URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

22. Juni 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Entscheidung eines Mitgliedstaats, mit der einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil eines minderjährigen Kindes ist, das die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, der Aufenthalt verweigert wird – Kind, das sich außerhalb des Gebiets der Europäischen Union befindet und sich nie in diesem Gebiet aufgehalten hat“

In der Rechtssache C‑459/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Utrecht (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht, Niederlande) mit Entscheidung vom 10. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 15. September 2020, in dem Verfahren

X

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin (Berichterstatter) sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Februar 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von X, vertreten durch M. van Werven und J. Werner, Advocaten,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

der dänischen Regierung, vertreten durch M. Jespersen, J. Nymann-Lindegren und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Ladenburger, E. Montaguti und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Juni 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X, einer thailändischen Staatsangehörigen, und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) über dessen Ablehnung des Antrags von X auf Aufenthaltserlaubnis.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

3

X hielt sich rechtmäßig in den Niederlanden auf, wo sie mit A, einem niederländischen Staatsangehörigen, verheiratet war. Aus dieser Ehe ging ein Kind hervor, das die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt.

4

Dieses Kind, das zum Zeitpunkt der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens zehn Jahre alt war, wurde in Thailand geboren, wo es von seiner Großmutter mütterlicherseits aufgezogen wurde, weil X nach der Geburt des Kindes in die Niederlande zurückgekehrt war. Das Kind hat stets in diesem Drittland gewohnt und sich nie in die Niederlande oder einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union begeben.

5

Mit Bescheid vom 22. Mai 2017 widerriefen die niederländischen Behörden das Aufenthaltsrecht von X rückwirkend zum 1. Juni 2016, dem Zeitpunkt der faktischen Trennung von A und X.

6

Am 17. Mai 2018 wurden A und X geschieden.

7

Am 6. Mai 2019 teilte der Staatssekretär X mit, dass sie am 8. Mai 2019 nach Bangkok (Thailand) abgeschoben werde.

8

Am 7. Mai 2019 stellte X einen Antrag, sich bei B, einem Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, aufhalten zu können. Im Rahmen der Bearbeitung dieses Antrags prüften die niederländischen Behörden von Amts wegen, ob die Klägerin des Ausgangsverfahrens ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV erlangen könnte, um sich mit ihrem Kind im Unionsgebiet aufhalten zu können.

9

Mit Bescheid vom 8. Mai 2019 lehnte der Staatssekretär diesen Antrag u. a. mit der Begründung ab, dass X sich nicht auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV berufen könne, wie es vom Gerichtshof im Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354), anerkannt worden sei.

10

Am 8. Mai 2019 wurde X nach Bangkok abgeschoben.

11

Mit Bescheid vom 2. Juli 2019 wies der Staatssekretär eine von X gegen den Bescheid vom 8. Mai 2019 eingelegte Beschwerde zurück. X erhob daraufhin beim vorlegenden Gericht eine Klage, mit der sie geltend macht, dass ihrem Kind, obwohl es niederländischer Staatsangehöriger sei, mit dem ihr das Aufenthaltsrecht versagenden Bescheid die Möglichkeit genommen werde, sich in der Union aufzuhalten, und dass dieser Bescheid folglich die praktische Wirksamkeit der Rechte, die ihm aufgrund seines Status als Unionsbürger zustünden, in Frage stelle.

12

Insoweit weist X darauf hin, dass ihr Kind, für das sie stets die rechtliche und finanzielle Verantwortung getragen habe und zu dem sie stets eine emotionale Beziehung unterhalten habe, vollständig von ihr abhängig sei. Seit ihrer Rückkehr nach Thailand kümmere sie sich täglich um es. Die Großmutter mütterlicherseits des Kindes sei aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht mehr in der Lage, das Kind zu betreuen. X fügt hinzu, dass ihr durch ein Urteil des Gerichts in Surin (Thailand) vom 5. Februar 2020 das alleinige Sorgerecht für das Kind zugesprochen worden sei.

13

Da dieses Kind weder Englisch noch Niederländisch spreche, könne es nicht mit seinem Vater kommunizieren, zu dem es seit 2017 keinen Kontakt mehr gehabt habe. X trägt vor, A habe keine emotionale Beziehung zu dem Kind und habe für dieses keinerlei Verantwortung übernommen.

14

Der Staatssekretär macht geltend, der an X gerichtete das Aufenthaltsrecht versagende Bescheid bedeute nicht, dass ihr Kind das Unionsgebiet verlassen müsse, da es sich seit seiner Geburt in Thailand aufhalte. Außerdem könne nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass X das alleinige Sorgerecht für das Kind habe, da das Urteil des thailändischen Gerichts, auf das sie sich insoweit berufe, nicht anerkannt worden sei. Im Übrigen habe X nicht nachgewiesen, dass sie das Kind seit ihrer Rückkehr nach Thailand tatsächlich betreue. Es gebe keinen objektiven Beweis für das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen ihr und dem Kind in dem Sinne, dass das Kind gezwungen wäre, sich außerhalb des Unionsgebiets aufzuhalten, wenn X ein Aufenthaltsrecht verweigert würde. Es sei wahrscheinlich, dass der Umstand, dass das Kind fast während seines gesamten Lebens von seiner Mutter getrennt gewesen sei, Einfluss auf seine Bindung zu seiner Mutter und damit auf seine Abhängigkeit von dieser gehabt habe. Außerdem sei die Rolle von A im Leben des Kindes unklar, und die Tatsache, dass X behaupte, dass A sich nicht um das Kind kümmere, sei ein subjektives Element. Der Staatssekretär fügt hinzu, dass X nicht nachgewiesen habe, dass ihr Kind in die Niederlande ziehen wolle oder dass es im Interesse dieses Kindes sei, dass seine Mutter über einen Aufenthaltstitel in diesem Mitgliedstaat verfüge.

15

Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die vom Gerichtshof in den Urteilen vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), vom 15. November 2011, Dereci u. a. (C‑256/11, EU:C:2011:734), vom 6. Dezember 2012, O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776), sowie vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354), aufgestellten Grundsätze auf einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar sind, in dem sich das minderjährige Kind, das Unionsbürger ist, außerhalb des Unionsgebiets aufhält bzw. sich noch nie in diesem Gebiet aufgehalten hat.

16

Das vorlegende Gericht führt aus, dass eine Verneinung durch den Gerichtshof nach niederländischem Recht bedeuten würde, dass einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers sei, niemals ein aus Art. 20 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht gewährt werden könnte und dass er nur dann rechtmäßig in die Niederlande einreisen könnte, wenn er einen auf das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Sinne von Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gestützten Antrag auf Aufenthalt stellte. Nach niederländischem Recht setze ein solcher Antrag grundsätzlich voraus, dass der Antragsteller über eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis als Angehöriger der Familie im weiteren Sinne verfüge. Zu diesem Zweck müsste jedoch u. a. der Familienangehörige, bei dem der Aufenthalt vorgesehen ist – d. h. der „Zusammenführende“ – selbst über 21 Jahre alt sein. Ein minderjähriges Kind könne diese Voraussetzung aber definitionsgemäß nicht erfüllen, was bedeute, dass ein solcher Antrag auf Aufenthalt von Anfang an keine Aussicht auf Erfolg hätte.

17

Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, nach welchen Kriterien zu beurteilen ist, ob der Unionsbürger zu einem Drittstaatsangehörigen in einem Abhängigkeitsverhältnis steht, und wie die Frage der tatsächlichen Sorge für das Kind im Kontext des Ausgangsrechtsstreits zu handhaben ist.

18

Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Utrecht (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht, Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen mit einem unterhaltsberechtigten minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist und sich in einem tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnis zu diesem Drittstaatsangehörigen befindet, das Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat verweigert, dessen Staatsangehörigkeit der minderjährige Unionsbürger besitzt, während sich der minderjährige Unionsbürger sowohl außerhalb dieses Mitgliedstaats als auch außerhalb der Union befindet und/oder sich noch nie im Gebiet der Union aufgehalten hat, so dass dem minderjährigen Unionsbürger der Zugang zum Gebiet der Union faktisch verweigert wird?

2.

a)

Müssen (minderjährige) Unionsbürger ein Interesse an der Ausübung der ihnen aufgrund ihrer Unionsbürgerschaft zustehenden Rechte behaupten oder glaubhaft machen?

b)

Kann es in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, dass minderjährige Unionsbürger ihre Rechte normalerweise nicht selbständig geltend machen können und nicht selbst über ihren Aufenthaltsort entscheiden dürfen, sondern dabei von ihren Eltern(teilen) abhängig sind, was zur Folge haben kann, dass im Namen eines minderjährigen Unionsbürgers die Ausübung seiner Rechte als Unionsbürger in Anspruch genommen wird, obwohl dies seinen sonstigen Interessen, wie sie u. a. im Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354), genannt werden, zuwiderlaufen könnte?

c)

Handelt es sich dabei um absolute Rechte in dem Sinne, dass hierfür keine Hindernisse geschaffen werden dürfen oder dass für den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der (minderjährige) Unionsbürger besitzt, sogar eine positive Verpflichtung dahin besteht, die Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen?

3.

a)

Ist bei der Beurteilung, ob ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von Frage 1 vorliegt, von entscheidender Bedeutung, ob der drittstaatsangehörige Elternteil vor der Antragstellung oder vor dem Erlass des ihm ein Aufenthaltsrecht verweigernden Bescheids oder vor dem Zeitpunkt, zu dem ein (nationales) Gericht in einem diese Verweigerung betreffenden rechtlichen Verfahren entscheidet, sich im Alltag um den minderjährigen Unionsbürger gekümmert hat und ob bisher andere diese Aufgabe übernommen haben und/oder (weiterhin) übernehmen können?

b)

Kann in diesem Zusammenhang vom minderjährigen Unionsbürger verlangt werden, dass er sich, um seine sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche tatsächlich ausüben zu können, im Gebiet der Union bei seinem anderen Elternteil niederlässt, der Unionsbürger, aber möglicherweise nicht mehr sorgeberechtigt für den Minderjährigen ist?

c)

Sollte dies der Fall sein: Macht es dabei einen Unterschied, ob dieser Elternteil das Sorgerecht und/oder die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für den Minderjährigen ausübt bzw. ausgeübt hat und ob er bereit ist, diese Sorge zu übernehmen und/oder sich um den Minderjährigen zu kümmern?

d)

Falls sich herausstellen sollte, dass der drittstaatsangehörige Elternteil das alleinige Sorgerecht für den minderjährigen Unionsbürger hat, bedeutet dies dann, dass der Frage nach der rechtlichen, finanziellen und/oder affektiven Sorge weniger Gewicht beizumessen ist?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

19

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass ein minderjähriges Kind, das als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats Unionsbürger ist, seit seiner Geburt außerhalb des Hoheitsgebiets dieses Mitgliedstaats lebt und sich nie im Unionsgebiet aufgehalten hat, es ausschließt, dass ein drittstaatsangehöriger Elternteil, von dem dieses Kind abhängig ist, ein auf diesen Artikel gestütztes abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann.

20

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 AEUV nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers verleiht, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano,C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 41, und vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21

Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Unionsbürger ein elementares, persönliches Recht, sich vorbehaltlich der im AEU‑Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real [Ehegatte eines Unionsbürgers], C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22

Der Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen einschließlich Entscheidungen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird (vgl. u. a. Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 42, vom 6. Dezember 2012, O u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 45, und vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 61).

23

Die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft verleihen Drittstaatsangehörigen hingegen keine eigenständigen Rechte. Die etwaigen Rechte, die die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft den Drittstaatsangehörigen verleihen, sind nämlich nicht deren eigene Rechte, sondern aus den Rechten des Unionsbürgers abgeleitete. Ihr Zweck und ihre Rechtfertigung beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger insbesondere in seiner Freizügigkeit im Unionsgebiet beeinträchtigen könnte (Urteil vom 7. September 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Natur des Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV], C‑624/20, EU:C:2022:639, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24

Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende abgeleitete Unionsrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (Urteil vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Kennzeichnend für die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Fälle ist, dass sie, auch wenn sie durch Rechtsvorschriften geregelt sind, die a priori in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, und zwar durch die Rechtsvorschriften über das Einreise- und Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen außerhalb des Anwendungsbereichs des abgeleiteten Unionsrechts, die unter bestimmten Voraussetzungen die Verleihung eines Einreise- und Aufenthaltsrechts vorsehen, dennoch in einem inneren Zusammenhang mit der Freizügigkeit und dem Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers stehen, die beeinträchtigt würden, wenn den Drittstaatsangehörigen das Recht verweigert würde, in den Mitgliedstaat, in dem der Unionsbürger wohnt, einzureisen und sich dort aufzuhalten, und die daher der Versagung dieses Rechts entgegenstehen (Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft jedoch nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (Urteile vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 7. September 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Natur des Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV], C‑624/20, EU:C:2022:639, Rn. 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein Verbot der Einreise in das Unionsgebiet, das gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, erlassen wird, ebenso wie die Verweigerung oder der Verlust eines Rechts zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dazu führen, dass dem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, verwehrt wird, wenn dieses Einreiseverbot den Unionsbürger aufgrund des zwischen diesen Personen bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses de facto zwingt, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um seinen Familienangehörigen – den Drittstaatsangehörigen, gegen den das Einreiseverbot erlassen wurde – zu begleiten (Urteil vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28

Vor diesem Hintergrund kann in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden der Umstand, dass einem drittstaatsangehörigen Elternteil eines Kindes, das Unionsbürger ist, das Aufenthaltsrecht verweigert wird, anders als in den Fällen, um die es in den Rechtssachen betreffend Art. 20 AEUV ging, über die der Gerichtshof bereits entschieden hat, nicht dazu führen, dass dieses Kind gezwungen wäre, seinen drittstaatsangehörigen Elternteil zu begleiten und das Unionsgebiet zu verlassen, da es seit seiner Geburt in einem Drittstaat lebt und sich nie in der Union aufgehalten hat.

29

Allerdings ist zum einen darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in der oben in Rn. 22 angeführten Rechtsprechung zwar festgestellt hat, dass sich das betreffende Kind stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten hatte, dessen Staatsangehörigkeit es besaß, jedoch sollte mit dieser Klarstellung nur hervorgehoben werden, dass die Inanspruchnahme des abgeleiteten Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV nicht davon abhängt, dass das Kind sein Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb der Union ausübt, sondern von seiner Unionsbürgerschaft, einem Status, den es unabhängig von der Ausübung dieses Rechts allein aufgrund des Besitzes der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats genießt.

30

Zum anderen kann in dem Fall, dass zwischen einem Kind, das Unionsbürger ist, und seinem drittstaatsangehörigen Elternteil ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, der Umstand, dass diesem Elternteil in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitzt, der Aufenthalt verweigert wird, das Kind daran hindern, sich im Unionsgebiet aufzuhalten oder sich dort frei zu bewegen, da es gezwungen wäre, sich bei diesem Elternteil in einem Drittstaat aufzuhalten.

31

Insoweit entsprechen die Folgen, die sich für das Kind, das Unionsbürger ist, daraus ergeben, dass es praktisch daran gehindert wird, in die Union einzureisen und sich dort aufzuhalten, jenen, die sich aus der Pflicht, das Unionsgebiet zu verlassen, ergeben.

32

Wie oben aus Rn. 23 hervorgeht, verleihen die Bestimmungen des AEU‑Vertrags über die Unionsbürgerschaft Drittstaatsangehörigen nur Rechte, die aus den Rechten des Unionsbürgers abgeleitet sind.

33

Das einem Drittstaatsangehörigen nach Art. 20 AEUV in seiner Eigenschaft als Familienangehöriger eines Unionsbürgers zuerkannte Aufenthaltsrecht ist somit gerechtfertigt, weil der Aufenthalt erforderlich ist, damit dieser Unionsbürger den Kernbestand der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, wirksam in Anspruch nehmen kann, solange das Abhängigkeitsverhältnis zu diesem Drittstaatsangehörigen fortbesteht (Urteil vom 7. September 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Natur des Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV], C‑624/20, EU:C:2022:639, Rn. 41).

34

Der Umstand, dass einem drittstaatsangehörigen Elternteil eines Kindes, das Unionsbürger ist, das Aufenthaltsrecht verweigert wird, kann sich aber nur dann auf die Ausübung dieser Rechte durch das Kind auswirken, wenn es mit diesem Elternteil in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einreisen oder ihm nachreisen sollte und es anschließend dortbleiben sollte.

35

Umgekehrt wirkt sich in dem Fall, dass sich der drittstaatsangehörige Elternteil eines Kindes, das Unionsbürger ist, allein im Unionsgebiet aufhält, während dieses Kind in einem Drittstaat bleibt, eine Entscheidung, mit der diesem Elternteil das Recht auf Aufenthalt im Unionsgebiet verweigert wird, in keiner Weise auf die Ausübung der Rechte durch das Kind aus.

36

Daher kann ein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV dem drittstaatsangehörigen Elternteil eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist, nicht gewährt werden, wenn weder der Antrag dieses Elternteils auf Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts noch der allgemeine Kontext der Rechtssache den Schluss zulassen, dass dieses Kind, das sich nie in dem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, seine Rechte als Unionsbürger dadurch ausüben wird, dass es mit diesem Elternteil in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einreisen und sich dort aufhalten wird.

37

Es ist Sache des insoweit allein zuständigen vorlegenden Gerichts, die erforderlichen Sachverhaltsüberprüfungen vorzunehmen, um für das Ausgangsverfahren nicht nur beurteilen zu können, ob ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der oben in Rn. 26 angeführten Rechtsprechung besteht, sondern auch, ob feststeht, dass das betreffende Kind mit seinem drittstaatsangehörigen Elternteil in die Niederlande einreisen und sich dort aufhalten wird.

38

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass ein minderjähriges Kind, das als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats Unionsbürger ist, seit seiner Geburt außerhalb des Hoheitsgebiets dieses Mitgliedstaats lebt und sich nie im Unionsgebiet aufgehalten hat, es nicht ausschließt, dass ein drittstaatsangehöriger Elternteil, von dem dieses Kind abhängig ist, ein auf diesen Artikel gestütztes abgeleitetes Aufenthaltsrecht hat, sofern feststeht, dass das Kind mit diesem Elternteil in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, einreisen und sich dort aufhalten wird.

Zur zweiten Frage

39

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat einen Antrag auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht, den ein Drittstaatsangehöriger, dessen minderjähriges Kind, das als Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats Unionsbürger ist, von ihm abhängig ist und seit seiner Geburt im Drittstaat lebt, ohne sich jemals im Unionsgebiet aufgehalten zu haben, gestellt hat, mit der Begründung ablehnen kann, dass der Umzug in diesen Mitgliedstaat, der mit der Ausübung der Rechte des Kindes als Unionsbürger einhergeht, nicht im tatsächlichen oder glaubhaft erscheinenden Interesse des Kindes liege.

40

Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass aus der oben in den Rn. 20 und 22 angeführten Rechtsprechung hervorgeht, dass sich das jedem Unionsbürger verliehene Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, unmittelbar aus dem Unionsbürgerstatus ergibt, ohne dass seine Ausübung an den Nachweis irgendeines Interesses an seiner Geltendmachung geknüpft wäre.

41

Der Gerichtshof hat übrigens insoweit entschieden, dass ein Mitgliedstaat nach völkerrechtlichen Grundsätzen, die das Unionsrecht nicht verletzen darf, seinen eigenen Staatsangehörigen das Recht, in sein Hoheitsgebiet einzureisen und dort zu bleiben, nicht verwehren kann und diese Staatsangehörigen dort folglich über ein nicht an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Zum anderen hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass sich ein minderjähriges Kind auf das unionsrechtlich gewährleistete Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt berufen kann. Die Fähigkeit des Angehörigen eines Mitgliedstaats, Inhaber der durch den AEU‑Vertrag und das abgeleitete Recht auf dem Gebiet der Freizügigkeit gewährleisteten Rechte zu sein, kann nicht von der Bedingung abhängen, dass der Betreffende das Alter erreicht hat, ab dem er rechtlich in der Lage ist, diese Rechte selbst auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 20).

43

Außerdem hat der Gerichtshof zwar entschieden, dass es den für die Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Art. 20 AEUV zuständigen Behörden obliegt, das Wohl des betroffenen Kindes zu berücksichtigen, jedoch wurde eine solche Berücksichtigung nur bei der Beurteilung des Vorliegens eines Abhängigkeitsverhältnisses im Sinne der oben in Rn. 26 angeführten Rechtsprechung oder der Folgen einer auf Erwägungen der öffentlichen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung gestützten Ausnahme von dem in diesem Artikel vorgesehenen abgeleiteten Aufenthaltsrecht in Betracht gezogen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 71, sowie vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 53). Der Gerichtshof hat daher festgestellt, dass das Wohl des Kindes nicht geltend gemacht werden kann, um einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels abzulehnen, sondern vielmehr, um den Erlass einer Entscheidung zu verhindern, die das Kind zwingen würde, das Unionsgebiet zu verlassen.

44

Daher können die zuständigen Behörden in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht feststellen, ob der Umzug des Kindes in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, im Interesse des Kindes liegt, denn dann würden sie sich mangels Maßnahmen zur Regelung der Ausübung der elterlichen Verantwortung in unzulässiger Weise an die Stelle der Träger der elterlichen Verantwortung für das betreffende Kind setzen und die oben in Rn. 42 erwähnte Fähigkeit des Kindes zur Ausübung der Rechte missachten, die das Kind aufgrund des ihm durch Art. 20 AEUV verliehenen Status hat.

45

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat einen Antrag auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht, den ein Drittstaatsangehöriger, dessen minderjähriges Kind, das als Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats Unionsbürger ist, von ihm abhängig ist und seit seiner Geburt im Drittstaat lebt, ohne sich jemals im Unionsgebiet aufgehalten zu haben, gestellt hat, nicht mit der Begründung ablehnen kann, dass der Umzug in diesen Mitgliedstaat, der mit der Ausübung der Rechte des Kindes als Unionsbürger einhergeht, nicht im tatsächlichen oder glaubhaft erscheinenden Interesse des Kindes liege.

Zur dritten Frage

46

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass für die Beurteilung, ob ein minderjähriges Kind, das Unionsbürger ist, von seinem drittstaatsangehörigen Elternteil abhängig ist, der Umstand, dass dieser Elternteil – selbst wenn er das alleinige Sorgerecht haben sollte – nicht immer die tägliche Sorge für das Kind wahrgenommen hat, und der Umstand, dass sich das Kind gegebenenfalls bei seinem anderen Elternteil, der Unionsbürger ist, im Unionsgebiet niederlassen könnte, entscheidend sind.

47

Wie sich oben aus den Rn. 26 bis 28, 30, 31 und 33 ergibt, wird einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV nur in ganz besonderen Fällen eingeräumt, in denen zwischen ihm und dem Unionsbürger ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger, wenn dem Drittstaatsangehörigen kein Recht auf Aufenthalt im Unionsgebiet zuerkannt würde, gezwungen wäre, diesen zu begleiten und das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, bzw. nicht in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, einreisen und sich dort aufhalten könnte.

48

Der Antrag auf Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts ist daher im Hinblick auf die Intensität des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem drittstaatsangehörigen Elternteil und seinem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist, zu prüfen, wobei bei dieser Beurteilung sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 71, vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 72, sowie vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real [Ehegatte eines Unionsbürgers], C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 56).

49

Insoweit hat der Gerichtshof festgestellt, dass bei der Beurteilung, ob ein solches Abhängigkeitsverhältnis besteht, die Frage der tatsächlichen Sorge für das Kind und die Frage, ob die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind vom drittstaatsangehörigen Elternteil ausgeübt wird, zu berücksichtigen sind. Als relevante Umstände wurden außerdem das Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, der Grad seiner affektiven Bindung sowohl zu dem Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch zu dem drittstaatsangehörigen Elternteil und das Risiko, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre, angesehen (Urteil vom 7. September 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Natur des Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV], C‑624/20, EU:C:2022:639, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht auch hervor, dass die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Unionsgebiet wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Unionsgebiet aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme rechtfertigt, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde (Urteil vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51

Somit kann das Bestehen einer familiären Bindung zwischen dem Unionsbürger und seinem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, nicht ausreichen, um es zu rechtfertigen, dass diesem Familienangehörigen nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zuerkannt wird, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt (Urteil vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52

Im Licht all dieser Gesichtspunkte ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die zuständigen Behörden den Sachverhalt berücksichtigen müssen, wie er sich zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung darstellt, da sie die vorhersehbaren Folgen ihrer Entscheidung für den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechte, die das Kind aufgrund des ihm durch Art. 20 AEUV verliehenen Status hat, beurteilen müssen. Um zu verhindern, dass dem Kind dieser tatsächliche Genuss vorenthalten wird, obliegt es darüber hinaus den nationalen Gerichten, die über einen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung dieser Behörden zu entscheiden haben, die nach dieser Entscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 17. April 2018, B und Vomero, C‑316/16 und C‑424/16, EU:C:2018:256, Rn. 94 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

53

Daher kann dem Umstand, dass der drittstaatsangehörige Elternteil zunächst während eines langen Zeitraums die tägliche Sorge für das betreffende Kind nicht wahrgenommen hat, und dem etwaigen Fehlen eines Abhängigkeitsverhältnisses, das sich daraus während dieses Zeitraums ergeben könnte, keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden, da dies nicht ausschließt, dass dieser Elternteil zu dem Zeitpunkt, zu dem diese nationalen Behörden oder Gerichte eine Entscheidung treffen, diese Sorge für das Kind tatsächlich wahrnimmt.

54

Im Übrigen ist insoweit darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass das Zusammenleben zwischen dem drittstaatsangehörigen Elternteil und seinem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist, keine notwendige Bedingung für die Bestimmung ist, ob zwischen ihnen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht (Urteil vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 68 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

55

Umgekehrt kann allein aus dem Umstand, dass der drittstaatsangehörige Elternteil zu dem Zeitpunkt, zu dem das nationale Gericht über die Rechtssache zu entscheiden hat, für das minderjährige Kind, das Unionsbürger ist, die tägliche und tatsächliche Sorge trägt, nicht auf das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses geschlossen werden, da diese Beurteilung stets auf einer Gesamtbetrachtung der relevanten Umstände beruhen muss.

56

Was sodann den Umstand betrifft, dass einer der Elternteile des betreffenden Kindes Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat ist, ist darauf hinzuweisen, dass dieser Umstand für die Anwendung von Art. 20 AEUV von Bedeutung wäre, wenn nachgewiesen würde, dass dieser Elternteil wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 71).

57

Dieser Umstand – wenn man ihn als erwiesen unterstellt – genügt jedoch für sich genommen nicht für die Feststellung, dass zwischen dem drittstaatsangehörigen Elternteil und dem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist, kein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass das Kind nicht in das Unionsgebiet einreisen und sich dort aufhalten könnte, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert würde, da eine solche Feststellung notwendigerweise auf einer Gesamtbetrachtung der relevanten Umstände beruhen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58

Auch wenn grundsätzlich der drittstaatsangehörige Elternteil die Informationen beizubringen hat, die belegen, dass er ein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 20 AEUV besitzt, darunter insbesondere Informationen, die belegen, dass dem Kind bei Verweigerung des Aufenthalts die tatsächliche Ausübung seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt würde, haben die zuständigen nationalen Behörden im Rahmen ihrer Beurteilung der Voraussetzungen, die für die Anerkennung eines Aufenthaltsrechts zugunsten dieses Drittstaatsangehörigen vorliegen müssen, darüber zu wachen, dass die Anwendung einer nationalen Beweislastregelung nicht geeignet ist, die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV zu beeinträchtigen (Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 76).

59

So entbindet die Anwendung einer solchen nationalen Beweislastregelung die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats nicht davon, auf der Grundlage der von dem Drittstaatsangehörigen beigebrachten Informationen die erforderlichen Ermittlungen anzustellen, um festzustellen, wo der diesem Mitgliedstaat angehörende Elternteil wohnt, und um zum einen die Frage zu prüfen, ob er wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, und zum anderen die Frage, ob zwischen dem Kind und dem drittstaatsangehörigen Elternteil ein solches Abhängigkeitsverhältnis besteht, dass eine Entscheidung, mit der dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht versagt würde, dem Kind die Möglichkeit nähme, den Kernbestand seiner aus dem Unionsbürgerstatus folgenden Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen (vgl. entsprechend Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 77).

60

Schließlich ergibt sich aus der oben in den Rn. 48 bis 50 angeführten Rechtsprechung, dass der Umstand, dass der drittstaatsangehörige Elternteil das alleinige Sorgerecht für das minderjährige Kind hat, ein relevanter, aber nicht entscheidender Faktor für die Beurteilung des Vorliegens einer tatsächlichen Abhängigkeit ist, die sich, wie oben aus Rn. 51 hervorgeht, nicht unmittelbar dem Rechtsverhältnis zwischen dem drittstaatsangehörigen Elternteil und seinem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist, entnehmen lässt.

61

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass für die Beurteilung, ob ein minderjähriges Kind, das Unionsbürger ist, von seinem drittstaatsangehörigen Elternteil abhängig ist, der betreffende Mitgliedstaat sämtliche relevanten Umstände zu berücksichtigen hat, ohne dass insoweit der Umstand, dass der drittstaatsangehörige Elternteil nicht immer die tägliche Sorge für das Kind wahrgenommen hat, aber inzwischen das alleinige Sorgerecht für das Kind besitzt, oder der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind wahrnehmen könnte, als entscheidend angesehen werden können.

Kosten

62

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass der Umstand, dass ein minderjähriges Kind, das als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats Unionsbürger ist, seit seiner Geburt außerhalb des Hoheitsgebiets dieses Mitgliedstaats lebt und sich nie im Unionsgebiet aufgehalten hat, es nicht ausschließt, dass ein drittstaatsangehöriger Elternteil, von dem dieses Kind abhängig ist, ein auf diesen Artikel gestütztes abgeleitetes Aufenthaltsrecht hat, sofern feststeht, dass das Kind mit diesem Elternteil in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, einreisen und sich dort aufhalten wird.

 

2.

Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat einen Antrag auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht, den ein Drittstaatsangehöriger, dessen minderjähriges Kind, das als Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats Unionsbürger ist, von ihm abhängig ist und seit seiner Geburt im Drittstaat lebt, ohne sich jemals im Unionsgebiet aufgehalten zu haben, gestellt hat, nicht mit der Begründung ablehnen kann, dass der Umzug in diesen Mitgliedstaat, der mit der Ausübung der Rechte des Kindes als Unionsbürger einhergeht, nicht im tatsächlichen oder glaubhaft erscheinenden Interesse des Kindes liege.

 

3.

Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass für die Beurteilung, ob ein minderjähriges Kind, das Unionsbürger ist, von seinem drittstaatsangehörigen Elternteil abhängig ist, der betreffende Mitgliedstaat sämtliche relevanten Umstände zu berücksichtigen hat, ohne dass insoweit der Umstand, dass der drittstaatsangehörige Elternteil nicht immer die tägliche Sorge für das Kind wahrgenommen hat, aber inzwischen das alleinige Sorgerecht für das Kind besitzt, oder der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind wahrnehmen könnte, als entscheidend angesehen werden können.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.