URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

2. September 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungsverkehr – Anerkennung von Berufsqualifikationen – Richtlinie 2005/36/EG – Art. 5 Abs. 2 – In einem Mitgliedstaat niedergelassener Kfz-Sachverständiger, der sich zur vorübergehenden und gelegentlichen Ausübung seines Berufs in den Aufnahmemitgliedstaat begibt – Weigerung der Berufsorganisation des Aufnahmemitgliedstaats, in dem er vorher niedergelassen war, ihn in das Register der vorübergehend und gelegentlich erbrachten Dienstleistungen einzutragen – Begriff der ‚vorübergehenden und gelegentlichen Dienstleistung‘“

In der Rechtssache C‑502/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons, Belgien) mit Entscheidung vom 22. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Oktober 2020, in dem Verfahren

TP

gegen

Institut des Experts en Automobiles

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten N. Piçarra, des Präsidenten der Vierten Kammer M. Vilaras (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Neunten Kammer, und der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von TP, vertreten durch V. Grévy, avocat,

des Institut des Experts en Automobiles, vertreten durch P. Botteman und R. Molders-Pierre, avocats,

der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Machovičová als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch É. Gippini Fournier und L. Armati als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 49 AEUV sowie der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. 2005, L 255, S. 22) in der durch die Richtlinie 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 (ABl. 2013, L 354, S. 132) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung 2005/36).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen TP und dem Institut des Experts en Automobiles (im Folgenden: IEA) über die Ausübung des Berufs des Kfz-Sachverständigen durch TP in Belgien.

Rechtlicher Rahmen

Recht der Europäischen Union

3

Der elfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/36 bestimmt insbesondere, dass diese Richtlinie nicht auf einen Eingriff in das berechtigte Interesse der Mitgliedstaaten abzielt, zu verhindern, dass einige ihrer Staatsangehörigen sich in missbräuchlicher Weise der Anwendung des nationalen Rechts im Bereich der Berufe entziehen.

4

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

a)

‚reglementierter Beruf‘ ist eine berufliche Tätigkeit oder eine Gruppe beruflicher Tätigkeiten, bei der die Aufnahme oder Ausübung oder eine der Arten der Ausübung direkt oder indirekt durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen gebunden ist; eine Art der Ausübung ist insbesondere die Führung einer Berufsbezeichnung, die durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften auf Personen beschränkt ist, die über eine bestimmte Berufsqualifikation verfügen. Trifft Satz 1 dieser Begriffsbestimmung nicht zu, so wird ein unter Absatz 2 fallender Beruf als reglementierter Beruf behandelt;

b)

‚Berufsqualifikationen‘ sind die Qualifikationen, die durch einen Ausbildungsnachweis, einen Befähigungsnachweis nach Artikel 11 Buchstabe a Ziffer i und/oder Berufserfahrung nachgewiesen werden;

…“

5

Titel II der Richtlinie („Dienstleistungsfreiheit“) umfasst die Art. 5 bis 9. Art. 5 („Grundsatz der Dienstleistungsfreiheit“) lautet:

„(1)   Unbeschadet spezifischer Vorschriften des [Unions]rechts sowie der Artikel 6 und 7 dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten die Dienstleistungsfreiheit nicht aufgrund der Berufsqualifikationen einschränken,

a)

wenn der Dienstleister zur Ausübung desselben Berufs rechtmäßig in einem Mitgliedstaat niedergelassen ist (nachstehend ‚Niederlassungsmitgliedstaat‘ genannt) und

b)

für den Fall, dass sich der Dienstleister in einen anderen Mitgliedstaat begibt, wenn er diesen Beruf in einem oder mehreren Mitgliedstaaten mindestens ein Jahr während der vorhergehenden zehn Jahre ausgeübt hat, sofern der Beruf im Niederlassungsmitgliedstaat nicht reglementiert ist. Die Bedingung, dass der Dienstleister den Beruf ein Jahr ausgeübt haben muss, gilt nicht, wenn der Beruf oder die Ausbildung zu diesem Beruf reglementiert ist.

(2)   Die Bestimmungen dieses Titels gelten nur für den Fall, dass sich der Dienstleister zur vorübergehenden und gelegentlichen Ausübung des Berufs nach Absatz 1 in den Aufnahmemitgliedstaat begibt.

Der vorübergehende und gelegentliche Charakter der Erbringung von Dienstleistungen wird im Einzelfall beurteilt, insbesondere anhand der Dauer, der Häufigkeit, der regelmäßigen Wiederkehr und der Kontinuität der Dienstleistung.

(3)   Begibt sich der Dienstleister in einen anderen Mitgliedstaat, so unterliegt er im Aufnahmemitgliedstaat den berufsständischen, gesetzlichen oder verwaltungsrechtlichen Berufsregeln, die dort in unmittelbarem Zusammenhang mit den Berufsqualifikationen für Personen gelten, die denselben Beruf wie er ausüben, und den dort geltenden Disziplinarbestimmungen; zu diesen Bestimmungen gehören etwa Regelungen für die Definition des Berufs, das Führen von Titeln und schwerwiegende berufliche Fehler in unmittelbarem und speziellem Zusammenhang mit dem Schutz und der Sicherheit der Verbraucher.“

6

Art. 6 („Befreiungen“) Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie sieht vor:

„Gemäß Artikel 5 Absatz 1 befreit der Aufnahmemitgliedstaat den Dienstleister, der in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist, insbesondere von den folgenden Erfordernissen, die er an die in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen Berufsangehörigen stellt:

a)

Zulassung, Eintragung oder Mitgliedschaft bei einer Berufsorganisation. Um die Anwendung der in ihrem Hoheitsgebiet geltenden Disziplinarbestimmungen gemäß Artikel 5 Absatz 3 zu erleichtern, können die Mitgliedstaaten entweder eine automatische vorübergehende Eintragung oder eine Pro-Forma-Mitgliedschaft bei einer solchen Berufsorganisation vorsehen, sofern diese Eintragung oder Mitgliedschaft die Erbringung der Dienstleistungen in keiner Weise verzögert oder erschwert und für den Dienstleister keine zusätzlichen Kosten verursacht. …“

7

Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2005/36 können die Mitgliedstaaten verlangen, dass der Dienstleister in dem Fall, dass er zur Erbringung von Dienstleistungen erstmals von einem Mitgliedstaat in einen anderen wechselt, den zuständigen Behörden im Aufnahmemitgliedstaat vorher schriftlich Meldung erstattet. Diese Meldung ist einmal jährlich zu erneuern, wenn der Dienstleister beabsichtigt, während des betreffenden Jahres vorübergehend oder gelegentlich Dienstleistungen in dem Mitgliedstaat zu erbringen.

Belgisches Recht

Gesetz vom 15. Mai 2007

8

In Belgien sind die Stellung, die Rechte und Pflichten von Kfz-Sachverständigen Gegenstand der Loi du 15 mai 2007 relative à la reconnaissance et à la protection de la profession d’expert en automobiles et créant un Institut des experts en automobiles (Gesetz vom 15. Mai 2007 zur Anerkennung und zum Schutz des Berufs als Kfz-Sachverständiger und zur Schaffung eines Instituts für Kfz-Sachverständige) (Moniteur belge vom 2. Juni 2007, S. 28087) in der durch die Loi du 6 octobre 2011 (Gesetz vom 6. Oktober 2011) (Moniteur belge vom 10. November 2011, S. 67853) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Mai 2007) geregelt.

9

Nach Art. 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b des Gesetzes vom 15. Mai 2007 wird die Eigenschaft als ordentliches Mitglied beim IEA natürlichen Personen zuerkannt, die sich in Belgien als Kfz-Sachverständige niederlassen möchten, einen Antrag stellen und einen von einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgestellten Befähigungs- oder Ausbildungsnachweis vorlegen. Art. 5 Abs. 1 Nr. 6 dieses Gesetzes bestimmt weiter, dass diese Personen in die Liste der Mitglieder des IEA einzutragen sind.

10

Art. 6 des Gesetzes lautet:

„In dem Fall, in dem im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Union … erstmals nach Belgien wechseln, um vorübergehend und gelegentlich den Beruf als Kfz-Sachverständiger auszuüben, erstatten sie gemäß Art. 9 [§ 1] des Gesetzes vom 12. Februar 2008 zur Einführung eines … allgemeinen Rahmens für die Anerkennung von [EU‑]Berufsqualifikationen der zuständigen Kammer des Rates des [IEA] vorher schriftlich Meldung. …“

Gesetz vom 12. Februar 2008

11

Die Richtlinie 2005/36 wurde durch die Loi du 12 février 2008 instaurant un cadre général pour la reconnaissance des qualifications professionnelles UE (Gesetz vom 12. Februar 2008 zur Einführung eines allgemeinen Rahmens für die Anerkennung von EU-Berufsqualifikationen) (Moniteur belge vom 2. April 2008, S. 17886, im Folgenden: Gesetz vom 12. Februar 2008) in belgisches Recht umgesetzt.

12

Titel II („Dienstleistungsfreiheit“) dieses Gesetzes umfasst die Art. 6 bis 11. Art. 6 des Gesetzes lautet:

„Die Bestimmungen dieses Titels gelten nur für den Fall, dass sich der Dienstleistungserbringer zur vorübergehenden und gelegentlichen Ausübung des Berufs nach Artikel 7 [§ 1] nach Belgien begibt.

Der vorübergehende und gelegentliche Charakter der Erbringung von Dienstleistungen wird im Einzelfall beurteilt, insbesondere anhand der Dauer, der Häufigkeit, der regelmäßigen Wiederkehr und der Kontinuität der Dienstleistung.“

13

Art. 9 dieses Gesetzes regelt die vorherige Meldung gemäß Art. 7 der Richtlinie 2005/36.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14

TP war beruflich viele Jahre als Kfz-Sachverständiger in Belgien tätig. Seit dem 28. Januar 2014 wohnt er im Großherzogtum Luxemburg und übt dort denselben Beruf aus.

15

Dem vorlegenden Gericht zufolge ergibt sich aus den von TP vorgelegten Unterlagen, dass er seither zwar einige Aufträge in Belgien ausgeführt hat, seine berufliche Tätigkeit derzeit zum Großteil aber außerhalb des belgischen Hoheitsgebiets ausübt, so dass die in Belgien ausgeübte Berufstätigkeit als „untergeordnet“ eingestuft werden kann.

16

Im September 2015 forderte das IEA TP auf, seine Eintragung in die Liste der ordentlichen Mitglieder des Instituts zu beantragen, um seine Situation in Belgien zu legalisieren.

17

TP weigerte sich, einen solchen Antrag zu stellen, und beantragte, da er nach eigenen Angaben einige Aufträge in Belgien ausführte, seine Eintragung in die Liste der vorübergehend und gelegentlich in Belgien tätigen Kfz-Sachverständigen gemäß Art. 9 des Gesetzes vom 12. Februar 2008.

18

Das IEA vertritt die Ansicht, dass die Ausübung der Tätigkeit als Kfz-Sachverständiger durch TP in Belgien, ohne Mitglied der IEA zu sein, ordnungswidrig und unlauter sei. Es reichte daher beim Tribunal de commerce du Hainaut (Handelsgericht Hainaut, Belgien) gegen TP Klage ein, um ihm das Führen des Titels des Kfz-Sachverständigen sowie die Ausübung dieses Berufs in Belgien untersagen zu lassen.

19

TP beantragte seinerseits im Wege der Widerklage, seine Eintragung in die Liste der vorübergehend und gelegentlich tätigen Kfz-Sachverständigen gemäß Art. 6 des Gesetzes vom 15. Mai 2007 anzuordnen.

20

Mit Urteil vom 29. November 2017 gab das Tribunal de commerce du Hainaut (Handelsgericht Hainaut) dem Antrag des IEA statt und wies die Widerklage von TP ab. Am 15. Februar 2018 legte TP beim vorlegenden Gericht Berufung gegen dieses Urteil ein.

21

Mit Urteil vom 3. Dezember 2019 erklärte das vorlegende Gericht die Berufung von TP für zulässig und entschied auf der Grundlage der von ihm vorgelegten Unterlagen, dass er in Luxemburg über eine Niederlassung im Sinne der Art. 16 bis 19 der Richtlinie 2005/36 verfüge.

22

Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel, ob die von der IEA vertretene Auslegung der Begriffe „vorübergehend und gelegentlich“ in Art. 6 des Gesetzes vom 15. Mai 2007, wonach die frühere dauerhafte und regelmäßige Ausübung einer Tätigkeit in einem Mitgliedstaat der Anerkennung einer vorübergehenden und gelegentlichen Ausübung derselben Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat entgegensteht, nachdem die Niederlassung des Betroffenen in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wurde, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. TP übe eine Tätigkeit aus, der er in Belgien mehr als 25 Jahre lang nachgegangen sei.

23

Außerdem ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die vorübergehende Natur einer Dienstleistung nicht nur nach dem Maßstab der Dauer der Dienstleistungserbringung zu beurteilen sei, sondern auch anhand ihrer Häufigkeit, regelmäßigen Wiederkehr und Kontinuität. Daraus leitet es ab, dass ein gewisses Maß an Wiederkehr der Einstufung einer Tätigkeit als vorübergehend grundsätzlich nicht entgegenstehe. Im Übrigen schließe die vorübergehende Natur einer Dienstleistung nicht aus, dass der Betroffene sich in dem Mitgliedstaat, in dem er seine Dienstleistungen erbringe, einer gewissen Infrastruktur (etwa eines Büros) bediene.

24

Die Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons, Belgien) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Art. 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b und Art. 6 des Gesetzes vom 15. Mai 2007 in Verbindung mit dem Gesetz vom 12. Februar 2008, insbesondere den Art. 6, 8 und 9, könnten dahin ausgelegt werden, dass ein Dienstleistungserbringer, der den Ort seiner Niederlassung in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, sich nach dieser Änderung in seinem Herkunftsland, hier Belgien, nicht in das Register der vorübergehend und gelegentlich erbrachten Dienstleistungen des IEA eintragen lassen kann, um dort eine vorübergehende und gelegentliche Tätigkeit auszuüben. Ist eine solche Auslegung mit der im Unionsrecht anerkannten Niederlassungsfreiheit vereinbar?

2.

Ist eine Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b und Art. 6 des Gesetzes vom 15. Mai 2007 in Verbindung mit dem Gesetz vom 12. Februar 2008, insbesondere den Art. 6, 8 und 9, wonach es nicht unter den Begriff der vorübergehenden und gelegentlichen Tätigkeit fällt, wenn ein Dienstleistungserbringer mit Niederlassung in einem Herkunftsmitgliedstaat seine Dienstleistungen in einem Empfangsmitgliedstaat erbringt und dies einen gewissen wiederkehrenden Charakter hat, ohne allerdings regelmäßig stattzufinden, oder wenn der Dienstleistungserbringer dort eine gewisse Infrastruktur unterhält, mit den Bestimmungen der Richtlinie vereinbar?

Zu den Vorlagefragen

25

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, auch wenn er sich nach dem Wortlaut der vom vorlegenden Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zur Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht äußern soll, durch nichts daran gehindert ist, diesem Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, indem er ihm Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts liefert, anhand deren das Gericht selbst über die Auslegung des innerstaatlichen Rechts und über seine Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht entscheiden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 2020, CTT – Correios de Portugal, C‑661/18, EU:C:2020:335, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

In Bezug auf den Ausgangsrechtsstreit geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass TP rechtmäßig in Luxemburg niedergelassen ist und dort den Beruf des Kfz-Sachverständigen ausübt. Im Übrigen bezieht sich das vorlegende Gericht auf „Aufträge“, die TP in mehreren Mitgliedstaaten, u. a. im Königreich Belgien, ausführte, wozu er sich physisch in diesen Mitgliedstaat begeben musste, um dort seinen Beruf auszuüben.

27

Daraus folgt zum einen, dass eine solche Dienstleistung unter Art. 5 der Richtlinie 2005/36 fällt, dessen Abs. 1 Buchst. a den Grundsatz verankert, dass die Mitgliedstaaten die Dienstleistungsfreiheit nicht aufgrund der Berufsqualifikationen einschränken können, wenn der Dienstleister zur Ausübung desselben Berufs rechtmäßig in einem Mitgliedstaat niedergelassen ist. In Abs. 2 dieses Artikels wird klargestellt, dass die Bestimmungen des Titels II der Richtlinie 2005/36 nur für den Fall gelten, dass sich der Dienstleister im Sinne dieser Bestimmung zur vorübergehenden und gelegentlichen Ausübung seines Berufs in den Aufnahmemitgliedstaat begibt.

28

Da der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens unter Titel II der Richtlinie 2005/36 fällt, der Art. 5 der Richtlinie umfasst, ist zum anderen Art. 16 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36) entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung in ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen nicht anwendbar. Nach Art. 17 Nr. 6 der Richtlinie 2006/123 findet deren Art. 16 nämlich auf die Angelegenheiten, die unter Titel II der Richtlinie 2005/36 fallen, sowie auf Anforderungen im Mitgliedstaat der Dienstleistungserbringung, die eine Tätigkeit den Angehörigen eines bestimmten Berufs vorbehalten, keine Anwendung (Urteil vom 17. Dezember 2015, X-Steuerberatungsgesellschaft, C‑342/14, EU:C:2015:827, Rn. 36).

29

Somit ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen, die gemeinsam zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung des Aufnahmemitgliedstaats im Sinne dieser Bestimmung entgegensteht, die in der Auslegung durch seine zuständigen Behörden einem Wirtschaftsteilnehmer, der in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist, keine vorübergehende und gelegentliche Ausübung seines Berufs im Aufnahmemitgliedstaat erlaubt, weil er in der Vergangenheit in diesem Mitgliedstaat niedergelassen war, weil seine Dienstleistungen einen wiederkehrenden Charakter haben oder weil er sich im Aufnahmemitgliedstaat einer gewissen Infrastruktur, z. B. eines Büros, bedient.

30

Zur Beantwortung dieser Fragen ist es erforderlich, Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 und insbesondere den in dieser Bestimmung verwendeten Begriff der „vorübergehenden und gelegentlichen“ Ausübung eines Berufs im Aufnahmemitgliedstaat im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum freien Dienstleistungsverkehr gemäß Art. 56 AEUV auszulegen.

31

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass der jeweilige Geltungsbereich des freien Dienstleistungsverkehrs und der Niederlassungsfreiheit abgegrenzt werden müssen. Dazu ist zu bestimmen, ob der Wirtschaftsteilnehmer in dem Mitgliedstaat, in dem er die in Rede stehende Dienstleistung anbietet, niedergelassen ist oder nicht. Ist er in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Dienstleistung anbietet, niedergelassen, so fällt er in den Geltungsbereich der Niederlassungsfreiheit, wie er in Art. 49 AEUV definiert ist. Ist der Wirtschaftsteilnehmer dagegen nicht im Empfängermitgliedstaat niedergelassen, so ist er ein grenzüberschreitender Dienstleister, der unter den Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs fällt (Urteil vom 22. November 2018, Vorarlberger Landes- und Hypothekenbank, C‑625/17, EU:C:2018:939, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Der Begriff der „Niederlassung“ im Sinne der Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit impliziert die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung im Aufnahmemitgliedstaat auf unbestimmte Zeit. Daher setzt er eine tatsächliche Ansiedlung des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers und die Ausübung einer wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat voraus (Urteil vom 22. November 2018, Vorarlberger Landes- und Hypothekenbank, C‑625/17, EU:C:2018:939, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass eine Person im Sinne der Bestimmungen des AEU-Vertrags zur Niederlassungsfreiheit in mehr als einem Mitgliedstaat niedergelassen sein kann, u. a. durch die Einrichtung eines zweiten Berufsdomizils (Urteil vom 30. November 1995, Gebhard, C‑55/94, EU:C:1995:411, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Dagegen sehen die Vorschriften des Kapitels des AEU-Vertrags über Dienstleistungen, insbesondere Art. 57 Abs. 3 AEUV, für den Fall, dass sich der Erbringer einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat als den seiner Niederlassung begibt, vor, dass er seine Tätigkeit dort vorübergehend ausübt (Urteil vom 22. November 2018, Vorarlberger Landes- und Hypothekenbank, C‑625/17, EU:C:2018:939, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann der Begriff „Dienstleistung“ im Sinne des AEU-Vertrags Dienstleistungen ganz unterschiedlicher Art umfassen, einschließlich solcher, die ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Wirtschaftsteilnehmer mehr oder weniger häufig oder regelmäßig, auch über einen längeren Zeitraum, für Personen erbringt, die in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind. Der AEU-Vertrag enthält keine Vorschrift, die eine abstrakte Bestimmung der Dauer oder Häufigkeit ermöglicht, ab der die Erbringung einer Dienstleistung oder einer bestimmten Art von Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat nicht mehr als eine Dienstleistung im Sinne des AEU-Vertrags angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Dezember 2003, Schnitzer, C‑215/01, EU:C:2003:662, Rn. 30 und 31, sowie vom 10. Mai 2012, Duomo Gpa u. a., C‑357/10 bis C‑359/10, EU:C:2012:283, Rn. 32).

36

Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass der vorübergehende Charakter der Dienstleistung nicht die Möglichkeit für den Dienstleistungserbringer ausschließt, sich im Aufnahmemitgliedstaat mit einer bestimmten Infrastruktur (einschließlich eines Büros, einer Praxis oder einer Kanzlei) auszustatten, soweit diese Infrastruktur für die Erbringung der fraglichen Leistung erforderlich ist (Urteil vom 30. November 1995, Gebhard, C‑55/94, EU:C:1995:411, Rn. 27).

37

Die Vorlagefragen sind im Licht dieser Erwägungen zu beantworten.

38

Erstens sind in einer Situation, in der sich ein in einem Mitgliedstaat niedergelassener Wirtschaftsteilnehmer in den Aufnahmemitgliedstaat begibt, in dem er in der Vergangenheit über eine Niederlassung verfügte, um seinen Beruf dort nunmehr nur noch vorübergehend und gelegentlich auszuüben, die zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats, wie der elfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/36 bestätigt, berechtigt, die Richtigkeit der Angaben dieses Wirtschaftsteilnehmers zu überprüfen, um sicherzustellen, dass er nicht versucht, sich in missbräuchlicher Weise der Anwendung des nationalen Rechts im Bereich der Berufe zu entziehen.

39

Außerdem geht im Hinblick auf eine solche Situation weder aus den Art. 56 und 57 AEUV noch aus Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36, noch aus der oben in den Rn. 31 bis 36 angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass der bloße Umstand, dass ein Wirtschaftsteilnehmer in der Vergangenheit über eine Niederlassung im Aufnahmemitgliedstaat verfügte, ihn daran hindern könnte, in Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs seinen Beruf in diesem Mitgliedstaat auszuüben, indem er sich aus dem Mitgliedstaat, in dem er aktuell niedergelassen ist, dorthin begibt.

40

Zweitens ergibt sich aus der oben in Rn. 35 angeführten Rechtsprechung, dass der Umstand, dass die Leistungen, die ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassener Wirtschaftsteilnehmer im Aufnahmemitgliedstaat erbringt, ein gewisses Maß an Wiederkehr aufweisen, deren Einstufung als „vorübergehende und gelegentliche“ Leistungen im Aufnahmemitgliedstaat im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 nicht entgegensteht.

41

Drittens steht nach der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung auch der Umstand, dass sich ein Wirtschaftsteilnehmer in dieser Situation im Aufnahmemitgliedstaat mit einer gewissen Infrastruktur wie einem Büro ausstattet, einer derartigen Einstufung der Leistungen, die er im Aufnahmemitgliedstaat erbringt, nicht entgegen.

42

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2005/36 die in Art. 5 der Richtlinie genannten, in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleister von den Erfordernissen befreit sind, die an die im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats niedergelassenen Berufsangehörigen gestellt werden, insbesondere von der Zulassung, der Eintragung oder der Mitgliedschaft bei einer Berufsorganisation. Dieser Mitgliedstaat kann nur eine automatische vorübergehende Eintragung oder eine Pro-forma-Mitgliedschaft bei einer solchen Berufsorganisation vorsehen, um die Anwendung der geltenden Disziplinarbestimmungen gemäß Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie zu erleichtern, sofern dadurch insbesondere die Erbringung der Dienstleistungen in keiner Weise verzögert oder erschwert wird.

43

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung des Aufnahmemitgliedstaats im Sinne dieser Bestimmung entgegensteht, die in der Auslegung durch seine zuständigen Behörden einem Wirtschaftsteilnehmer, der in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist, keine vorübergehende und gelegentliche Ausübung seines Berufs im Aufnahmemitgliedstaat erlaubt, weil er in der Vergangenheit in diesem Mitgliedstaat niedergelassen war, weil seine Dienstleistungen einen wiederkehrenden Charakter haben oder weil er sich im Aufnahmemitgliedstaat einer gewissen Infrastruktur, z. B. eines Büros, bedient.

Kosten

44

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in der durch die Richtlinie 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung des Aufnahmemitgliedstaats im Sinne dieser Bestimmung entgegensteht, die in der Auslegung durch seine zuständigen Behörden einem Wirtschaftsteilnehmer, der in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist, keine vorübergehende und gelegentliche Ausübung seines Berufs im Aufnahmemitgliedstaat erlaubt, weil er in der Vergangenheit in diesem Mitgliedstaat niedergelassen war, weil seine Dienstleistungen einen wiederkehrenden Charakter haben oder weil er sich im Aufnahmemitgliedstaat einer gewissen Infrastruktur, z. B. eines Büros, bedient.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.