URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

3. März 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2008/115/EG – Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 – Nationale Regelung, die im Fall eines illegalen Aufenthalts die Verhängung einer Geldbuße mit der Verpflichtung, das Hoheitsgebiet zu verlassen, vorsieht – Möglichkeit, den Aufenthalt während einer bestimmten Frist zu legalisieren – Art. 7 Abs. 1 und 2 – Frist für die freiwillige Ausreise“

In der Rechtssache C‑409/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no 1 de Pontevedra (Verwaltungsgericht Nr. 1 Pontevedra, Spanien) mit Entscheidung vom 20. August 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 2. September 2020, in dem Verfahren

UN

gegen

Subdelegación del Gobierno en Pontevedra

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jurimäe sowie der Richter N. Jääskinen, M. Safjan (Berichterstatter), N. Piçarra und M. Gavalec,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von UN, vertreten durch E. M. Tomé Torres, A. de Ceballos Cabrillo und J. L. Rodríguez Candela, Abogados,

der spanischen Regierung, vertreten durch J. Rodríguez de la Rúa Puig und L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und I. Galindo Martín als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1 und 5 sowie Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen UN und der Subdelegación del Gobierno en Pontevedra (Unterdelegation der Regierung in der Provinz Pontevedra, Spanien) über den illegalen Aufenthalt von UN im spanischen Hoheitsgebiet.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 2, 4, 6 und 10 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„(2)

Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.

(4)

Eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik muss mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden.

(6)

… Im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts sollten Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten. …

(10)

Besteht keine Veranlassung zu der Annahme, dass das Rückkehrverfahren dadurch gefährdet wird, ist die freiwillige Rückkehr der Rückführung vorzuziehen, wobei eine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt werden sollte. Eine Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise sollte vorgesehen werden, wenn dies aufgrund der besonderen Umstände eines Einzelfalls als erforderlich erachtet wird. …“

4

Art. 1 („Gegenstand“) dieser Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

5

Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

4.

‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme[,] mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

5.

‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat;

8.

‚freiwillige Ausreise‘: die Erfüllung der Rückkehrverpflichtung innerhalb der dafür in der Rückkehrentscheidung festgesetzten Frist;

…“

6

Art. 4 („Günstigere Bestimmungen“) Abs. 3 dieser Richtlinie lautet:

„Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, Vorschriften zu erlassen oder beizubehalten, die für Personen, auf die die Richtlinie Anwendung findet, günstiger sind, sofern diese Vorschriften mit der Richtlinie im Einklang stehen.“

7

In Art. 6 („Rückkehrentscheidung“) der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„(1)   Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

(2)   Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, sind zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach… oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Absatz 1 Anwendung.

(3)   Die Mitgliedstaaten können davon absehen, eine Rückkehrentscheidung gegen illegal in ihrem Gebiet aufhältige Drittstaatsangehörige zu erlassen, wenn diese Personen von einem anderen Mitgliedstaat aufgrund von zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie geltenden bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen wieder aufgenommen [werden]. In einem solchen Fall wendet der Mitgliedstaat, der die betreffenden Drittstaatsangehörigen wieder aufgenommen hat, Absatz 1 an.

(4)   Die Mitgliedstaaten können jederzeit beschließen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. In diesem Fall wird keine Rückkehrentscheidung erlassen. Ist bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen, so ist diese zurückzunehmen oder für die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels oder der sonstigen Aufenthaltsberechtigung auszusetzen.

(5)   Ist ein Verfahren anhängig, in dem über die Verlängerung des Aufenthaltstitels oder einer anderen Aufenthaltsberechtigung von illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen entschieden wird, so prüft dieser Mitgliedstaat …, ob er vom Erlass einer Rückkehrentscheidung absieht, bis das Verfahren abgeschlossen ist.

…“

8

Art. 7 („Freiwillige Ausreise“) Abs. 1, 2 und 4 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Eine Rückkehrentscheidung sieht unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 und 4 eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor. …

(2)   Die Mitgliedstaaten verlängern – soweit erforderlich – die Frist für die freiwillige Ausreise unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls – wie etwa Aufenthaltsdauer, Vorhandensein schulpflichtiger Kinder und das Bestehen anderer familiärer und sozialer Bindungen – um einen angemessenen Zeitraum.

(4)   Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen.“

9

Art. 8 („Abschiebung“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.“

Spanisches Recht

Ausländergesetz

10

Art. 28 Abs. 3 Buchst. c der Ley Orgánica 4/2000, sobre derechos y libertades de los extranjeros en España y su integración social (Organgesetz 4/2000 über die Rechte und Freiheiten von Ausländern in Spanien und deren soziale Integration) vom 11. Januar 2000 (BOE Nr. 10 vom 12. Januar 2000, S. 1139) in der durch die Ley Orgánica 2/2009 (Organgesetz 2/2009) vom 11. Dezember 2009 (BOE Nr. 299 vom 12. Dezember 2009, S. 104986) geänderten Fassung (im Folgenden: Ausländergesetz) sieht vor, dass ein Ausländer das spanische Hoheitsgebiet verlassen muss, wenn die Verwaltung einen von ihm gestellten Antrag auf Verbleib im Hoheitsgebiet abgelehnt hat oder wenn keine Aufenthaltserlaubnis für Spanien vorliegt.

11

Art. 53 Abs. 1 Buchst. a des Ausländergesetzes definiert „[i]llegale[n] Aufenthalt im spanischen Hoheitsgebiet, weil keine Aufenthaltsverlängerung oder Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist oder diese seit mehr als drei Monaten abgelaufen ist, ohne dass der Betroffene deren Verlängerung innerhalb der vorgeschriebenen Frist beantragt hat“, als „schweren“ Verstoß.

12

Gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b des Ausländergesetzes werden schwere Verstöße mit einer Geldbuße von 501 Euro bis 10000 Euro geahndet.

13

Art. 57 des Ausländergesetzes sieht vor:

„(1)   Wird die Zuwiderhandlung von einem Ausländer begangen und erfüllt sie den Tatbestand eines sehr schweren oder schweren Verstoßes im Sinne von Art. 53 Abs. 1 Buchst. a, b, c, d oder f dieser Ley Orgánica, so kann unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anstelle der Geldbuße nach Abschluss des entsprechenden Verwaltungsverfahrens und mit begründeter und die Tatumstände des Verstoßes bewertender Entscheidung die Ausweisung aus dem spanischen Hoheitsgebiet angeordnet werden.

(3)   Die Sanktion der Ausweisung und die Geldbuße dürfen nicht zusammen verhängt werden.

…“

14

Art. 63 („Eilverfahren“) des Ausländergesetzes sieht in Abs. 7 vor:

„Die Vollstreckung der Ausweisungsverfügung erfolgt in den in diesem Artikel vorgesehenen Fällen unverzüglich.“

15

Art. 63a Abs. 2 des Ausländergesetzes bestimmt:

„Im Fall einer Ausweisungsverfügung nach Durchführung eines ordentlichen Verfahrens wird eine Frist für die freiwillige Ausreise des Betroffenen aus dem spanischen Hoheitsgebiet gesetzt. Diese Frist beträgt zwischen sieben und dreißig Tagen und beginnt mit der Zustellung der genannten Verfügung. Die Frist für die freiwillige Ausreise kann unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls – wie etwa Aufenthaltsdauer, Vorhandensein schulpflichtiger Kinder oder das Bestehen anderer familiärer und sozialer Bindungen – um einen angemessenen Zeitraum verlängert werden.“

Real Decreto 240/2007

16

Das Real Decreto 240/2007, sobre entrada, libre circulación y residencia en España de ciudadanos de los Estados miembros de la Unión Europea y de otros Estados parte en el Acuerdo sobre el Espacio Económico Europeo (Königliches Dekret 240/2007 über Einreise, Freizügigkeit und Aufenthalt von Bürgern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der übrigen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum in Spanien) vom 16. Februar 2007 (BOE Nr. 51 vom 28. Februar 2007, S. 8558) setzt die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) in spanisches Recht um.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17

Am 9. Mai 2017 reiste UN, eine kolumbianische Staatsangehörige, über den Flughafen Madrid-Barajas (Spanien) als Touristin rechtmäßig in das spanische Hoheitsgebiet ein. Dies geschah auf der Grundlage einer Aufnahmebescheinigung ihres Sohnes, eines volljährigen spanischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Pontevedra (Spanien).

18

Da der rechtmäßige Aufenthalt von UN höchstens 90 Tage betragen durfte, hätte sie das Gebiet der Europäischen Union vor Ablauf dieser Frist verlassen sollen. Sie blieb jedoch auch nach Ablauf dieser Frist in Spanien und ließ sich in das Einwohnermelderegister von Pontevedra eintragen, wobei sie den Wohnsitz ihres Sohnes als ihre Wohnanschrift angab.

19

Am 13. Februar 2019 eröffnete das Ministerio del Interior (Innenministerium, Spanien) gegenüber UN das Sanktionsverfahren nach Art. 63a des Ausländergesetzes und begründete dies damit, dass UN über keine Erlaubnis zum Aufenthalt in Spanien verfüge.

20

Im März 2019 beantragte UN bei der Extranjería de Pontevedra (Ausländerbehörde Pontevedra, Spanien) gemäß dem Real Decreto 240/2007 zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem spanischen Sohn eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers.

21

Gleichzeitig nahm UN anlässlich der Anhörung im Rahmen des vom Innenministerium eingeleiteten Sanktionsverfahrens Stellung. Sie gab dort an, dass sie in Spanien familiär verwurzelt sei, dass sie in Kolumbien, ihrem Herkunftsland, weder Familie noch Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts mehr habe und dass sie weder vorbestraft noch jemals zuvor festgenommen worden sei. Außerdem machte sie humanitäre und mit dem Schutz der Familie verbundene Gründe sowie einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geltend.

22

Am 30. April 2019 erließ der Leiter des Ausländerbehörde Pontevedra einen Bescheid, mit dem der Antrag von UN auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte mit der Begründung abgelehnt wurde, dass sie nicht nachgewiesen habe, dass ihr in ihrem Herkunftsland von ihrem Sohn Unterhalt gewährt worden sei, und dass sie in Spanien auch nicht privat krankenversichert sei.

23

UN focht diesen Bescheid vom 30. April 2019 beim Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no 2 de Pontevedra (Verwaltungsgericht Nr. 2 Pontevedra, Spanien) an. Nach den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen soll dieses Verfahren noch anhängig sein.

24

Am 8. Mai 2019 erließ die Subdelegada del Gobierno en Pontevedra (Vertretung der Regierung in Pontevedra, Spanien) parallel zum Bescheid vom 30. April 2019 einen Bescheid, mit dem festgestellt wurde, dass sich UN illegal, d. h. ohne Aufenthaltserlaubnis oder Visum, in Spanien aufhalte, und mit dem gegen sie als Sanktion ihre Ausweisung aus dem spanischen Hoheitsgebiet mit dreijährigem Einreiseverbot ausgesprochen wurde. In der Begründung dieses Bescheids stellte diese Behörde fest, dass UN den in Art. 53 Abs. 1 Buchst. a des Ausländergesetzes geregelten schweren Verstoß begangen habe und nicht unter das Asylrecht falle.

25

Am 31. Oktober 2019 erhob UN beim Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no 1 de Pontevedra (Verwaltungsgericht Nr. 1 Pontevedra, Spanien), dem vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache, Klage auf Aufhebung dieses Bescheids bzw., hilfsweise, auf Ersetzung der Sanktion der Ausweisung durch eine finanzielle Sanktion, d. h. eine Geldbuße. UN beantragte ebenfalls die einstweilige Aussetzung dieser Ausweisungssanktion; das vorlegende Gericht hat diesem Antrag mit Beschluss vom 19. Dezember 2019 stattgegeben.

26

Das vorlegende Gericht stellt fest, dass Art. 57 des Ausländergesetzes es zwar verbiete, gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im spanischen Hoheitsgebiet aufhalte, eine Geldbuße zu verhängen und gleichzeitig als Sanktion die Ausweisung auszusprechen, dass es dieses Gesetz aber erlaube, die genannten Sanktionen nacheinander gegen einen Drittstaatsangehörigen zu verhängen.

27

Jedenfalls befreie die Verhängung einer Geldbuße den betreffenden Drittstaatsangehörigen nicht von der Verpflichtung, das spanische Hoheitsgebiet gemäß Art. 28 Abs. 3 Buchst. c des Ausländergesetzes zu verlassen, wenn er das erforderliche Visum oder die erforderliche Aufenthaltserlaubnis nicht erhalte. Legalisiere der betreffende Drittstaatsangehörige seinen Aufenthalt nicht innerhalb einer angemessenen Frist, könne gegen ihn ein neuerliches Sanktionsverfahren eingeleitet werden, das mit einer zwangsweisen Abschiebung abgeschlossen werde. Nach der spanischen Rechtsprechung werde nämlich die Verhängung einer Geldbuße gegen einen illegal in Spanien aufhältigen Drittstaatsangehörigen als erschwerender Umstand im Sinne dieses Gesetzes angesehen.

28

Zwar habe der Gerichtshof im Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune (C‑38/14, EU:C:2015:260), entschieden, dass die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sei, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehe, nach der im Fall eines illegalen Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Staates je nach den Umständen entweder eine Geldbuße verhängt oder die Ausweisung angeordnet werde und sich diese beiden Maßnahmen gegenseitig ausschlössen.

29

Die Auslegung der spanischen Regelung durch das vorlegende Gericht in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen sei, unterscheide sich jedoch von der Auslegung, die das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren vorgenommen habe. Die Geldbuße, die in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden spanischen Regelung vorgesehen sei, entspreche nämlich einer Aufforderung, das spanische Hoheitsgebiet innerhalb einer bestimmten Frist freiwillig zu verlassen. Verlasse der betreffende Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet vor Ablauf dieser Frist nicht freiwillig, müsse, wenn er seinen Aufenthalt nicht legalisiere, eine verbindliche Ausweisungsverfügung ergehen. Somit lasse sich mit der Geldbuße an sich, die in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden spanischen Regelung vorgesehen sei, der Aufenthalt dieses Drittstaatsangehörigen weder legalisieren noch dessen spätere Abschiebung verhindern.

30

Außerdem sei die Situation des Drittstaatsangehörigen, die Gegenstand der Rechtssache gewesen sei, in der das Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune (C‑38/14, EU:C:2015:260), ergangen sei, durch das Vorliegen eines erschwerenden Umstands, nämlich einer früheren Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen Drogenhandels, gekennzeichnet gewesen. Dagegen gebe es im Ausgangsverfahren keinen erschwerenden Umstand, weil UN nicht vorbestraft sei, über Ausweispapiere verfüge und rechtmäßig nach Spanien eingereist sei. Im Übrigen könne UN ihren Aufenthalt in Spanien insbesondere dank ihrer familiären Bindungen potenziell legalisieren.

31

Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Contencioso-Administrativo n.° 1 de Pontevedra (Verwaltungsgericht Nr. 1 Pontevedra) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist die Richtlinie 2008/115 (Art. 4 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1 und 5 sowie Art. 7 Abs. 1) dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die den illegalen Aufenthalt von Ausländern ohne erschwerende Umstände zunächst mit einer Geldbuße, die mit der Auflage der freiwilligen Rückkehr in das Herkunftsland verbunden ist, und anschließend, wenn der Ausländer der Rechtswidrigkeit seines Aufenthalts nicht abhilft und auch nicht freiwillig in sein Land zurückkehrt, mit der Sanktion der Ausweisung ahndet?

2.

Ist die Auslegung des Urteils vom 23. April 2015, Zaizoune (C‑38/14, EU:C:2015:260), dahin, dass die spanische Verwaltung und die spanischen Gerichte die Richtlinie 2008/115 zum Nachteil des Betroffenen unter Nichtberücksichtigung günstigerer interner Strafvorschriften, Verschärfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Betroffenen und eventueller Nichtbeachtung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unmittelbar anwenden können, mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs über die Grenzen der unmittelbaren Wirkung der Richtlinien vereinbar? Oder müssen vielmehr die für den Betroffenen günstigeren nationalen Vorschriften weiter angewandt werden, solange sie nicht durch eine entsprechende Gesetzesreform geändert oder aufgehoben werden?

Verfahren vor dem Gerichtshof

32

Mit Schreiben vom 15. Oktober 2020 hat die Kanzlei des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht das Urteil vom 8. Oktober 2020, Subdelegación del Gobierno en Toledo (Folgen des Urteils Zaizoune) (C‑568/19, EU:C:2020:807), übermittelt und es gebeten, ihm mitzuteilen, ob es im Licht dieses Urteils sein Vorabentscheidungsersuchen und insbesondere die zweite Frage aufrechterhalten wolle.

33

Mit Beschluss vom 2. November 2020, der am 19. November 2020 beim Gerichtshof eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht die zweite Frage zurückgenommen, die erste Frage jedoch aufrechterhalten.

Zur Vorlagefrage

34

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach der illegale Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats, wenn keine erschwerenden Umstände vorliegen, zunächst mit einer Geldbuße geahndet wird, die mit der Auflage verbunden ist, das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, falls nicht vor Fristablauf der Aufenthalt dieses Drittstaatsangehörigen legalisiert wird, und erst anschließend, falls der Drittstaatsangehörige seinen Aufenthalt nicht legalisiert, mit einer Entscheidung, mit der verbindlich seine Abschiebung angeordnet wird.

35

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Rahmen einer Rechtssache befragt, die dieselbe nationale Regelung betrifft, die in der Rechtssache, in der das Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune (C‑38/14, EU:C:2015:260), ergangen ist, in Rede stand. Nach Rn. 29 dieses Urteils ging aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im spanischen Hoheitsgebiet gemäß dieser Regelung ausschließlich mit einer Geldbuße geahndet werden kann, die mit einer Ausweisung unvereinbar ist, wobei letztere Maßnahme nur verhängt wird, wenn zusätzliche erschwerende Umstände vorliegen.

36

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass diese nationale Regelung es zwar verbietet, gegen einen illegal im nationalen Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen Geldbuße und Ausweisung zusammen auszusprechen, indessen aber vorsieht, dass gegen einen solchen Drittstaatsangehörigen diese beiden Sanktionen nacheinander verhängt werden. Somit hätte die Verhängung einer solchen Geldbuße zur Folge, den betreffenden Drittstaatsangehörigen, in dessen Person keine erschwerenden Umstände vorliegen, zu verpflichten, das spanische Hoheitsgebiet innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, es sei denn, sein Aufenthalt wird vor Ablauf dieser Frist von einer nationalen Behörde legalisiert. Außerdem würde der Verhängung dieser Geldbuße, falls der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen nicht legalisiert wird, eine Entscheidung nachfolgen, mit der seine Rückführung angeordnet wird.

37

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung nicht Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Systems der justiziellen Zusammenarbeit die Richtigkeit der Auslegung des nationalen Rechts durch das nationale Gericht zu überprüfen oder in Frage zu stellen, da diese Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit dieses Gerichts fällt. Der Gerichtshof hat daher, wenn ihm ein nationales Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegt, von der Auslegung des nationalen Rechts auszugehen, die ihm dieses Gericht vorgetragen hat (Urteile vom 27. Oktober 2009, ČEZ, C‑115/08, EU:C:2009:660, Rn. 57, und vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 29).

38

Folglich ist die Frage unter der Prämisse des vorlegenden Gerichts zu beantworten, wonach in Ermangelung erschwerender Umstände es die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung erlaubt, den illegalen Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im nationalen Hoheitsgebiet mit der Verhängung einer rückkehrverpflichtungsbewehrten Geldbuße und anschließend mit einer Ausweisungsverfügung zu ahnden.

39

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2008/115, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 2 und 4 ergibt, bezweckt wird, eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik festzulegen. In dieser Richtlinie werden nach ihrem Art. 1 „gemeinsame Normen und Verfahren“ festgelegt, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger anzuwenden sind (Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune, C‑38/14, EU:C:2015:260, Rn. 30).

40

Die Richtlinie 2008/115 bezieht sich nur auf die Rückführung von Drittstaatsangehörigen, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten, und hat somit nicht zum Ziel, die nationalen Rechtsvorschriften über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren. Folglich steht die Richtlinie dem Recht eines Mitgliedstaats nicht entgegen, das den illegalen Aufenthalt als Straftat einstuft und Geldbußen vorsieht, um von der Begehung derartiger Verstöße abzuschrecken und sie zu ahnden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, Sagor, C‑430/11, EU:C:2012:777, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Die Richtlinie 2008/115 schreibt jedoch genau vor, welches Verfahren von jedem Mitgliedstaat bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger anzuwenden ist, und legt die Reihenfolge der verschiedenen Schritte fest, die dieses Verfahren nacheinander umfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2011, El Dridi, C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 34).

42

So sieht Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen (Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune, C‑38/14, EU:C:2015:260, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Stellt sich heraus, dass der Aufenthalt illegal ist, müssen diese Behörden nämlich nach Art. 6 und unbeschadet der in Art. 6 Abs. 2 bis 5 vorgesehenen Ausnahmen eine Rückkehrentscheidung erlassen (Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune, C‑38/14, EU:C:2015:260, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Wenn eine Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen erlassen worden ist, dieser der Rückkehrverpflichtung jedoch nicht innerhalb der für die freiwillige Ausreise gewährten Frist oder, ohne dass eine solche Frist eingeräumt wurde, nachgekommen ist, verpflichtet außerdem Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 die Mitgliedstaaten, um die Effizienz von Rückkehrverfahren zu gewährleisten, alle Maßnahmen zu ergreifen, die zur Durchführung der Abschiebung des Betroffenen, d. h. laut Art. 3 Nr. 5 dieser Richtlinie zu seiner tatsächlichen Verbringung aus dem betreffenden Mitgliedstaat, erforderlich sind (Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune, C‑38/14, EU:C:2015:260, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45

Im Übrigen ergibt sich sowohl aus der Pflicht der Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit als auch aus den Erfordernissen der Wirksamkeit, auf die u. a. im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 hingewiesen wird, dass die den Mitgliedstaaten durch Art. 8 dieser Richtlinie auferlegte Pflicht, die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen in den in Abs. 1 dieser Vorschrift genannten Fällen vorzunehmen, innerhalb kürzester Frist zu erfüllen ist (Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune, C‑38/14, EU:C:2015:260, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46

Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, geht im vorliegenden Fall die Verhängung einer Geldbuße gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen mit der Verpflichtung dieses Drittstaatsangehörigen einher, das nationale Hoheitsgebiet innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, es sei denn, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen vor Ablauf dieser Frist von einer nationalen Behörde legalisiert wird. Erst wenn dieser Drittstaatsangehörige bei Ablauf dieser Frist weder seinen Aufenthalt legalisiert hat noch freiwillig ausgereist ist, erlässt die zuständige Behörde zwingend eine Ausweisungsverfügung.

47

Erstens verwehrt zwar die Richtlinie 2008/115 nach den Ausführungen in Rn. 40 des vorliegenden Urteils einem Mitgliedstaat nicht, dass dessen Recht den illegalen Aufenthalt als Straftat einstuft und Sanktionen vorsieht, um von der Begehung derartiger Verstöße abzuschrecken und sie zu ahnden, doch dürfen solche Sanktionen die Anwendung der mit dieser Richtlinie eingeführten gemeinsamen Normen und Verfahren nicht beeinträchtigen und ihr damit ihre praktische Wirksamkeit nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, Sagor, C‑430/11, EU:C:2012:777, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die Verhängung einer Geldstrafe als solche das mit der Richtlinie 2008/115 eingeführte Rückkehrverfahren nicht zu behindern vermag, sofern diese Strafe dem Erlass und der Durchführung einer Rückkehrentscheidung unter voller Beachtung der in den Art. 6 bis 8 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen nicht entgegensteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, Sagor, C‑430/11, EU:C:2012:777, Rn. 36).

49

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der anwendbaren nationalen Regelung, dass mit der gegen einen Drittstaatsangehörigen, dessen illegaler Aufenthalt festgestellt worden ist, verhängten Geldbuße notwendigerweise dessen Verpflichtung verbunden ist, das nationale Hoheitsgebiet innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen.

50

Zweitens hat der Gerichtshof in Bezug auf die Erfüllung der sich aus der Rückkehrentscheidung ergebenden Verpflichtung entschieden, dass, wie sich aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 ergibt, von Ausnahmen abgesehen, die freiwillige Erfüllung dieser Verpflichtung Vorrang hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O., C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung), da die zwangsweise Abschiebung nur als letztes Mittel eingesetzt werden darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 252).

51

Zwar ergibt sich aus der Definition des Begriffs „freiwillige Ausreise“ in Art. 3 Nr. 8 der Richtlinie 2008/115, dass die in der Rückkehrentscheidung festgesetzte Frist es dem illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen ermöglichen soll, die ihm obliegende Rückkehrverpflichtung zu erfüllen, doch ist festzustellen, dass diese Richtlinie keine Bestimmung enthält, die es diesem Drittstaatsangehörigen verbieten würde, zu versuchen, innerhalb dieser Frist seinen Aufenthalt zu legalisieren.

52

Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 sieht vielmehr vor, dass die Mitgliedstaaten jederzeit beschließen können, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. Ist bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen, so ist diese zurückzunehmen oder für die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels oder der sonstigen Aufenthaltsberechtigung auszusetzen.

53

Hinsichtlich der Dauer der Frist, die dem Betroffenen für die freiwillige Erfüllung der Rückkehrverpflichtung gewährt werden kann, bestimmt Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, dass eine Rückkehrentscheidung unbeschadet der Ausnahmen nach Art. 7 Abs. 2 und 4 grundsätzlich eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vorsieht.

54

Hierzu stellt Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie klar, dass die Mitgliedstaaten – soweit erforderlich – die Frist für die freiwillige Ausreise unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls – wie etwa Aufenthaltsdauer, Vorhandensein schulpflichtiger Kinder und das Bestehen anderer familiärer und sozialer Bindungen – um einen angemessenen Zeitraum verlängern. Nach dieser Bestimmung unterliegt diese den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit keiner besonderen Voraussetzung.

55

Selbst wenn ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger der Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 festgesetzen Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist, erlaubt Art. 7 Abs. 2 mithin unter bestimmten besonderen Umständen des Einzelfalls, den Zeitpunkt der im Wege der Abschiebung erfolgenden Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung zu verschieben.

56

Daher regelt die Richtlinie 2008/115 zwar nicht das Verhältnis zwischen dem Verfahren über einen Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck der Familienzusammenführung und dem Verfahren zum Erlass einer Rückkehr- oder Abschiebungsentscheidung, doch ergibt sich aus den Feststellungen in den Rn. 51 und 55 des vorliegenden Urteils, dass diese Richtlinie es einem Mitgliedstaat innerhalb der in Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie festgelegten Grenzen erlaubt, die Erfüllung der einen Drittstaatsangehörigen treffenden Rückkehrverpflichtung aufzuschieben, wenn dieser wegen besonderer, seiner Situation eigenen Umstände seinen Aufenthalt namentlich aus familiären Gründen zu legalisieren versucht.

57

Außerdem ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 u. a. bestimmt, dass im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf der Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden sollten, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten. Insbesondere ist, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei allen Schritten des durch die Richtlinie geschaffenen Rückführungsverfahrens sicherzustellen, wozu der die Rückführungsentscheidung betreffende zählt, in deren Rahmen sich der betreffende Mitgliedstaat zur Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise im Sinne von Art. 7 der Richtlinie äußern muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O., C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58

Folglich ist festzustellen, dass die Richtlinie 2008/115 als solche einem Mitgliedstaat nicht verwehren kann, die Frist für die freiwillige Ausreise dieses Drittstaatsangehörigen, wenn die in Art. 7 Abs. 4 dieser Richtlinie genannten Umstände, die die sofortige Abschiebung eines rückkehrpflichtigen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen rechtfertigen, nicht vorliegen, bis zum Abschluss eines Verfahrens zur Legalisierung seines Aufenthalts zu verlängern.

59

Insoweit ist jedoch darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine nationale Regelung die Anwendung der in der Richtlinie 2008/115 festgelegten gemeinsamen Normen und Verfahren nicht vereiteln und dadurch die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beeinträchtigen darf, indem sie die Rückführung einer Person, gegen die eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, verzögert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2015, Zaizoune, C‑38/14, EU:C:2015:260, Rn. 39 und 40 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

60

Somit ist es bei einem Rückkehrverfahren, das mit der Verhängung einer rückkehrverpflichtungsbewehrten Geldbuße beginnt, der in dem Fall, dass der betreffende Drittstaatsangehörige dieser Verpflichtung innerhalb der hierfür festgesetzten Frist nicht nachkommt, dessen Abschiebung nachfolgt, von Bedeutung, dass diese Frist nicht zu Verzögerungen führt, die der Richtlinie 2008/115 ihre praktische Wirksamkeit nehmen könnten.

61

Wie in Rn. 45 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, ist nämlich die den Mitgliedstaaten durch Art. 8 dieser Richtlinie auferlegte Pflicht, die Abschiebung vorzunehmen, innerhalb kürzester Frist zu erfüllen.

62

Insbesondere hat der betreffende Mitgliedstaat dafür zu sorgen, dass jede Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 auf einen angemessenen Zeitraum beschränkt wird und, wie sich aus dem zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls erforderlich ist.

63

Im vorliegenden Fall geht vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht aus der einschlägigen spanischen Regelung zum einen hervor, dass die Dauer der Frist für die freiwillige Ausreise eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zwischen sieben und 30 Tagen beträgt und zum anderen diese Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls – wie etwa der Aufenthaltsdauer, des Vorhandenseins schulpflichtiger Kinder oder anderer familiärer und sozialer Bindungen – um einen angemessenen Zeitraum verlängert werden kann. Sofern eine solche Verlängerung gewährt wird, um einen Antrag auf Legalisierung des betreffenden illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, muss die so gewährte Frist in Einklang mit den in der vorstehenden Randnummer aufgeführten Anforderungen festgelegt werden.

64

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115, insbesondere ihre Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 4 und Art. 7 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie, dahin auszulegen ist, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach der illegale Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats, wenn keine erschwerenden Umstände vorliegen, zunächst mit einer Geldbuße geahndet wird, die mit der Auflage verbunden ist, das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, falls nicht vor Fristablauf der Aufenthalt dieses Drittstaatsangehörigen legalisiert wird, und erst anschließend, falls der Drittstaatsangehörige seinen Aufenthalt nicht legalisiert, mit einer Entscheidung, mit der verbindlich seine Abschiebung angeordnet wird, sofern die genannte Frist in Einklang mit den in Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie vorgesehenen Anforderungen festgelegt wird.

Kosten

65

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, insbesondere ihre Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 4 und Art. 7 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie, ist dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach der illegale Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats, wenn keine erschwerenden Umstände vorliegen, zunächst mit einer Geldbuße geahndet wird, die mit der Auflage verbunden ist, das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, falls nicht vor Fristablauf der Aufenthalt dieses Drittstaatsangehörigen legalisiert wird, und erst anschließend, falls der Drittstaatsangehörige seinen Aufenthalt nicht legalisiert, mit einer Entscheidung, mit der verbindlich seine Abschiebung angeordnet wird, sofern die genannte Frist in Einklang mit den in Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie vorgesehenen Anforderungen festgelegt wird.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Spanisch.