URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

11. November 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 – Verbringung von Abfällen – Art. 3 Abs. 5 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. i – Richtlinie 2008/98/EG – Abfallbewirtschaftung – Art. 16 – Grundsätze der Entsorgungsautarkie und der Nähe – Entscheidung 2000/532/EG – Europäischer Abfallkatalog (EAK) – Gemischte Siedlungsabfälle, die einer mechanischen Behandlung unterzogen wurden, die ihre Beschaffenheit nicht verändert“

In der Rechtssache C‑315/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 10. Oktober 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Juli 2020, in dem Verfahren

Regione Veneto

gegen

Plan Eco Srl,

Beteiligte:

Futura Srl,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Siebten Kammer J. Passer (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer sowie der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Haasbeek, G. Gattinara und F. Thiran als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Juni 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Verbringung von Abfällen (ABl. 2006, L 190, S. 1) und der Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien (ABl. 2008, L 312, S. 3).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Regione Veneto (Region Venetien, Italien) und der Plan Eco Srl über die Verbringung von Abfällen zwischen Mitgliedstaaten.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung Nr. 1013/2006

3

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 1013/2006 sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

19.

‚zuständige Behörde am Versandort‘ die zuständige Behörde des Gebiets, von dem aus die Verbringung beginnen soll oder beginnt;

20.

‚zuständige Behörde am Bestimmungsort‘ die zuständige Behörde des Gebiets, in das die Verbringung erfolgen soll oder erfolgt oder in dem Abfälle vor der Verwertung oder Beseitigung in einem Gebiet, das nicht der Gerichtsbarkeit eines Staates unterliegt, verladen werden;

…“.

4

Art. 3 Abs. 5 dieser Verordnung sieht vor:

„Die Verbringung von gemischten Siedlungsabfällen (Abfallschlüssel 20 03 01), die in privaten Haushaltungen eingesammelt worden sind – einschließlich wenn dabei auch solche Abfälle anderer Erzeuger eingesammelt werden –, zu Verwertungs- oder Beseitigungsanlagen unterliegt gemäß dieser Verordnung den gleichen Bestimmungen wie die Verbringung von zur Beseitigung bestimmten Abfällen.“

5

In Art. 11 („Einwände gegen die Verbringung von zur Beseitigung bestimmten Abfällen“) der Verordnung heißt es:

„(1)   Bei der Notifizierung einer geplanten Verbringung von zur Beseitigung bestimmten Abfällen können die zuständigen Behörden am Bestimmungsort und am Versandort innerhalb einer Frist von 30 Tagen ab dem Zeitpunkt der Übermittlung der Empfangsbestätigung durch die zuständige Behörde am Bestimmungsort gemäß Artikel 8 im Einklang mit dem Vertrag begründete Einwände erheben, die sich auf einen oder mehrere der folgenden Gründe stützen:

a)

Die geplante Verbringung oder Beseitigung würde nicht im Einklang mit Maßnahmen stehen, die zur Umsetzung der Grundsätze der Nähe, des Vorrangs der Verwertung und der Entsorgungsautarkie auf gemeinschaftlicher und nationaler Ebene gemäß der Richtlinie 2006/12/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2016 über Abfälle (ABl. 2006, L 114, S. 9)] ergriffen wurden, um die Verbringung von Abfällen allgemein oder teilweise zu verbieten oder um gegen jegliche Verbringungen Einwände zu erheben; oder

i)

es handelt sich um gemischte Siedlungsabfälle aus privaten Haushaltungen (Abfallschlüssel 20 03 01); …

(6)   Maßnahmen, die ein Mitgliedstaat gemäß Absatz 1 Buchstabe a ergreift, um die Verbringung von zur Beseitigung bestimmten Abfällen ganz oder teilweise zu verbieten oder gegen jegliche Verbringung von Abfällen Einwände zu erheben, … sind der Kommission unverzüglich mitzuteilen, die die anderen Mitgliedstaaten informiert.“

6

Art. 12 („Einwände gegen die Verbringung von zur Verwertung bestimmten Abfällen“) der Verordnung bestimmt:

„(1)   Bei der Notifizierung einer geplanten Verbringung von zur Verwertung bestimmten Abfällen können die zuständigen Behörden am Bestimmungsort und am Versandort innerhalb einer Frist von 30 Tagen ab dem Zeitpunkt der Übermittlung der Empfangsbestätigung durch die zuständige Behörde am Bestimmungsort gemäß Artikel 8 im Einklang mit dem Vertrag begründete Einwände erheben, die sich auf einen oder mehrere der folgenden Gründe stützen:

b)

die geplante Verbringung oder Verwertung würde nicht im Einklang mit nationalen Rechtsvorschriften zum Schutz der Umwelt, zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder zum Schutz der Gesundheit stehen, die in dem Einwände erhebenden Staat vorgenommene Handlungen betreffen; oder

g)

der Anteil an verwertbarem und nicht verwertbarem Abfall, der geschätzte Wert der letztlich verwertbaren Stoffe oder die Kosten der Verwertung und die Kosten der Beseitigung des nicht verwertbaren Anteils rechtfertigen unter wirtschaftlichen und/oder ökologischen Gesichtspunkten keine Verwertung; …

…“

Richtlinie 2008/98

7

Die Richtlinie 2006/12 wurde mit Wirkung vom 12. Dezember 2010 durch die Richtlinie 2008/98 aufgehoben. Diese sieht in Art. 41 vor, dass Bezugnahmen auf die Richtlinie 2006/12 als Bezugnahmen auf die Richtlinie 2008/98 gelten.

8

Im 33. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/98 heißt es:

„Für die Zwecke der Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 … gelten gemischte Siedlungsabfälle nach Artikel 3 Absatz 5 dieser Verordnung auch dann weiterhin als gemischte Siedlungsabfälle, wenn sie einem Abfallbehandlungsverfahren unterzogen worden sind, das ihre Eigenschaften nicht wesentlich verändert hat.“

9

Gemäß Art. 16 („Grundsätze der Entsorgungsautarkie und der Nähe“) der Richtlinie 2008/98 gilt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten treffen – in Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedstaaten, wenn dies notwendig oder zweckmäßig ist – geeignete Maßnahmen, um ein integriertes und angemessenes Netz von Abfallbeseitigungsanlagen und Anlagen zur Verwertung von gemischten Siedlungsabfällen, die von privaten Haushaltungen eingesammelt worden sind, zu errichten, auch wenn dabei Abfälle anderer Erzeuger eingesammelt werden; die besten verfügbaren Techniken sind dabei zu berücksichtigen.

Abweichend von der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 können die Mitgliedstaaten zum Schutz ihres Netzes eingehende Abfallverbringungen zu Verbrennungsanlagen, die als Verwertung eingestuft sind, begrenzen, wenn erwiesen ist, dass solche Verbringungen zur Folge hätten, dass inländische Abfälle beseitigt werden müssten oder dass Abfälle in einer Weise zu behandeln wären, die nicht mit ihren Abfallbewirtschaftungsplänen vereinbar ist. Die Mitgliedstaaten unterrichten die Kommission über diesbezügliche Entscheidungen. Die Mitgliedstaaten können auch ausgehende Verbringungen von Abfällen aus Umweltschutzgründen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 begrenzen.

(2)   Das Netz ist so zu konzipieren, dass es der Gemeinschaft insgesamt ermöglicht, die Autarkie bei der Abfallbeseitigung sowie bei der Verwertung von Abfällen nach Absatz 1 zu erreichen, und dass es jedem einzelnen Mitgliedstaat ermöglicht, dieses Ziel selbst anzustreben, wobei die geografischen Gegebenheiten oder der Bedarf an Spezialanlagen für bestimmte Abfallarten berücksichtigt werden.

(3)   Das Netz muss es gestatten, dass die Abfälle in einer der am nächsten gelegenen geeigneten Anlagen beseitigt bzw. – im Falle der in Absatz 1 genannten Abfälle – verwertet werden, und zwar unter Einsatz von Verfahren und Technologien, die am besten geeignet sind, um ein hohes Niveau des Gesundheits- und Umweltschutzes zu gewährleisten.

(4)   Die Grundsätze der Nähe und der Entsorgungsautarkie bedeuten nicht, dass jeder Mitgliedstaat über die gesamte Bandbreite von Anlagen zur endgültigen Verwertung verfügen muss.“

Entscheidung 2000/532/EG

10

Die Entscheidung 2000/532/EG der Kommission vom 3. Mai 2000 zur Ersetzung der Entscheidung 94/3/EG über ein Abfallverzeichnis gemäß Artikel 1 Buchstabe a) der Richtlinie 75/442/EWG des Rates über Abfälle und der Entscheidung 94/904/EG des Rates über ein Verzeichnis gefährlicher Abfälle im Sinne von Artikel 1 Absatz 4 der Richtlinie 91/689/EWG über gefährliche Abfälle (ABl. 2000, L 226, S. 3) in der durch den Beschluss 2014/955/EU der Kommission vom 18. Dezember 2014 (ABl. 2014, L 370, S. 44) geänderten Fassung enthält im Anhang ein Abfallverzeichnis gemäß Art. 7 der Richtlinie 2008/98, das als „Europäischer Abfallkatalog“ (im Folgenden: EAK) bezeichnet wird.

11

Kapitel 19 („Abfälle aus Abfallbehandlungsanlagen …“) des EAK enthält in Abschnitt 19 12 („Abfälle aus der mechanischen Behandlung von Abfällen [z. B. Sortieren, Zerkleinern, Verdichten, Pelletieren] a. n. g.“) folgende Abfallschlüssel:

19 12 11*

sonstige Abfälle (einschließlich Materialmischungen) aus der mechanischen Behandlung von Abfällen, die gefährliche Stoffe enthalten

19 12 12

sonstige Abfälle (einschließlich Materialmischungen) aus der mechanischen Behandlung von Abfällen mit Ausnahme derjenigen, die unter 19 12 11 fallen

12

In Kapitel 20 („Siedlungsabfälle [Haushaltsabfälle und ähnliche gewerbliche und industrielle Abfälle sowie Abfälle aus Einrichtungen], einschließlich getrennt gesammelter Fraktionen“) des EAK findet sich in Abschnitt 20 03 („Andere Siedlungsabfälle“) der Abfallschlüssel 20 03 01: „gemischte Siedlungsabfälle“.

Italienisches Recht

13

Art. 182bis des Decreto legislativo n. 152 – Norme in materia ambientale (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 152 – Umweltvorschriften) vom 3. April 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 88 vom 14. April 2006, im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 152/2006) sieht in Abs. 1 vor:

„Die Beseitigung von Abfällen und die Verwertung gemischter Siedlungsabfälle werden durch ein integriertes und angemessenes Netz von Anlagen unter Berücksichtigung der besten verfügbaren Techniken und des Kosten-Nutzen-Verhältnisses durchgeführt, um

a)

bei der Beseitigung von nicht gefährlichen Siedlungsabfällen und den bei ihrer Behandlung anfallenden Abfällen in optimalen geografischen Bereichen Autarkie zu erreichen;

b)

die Beseitigung von Abfällen und die Verwertung gemischter Siedlungsabfälle in einer der den Orten der Entstehung oder Sammlung am nächsten gelegenen geeigneten Anlagen zu ermöglichen und damit die Verbringung von Abfällen zu verringern, wobei die geografischen Gegebenheiten und der Bedarf an besonderen Anlagen für bestimmte Abfallarten zu berücksichtigen sind;

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

14

Das Transportunternehmen Plan Eco beantragte bei der Region Venetien die Erteilung einer vorherigen Zustimmung für die Verbringung von 2000 Tonnen in Italien angefallener gemischter Siedlungsabfälle von der Futura Srl zu einem Zementwerk in Slowenien. Die Abfälle waren von Futura im Hinblick auf ihre Verbrennung mechanisch behandelt und von ihr danach in den Abfallschlüssel 19 12 12 des EAK eingestuft worden.

15

Mit Entscheidung vom 22. April 2016 widersprach die Region Venetien der Verbringung unter Hinweis auf das Unionsrecht, insbesondere Art. 12 Abs. 1 Buchst. b und g der Verordnung Nr. 1013/2006, und das nationale Recht. Sie war erstens der Ansicht, dass die von Futura vorgenommene vorbereitende Behandlung nichts an der ursprünglichen Beschaffenheit der in Rede stehenden Abfälle als gemischte Siedlungsabfälle, denen der Abfallschlüssel 20 03 01 des EAK entspreche, geändert habe und dass die Einstufung der Abfälle durch das Unternehmen in Abschnitt 19 12 („Abfälle aus der mechanischen Behandlung von Abfällen [z. B. Sortieren, Zerkleinern, Verdichten, Pelletieren] a. n. g.“) des EAK sowie die Zuweisung des Abfallschlüssels 19 12 12 des EAK insoweit nicht maßgeblich seien. Zweitens verlange Art. 182bis Abs. 1 Buchst. b des im Zuge der Umsetzung der Richtlinie 2008/98 und der in ihrem Art. 16 verankerten Grundsätze der Entsorgungsautarkie und der Nähe eingeführten Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 152/2006, dass gemischte Siedlungsabfälle in einer der dem Ort der Entstehung oder Sammlung am nächsten gelegenen geeigneten Anlagen zu verwerten seien. Drittens schließlich gebe es im Gebiet der Region ein Netz von Anlagen, die den Bedarf von Plan Eco decken könnten, und eine dieser Anlagen habe im vorliegenden Fall erklärt, dass sie in der Lage sei, die 2000 Tonnen Abfälle anzunehmen, um die es in der Verbringungsnotifizierung gehe.

16

Plan Eco erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Tribunale Amministrativo Regionale per il Veneto (Regionales Verwaltungsgericht Venetien, Italien), das die Entscheidung mit Urteil vom 15. November 2016 insbesondere deshalb aufhob, weil die Verbringung ins Ausland Sonderabfall betreffe, der in den Abfallschlüssel 19 12 12 des EAK einzustufen sei. Deshalb seien die für die Behandlung von Siedlungsabfällen festgelegten Grundsätze der Entsorgungsautarkie, der Nähe und der territorialen Beschränkung nicht anwendbar.

17

Die Region Venetien legte gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) ein. Dieser beschloss, nachdem er u. a. festgestellt hatte, dass die fraglichen Abfälle einer Behandlung unterzogen worden seien, die ihre ursprünglichen Eigenschaften als Siedlungsabfälle nicht wesentlich verändert habe, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Im Hinblick auf einen Sachverhalt, in dem gemischte Siedlungsabfälle, die keine gefährlichen Abfälle enthalten, zum Zweck der energetischen Verwertung von einer Anlage mechanisch behandelt wurden (Verfahren R1/R12 im Sinne von Anhang C des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 152/2006) und in dem sich nach dieser Behandlung herausstellt, dass die Behandlung die ursprünglichen Eigenschaften des gemischten Siedlungsabfalls nicht wesentlich verändert hat, aber ihm der EAK-Abfallschlüssel 19 12 12 zugeordnet wird, was die Parteien nicht beanstanden;

zum Zweck der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der auf die Grundsätze der Richtlinie 2008/98 gestützten Einwände der zuständigen Behörde des Herkunftslandes gegen den Antrag auf vorherige Zustimmung zur Verbringung des behandelten Abfalls zu einer Produktionsanlage in einem anderen europäischen Land zur Verwendung durch Mitverbrennung oder jedenfalls als Mittel zur Energieerzeugung und insbesondere der im vorliegenden Fall erhobenen Einwände, die auf den Grundsatz des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Umwelt (Art. 13 der Richtlinie 2008/98), die Grundsätze der Entsorgungsautarkie und der Nähe gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/98, den Grundsatz nach diesem Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 2 letzter Satz und den 33. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/98 gestützt sind:

1.

Berühren der EAK (im vorliegenden Fall der Abfallschlüssel 19 12 12, Abfälle aus Anlagen zur mechanischen Behandlung für Verwertungsverfahren R1/R12) und seine Kategorien die unionsrechtlichen Bestimmungen über die Verbringung von Abfällen, die vor der mechanischen Behandlung gemischte Siedlungsabfälle waren, und, falls diese Frage bejaht wird, inwiefern und in welchem Umfang?

2.

Haben insbesondere die Bestimmungen von Art. 16 der Richtlinie 2008/98 und ihr 33. Erwägungsgrund, die ausdrücklich die Verbringung von Abfällen betreffen, in Bezug auf die Verbringung von Abfällen, die sich aus der Behandlung gemischter Siedlungsabfälle ergeben, Vorrang gegenüber der Einstufung nach dem EAK?

3.

Soweit der Gerichtshof eine Klarstellung für zweckmäßig und nützlich hält: Hat der EAK normativen Charakter oder stellt er hingegen eine bloße technische Zertifizierung dar, die die einheitliche Rückverfolgbarkeit aller Abfälle erlaubt?

Zu den Vorlagefragen

18

Mit den Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die zuständige Behörde am Versandort auf der Grundlage der Verordnung Nr. 1013/2006 und der Richtlinie 2008/98 einer Verbringung von zur Verwertung bestimmten gemischten Siedlungsabfällen widersprechen kann, die nach einer im Hinblick auf ihre energetische Verwertung erfolgten mechanischen Behandlung, die ihre ursprünglichen Eigenschaften aber nicht wesentlich verändert hat, in den Abfallschlüssel 19 12 12 des EAK eingestuft wurden.

19

Erstens ist in Bezug auf die Verordnung Nr. 1013/2006 und die Richtlinie 2008/98, deren Ziel darin besteht, die nachteiligen Auswirkungen der Abfallerzeugung und ‑bewirtschaftung auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu minimieren, darauf hinzuweisen, dass sie gemischten Siedlungsabfällen besondere Aufmerksamkeit widmen.

20

So bestimmt Art. 3 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1013/2006, dass „[d]ie Verbringung von gemischten Siedlungsabfällen (Abfallschlüssel 20 03 01), die in privaten Haushaltungen eingesammelt worden sind – einschließlich wenn dabei auch solche Abfälle anderer Erzeuger eingesammelt werden –, zu Verwertungs- oder Beseitigungsanlagen“ gemäß dieser Verordnung den gleichen Bestimmungen wie die Verbringung von zur Beseitigung bestimmten Abfällen unterliegt.

21

Folglich findet Art. 11 der Verordnung Nr. 1013/2006 auch bei der Notifizierung einer geplanten Verbringung von zur Verwertung bestimmten gemischten Siedlungsabfällen Anwendung, selbst wenn er seiner Überschrift und seinem Wortlaut nach grundsätzlich nur auf zur Beseitigung bestimmte Abfälle anwendbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2013, Ragn-Sells, C‑292/12, EU:C:2013:820, Rn. 53 und 54).

22

Außerdem können die zuständigen Behörden am Bestimmungsort oder am Versandort einer solchen Verbringung nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. i dieser Verordnung allein deshalb widersprechen, weil es sich bei den betreffenden Abfällen um „gemischte Siedlungsabfälle aus Privathaushalten (Abfallschlüssel 20 03 01)“ handelt.

23

Insoweit ergibt sich aus den Vorarbeiten zur Verordnung Nr. 1013/2006, dass der Unionsgesetzgeber mit diesen Bestimmungen das Ziel verfolgte, die Verbringung von Abfällen aus privaten Haushalten auf das absolut Notwendige zu beschränken und vorzusehen, dass die Mitgliedstaaten die Verantwortung für diese inhomogenen Siedlungsabfälle zu tragen haben und dazu angeregt werden, ihre Hausmüllprobleme eigenständig zu lösen, ohne eine Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten auszuschließen.

24

In diesem Sinne verpflichtet Art. 16 der Richtlinie 2008/98 die Mitgliedstaaten, ein integriertes und angemessenes Netz von Anlagen zur Behandlung von zur Verwertung bestimmten Abfällen und von „gemischten Siedlungsabfällen, die von privaten Haushaltungen eingesammelt worden sind, … auch wenn dabei Abfälle anderer Erzeuger eingesammelt werden“ zu errichten, wobei die besten verfügbaren Techniken zu berücksichtigen sind. Dieser Artikel sieht auch vor, dass die Mitgliedstaaten dieses Netz so konzipieren müssen, dass auch sie selbst jeweils Autarkie bei der Behandlung dieser Abfälle anstreben und die Behandlung in einer der den Orten der Abfallentstehung am nächsten gelegenen geeigneten Anlagen möglich ist.

25

Der Gerichtshof hat hierzu entschieden, dass die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Errichtung eines solchen integrierten Netzes über einen Ermessensspielraum bei der Wahl der räumlichen Grundlage verfügen, die sie für geeignet halten, um in Bezug auf die Behandlung der Abfälle, um die es geht, eine nationale Autarkie zu erreichen. Er hat betont, dass in diesem Rahmen, soweit es insbesondere um geeignete Maßnahmen zur Förderung der Rationalisierung des Einsammelns, Sortierens und Behandelns von Abfällen geht, eine der wichtigsten Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten, u. a. über die insoweit mit Zuständigkeiten ausgestatteten örtlichen Selbstverwaltungseinheiten zu ergreifen haben, darin besteht, zu versuchen, den Abfall in einer so nahe wie möglich am Ort seiner Erzeugung gelegenen Anlage zu verwerten, insbesondere gemischte Siedlungsabfälle, um ihre Verbringung so weit wie möglich einzuschränken (vgl. Urteil vom 12. Dezember 2013, Ragn-Sells, C‑292/12, EU:C:2013:820, Rn. 60 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Daraus ergibt sich, dass die zuständige Behörde am Versandort im Einklang mit Art. 3 Abs. 5 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. i der Verordnung Nr. 1013/2006 und zur Sicherstellung der Wahrung der in Art. 16 der Richtlinie 2008/98 verankerten und mit den angeführten Bestimmungen der Verordnung Nr. 1013/2006 umgesetzten Grundsätze der Entsorgungsautarkie und der Nähe, auf die sich diese Behörde im Ausgangsverfahren beruft, einer Verbringung von gemischten Siedlungsabfällen widersprechen kann, die in privaten Haushaltungen eingesammelt worden und zur Verwertung oder Beseitigung bestimmt sind.

27

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass gemischte Siedlungsabfälle nach dem 33. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/98 für die Zwecke der Anwendung der Verordnung Nr. 1013/2006 nach deren Art. 3 Abs. 5 auch dann weiterhin als gemischte Siedlungsabfälle gelten, wenn sie einem Abfallbehandlungsverfahren unterzogen worden sind, das ihre Eigenschaften nicht wesentlich verändert hat.

28

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Erwägungsgründe eines Unionsrechtsakts zwar nicht rechtlich verbindlich und können weder geltend gemacht werden, um von den Bestimmungen dieses Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinn auszulegen, der ihrem Wortlaut zuwiderliefe. Sie können jedoch den Inhalt der Bestimmungen des Rechtsakts präzisieren und Auslegungselemente liefern, die den Willen des Urhebers des Rechtsakts erhellen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. März 2021, Balgarska Narodna Banka, C‑501/18, EU:C:2021:249, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Im vorliegenden Fall implizieren Art. 3 Abs. 5 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. i der Verordnung Nr. 1013/2006 bei einer Auslegung anhand des 33. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2008/98, dass gemischte Siedlungsabfälle, die nach einer im Hinblick auf ihre energetische Verwertung erfolgten mechanischen Behandlung, die ihre ursprünglichen Eigenschaften aber nicht wesentlich verändert hat, in den Abfallschlüssel 19 12 12 des EAK eingestuft wurden, als die in diesen Bestimmungen genannten gemischte Siedlungsabfälle, die in privaten Haushaltungen eingesammelt worden sind, anzusehen sind, und zwar unabhängig davon, dass dort der Abfallschlüssel 20 03 01 des EAK angeführt ist.

30

Die rechtliche Regelung für die Verbringung von Abfällen hängt nämlich, wie der Generalanwalt in Nr. 56 seiner Schlussanträge festgestellt hat, von der stofflichen Beschaffenheit der Abfälle und nicht von ihrer formalen Einstufung nach dem EAK ab.

31

Jede andere Auslegung würde es außerdem erlauben, gemischte Siedlungsabfälle, die nach einer Behandlung, die allerdings zu keiner wesentlichen Änderung ihrer grundlegenden Beschaffenheit geführt hat, in einen anderen als den gemischten Siedlungsabfällen vorbehaltenen Abfallschlüssel des EAK eingestuft wurden, von der Anwendung von Art. 3 Abs. 5 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. i der Verordnung Nr. 1013/2006 und letztlich der Grundsätze der Entsorgungsautarkie und der Nähe auszunehmen, deren Wahrung diese Bestimmungen, wie in Rn. 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sicherstellen sollen.

32

Im Ausgangsverfahren steht fest, dass die mechanische Behandlung, der die in Rede stehenden Abfälle unterzogen wurden, deren ursprüngliche Eigenschaften und damit ihre Beschaffenheit nicht wesentlich verändert hat.

33

Daraus folgt für die Anwendung der Verordnung Nr. 1013/2006, dass zur Verwertung bestimmte gemischte Siedlungsabfälle, die nach einer im Hinblick auf ihre energetische Verwertung erfolgten mechanischen Behandlung, die ihre ursprünglichen Eigenschaften aber nicht wesentlich verändert hat, in den Abfallschlüssel 19 12 12 des EAK eingestuft wurden, als gemischte Siedlungsabfälle aus privaten Haushaltungen anzusehen sind.

34

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 3 Abs. 5 und Art. 11 der Verordnung Nr. 1013/2006 dahin auszulegen sind, dass die zuständige Behörde am Versandort unter Berücksichtigung der Grundsätze der Entsorgungsautarkie und der Nähe einer Verbringung von gemischten Siedlungsabfällen, die nach einer im Hinblick auf ihre energetische Verwertung erfolgten mechanischen Behandlung, die ihre ursprünglichen Eigenschaften aber nicht wesentlich verändert hat, in den Abfallschlüssel 19 12 12 des EAK eingestuft wurden, unter Berufung u. a. auf den in Art. 11 Abs. 1 Buchst. i dieser Verordnung genannten Grund widersprechen kann.

Kosten

35

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 3 Abs. 5 und Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Verbringung von Abfällen sind dahin auszulegen, dass die zuständige Behörde am Versandort unter Berücksichtigung der Grundsätze der Entsorgungsautarkie und der Nähe einer Verbringung von gemischten Siedlungsabfällen, die nach einer im Hinblick auf ihre energetische Verwertung erfolgten mechanischen Behandlung, die ihre ursprünglichen Eigenschaften aber nicht wesentlich verändert hat, in den Abfallschlüssel 19 12 12 des Abfallverzeichnisses im Anhang der Entscheidung 2000/532/EG der Kommission vom 3. Mai 2000 zur Ersetzung der Entscheidung 94/3/EG über ein Abfallverzeichnis gemäß Artikel 1 Buchstabe a) der Richtlinie 75/442/EWG des Rates über Abfälle und der Entscheidung 94/904/EG des Rates über ein Verzeichnis gefährlicher Abfälle im Sinne von Artikel 1 Absatz 4 der Richtlinie 91/689/EWG über gefährliche Abfälle in der durch den Beschluss 2014/955/EU der Kommission vom 18. Dezember 2014 geänderten Fassung eingestuft wurden, unter Berufung u. a. auf den in Art. 11 Abs. 1 Buchst. i dieser Verordnung genannten Grund widersprechen kann.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.