Rechtssache C‑453/20
CityRail a.s.
gegen
Správa železnic, státní organizace
(Vorabentscheidungsersuchen,
eingereicht vom Úřad pro přístup k dopravní infrastruktuře)
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 3. Mai 2022
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 267 AEUV – Begriff ‚Gericht‘ – Strukturelle und funktionelle Kriterien – Ausübung von Gerichts- oder Verwaltungsfunktionen – Richtlinie 2012/34/EU – Art. 55 und 56 – Einzige nationale Regulierungsstelle für den Eisenbahnsektor – Unabhängige sektorspezifische Kontrollstelle – Befugnis zum Handeln von Amts wegen – Sanktionsbefugnis – Entscheidungen, die Gegenstand eines gerichtlichen Rechtsbehelfs sein können – Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens“
Vorlagefragen – Anrufung des Gerichtshofs – Einzelstaatliches Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV – Begriff – Prüfung anhand struktureller und funktioneller Kriterien – Úřad pro přístup k dopravní infrastruktuře (Regulierungsstelle für den Zugang zur Verkehrsinfrastruktur, Tschechische Republik) – Einrichtung, die nicht Aufgaben gerichtlicher, sondern administrativer Natur ausübt – Ausschluss
(Art. 267 AEUV)
(vgl. Rn. 41-50, 53, 60-63, 67-69, 71 und Tenor)
Zusammenfassung
Správa železnic, eine gesetzlich geschaffene öffentliche Einrichtung, ist mit der Verwaltung eines Eisenbahnnetzes sowie der dazugehörigen Serviceeinrichtungen in der Tschechischen Republik betraut. Sie hat Schienennetz-Nutzungsbedingungen im Sinne der Richtlinie 2012/34 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums ( 1 ) erstellt und veröffentlicht, in denen u. a. die Voraussetzungen für den Zugang zu bestimmten Einrichtungen ab dem 1. April 2020 dargelegt werden.
CityRail, ein Eisenbahnunternehmen, focht diese Nutzungsbedingungen auf der Grundlage des Eisenbahngesetzes ( 2 ) vor der Regulierungsstelle für den Zugang zur Verkehrsinfrastruktur (im Folgenden: Regulierungsstelle) ( 3 ) in ihrer Eigenschaft als nationale Regulierungsstelle für den Eisenbahnsektor mit der Begründung an, dass sie gegen die Bestimmungen der Richtlinie 2012/34 verstießen.
Aus Zweifel, ob diese Voraussetzungen und das auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbare nationale Recht mit der Richtlinie 2012/34 vereinbar sind, hat die Regulierungsstelle beschlossen, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen.
Die Große Kammer des Gerichtshofs weist das von der Regulierungsstelle vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen mit der Begründung zurück, dass sie im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht Aufgaben gerichtlicher, sondern administrativer Natur ausübt. Die Regulierungsstelle kann daher nicht als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV angesehen werden.
Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof beginnt damit, seine einschlägige ständige Rechtsprechung ( 4 ) in Erinnerung zu rufen, wonach er bei der Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei der jeweils vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV handelt, auf eine Reihe von Merkmalen abstellt, wie z. B. die gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch die betreffende Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit. Zudem können die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt ( 5 ).
Die Berechtigung einer Einrichtung, den Gerichtshof anzurufen, ist demnach sowohl anhand struktureller als auch anhand funktioneller Kriterien zu bestimmen. So kann eine nationale Einrichtung, wenn sie gerichtliche Funktionen ausübt, als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV qualifiziert werden, während dies bei Ausführung anderer Aufgaben, insbesondere administrativer Art, nicht möglich ist. Folglich ist es nach Ansicht des Gerichtshofs für die Feststellung, ob eine nationale Einrichtung, die nach dem Gesetz mit Aufgaben unterschiedlicher Art betraut ist, als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV zu qualifizieren ist, erforderlich, die spezifische Natur der Aufgaben zu prüfen, die sie in dem konkreten normativen Kontext ausübt, in dem sie sich zur Anrufung des Gerichtshofs veranlasst sieht ( 6 ).
Der Gerichtshof betont, dass dieser Prüfung eine besondere Bedeutung im Fall von Verwaltungsbehörden zukommt, deren Unabhängigkeit eine unmittelbare Folge der sich aus den Bestimmungen des Unionsrechts ableitenden Anforderungen ist, das ihnen Befugnisse zur sektorspezifischen Kontrolle und zur Überwachung der Märkte verleiht. Obwohl diese Behörden die oben genannten, aus dem Urteil Vaassen-Göbbels hervorgegangenen Kriterien erfüllen können, hat nämlich die Tätigkeit der sektoriellen Kontrolle und Überwachung der Märkte im Wesentlichen administrativen Charakter, da sie die Ausübung von Befugnissen umfasst, die mit denen der Gerichte nichts zu tun haben.
Im Urteil Westbahn Management ( 7 ), auf das sich die Regulierungsstelle beruft, hat der Gerichtshof, der mit einem Vorabentscheidungsersuchen der Schienen-Control Kommission (Österreich) befasst war, nur die Kriterien geprüft, die sich aus dem Urteil Vaassen-Göbbels ergeben, und es somit unterlassen, zu prüfen, ob diese Einrichtung im Rahmen des diesem Ersuchen zugrunde liegenden Verfahrens gerichtliche Funktionen ausgeübt hat.
Insoweit stellt der Gerichtshof klar, dass als Indizien dafür, dass die fragliche Einrichtung nicht Gerichts‑, sondern Verwaltungsfunktionen ausübt, die Befugnis zur Einleitung von Verfahren von Amts wegen sowie die Befugnis sprechen, ebenfalls von Amts wegen Sanktionen in den ihrer Zuständigkeit unterliegenden Bereichen zu verhängen. Im Übrigen ist die Frage, ob das Verfahren, in dem ein Vorabentscheidungsersuchen ergangen ist, auf Initiative eines Betroffenen eingeleitet wurde, nicht von entscheidender Bedeutung, wenn dieses Verfahren von Amts wegen hätte eingeleitet werden können. Der Gerichtshof erläutert weiter, dass die Rolle und der Platz einer Einrichtung in der nationalen Rechtsordnung ebenfalls für die Beurteilung des Charakters ihrer Funktionen relevant sind.
Hier prüft der Gerichtshof zunächst im Wesentlichen den Charakter und die Funktion einer Regulierungsstelle wie der hier vorliegenden in dem durch die Richtlinie 2012/34 errichteten System der Verwaltung und Kontrolle der Schienenverkehrsleistungen ( 8 ).
Somit ergibt sich aus den einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2012/34 ( 9 ), dass die nach dieser Richtlinie vorgesehene effiziente Verwaltung sowie die gerechte und nicht diskriminierende Nutzung der Eisenbahninfrastruktur die Einrichtung einer staatlichen Stelle erfordern, die gleichzeitig beauftragt ist, von sich aus über die Anwendung der Vorschriften dieser Richtlinie durch die Akteure des Eisenbahnsektors zu wachen und als Beschwerdestelle zu fungieren. Diese gleichzeitigen Funktionen bedeuten, dass, wenn eine Regulierungsstelle ( 10 ) mit einem Rechtsbehelf befasst wird, dieser Umstand die Befugnis dieser Stelle unberührt lässt, erforderlichenfalls von Amts wegen geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um jeden Verstoß gegen die geltende Regelung abzustellen und ihre Entscheidungen, falls sie dies für erforderlich hält, mit Sanktionen zu versehen, was dafür spricht, dass es sich bei ihren Funktionen um Verwaltungsfunktionen handelt. Im Übrigen gewährleisten nach der Richtlinie 2012/34 ( 11 ) die Mitgliedstaaten die gerichtliche Nachprüfbarkeit von Entscheidungen der Regulierungsstelle, was wiederum ein Indiz dafür ist, dass es sich um Verwaltungsentscheidungen handelt.
Im Licht dieser Erwägungen prüft der Gerichtshof sodann, ob eine Regulierungsstelle wie die vorliegende trotz ihres grundsätzlichen Verwaltungscharakters im spezifischen Kontext der Funktionen, die sie im Rahmen des Ausgangsverfahrens ausübt, als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen ist.
Hierzu ruft der Gerichtshof in Erinnerung, dass die Befugnis der Regulierungsstelle, das Verfahren, in dem das Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt worden ist, auch von Amts wegen einzuleiten, ebenso wie ihre Befugnis, im Laufe dieses Verfahrens von Amts wegen aufgedeckte Unregelmäßigkeiten zu verfolgen, besonders relevante Indizien sind, die die Feststellung zu stützen vermögen, dass diese Einrichtung im Ausgangsverfahren keine Gerichts‑, sondern Verwaltungsfunktionen ausübt.
Außerdem ergibt sich aus den Angaben der Regulierungsstelle, dass die Entscheidungen dieser Einrichtung gerichtlich angefochten werden können. Sind aber nach den Zuständigkeitsverteilungsregeln, die sich aus der Verwaltungsgerichtsordnung und der Zivilprozessordnung ergeben, die Verwaltungsgerichte für die Entscheidung über eine Klage gegen eine Entscheidung der Regulierungsstelle zuständig, so hat Letztere die Stellung einer beklagten Partei. Im Übrigen ergibt sich aus der Zivilprozessordnung ( 12 ), dass die Regulierungsstelle vor den Zivilgerichten, die der Regulierungsstelle zufolge u. a. für Klagen gegen Entscheidungen zuständig sind, die, wie es im Ausgangsverfahren der Fall ist, im Rahmen des Verfahrens nach § 34e Eisenbahngesetz ergangen sind, das Recht hat, Erklärungen abzugeben, ohne im Verfahren Parteistellung zu haben. Solche Beteiligungen der Regulierungsstelle an einem Beschwerdeverfahren, in dem seine eigene Entscheidung in Frage gestellt wird, sind aber ein Indiz dafür, dass die Regulierungsstelle beim Erlass dieser Entscheidung im Verhältnis zu den beteiligten Interessen nicht die Eigenschaft eines Dritten hat und somit keine Gerichtsfunktionen wahrnimmt.
Im Hinblick auf diese Gesichtspunkte stellt der Gerichtshof fest, dass die Regulierungsstelle im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht Aufgaben gerichtlicher, sondern administrativer Natur ausübt. Daher kann sie nicht als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV angesehen werden, weshalb das von ihr vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen unzulässig ist.
( 1 ) Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (ABl. 2012, L 343, S. 32) in der durch die Richtlinie (EU) 2016/2370 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2016 (ABl. 2016, L 352, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2012/34), Art. 3 Nr. 26.
( 2 ) § 34e des Gesetzes Nr. 266/1994 über die Eisenbahnen.
( 3 ) In der Tschechischen Republik gehört der Úřad pro přístup k dopravní infrastruktuře (Regulierungsstelle für den Zugang zur Verkehrsinfrastruktur) zu den zentralen Behörden der staatlichen Verwaltung. Er wurde durch das Gesetz Nr. 320/2016 über die Regulierungsstelle für den Zugang zur Verkehrsinfrastruktur eingerichtet.
( 4 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Juni 1966, Vaassen-Göbbels (61/65, EU:C:1966:39, S. 602, im Folgenden: Urteil Vaassen-Göbbels).
( 5 ) Beschluss vom 26. November 1999, ANAS (C‑192/98, EU:C:1999:589, Rn. 21), und Urteil vom 31. Januar 2013, Belov (C‑394/11, EU:C:2013:48, Rn. 39).
( 6 ) Beschluss vom 26. November 1999, ANAS (C‑192/98, EU:C:1999:589, Rn. 22 und 23), und Urteil vom 31. Januar 2013, Belov (C‑394/11, EU:C:2013:48, Rn. 40 und 41).
( 7 ) Urteil vom 22. November 2012, Westbahn Management (C‑136/11, EU:C:2012:740).
( 8 ) Die Art. 55 und 56 der Richtlinie 2012/34 sehen die Existenz von nationalen Regulierungsstellen des Eisenbahnsektors in allen Mitgliedstaaten vor, stellen die Grundsätze ihrer Organisation auf und legen die ihnen übertragenen Befugnisse fest.
( 9 ) Art. 55 und 56 der Richtlinie 2012/34 im Licht ihres 76. Erwägungsgrundes.
( 10 ) Eingerichtet in Anwendung von Art. 55 der Richtlinie 2012/34.
( 11 ) Art. 56 Abs. 10 der Richtlinie 2012/34.
( 12 ) § 250c Abs. 2 der Zivilprozessordnung.