stb. 2017, Nr. 82) (im Folgenden: OLW), in niederländisches Recht umgesetzt.

9

Art. 9 Abs. 1 Buchst. d und e OLW, mit dem Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses umgesetzt werden, lautet:

„Die Übergabe der betreffenden Person ist nicht zulässig wegen einer Handlung, wegen der

d)

sie von einem niederländischen Gericht freigesprochen oder straffrei gestellt wurde oder in Bezug auf sie eine entsprechende rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines Drittstaats ergangen ist;

e)

sie durch gerichtliche Entscheidung verurteilt wurde, falls

1.

die verhängte Strafe oder Maßnahme bereits vollstreckt wurde;

2.

die verhängte Strafe oder Maßnahme nicht mehr vollstreckbar oder weiter vollstreckbar ist;

3.

die Verurteilung in einem Schuldspruch ohne Verhängung einer Strafe oder Maßregel besteht;

4.

die verhängte Strafe oder Maßregel in den Niederlanden vollstreckt wird;

…“

10

In Art. 28 Abs. 2 OLW heißt es:

„Kommt die Rechtbank [Bezirksgericht] zu dem Ergebnis, … dass die Übergabe nicht gestattet werden kann …, so lehnt sie die Übergabe in ihrer Entscheidung ab.“

Deutsches Recht

11

§ 51 („Anrechnung“) des Strafgesetzbuchs bestimmt in Abs. 3:

„Ist der Verurteilte wegen derselben Tat im Ausland bestraft worden, so wird auf die neue Strafe die ausländische angerechnet, soweit sie vollstreckt ist.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12

Am 19. September 2019 erließ das Amtsgericht Berlin-Tiergarten gegen X einen auf seine Übergabe zur Strafverfolgung wegen Handlungen, die er am 30. Oktober 2012 in Berlin (Deutschland) begangen haben soll, gerichteten Europäischen Haftbefehl.

13

An diesem Tag soll X seine damalige Lebensgefährtin Y und ihre zehnjährige Tochter Z mit einem Messer bedroht und gefesselt haben. Sodann habe er Y vergewaltigt und verstümmelt. Bevor er das Haus von Y verlassen habe, habe er die Zimmer, in denen sich die gefesselten Y und Z befunden hätten, in der Absicht verbarrikadiert, ihren Tod herbeizuführen.

14

Seine Übergabe wird wegen folgender Straftaten begehrt:

versuchter Mord an seiner Lebensgefährtin,

versuchter Mord an der minderjährigen Tochter seiner Lebensgefährtin,

Vergewaltigung seiner Lebensgefährtin,

schwere Körperverletzung seiner Lebensgefährtin,

vorsätzliche Freiheitsberaubung im Fall seiner Lebensgefährtin und

vorsätzliche Freiheitsberaubung im Fall der minderjährigen Tochter seiner Lebensgefährtin.

15

Auf der Grundlage dieses Europäischen Haftbefehls wurde X in den Niederlanden festgenommen und am 18. März 2020 dem vorlegenden Gericht vorgeführt.

16

Er teilte diesem Gericht mit, dass er seiner Übergabe an die deutschen Justizbehörden nicht zustimme, und wurde bis zu einer entsprechenden Entscheidung in Haft genommen.

17

Zur Begründung seines Widerstands gegen seine Übergabe berief sich X auf den Grundsatz ne bis in idem und machte u. a. geltend, er sei wegen derselben Tat in einem Drittstaat, dem Iran, rechtskräftig verurteilt worden.

18

Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts wurde X wegen der oben genannten Taten im Iran strafrechtlich verfolgt, mit Ausnahme der Freiheitsberaubung von Y, die in ihren materiellen Elementen gleichwohl in die Bewertung des Mordversuchs an Y einbezogen wurde.

19

X wurde im Iran durch rechtskräftiges Strafurteil wegen schwerer Körperverletzung von Y sowie wegen versuchten Mordes von Y und Z verurteilt. Vom Vorwurf der Vergewaltigung von Y und der Freiheitsberaubung von Z wurde er dagegen rechtskräftig freigesprochen.

20

Nach iranischem Recht musste X nur die höchste der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafen – eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten – verbüßen. Den größten Teil davon verbüßte er; die Reststrafe wurde ihm aufgrund einer vom Obersten Führer anlässlich des 40. Jahrestags der iranischen Revolution verkündeten Generalamnestie erlassen.

21

Wegen der schweren Körperverletzung von Y wurde X außerdem zur Zahlung einer „Diya“ (Geldsumme) an Y verurteilt. Aufgrund seiner Zahlungsunfähigkeit wurde ihm gestattet, zunächst eine Anzahlung von 200000000 iranischen Rial (etwa 4245 Euro) und dann Monatsraten in Höhe von 2 % der Diya zu entrichten. Nach der Anzahlung und der ersten Monatsrate wurde X am 5. Mai 2019 im Iran auf freien Fuß gesetzt. Am 7. September 2020 erließen die iranischen Behörden gegen ihn einen Haftbefehl wegen Nichteinhaltung der späteren Zahlungsfristen.

22

Vor dem vorlegenden Gericht macht X geltend, er sei wegen der Taten, die Gegenstand des Übergabeersuchens gemäß dem gegen ihn ergangenen Europäischen Haftbefehl seien, im Iran verfolgt und rechtskräftig verurteilt worden. Von einem Teil der Vorwürfe sei er rechtskräftig freigesprochen worden, und wegen des anderen Teils sei er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, die er, bis auf einen Rest, der ihm aufgrund der in Rn. 20 des vorliegenden Urteils erwähnten Generalamnestie erlassen worden sei, vollständig verbüßt habe. Bei der Diya handele es sich im Übrigen nicht um eine Strafe oder Maßregel, sondern um eine Verpflichtung zur Zahlung von Schadensersatz an das Opfer.

23

Seiner Übergabe an die deutschen Behörden aufgrund des gegen ihn erlassenen Europäischen Haftbefehls stehe daher Art. 9 Abs. 1 Buchst. d und e Nr. 1 OLW entgegen. Art. 9 Abs. 1 OLW unterscheide insbesondere nicht zwischen einem in einem Mitgliedstaat und einem in einem Drittstaat ergangenen rechtskräftigen Urteil. Damit habe der niederländische Gesetzgeber von der den Mitgliedstaaten durch den Rahmenbeschluss eingeräumten Befugnis Gebrauch gemacht, die Übergabe abzulehnen, wenn in einem Drittstaat ein rechtskräftiges Urteil ergangen und die Strafe vollständig verbüßt worden sei. Daran seien die niederländischen Gerichte gebunden.

24

Das Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft, Niederlande) macht in erster Linie geltend, der von X erhobene Einwand einer früheren Verurteilung im Iran könne nicht durchgreifen. Da es sich um eine Verurteilung in einem Drittstaat handele, müsse das vorlegende Gericht als vollstreckende Justizbehörde gemäß Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses Art. 9 Abs. 1 Buchst. e OLW unangewendet lassen und beurteilen, ob die Verurteilung im Iran aufgrund eines gegenseitigen, auf Übereinkünften oder Rechtspraxis beruhenden Vertrauens für die gegenseitige Anerkennung in Betracht komme. Da es weder diplomatische Beziehungen zur Islamischen Republik Iran noch eine justizielle Zusammenarbeit mit ihr gebe und da zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Union und der Rechtsordnung der Islamischen Republik Iran erhebliche Unterschiede bestünden, fehle ein solches Vertrauen in die iranische Rechtsordnung. Deshalb könne die Verurteilung von X im Iran keinen triftigen Grund für die Ablehnung der Vollstreckung des gegen ihn erlassenen Europäischen Haftbefehls darstellen.

25

Hilfsweise macht die Staatsanwaltschaft geltend, Art. 9 Abs. 1 Buchst. e OLW stehe der Vollstreckung dieses Haftbefehls nicht entgegen, da die im Iran verhängte Strafe noch nicht vollständig verbüßt worden sei und später vollstreckt werden könne. Sie führt insoweit den Haftbefehl der iranischen Behörden gegen X wegen Nichteinhaltung der für die Zahlung der Diya festgelegten Termine an. Ebenfalls hilfsweise macht die Staatsanwaltschaft geltend, da sich die iranischen Gerichte nicht zum Vorwurf der Freiheitsberaubung von Y geäußert hätten, sei die Übergabe von X unter diesem Aspekt zu gestatten.

26

Unter diesen Umständen äußert das vorlegende Gericht zunächst Zweifel daran, ob Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses ordnungsgemäß in niederländisches Recht umgesetzt wurde. Es weist insbesondere darauf hin, dass in dieser Bestimmung die Gründe aufgezählt würden, aus denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden könne, während Art. 9 Abs. 1 OLW vorsehe, dass die Vollstreckung abgelehnt werden müsse, wenn solche Gründe vorlägen, ohne dass der vollstreckenden Justizbehörde insoweit ein Ermessen zustehe.

27

Sodann führt das vorlegende Gericht aus, um zu klären, ob es nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. e OLW verpflichtet sei, die Übergabe von X wegen der Freiheitsberaubung von Y abzulehnen, müsse es prüfen, ob die X in Deutschland angelastete Tat und der versuchte Mord an Y, der zu seiner Verurteilung im Iran geführt habe, „dieselbe Handlung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 OLW und Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses beträfen.

28

Schließlich weist das vorlegende Gericht in Bezug auf die Taten, derentwegen X im Iran rechtskräftig verurteilt wurde, darauf hin, dass die Frage, ob es die Vollstreckung des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls ganz oder teilweise ablehnen müsse, von der Tragweite der in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Voraussetzung abhänge, dass im Fall einer rechtskräftigen Verurteilung in einem Drittstaat wegen derselben Tat die verhängte Sanktion „bereits vollstreckt worden ist … oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann“.

29

Fraglich sei insbesondere, ob ein Gnadenakt wie die Amnestie, die X im Iran gewährt worden sei, im Rahmen der Anwendung von Art. 4 Nr. 5 zu berücksichtigen sei.

30

Da die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) der Ansicht ist, dass die Antwort auf die Frage, ob der gegen X erlassene Europäische Haftbefehl vollstreckt werden kann, davon abhängt, wie Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses auszulegen ist, hat sie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn ein Mitgliedstaat beschließt, diese Bestimmung in innerstaatliches Recht umzusetzen, über ein gewisses Ermessen hinsichtlich der Frage verfügen muss, ob die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern ist?

2.

Ist der Begriff „dieselbe Handlung“ in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses im gleichen Sinn auszulegen wie in Art. 3 Nr. 2 dieses Rahmenbeschlusses, und, falls nicht, wie ist dieser Begriff in der erstgenannten Bestimmung auszulegen?

3.

Ist die in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgestellte Voraussetzung, dass die Sanktion „bereits vollstreckt worden ist … oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann“, dahin auszulegen, dass darunter eine Situation fällt, in der die gesuchte Person wegen derselben Handlung rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, die sie teilweise im Urteilsstaat verbüßt hat und die ihr im Übrigen von einer Behörde dieses Staates, die keine Justizbehörde ist, im Rahmen einer allgemeinen, auch für Verurteilte, die wie die gesuchte Person schwere Straftaten begangen haben, geltenden und nicht auf rationalen Erwägungen strafrechtspolitischer Art beruhenden Begnadigungsmaßnahme erlassen wurde?

Antrag auf Eilvorabentscheidungsverfahren

31

Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

32

Hierzu ist erstens festzustellen, dass das Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung des Rahmenbeschlusses betrifft, der zu den von Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfassten Bereichen gehört. Es fällt daher in den Anwendungsbereich des in Art. 107 der Verfahrensordnung geregelten Eilverfahrens, so dass es dem Eilvorabentscheidungsverfahren unterworfen werden kann.

33

Zweitens ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen, dass der im Ausgangsverfahren betroffenen Person derzeit ihre Freiheit entzogen ist und dass ihre weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt (Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, wurde die Inhaftierung von X im Rahmen der Vollstreckung des gegen ihn ausgestellten Europäischen Haftbefehls angeordnet, wobei die Aufrechterhaltung dieser Maßnahme von der Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen abhängt.

35

Unter diesen Umständen hat die Fünfte Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts am 18. Dezember 2020 beschlossen, dem Antrag des vorlegenden Gerichts stattzugeben und das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

36

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der sich dafür entscheidet, diese Bestimmung in sein innerstaatliches Recht umzusetzen, der vollstreckenden Justizbehörde ein Ermessen bei der Entscheidung darüber einräumen muss, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus dem in dieser Bestimmung genannten Grund abzulehnen ist.

37

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss darauf abzielt, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, beruhend auf dem hohen Maß an Vertrauen, das zwischen den Mitgliedstaaten bestehen muss (Urteil vom 11. März 2020, SF [Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat], C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Im Regelungsbereich des Rahmenbeschlusses kommt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der, wie sich namentlich aus dem sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses ergibt, einen „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit im strafrechtlichen Bereich bildet, in dessen Art. 1 Abs. 2 zum Ausdruck, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen (Urteil vom 11. März 2020, SF [Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat], C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Daraus folgt, dass die vollstreckenden Justizbehörden die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls grundsätzlich nur aus den im Rahmenbeschluss abschließend aufgezählten Ablehnungsgründen verweigern können. Folglich stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als eng auszulegende Ausnahme ausgestaltet ist (Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Der Rahmenbeschluss nennt ausdrücklich die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist (Art. 3) oder abgelehnt werden kann (Art. 4 und 4a) (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2020, SF [Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat], C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Zu den in Art. 4 des Rahmenbeschlusses aufgeführten fakultativen Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über ein Ermessen verfügen. Somit steht es ihnen frei, diese Gründe in ihr innerstaatliches Recht zu übernehmen. Ferner können sie sich dafür entscheiden, die Fälle zu begrenzen, in denen die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern kann, und damit die Übergabe gesuchter Personen im Einklang mit dem in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses aufgestellten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung erleichtern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg,C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 58, 59 und 61).

42

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut von Art. 4 des Rahmenbeschlusses die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus den in den Nrn. 1 bis 7 dieses Artikels genannten Gründen „verweigern [kann]“; zu ihnen gehört u. a. der Umstand, dass sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.

43

Somit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 4 des Rahmenbeschlusses, insbesondere aus der Verwendung des Verbs „können“ in Verbindung mit dem Infinitiv des Verbs „verweigern“, dessen Subjekt die vollstreckende Justizbehörde ist, dass diese in Bezug auf die Frage, ob die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls aus den in Art. 4 genannten Gründen abzulehnen ist, über ein eigenes Ermessen verfügen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2018, Sut, C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie sich für die Umsetzung eines oder mehrerer der in Art. 4 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgründe entscheiden, nicht vorsehen dürfen, dass die Justizbehörden verpflichtet sind, die Vollstreckung jedes formal in den Anwendungsbereich dieser Gründe fallenden Europäischen Haftbefehls abzulehnen, ohne dass sie die Möglichkeit haben, die Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen.

45

Diese Auslegung wird durch den Kontext bestätigt, in dem Art. 4 des Rahmenbeschlusses steht.

46

Erstens stellt nämlich, wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als eng auszulegende Ausnahme ausgestaltet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2020, SF [Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat], C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 39).

47

Wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, würde eine nationale Vorschrift, die der vollstreckenden Justizbehörde die Möglichkeit nähme, Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen, die sie zu der Annahme veranlassen könnten, dass die Voraussetzungen für die Verweigerung der Übergabe nicht grundsätzlich erfüllt sind, dazu führen, dass die in Art. 4 des Rahmenbeschlusses vorgesehene bloße Befugnis durch eine echte Verpflichtung ersetzt würde, so dass die Ausnahme in Form der Ablehnung der Übergabe zur Grundregel gemacht würde.

48

Zweitens ist der Wortlaut von Art. 4 des Rahmenbeschlusses mit dem Wortlaut von dessen Art. 3 zu vergleichen, der nach seiner Überschrift Gründe enthält, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls von der vollstreckenden Justizbehörde „abzulehnen ist“. Im Rahmen von Art. 3 des Rahmenbeschlusses verfügt die vollstreckende Justizbehörde somit nicht über ein Ermessen.

49

Außerdem ist der Wortlaut von Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses nahezu identisch mit dem Wortlaut seines Art. 3 Nr. 2, abgesehen davon, dass Ersterer den Fall einer Person betrifft, die wegen derselben Handlung „von einem Drittstaat“ rechtskräftig verurteilt worden ist, Letzterer dagegen den Fall einer wegen derselben Handlung „von einem Mitgliedstaat“ rechtskräftig verurteilten Person.

50

Das Fehlen eines Ermessens der vollstreckenden Justizbehörde im Rahmen der Anwendung des in Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Ablehnungsgrundes ergibt sich aus dem Erfordernis, den in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz ne bis in idem zu beachten.

51

Dieser durch Art. 50 der Charta der Grundrechte garantierte Grundsatz besagt, dass niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits „in der Union“ freigesprochen oder verurteilt worden ist, in einem Mitgliedstaat erneut in einem Strafverfahren verfolgt werden darf.

52

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie in Art. 2 EUV klargestellt wird, die Union gründet (Urteil vom 24. September 2020, Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof [Grundsatz der Spezialität], C‑195/20 PPU, EU:C:2020:749, Rn. 30). Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, insbesondere in ihre jeweilige Strafrechtspflege.

53

Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verpflichtet, insbesondere in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, jeden Mitgliedstaat, von außergewöhnlichen Umständen abgesehen davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54

Ein solches gegenseitiges Vertrauen besteht auch zwischen den Vertragsstaaten des SDÜ, deren Art. 54 dem entgegensteht, dass eine Person, die bereits von einem Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, von einem anderen Vertragsstaat „verfolgt“ wird (Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski,C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55

Dagegen kann ein Vertrauen in die Strafrechtspflege von Drittstaaten, die weder Vertragsparteien des SDÜ sind noch andere privilegierte Beziehungen zur Union unterhalten, grundsätzlich nicht unterstellt werden; dies bedeutet, dass der vollstreckenden Justizbehörde nach Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses ein Ermessen bei der Prüfung zuzuerkennen ist, ob unter Berücksichtigung aller besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls, insbesondere der Bedingungen, unter denen die gesuchte Person verurteilt und eine etwaige gegen sie verhängte Sanktion vollstreckt wurde, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist.

56

Diese Auslegung steht zudem im Einklang mit dem Ziel von Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses, der es, wie sich aus seinem Wortlaut im Einklang mit Art. 67 Abs. 1 AEUV ergibt, der vollstreckenden Justizbehörde ermöglichen soll, die Rechtssicherheit für die gesuchte Person zu gewährleisten, indem berücksichtigt wird, dass sie wegen derselben Tat in einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann (vgl. entsprechend, zu Art. 54 SDÜ, Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski, C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 44).

57

Insoweit ist festzustellen, dass die Voraussetzung, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann, soweit ihr Fehlen dazu führt, dass die gesuchte Person übergeben werden muss, damit sie verfolgt wird oder die gegen sie verhängte Freiheitsstrafe verbüßt, zur Verwirklichung des mit dem Mechanismus des Europäischen Haftbefehls verfolgten Ziels beiträgt, das darin besteht, im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu verhindern, dass Straftaten nicht geahndet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2020, SF [Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat], C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 47, und entsprechend Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 77).

58

In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss in einer Weise auszulegen ist, die seine Vereinbarkeit mit den Erfordernissen der Achtung der Grundrechte der betroffenen Personen sicherstellt, ohne die Wirksamkeit des Systems der justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, wovon der Europäische Haftbefehl in seiner Ausgestaltung durch den Unionsgesetzgeber einen wesentlichen Baustein bildet, zu beeinträchtigen (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 63).

59

Da, wie sich aus Rn. 55 des vorliegenden Urteils ergibt, die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung als Grundlagen des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls nicht automatisch auf Urteile von Gerichten in Drittstaaten übertragbar sind, bestünde die Gefahr, dass die Verwirklichung des in Art. 3 Abs. 2 EUV genannten Ziels der Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beeinträchtigt würde, wenn die vollstreckende Justizbehörde unabhängig von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls verpflichtet wäre, die Übergabe der gesuchten Person aus dem in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses genannten Grund abzulehnen.

60

Daraus folgt, dass die konkrete Anwendung des in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Ablehnungsgrundes der Beurteilung durch die vollstreckende Justizbehörde überlassen bleiben muss, die dabei über ein Ermessen verfügen muss, das es ihr erlaubt, eine Einzelfallprüfung unter Einbeziehung aller relevanten Umstände und insbesondere der Umstände, unter denen die gesuchte Person im Drittstaat verurteilt wurde, vorzunehmen, um zu klären, ob es gegen das legitime Interesse aller Mitgliedstaaten an der Verhütung der Kriminalität im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verstoßen würde, wenn die Übergabe dieser Person unterbliebe.

61

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass das vorlegende Gericht offenbar auf eine Auslegung contra legem zurückgreifen müsste, um die OLW so anwenden zu können, dass der vollstreckenden Justizbehörde ein solches Ermessen zustünde.

62

Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss keine unmittelbare Wirkung hat, so dass ein Gericht eines Mitgliedstaats nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet ist, die Anwendung einer gegen ihn verstoßenden Bestimmung seines nationalen Rechts auszuschließen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Zum anderen hat der zwingende Charakter eines Rahmenbeschlusses zwar zur Folge, dass die nationalen Behörden verpflichtet sind, das nationale Recht so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses auszulegen, um das darin festgelegte Ziel zu erreichen, doch kann der Grundsatz der rahmenbeschlusskonformen Auslegung nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 72, 73 und 76 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

64

Der Grundsatz der rahmenbeschlusskonformen Auslegung gebietet es jedoch, dass das gesamte innerstaatliche Recht berücksichtigt wird und die dort anerkannten Auslegungsmethoden angewandt werden, um die volle Wirksamkeit des Rahmenbeschlusses zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem Ziel, das mit ihm verfolgt wird, im Einklang steht (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65

Im vorliegenden Fall hat die niederländische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof darauf hingewiesen, dass derzeit ein Gesetzentwurf ausgearbeitet werde, um Art. 9 OLW mit dem Rahmenbeschluss in Einklang zu bringen.

66

Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht u. a. zu beurteilen, ob das niederländische Recht in Anbetracht dieser potenziellen Gesetzesänderung in einer Weise angewandt werden kann, die zu einem mit dem Rahmenbeschluss vereinbaren Ergebnis führen würde.

67

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der sich dafür entscheidet, diese Bestimmung in sein innerstaatliches Recht umzusetzen, der vollstreckenden Justizbehörde ein Ermessen bei der Entscheidung darüber einräumen muss, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus dem in dieser Bestimmung genannten Grund abzulehnen ist.

Zur zweiten Frage

68

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass der in diesen beiden Bestimmungen verwendete Begriff „dieselbe Handlung“ einheitlich auszulegen ist.

69

Nach ständiger Rechtsprechung verlangen sowohl die einheitliche Anwendung des Unionsrechts als auch der Gleichheitssatz, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen sind, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der Bestimmung, sondern auch ihres Regelungszusammenhangs und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Zwecks zu erfolgen hat (Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70

Speziell zum Begriff „dieselbe Handlung“ in Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses hat der Gerichtshof ausgeführt, dass er in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen ist, da diese Bestimmung in Bezug auf ihn nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2010, Mantello, C‑261/09, EU:C:2010:683, Rn. 38).

71

Ferner hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass Art. 54 SDÜ den entsprechenden Begriff „dieselbe Tat“ enthält und dass beide Begriffe angesichts der gemeinsamen Zielsetzung dieses Artikels und von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses, die darin besteht, zu vermeiden, dass eine Person wegen derselben Tat bzw. Handlung erneut strafrechtlich verfolgt oder verurteilt wird, identisch auszulegen sind, und zwar dahin, dass sie nur auf die tatsächliche Handlung abstellen, unabhängig von ihrer rechtlichen Qualifizierung oder dem geschützten rechtlichen Interesse, und einen Komplex konkreter, untrennbar miteinander verbundener Umstände umfassen (Urteil vom 16. November 2010, Mantello, C‑261/09, EU:C:2010:683, Rn. 39 und 40 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

72

Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses verweist ebenso wie dessen Art. 3 Nr. 2 nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten, so dass nach der in Rn. 69 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung der Sinn und die Bedeutung des in dieser Bestimmung enthaltenen Begriffs „dieselbe Handlung“ ebenfalls in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen sind, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der Bestimmung, sondern auch ihres Regelungszusammenhangs und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Zwecks zu erfolgen hat.

73

Hierzu ist zunächst festzustellen, dass dieser Begriff genau den gleichen Wortlaut hat wie der Begriff in Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses.

74

Sodann ist zum Kontext dieser beiden Begriffe darauf hinzuweisen, dass der Wortlaut von Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses in jeder Hinsicht mit dem seines Art. 3 Nr. 2 vergleichbar ist, abgesehen davon, dass die letztgenannte Bestimmung einen der „Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist“, vorsieht und eine Verurteilung „von einem Mitgliedstaat“ betrifft, während Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses einen der „Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann“, enthält und eine Verurteilung „von einem Drittstaat“ betrifft.

75

Unter diesen Umständen ist es aus Gründen der Kohärenz und der Rechtssicherheit geboten, den einander entsprechenden Begriffen in diesen beiden Bestimmungen und in Art. 54 SDÜ die gleiche Bedeutung beizumessen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Özçelik, C‑453/16 PPU, EU:C:2016:860, Rn. 33).

76

Der Umstand, dass Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses in der Union ergangene Urteile betrifft, Art. 4 Nr. 5 hingegen in einem Drittstaat ergangene Urteile, kann es für sich genommen nicht rechtfertigen, dem genannten Begriff unterschiedliche Bedeutung beizumessen.

77

Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem setzt zwar zwangsläufig voraus, dass Vertrauen in die Strafrechtspflege des Landes besteht, in dem das Urteil ergangen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2006, Van Esbroeck, C‑436/04, EU:C:2006:165, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie sich aus Rn. 55 des vorliegenden Urteils ergibt, kann von dem zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden hohen Maß an Vertrauen bei Drittstaaten und insbesondere bei deren Strafrechtspflege aber nicht ausgegangen werden.

78

Zum einen ist jedoch hervorzuheben, dass der Unionsgesetzgeber gerade wegen dieser Ungewissheit eine rechtskräftige Verurteilung der gesuchten Person in einem Drittstaat als fakultativen und nicht als zwingenden Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eingestuft hat.

79

Dadurch ermöglicht er es den Mitgliedstaaten nämlich, die Fälle zu begrenzen, in denen die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus diesem Grund ablehnen kann, und erleichtert somit im Einklang mit dem in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses aufgestellten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung die Übergabe gesuchter Personen (Urteil vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg, C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 58 und 59).

80

Da die vollstreckende Justizbehörde, wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, im Rahmen der Anwendung des in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrundes über ein Ermessen verfügen muss, ist sie zudem in der Lage, bei der Entscheidung darüber, ob die Übergabe der gesuchten Person abzulehnen ist oder nicht, einem berechtigten Vertrauen in die Strafrechtspflege des betreffenden Drittstaats Rechnung zu tragen.

81

Zum anderen wäre es mit Art. 54 SDÜ schwer vereinbar, wenn Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses und insbesondere dem dort verwendeten Begriff „dieselbe Handlung“ geringere Tragweite beigemessen würde als Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses und Art. 54 SDÜ, da dieses Übereinkommen nicht nur für die Mitgliedstaaten gilt, sondern auch für bestimmte Drittstaaten, die ihm beigetreten sind.

82

Schließlich ist zum Zweck dieser Bestimmung darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses ebenso wie dessen Art. 3 Nr. 2 es der vollstreckenden Justizbehörde ermöglichen soll, die Rechtssicherheit der gesuchten Person zu gewährleisten, indem sie im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens berücksichtigt, dass diese Person in einem anderen Staat wegen derselben Handlung rechtskräftig verurteilt wurde; auch dies spricht für eine kohärente Auslegung des in den genannten Bestimmungen enthaltenen Begriffs „dieselbe Handlung“.

83

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass der in diesen beiden Bestimmungen verwendete Begriff „dieselbe Handlung“ einheitlich auszulegen ist.

Zur dritten Frage

84

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses, der die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Grundes für die Ablehnung der Vollstreckung von der Voraussetzung abhängig macht, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann, dahin auszulegen ist, dass diese Voraussetzung erfüllt ist, wenn die gesuchte Person wegen derselben Handlung rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, die sie im Drittstaat ihrer Verurteilung teilweise verbüßt hat und die ihr im Übrigen von einer Behörde dieses Staates, die keine Justizbehörde ist, im Rahmen einer allgemeinen, auch für Verurteilte, die schwere Straftaten begangen haben, geltenden und nicht auf objektiven Erwägungen strafrechtspolitischer Art beruhenden Begnadigungsmaßnahme erlassen wurde.

85

Nach Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn sich aus den ihr vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, „vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann“ (im Folgenden: Vollstreckungsvoraussetzung).

86

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses allgemein auf das „Recht des Urteilsstaats“ Bezug nimmt, ohne näher zu umschreiben, weshalb die Sanktion nicht vollstreckt werden kann.

87

Daher sind grundsätzlich alle im Recht des Urteilsstaats vorgesehenen Gnadenakte anzuerkennen, die zur Folge haben, dass die verhängte Sanktion nicht mehr vollstreckt werden kann, unabhängig insbesondere von der Schwere der Tat, der Behörde, die den Gnadenakt erlassen hat, sowie den Erwägungen, auf denen er beruht.

88

Daraus folgt, dass ein im Einklang mit dem Recht des Urteilsstaats gewährter Straferlass a priori nicht vom Anwendungsbereich von Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses ausgeschlossen sein kann, auch wenn er von einer Behörde, die keine Justizbehörde ist, im Rahmen einer allgemeinen, auch für Verurteilte, die schwere Straftaten begangen haben, geltenden und nicht auf objektiven Erwägungen strafrechtspolitischer Art beruhenden Begnadigungsmaßnahme erlassen wurde.

89

Diese auf dem Wortlaut von Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses beruhende Auslegung wird durch den Kontext der Bestimmung und den mit ihr verfolgten Zweck sowie, allgemeiner, durch das Ziel des Rahmenbeschlusses gestützt.

90

Erstens ist zum Kontext, in den sich Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses einfügt, zum einen festzustellen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Vollstreckungsvoraussetzung mit der in Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses enthaltenen Voraussetzung quasi identisch ist. Art. 54 SDÜ enthält ebenfalls eine solche, sehr ähnlich formulierte Voraussetzung.

91

Aus den Gründen, die in den Rn. 74 bis 81 des vorliegenden Urteils dargelegt worden sind, ist dieser Voraussetzung folglich die gleiche Bedeutung beizumessen.

92

Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 3 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ablehnt, „wenn die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsstaat unter eine Amnestie fällt und dieser Staat nach seinem eigenen Strafrecht für die Verfolgung der Straftat zuständig war“.

93

Da die Amnestie im Allgemeinen bezweckt, den von ihr erfassten Sachverhalten ihre Strafbarkeit zu nehmen, mit der Folge, dass die Straftat nicht mehr verfolgt werden kann und die Vollstreckung eines bereits ergangenen Urteils beendet wird, impliziert sie grundsätzlich, dass die verhängte Sanktion im Sinne von Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses nicht mehr vollstreckt werden kann.

94

Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass der Unionsgesetzgeber, weil er in Art. 3 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses speziell auf den Fall der Amnestie im Vollstreckungsstaat eingegangen ist, die Amnestie im Urteilsstaat oder andere von einer Behörde dieses Staates, die keine Justizbehörde ist, erlassene Gnadenakte vom Anwendungsbereich von Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses ausschließen wollte.

95

Wie sich nämlich aus dem Wortlaut von Art. 3 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses ergibt, bezieht er sich auf den speziellen Fall, dass die von der gesuchten Person begangene Straftat im Vollstreckungsstaat nicht zur Strafverfolgung führen kann, weil sie dort unter eine Amnestie fällt, während sich die in Art. 4 Nr. 5 und in Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Vollstreckungsvoraussetzung auf die ganz andere Situation bezieht, dass die gesuchte Person in einem Drittstaat oder einem anderen Mitgliedstaat als dem Vollstreckungsstaat verurteilt worden ist.

96

Zweitens geht in Bezug auf das Ziel der in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Vollstreckungsvoraussetzung aus Rn. 57 des vorliegenden Urteils hervor, dass mit ihr verhindert werden soll, dass im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Straftaten ungeahndet bleiben.

97

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass – wie sich aus Art. 67 Abs. 3 AEUV ergibt – das der Union gesteckte Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, zur Folge hat, dass die Union darauf hinwirken muss, durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität, durch Maßnahmen zur Koordinierung und Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und den anderen zuständigen Behörden sowie durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten (Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 62).

98

In diesem Kontext kommt der Vollstreckungsvoraussetzung besondere Bedeutung zu, denn ihr Fehlen verhindert die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem und zwingt mithin zur Übergabe der gesuchten Person, damit sie strafrechtlich verfolgt wird oder die gegen sie verhängte Freiheitsstrafe verbüßt.

99

Der sowohl in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses als auch in dessen Art. 3 Nr. 2 und in Art. 54 SDÜ niedergelegte Grundsatz ne bis in idem zielt jedoch nicht nur darauf ab, im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts die Straflosigkeit der durch ein rechtskräftiges Strafurteil verurteilten Personen zu verhindern, sondern auch darauf, die Rechtssicherheit durch die Beachtung rechtskräftig gewordener Entscheidungen öffentlicher Stellen zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 77).

100

Die Rechtssicherheit rechtskräftig verurteilter Personen kann aber nur dann effektiv gewährleistet werden, wenn sie die Gewissheit haben, dass sie sich, nachdem sie verurteilt wurden und die gegen sie verhängte Strafe nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann, innerhalb der Union frei bewegen können, ohne befürchten zu müssen, wegen derselben Handlung erneut verfolgt zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Dezember 2008, Bourquain, C‑297/07, EU:C:2008:708, Rn. 49 und 50); dies gilt auch dann, wenn ihnen ihre Strafe von einer Behörde, die keine Justizbehörde ist, im Rahmen einer allgemeinen, nicht auf objektiven Erwägungen strafrechtspolitischer Art beruhenden Begnadigungsmaßnahme erlassen wurde.

101

Gleichwohl ist festzustellen, dass der vollstreckenden Justizbehörde, anders als bei dem in Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen zwingenden Ablehnungsgrund, bei dessen Anwendung sie über keinerlei Ermessen verfügt, im Rahmen der Anwendung des in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrundes ein Ermessen zustehen muss, das es ihr ermöglicht, den Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu prüfen (siehe oben, Rn. 60). Dazu gehören u. a. die Tatsache, dass die gesuchte Person in den Genuss einer allgemeinen Begnadigungsmaßnahme gekommen ist, der Umfang dieser Maßnahme sowie die Voraussetzungen, unter denen sie getroffen wurde.

102

Diese Prüfung der relevanten Umstände ist im Licht der in Rn. 99 des vorliegenden Urteils angeführten, mit Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses verfolgten Ziele und, allgemeiner, des in Art. 3 Abs. 2 EUV genannten Ziels der Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vorzunehmen.

103

Insbesondere muss die vollstreckende Justizbehörde bei der Ausübung des ihr zustehenden Ermessens die Verhinderung von Straflosigkeit und die Bekämpfung der Kriminalität gegen die Gewährleistung der Rechtssicherheit des Betroffenen abwägen, um das der Union gesetzte Ziel zu erreichen, sich im Einklang mit Art. 67 Abs. 1 und 3 AEUV zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln.

104

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses, der die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Grundes für die Ablehnung der Vollstreckung von der Voraussetzung abhängig macht, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann, dahin auszulegen ist, dass diese Voraussetzung erfüllt ist, wenn die gesuchte Person wegen derselben Handlung rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, die sie im Drittstaat ihrer Verurteilung teilweise verbüßt hat und die ihr im Übrigen von einer Behörde dieses Staates, die keine Justizbehörde ist, im Rahmen einer allgemeinen, auch für Verurteilte, die schwere Straftaten begangen haben, geltenden und nicht auf objektiven Erwägungen strafrechtspolitischer Art beruhenden Begnadigungsmaßnahme erlassen wurde. Die vollstreckende Justizbehörde muss bei der Ausübung des ihr zustehenden Ermessens die Verhinderung von Straflosigkeit und die Bekämpfung der Kriminalität gegen die Gewährleistung der Rechtssicherheit des Betroffenen abwägen.

Kosten

105

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der sich dafür entscheidet, diese Bestimmung in sein innerstaatliches Recht umzusetzen, der vollstreckenden Justizbehörde ein Ermessen bei der Entscheidung darüber einräumen muss, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus dem in dieser Bestimmung genannten Grund abzulehnen ist.

 

2.

Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass der in diesen beiden Bestimmungen verwendete Begriff „dieselbe Handlung“ einheitlich auszulegen ist.

 

3.

Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung, der die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Grundes für die Ablehnung der Vollstreckung von der Voraussetzung abhängig macht, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann, ist dahin auszulegen, dass diese Voraussetzung erfüllt ist, wenn die gesuchte Person wegen derselben Handlung rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, die sie im Drittstaat ihrer Verurteilung teilweise verbüßt hat und die ihr im Übrigen von einer Behörde dieses Staates, die keine Justizbehörde ist, im Rahmen einer allgemeinen, auch für Verurteilte, die schwere Straftaten begangen haben, geltenden und nicht auf objektiven Erwägungen strafrechtspolitischer Art beruhenden Begnadigungsmaßnahme erlassen wurde. Die vollstreckende Justizbehörde muss bei der Ausübung des ihr zustehenden Ermessens die Verhinderung von Straflosigkeit und die Bekämpfung der Kriminalität gegen die Gewährleistung der Rechtssicherheit des Betroffenen abwägen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.