URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

24. Februar 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Richtlinie 2014/40/EU – Art. 23 Abs. 3 – Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation zur Eindämmung des Tabakkonsums – Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige – Sanktionssystem – Wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen – Verpflichtung für die Verkäufer von Tabakerzeugnissen, bei deren Verkauf das Alter des Käufers zu überprüfen – Bußgeld – Betrieb einer Tabakverkaufsstelle – Aussetzung der Betriebslizenz für einen Zeitraum von 15 Tagen – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Vorsorgeprinzip“

In der Rechtssache C‑452/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 5. August 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 23. September 2020, in dem Verfahren

PJ

gegen

Agenzia delle dogane e dei monopoli – Ufficio dei monopoli per la Toscana,

Ministero dell’Economia e delle Finanze

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), der Richterin I. Ziemele sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von PJ, vertreten durch A. Celotto, Avvocato,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Collabolletta, Avvocato dello Stato,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér, G. Koós und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Hödlmayr und A. Spina als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Oktober 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, des Vorsorgeprinzips, des Art. 5 EUV sowie der Erwägungsgründe 8, 21 und 60, des Art. 1 und des Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. 2014, L 127, S. 1, berichtigt in ABl. 2015, L 150, S. 24).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen PJ und der Agenzia delle Dogane e dei Monopoli – Ufficio dei monopoli per la Toscana (Zoll- und Monopolagentur – Monopolagentur für die Toskana, Italien) (im Folgenden: Zollagentur) sowie dem Ministero dell’economia e delle finanze (Wirtschafts- und Finanzminister, Italien) über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Zollagentur, mit der diese gegen PJ ein Bußgeld und eine zusätzliche Verwaltungssanktion verhängt hat, die in der 15-tägigen Aussetzung seiner Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle bestand.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Das am 21. Mai 2003 in Genf unterzeichnete Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Eindämmung des Tabakkonsums (im Folgenden: FCTC) wurde mit dem Beschluss 2004/513/EG des Rates vom 2. Juni 2004 (ABl. 2004, L 213, S. 8) im Namen der Europäischen Union genehmigt. Nach der Präambel des FCTC erkennen die Vertragsstaaten des Rahmenübereinkommens an, dass „wissenschaftliche Untersuchungen eindeutig bewiesen haben, dass Tabakkonsum und Passivrauchen zu Tod, Krankheit und Invalidität führen und dass tabakbedingte Krankheiten zeitlich verzögert nach dem Rauchen und anderen Formen des Gebrauchs von Tabakerzeugnissen auftreten“.

4

Art. 16 Abs. 1 und 6 FCTC sieht vor:

„(1)   Jede Vertragspartei beschließt wirksame gesetzgeberische, vollziehende, administrative oder sonstige Maßnahmen auf der geeigneten staatlichen Ebene und führt solche Maßnahmen durch, um den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Personen unter dem durch internes oder innerstaatliches Recht festgelegten Alter oder unter einem Alter von 18 Jahren zu verhindern. Diese Maßnahmen können Folgendes umfassen:

a)

Vorschriften, dass alle Verkäufer von Tabakerzeugnissen in ihrer Verkaufsstelle einen klaren und deutlich sichtbaren Hinweis auf das Verbot der Abgabe von Tabakerzeugnissen an Minderjährige anbringen und im Zweifelsfall verlangen, dass jeder Käufer von Tabakerzeugnissen in geeigneter Form nachweist, dass er volljährig ist;

b)

Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen in einer Art und Weise, bei der sie direkt zugänglich sind, zum Beispiel in Warenregalen;

c)

Verbot der Herstellung und des Verkaufs von Süßigkeiten, Snacks, Spielzeug oder sonstigen Gegenständen in der Form von Tabakerzeugnissen, die Minderjährige ansprechen, und

d)

Sicherstellung, dass Zigarettenautomaten in ihrem Hoheitsbereich für Minderjährige nicht zugänglich sind und nicht für den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige werben.

(6)   Jede Vertragspartei beschließt wirksame gesetzgeberische, vollziehende, administrative oder sonstige Maßnahmen, einschließlich Strafen gegen Verkäufer und Händler, und führt solche Maßnahmen durch, um die Einhaltung der in den Absätzen 1 bis 5 enthaltenen Verpflichtungen sicherzustellen.“

Unionsrecht

5

In den Erwägungsgründen 7, 8, 21, 48 und 60 der Richtlinie 2014/40 heißt es:

„(7)

Gesetzliche Maßnahmen auf Unionsebene sind außerdem notwendig, um das [FCTC] vom Mai 2003 umzusetzen, dessen Bestimmungen für die Union und ihre Mitgliedstaaten bindend sind. Besonders relevant sind die FCTC‑Regelung bezüglich der Inhaltsstoffe von Tabakerzeugnissen, der Bekanntgabe von Angaben über Tabakerzeugnisse, Verpackung und Etikettierung von Tabakerzeugnissen, Tabakwerbung, Förderung des Tabakverkaufs und Tabaksponsoring und dem unerlaubten Handel mit Tabakerzeugnissen. Die Vertragsparteien des FCTC, einschließlich der Union und ihrer Mitgliedstaaten, haben im Verlauf mehrerer Konferenzen einvernehmlich Leitlinien für die Umsetzung einiger FCTC‑Artikel angenommen.

(8)

Gemäß Artikel 114 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) soll im Gesundheitsbereich bei Gesetzgebungsvorschlägen von einem hohen Schutzniveau ausgegangen werden, wobei insbesondere alle auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen zu berücksichtigen sind. Tabakerzeugnisse sind keine gewöhnlichen Erzeugnisse, und angesichts der besonders schädlichen Wirkungen von Tabakerzeugnissen auf die menschliche Gesundheit sollte dem Gesundheitsschutz große Bedeutung beigemessen werden, insbesondere um die Verbreitung des Rauchens bei jungen Menschen zu senken.

(21)

Im Einklang mit dem Zweck dieser Richtlinie, nämlich das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse zu erleichtern – ausgehend von einem hohen Gesundheitsschutzniveau besonders für junge Menschen –, und im Einklang mit der Empfehlung 2003/54/EG des Rates [vom 2. Dezember 2002 zur Prävention des Rauchens und für Maßnahmen zur gezielteren Eindämmung des Tabakkonsums (ABl. 2003, L 22, S. 31)] sollten die Mitgliedstaaten dazu angehalten werden, den Verkauf dieser Erzeugnisse an Kinder und Jugendliche zu verhindern, indem sie geeignete Maßnahmen zur Festlegung und Durchsetzung von Altersgrenzen erlassen.

(48)

Ferner werden mit dieser Richtlinie weder die Vorschriften über rauchfreie Zonen oder heimische Verkaufsmodalitäten oder heimischer Werbung oder ‚brand-stretching‘ (Verwendung von Tabak-Markennamen bei anderen tabakfremden Produkten oder Dienstleistungen) harmonisiert noch wird mit ihr eine Altersgrenze für elektronische Zigaretten oder Nachfüllbehälter eingeführt. In jedem Fall sollte die Aufmachung elektronischer Zigaretten oder Nachfüllbehälter und die Werbung dafür nicht zur Förderung des Tabakkonsums oder zu Verwechslungen mit Tabakerzeugnissen führen. Den Mitgliedstaaten steht es frei, diese Angelegenheiten in den Grenzen ihrer eigenen Zuständigkeit zu regeln, und sie werden dazu ermutigt, dies zu tun.

(60)

Da die Ziele dieser Richtlinie, nämlich die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen, von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 EUV verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das für die Verwirklichung dieser Ziele erforderliche Maß hinaus …“

6

Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Ziel dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für

a)

die Inhaltsstoffe und Emissionen von Tabakerzeugnissen und die damit verbundenen Meldepflichten, einschließlich der Emissionshöchstwerte von Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid von Zigaretten;

b)

bestimmte Aspekte der Kennzeichnung und Verpackung von Tabakerzeugnissen, unter anderem die gesundheitsbezogenen Warnhinweise, die auf den Packungen und den Außenverpackungen von Tabakerzeugnissen erscheinen müssen, sowie die Rückverfolgbarkeit und die Sicherheitsmerkmale, die für Tabakerzeugnisse angewendet werden, um ihre Übereinstimmung mit dieser Richtlinie zu gewährleisten;

c)

das Verbot des Inverkehrbringens von Tabak zum oralen Gebrauch;

d)

den grenzüberschreitenden Verkauf von Tabakerzeugnissen im Fernabsatz;

e)

die Pflicht zur Meldung neuartiger Tabakerzeugnisse;

f)

das Inverkehrbringen und die Kennzeichnung bestimmter Erzeugnisse, die mit Tabakerzeugnissen verwandt sind, nämlich elektronische Zigaretten und Nachfüllbehälter sowie pflanzliche Raucherzeugnisse,

damit – ausgehend von einem hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen – das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse erleichtert wird und die Verpflichtungen der Union im Rahmen des [FCTC] eingehalten werden.“

7

Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten legen für Verstöße gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften Sanktionen fest und treffen die zur Anwendung dieser Sanktionen erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Verwaltungssanktionen finanzieller Art, die für vorsätzliche Verstöße verhängt werden, dürfen so gestaltet sein, dass sie den durch den Verstoß angestrebten wirtschaftlichen Vorteil aufheben.“

Italienisches Recht

8

Art. 25 Abs. 2 des Regio decreto n. 2316 – Approvazione del testo unico delle leggi sulla protezione ed assistenza della maternità ed infanzia (Königliche Verordnung Nr. 2316 – Billigung der kodifizierten Fassung der Vorschriften über den Schutz und die Unterstützung von Müttern und Kindern) vom 24. Dezember 1934 (GURI Nr. 47 vom 25. Februar 1935, S. 811), ersetzt durch Art. 24 Abs. 3 des Decreto legislativo n. 6 – Recepimento della direttiva 2014/40/UE sul ravvicinamento delle disposizioni legislative, regolamentari e amministrative degli Stati membri relative alla lavorazione, alla presentazione e alla vendita dei prodotti del tabacco e dei prodotti correlati e che abroga la direttiva 2001/37/CE (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 6 zur Umsetzung der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG) vom 12. Januar 2016 (GURI Nr. 13 vom 18. Januar 2016, S. 102) (im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 6/2016), bestimmt:

„Wer Tabakerzeugnisse, elektronische Zigaretten, Nikotin enthaltende Nachfüllbehälter oder neuartige Tabakerzeugnisse verkauft, ist verpflichtet, beim Kauf die Vorlage eines Identitätsnachweises vom Käufer zu verlangen, es sei denn, dass dieser ersichtlich volljährig ist.

Wer Tabakerzeugnisse, elektronische Zigaretten, Nikotin enthaltende Nachfüllbehälter oder neuartige Tabakerzeugnisse an Minderjährige unter 18 Jahren verkauft oder abgibt, gegen den wird ein Bußgeld in Höhe von 500,00 Euro bis 3000,00 Euro sowie eine 15-tägige Aussetzung der Lizenz zur Ausübung der Tätigkeit verhängt. Bei mehr als einmaliger Übertretung wird ein Bußgeld in Höhe von 1000,00 Euro bis 8000,00 Euro verhängt und die Lizenz zur Ausübung der Tätigkeit widerrufen.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

9

PJ ist Inhaber einer Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle, mit der ihm der Verkauf von Tabakerzeugnissen gestattet wird, die in Italien einem staatlichen Monopol unterliegen.

10

Im Februar 2016 stellt die Zollagentur bei einer Kontrolle fest, dass PJ Zigaretten an einen Minderjährigen verkauft hatte.

11

In Anwendung von Art. 24 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 6/2016 verhängte die Zollagentur gegen PJ ein Bußgeld in Höhe von 1000 Euro sowie eine zusätzliche Verwaltungssanktion, die in der 15-tägigen Aussetzung seiner Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle bestand.

12

PJ beglich das gegen ihn verhängte Bußgeld. Die zusätzliche Verwaltungssanktion, mit der seine Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle ausgesetzt worden war, focht er hingegen beim Tribunale Amministrativo Regionale per la Toscana (Verwaltungsgericht der Region Toskana, Italien) an. Das Gericht wies die Klage von PJ mit einem Urteil vom 27. November 2018 ab.

13

PJ legte gegen das Urteil des Tribunale Amministrativo Regionale per la Toscana (Verwaltungsgericht der Region Toskana) Berufung beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dem vorlegenden Gericht, ein. Er machte geltend, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung mit der Richtlinie 2014/40 unvereinbar sei, u. a., weil die Aussetzung seiner Lizenz unangemessen und unverhältnismäßig sei, da diese Sanktion aufgrund eines einzigen und erstmaligen Verstoßes gegen ihn verhängt worden sei. Die Regelung räume mithin dem Vorsorgeprinzip Vorrang ein, um das Recht von Minderjährigen auf Gesundheit zu gewährleisten, was zu einem Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz führe.

14

Hierzu geht das vorlegende Gericht davon aus, dass bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sanktionen der Vorrang zu berücksichtigen ist, den die Richtlinie 2014/40 dem Schutz der Gesundheit junger Menschen einräume.

15

Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Interesse am Schutz der Gesundheit junger Menschen und dem Recht der Wirtschaftsteilnehmer auf Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit durch den Verkauf von Tabakerzeugnissen überlasse es Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 den Mitgliedstaaten, Sanktionsregelungen festzulegen, die darauf abzielten, das Ziel eines Verbots des Tabakkonsums durch Minderjährige zu erreichen. Die Bestimmung sehe zwar vor, dass finanzielle Sanktionen so gestaltet sein dürften, dass sie den durch den Verstoß angestrebten wirtschaftlichen Vorteil aufhöben, der Unionsgesetzgeber habe aber nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, andere Verwaltungssanktionen als finanzielle zu verhängen.

16

In diesem Zusammenhang ist das Gericht der Auffassung, dass der italienische Gesetzgeber mit der Aussetzung der Betriebslizenz, die Wirtschaftsteilnehmern den Verkauf von Tabakerzeugnissen gestatte, im Einklang mit den Anforderungen der Richtlinie 2014/40 dem Schutz der menschlichen Gesundheit den Vorrang gegenüber dem Recht von Unternehmern auf Verkauf von Tabakerzeugnissen eingeräumt habe. Die aufgrund dieser Aussetzung erlittenen finanziellen Verluste der Unternehmer seien daher gerechtfertigt und angemessen.

17

Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Verstößt Art. 25 Abs. 2 der Königlichen Verordnung Nr. 2316 vom 24. Dezember 1934, ersetzt durch Art. 24 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 6/2016 – insoweit, als er festlegt „[w]er Tabakerzeugnisse, elektronische Zigaretten, Nikotin enthaltende Nachfüllbehälter oder neuartige Tabakerzeugnisse an Minderjährige unter 18 Jahren verkauft oder abgibt, gegen den wird ein Bußgeld in Höhe von 500,00 Euro bis 3000,00 Euro sowie die 15-tägige Aussetzung der Lizenz zur Ausübung der Tätigkeit verhängt“ –, gegen die unionsrechtlichen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Vorsorge, wie sie sich aus Art. 5 EUV, Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 sowie aus den Erwägungsgründen 21 und 60 dieser Richtlinie ergeben, indem er dem Vorsorgeprinzip Vorrang einräumt, ohne es durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abzumildern, und auf diese Weise unverhältnismäßig die Interessen der Wirtschaftsteilnehmer zugunsten des Schutzes des Rechts auf Gesundheit opfert und so keinen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen Grundrechten gewährleistet, noch dazu mit einer Sanktion, die unter Verstoß gegen den achten Erwägungsgrund der Richtlinie nicht wirksam das Ziel verfolgt, die Verbreitung des Rauchens bei jungen Menschen einzuschränken?

Zur Vorlagefrage

Vorbemerkungen

18

Im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ist es dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Es ist nämlich seine Aufgabe, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die staatlichen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den ihm von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social [Rentenzulage für Mütter], C‑450/18, EU:C:2019:1075, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19

Auch wenn das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache seine Fragen formal auf die Auslegung von Art. 5 EUV einerseits und der Bestimmungen der Richtlinie 2014/40 andererseits beschränkt hat, hindert dies den Gerichtshof nicht daran, ihm alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten von dem nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social [Rentenzulage für Mütter], C‑450/18, EU:C:2019:1075, Rn. 26).

20

Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, stellte die Zollagentur bei einer Kontrolle fest, dass PJ unter Verstoß gegen das Verbot, Tabakerzeugnisse an Minderjährige zu verkaufen, Zigaretten an einen Minderjährigen verkauft hatte. Die Zollagentur verhängte gegen PJ folglich auf Grundlage des nationalen Rechts eine Verwaltungssanktion finanzieller Art und eine zusätzliche Verwaltungssanktion, die in der Aussetzung seiner Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle für eine Dauer von 15 Tagen bestand.

21

In diesem Zusammenhang ist erstens zur Anwendbarkeit von Art. 5 EUV auf den vorliegenden Fall festzustellen, dass das vorlegende Gericht – wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt – unter Bezugnahme auf diesen Artikel konkret die Frage nach der Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufwirft, wie er in Art. 5 Abs. 4 EUV vorgesehen ist.

22

Diese Bestimmung bezieht sich auf das Handeln der Unionsorgane. Gemäß Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 EUV gehen die Maßnahmen der Union nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit inhaltlich und formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus. Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 2 EUV betrifft die Organe der Union, die den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzuwenden haben, wenn sie in Ausübung einer Zuständigkeit tätig werden (Beschluss vom 13. Februar 2020, МАK ТURS, C‑376/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:99, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Im vorliegenden Fall befindet sich die nationale Bestimmung im Gesetzesvertretenden Dekret Nr. 6/2016, das vom italienischen Gesetzgeber erlassen wurde und die Verhängung von Verwaltungssanktionen bei Verstößen gegen das Verbot betrifft, in Italien Tabakerzeugnisse an Minderjährige zu verkaufen. Unter diesen Umständen ist Art. 5 Abs. 4 EUV auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht anwendbar.

24

Was zweitens die Anwendbarkeit der Richtlinie 2014/40 und ihres Art. 23 Abs. 3 betrifft, ist im vorliegenden Fall als Erstes darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut des 21. Erwägungsgrundes der Richtlinie im Einklang mit deren Zweck – nämlich das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse ausgehend von einem hohen Gesundheitsschutzniveau besonders für junge Menschen zu erleichtern – und im Einklang mit der Empfehlung 2003/54 dazu angehalten werden sollten, den Verkauf dieser Erzeugnisse an Kinder und Jugendliche zu verhindern, indem sie geeignete Maßnahmen zur Festlegung und Durchsetzung von Altersgrenzen erlassen.

25

Wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat sich diese Ermutigung in der Richtlinie 2014/40 allerdings nicht in einer Bestimmung niedergeschlagen, mit der eine Verpflichtung zum Erlass von Maßnahmen auferlegt würde, mit denen der Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige verboten wird.

26

Aus dem 48. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt sich nämlich, dass mit ihr die heimischen Verkaufsmodalitäten nicht harmonisiert werden. In diesem Erwägungsgrund ist weiterhin vorgesehen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, diese Angelegenheiten in den Grenzen ihrer eigenen Zuständigkeit zu regeln, und sie dazu ermutigt werden, dies zu tun.

27

Unter diesen Umständen ist mit dem Generalanwalt in Nr. 45 seiner Schlussanträge davon auszugehen, dass mit der Richtlinie 2014/40 keine Harmonisierung derjenigen Aspekte des Verkaufs vorgenommen wurde, die den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige betreffen.

28

Folglich sind im vorliegenden Fall weder Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 noch diese Richtlinie anwendbar.

29

Drittens ist darauf hinzuweisen, dass das FCTC mit dem Beschluss 2004/513 im Namen der Union genehmigt wurde.

30

Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass eine von der Union geschlossene internationale Übereinkunft ab ihrem Inkrafttreten fester Bestandteil des Unionsrechts ist (Urteil vom 6. Oktober 2020, Kommission/Ungarn [Hochschulausbildung], C‑66/18, EU:C:2020:792, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich ist das FCTC, wie der Generalanwalt der Sache nach in Nr. 55 seiner Schlussanträge festgestellt hat, fester Bestandteil des Unionsrechts.

31

Nach Art. 16 Abs. 1 („Verkauf an und durch Minderjährige“) des Rahmenabkommens beschließt jede Vertragspartei dieses Abkommens wirksame gesetzgeberische, vollziehende, administrative oder sonstige Maßnahmen auf staatlicher Ebene und führt solche Maßnahmen durch, um den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Personen unter dem durch internes oder innerstaatliches Recht festgelegten Alter oder unter einem Alter von 18 Jahren zu verhindern. Gemäß Art. 16 Abs. 6 beschließt jede Vertragspartei wirksame gesetzgeberische, vollziehende, administrative oder sonstige Maßnahmen, einschließlich Strafen gegen Verkäufer und Händler, und führt solche Maßnahmen durch, um die Einhaltung der in Art. 16 Abs. 1 bis 5 des Rahmenabkommens enthaltenen Verpflichtungen sicherzustellen.

32

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende grundsätzlich anhand der in Art. 16 FCTC aufgestellten Anforderungen zu beurteilen ist.

33

Wie der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, muss die Umsetzung des FCTC, da es ein fester Bestandteil des Unionsrechts ist, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts beachten.

34

Viertens und letztens ist zur Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips im vorliegenden Fall darauf hinzuweisen, dass dieses Prinzip bedeutet, dass bei Unsicherheiten hinsichtlich des Vorliegens oder des Umfangs von Risiken Schutzmaßnahmen getroffen werden können, ohne dass abgewartet werden müsste, dass das Bestehen und die Schwere dieser Risiken vollständig dargelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2021, Bayer CropScience und Bayer/Kommission, C‑499/18 P, EU:C:2021:367, Rn. 80). Hierzu genügt der Hinweis, dass zum einen keiner der Verfahrensbeteiligten die Risiken in Verbindung mit dem Konsum von Rauchtabakerzeugnissen leugnet und sich zum anderen der Präambel des FCTC entnehmen lässt, dass wissenschaftliche Untersuchungen eindeutig bewiesen haben, dass Tabakkonsum und Passivrauchen zu Tod, Krankheit und Invalidität führen und dass tabakbedingte Krankheiten zeitlich verzögert nach dem Rauchen und anderen Formen des Gebrauchs von Tabakerzeugnissen auftreten. Das Vorsorgeprinzip ist folglich, wie der Generalanwalt in Nr. 65 seiner Schlussanträge festgestellt hat, auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation nicht anwendbar.

35

Unter diesen Umständen ist die Vorlagefrage so zu verstehen, dass mit ihr im Wesentlichen geklärt werden soll, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einer nationalen Regelung entgegensteht, die bei einem ersten Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige zusätzlich zur Verhängung eines Bußgelds eine 15-tägige Aussetzung der Betriebslizenz vorsieht, mit der dem Wirtschaftsteilnehmer, der gegen dieses Verbot verstoßen hat, der Verkauf solcher Waren gestattet wird.

Antwort des Gerichtshofs

36

Nach ständiger Rechtsprechung können die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, die Sanktionen wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, ECOTEX BULGARIA, C‑544/19, EU:C:2021:803, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Insbesondere dürfen die administrativen oder repressiven Maßnahmen, die nach den nationalen Rechtsvorschriften gestattet sind, nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 2016, EL-EM-2001, C‑501/14, EU:C:2016:777, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Beschluss vom 12. Juli 2018, Pinzaru und Cirstinoiu, C‑707/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:574, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen und müssen die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 2016, EL-EM-2001, C‑501/14, EU:C:2016:777, Rn. 39, sowie vom 6. Mai 2021, Bayer CropScience und Bayer/Kommission, C‑499/18 P, EU:C:2021:367, Rn. 166).

39

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Härte der Sanktionen der Schwere der mit ihnen geahndeten Verstöße entsprechen muss, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt (Beschluss vom 12. Juli 2018, Pinzaru und Cirstinoiu, C‑707/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:574, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig ist, zu beurteilen, ob im vorliegenden Fall gemessen an dem begangenen Verstoß die Aussetzung der Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle zusätzlich zu dem verhängten Bußgeld verhältnismäßig zur Erreichung des mit dem Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige verfolgten legitimen Ziels ist, nämlich der Schutz der menschlichen Gesundheit und die Verminderung der Verbreitung des Tabakkonsums bei jungen Menschen; der Gerichtshof kann dem vorlegenden Gericht aber gleichwohl alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die ihm die Feststellung ermöglichen können, ob dies der Fall ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Februar 2021, K. M. [Gegen den Kapitän eines Schiffs verhängte Sanktionen], C‑77/20, EU:C:2021:112, Rn. 39).

41

Im vorliegenden Fall lässt sich Art. 24 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 6/2016 entnehmen, dass der italienische Gesetzgeber beim ersten Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige eine Kumulierung von Sanktionen vorgesehen hat, nämlich zum einen die Verhängung einer finanziellen Sanktion und zum anderen die 15-tägige Aussetzung der Lizenz des Zuwiderhandelnden zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle.

42

Zu dieser Kumulierung von Sanktionen merkt die italienische Regierung an, dass die Wiederverkäufer von Tabakerzeugnissen unter Geltung des vorherigen Sanktionssystems, in der nur rein finanzielle Sanktionen vorgesehen gewesen seien, aus wirtschaftlichen Erwägungen das Risiko eingegangen seien, für einen Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs dieser Erzeugnisse an Minderjährige mit einer Sanktion belegt zu werden. Die bloße Verhängung eines Bußgelds habe es daher nicht ermöglicht, den Tabakkonsum bei jungen Menschen zu verringern.

43

Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit, zusätzlich zu einem Bußgeld andere, nicht finanzielle administrative Sanktionen zu verhängen, wie die Aussetzung der Lizenz eines Wirtschaftsteilnehmers, der gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige verstoßen hat, in Art. 16 Abs. 6 FCTC nicht ausgeschlossen wird.

44

Zweitens ist davon auszugehen, dass eine solche Sanktion unter gleichzeitiger Wahrung des allgemeinen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur dann eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, wenn den Zuwiderhandelnden die wirtschaftlichen Vorteile aus Verstößen im Zusammenhang mit dem Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige wirksam entzogen werden und die Sanktionen so beschaffen sind, dass ein der Schwere des Verstoßes angemessenes Ergebnis erzielt werden kann, um wirksam von weiteren Verstößen dieser Art abzuschrecken.

45

Unter diesen Umständen kann ein Sanktionssystem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das über die Verhängung eines Bußgelds hinaus als zusätzliche Verwaltungssanktion die Aussetzung der Lizenz des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle vorsieht, die wirtschaftlichen Erwägungen, die Wiederverkäufer von Tabakerzeugnissen veranlassen könnten, trotz des entsprechenden Verbots Tabakerzeugnisse an Minderjährige zu verkaufen, offensichtlich stark relativieren oder sogar hinfällig machen.

46

Damit sind die vom italienischen Gesetzgeber vorgesehenen Sanktionen offenkundig so gestaltet, dass sie zum einen den wirtschaftlichen Vorteil aus dem Verstoß aufheben und zum anderen die Wirtschaftsteilnehmer dazu anhalten, die Maßnahmen zu beachten, die den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige verbieten.

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Ein Sanktionssystem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende ist somit offensichtlich geeignet, das im FCTC genannte Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Verminderung der Verbreitung des Tabakkonsums bei jungen Menschen zu erreichen.

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Was die Frage betrifft, ob die Härte der durch die nationale Regelung vorgesehenen Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreitet, was zur Erreichung der mit den fraglichen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgten Ziele erforderlich ist, sind in einem ersten Schritt die etwaigen Auswirkungen der Aussetzung der Lizenz des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle auf dessen legitimes Recht zur Ausübung einer unternehmerischen Tätigkeit zu prüfen.

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Wie aus Art. 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie Art. 9 AEUV, Art. 114 Abs. 3 AEUV und Art. 168 Abs. 1 AEUV hervorgeht, ist bei der Festlegung und Durchführung der Politik und der Maßnahmen der Union einem hohen Niveau des Gesundheitsschutzes Rechnung zu tragen (Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 157).

50

Nach ständiger Rechtsprechung ist dem Schutz der Gesundheit gegenüber wirtschaftlichen Erwägungen vorrangige Bedeutung beizumessen, die negative wirtschaftliche Folgen selbst beträchtlichen Ausmaßes rechtfertigen kann (Urteil vom 22. November 2018, Swedish Match, C‑151/17, EU:C:2018:938, Rn. 54).

51

Somit ist mit dem Generalanwalt in Nr. 75 seiner Schlussanträge davon auszugehen, dass die vorübergehende Aussetzung der Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle bei einem ersten Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige grundsätzlich nicht als unverhältnismäßiger Eingriff in das legitime Recht von Wirtschaftsteilnehmern, ihre unternehmerische Tätigkeit auszuüben, angesehen werden kann.

52

In einem zweiten Schritt ist zu den Modalitäten der Festlegung der Sanktionen im vorliegenden Fall erstens darauf hinzuweisen, dass in Art. 24 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 6/2016 zwar eine 15-tägige Aussetzung der Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle vorgesehen ist. Dort ist allerdings auch vorgesehen, dass diese Aussetzung im Fall des erstmaligen Verstoßes gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige mit einem Bußgeld einhergeht, das je nach Schwere des Verstoßes variiert, was eine gewisse Abstufung und Progression bei der Festlegung der Sanktionen erkennen lässt, die verhängt werden können.

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Diese Bestimmung sieht nämlich offensichtlich Modalitäten für die Festsetzung der Bußgelder vor, die deren Festlegung unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ermöglichen, u. a. der Schwere des rechtswidrigen Verhaltens des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers.

54

Unter diesen Umständen wird, wie der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, das Gleichgewicht zwischen der Härte der Sanktionen und der Schwere des betreffenden Verstoßes offensichtlich durch das Bußgeld gewährleistet, das zusammen mit der Aussetzung der Lizenz des Zuwiderhandelnden zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle verhängt wird und je nach Schwere des Verstoßes variiert. Im vorliegenden Fall lag der Betrag des gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens verhängten Bußgelds bei 1000 Euro und damit im unteren Bereich der für einen erstmaligen Verstoß vorgesehenen Beträge.

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Zweitens ist anzumerken, dass die Aussetzung der Betriebslizenz nur für eine Dauer von 15 Tagen vorgesehen ist.

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Die zusätzliche Sanktion stellt in ihrem Zusammenhang gesehen eine Maßnahme dar, die im Fall eines erstmaligen Verstoßes gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige insbesondere darauf abzielt, den von Wiederverkäufern dieser Erzeugnisse begangenen Verstoß zu bestrafen und sie von einem erneuten Verstoß gegen dieses Verbot abzuhalten, indem sie die wirtschaftlichen Erwägungen, die diese Wiederverkäufer veranlassen könnten, trotz des Verbots solche Verkäufe vorzunehmen, hinfällig macht, ohne aber zu einem Widerruf der Lizenz zu führen, da dieser – wie sich aus Art. 24 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 6/2016 ergibt – nur bei mehr als einmaliger Übertretung vorgesehen ist.

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Vor diesem Hintergrund ist unter Berücksichtigung der Schwere des Verstoßes und unter Vorbehalt der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen nicht erkennbar, dass ein Sanktionssystem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende – das, um den Zuwiderhandelnden die wirtschaftlichen Vorteile aus dem Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige zu entziehen und sie von einem Verstoß gegen dieses Verbot abzuhalten, beim ersten Verstoß zusätzlich zur Verhängung eines Bußgelds eine 15-tägige Aussetzung der Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle vorsieht – über die Grenzen dessen hinausgeht, was erforderlich ist, um das Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit und insbesondere der Verminderung der Verbreitung des Tabakkonsums bei jungen Menschen zu erreichen.

58

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die bei einem ersten Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige zusätzlich zur Verhängung eines Bußgelds eine 15-tägige Aussetzung der Betriebslizenz vorsieht, mit der dem Wirtschaftsteilnehmer, der gegen dieses Verbot verstoßen hat, der Verkauf solcher Waren gestattet wird, soweit eine solche Regelung nicht über die Grenzen dessen hinausgeht, was geeignet und erforderlich ist, um das Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit und insbesondere der Verminderung der Verbreitung des Tabakkonsums bei jungen Menschen zu erreichen.

Kosten

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Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die bei einem ersten Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige zusätzlich zur Verhängung eines Bußgelds eine 15‑tägige Aussetzung der Betriebslizenz vorsieht, mit der dem Wirtschaftsteilnehmer, der gegen dieses Verbot verstoßen hat, der Verkauf solcher Waren gestattet wird, soweit eine solche Regelung nicht über die Grenzen dessen hinausgeht, was geeignet und erforderlich ist, um das Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit und insbesondere der Verminderung der Verbreitung des Tabakkonsums bei jungen Menschen zu erreichen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.