Rechtssache C‑278/20

Europäische Kommission

gegen

Königreich Spanien

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 28. Juni 2022

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind – Dem nationalen Gesetzgeber zuzurechnender Verstoß gegen das Unionsrecht – Dem nationalen Gesetzgeber zuzurechnender Verstoß gegen die Verfassung eines Mitgliedstaats – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität“

  1. Recht der Europäischen Union – Dem Einzelnen verliehene Rechte – Verletzung durch einen Mitgliedstaat – Pflicht zum Ersatz des dem Einzelnen entstandenen Schadens – Voraussetzungen – Entschädigungsmodalitäten – Anwendung des nationalen Rechts – Grenzen – Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Nationale Rechtsvorschriften, mit denen die Regelung über die Haftung des nationalen Gesetzgebers für Verstöße gegen das Unionsrecht der Regelung für Verstöße gegen die Verfassung des Mitgliedstaats durch Handlungen des Gesetzgebers angeglichen wird – Entschädigung, die unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird – Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz – Vertragsverletzung

    (vgl. Rn. 29-33, 59, 60, 84, 106, 123, 124, 141-144, 159, 164)

  2. Recht der Europäischen Union – Dem Einzelnen verliehene Rechte – Verletzung durch einen Mitgliedstaat – Pflicht zum Ersatz des dem Einzelnen entstandenen Schadens – Dem nationalen Gesetzgeber zuzurechnender Verstoß – Keine Auswirkung

    (vgl. Rn. 30, 105)

Zusammenfassung

Der Grundsatz der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, wohnt dem System der Verträge inne ( 1 ). Dieser Grundsatz gilt unabhängig davon, welches mitgliedstaatliche Organ durch sein Handeln oder Unterlassen diesen Verstoß begangen hat ( 2 ). Sofern die drei Voraussetzungen für den Eintritt der Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen entstanden sind, erfüllt sind ( 3 ), haben die Geschädigten einen Ersatzanspruch, der seine Grundlage im Unionsrecht hat ( 4 ). Allerdings hat der Staat die Folgen des entstandenen Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben, wobei die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen nicht weniger günstig sein dürfen als bei ähnlichen Rechtsbehelfen, die nur nationales Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), und nicht so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Erlangung der Entschädigung praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) ( 5 ).

Diese beiden Grundsätze bilden den Kern der vorliegenden Rechtssache, in der die Europäische Kommission eine Vertragsverletzungsklage gegen das Königreich Spanien erhoben hat. Nach Beschwerden von Einzelpersonen leitete die Kommission ein EU-Pilotverfahren ( 6 ) gegen diesen Mitgliedstaat ein. Dieses Verfahren betraf bestimmte nationale Vorschriften, mit denen die Regelung über die Haftung des Staates für gesetzgeberisches Handeln wegen Verstößen gegen das Unionsrecht der Regelung über die Haftung des Staates für gesetzgeberisches Handeln wegen Verstößen gegen die spanische Verfassung angeglichen wurde ( 7 ). Das Verfahren, das erfolglos blieb, wurde eingestellt, und die Kommission leitete ein Vertragsverletzungsverfahren gegen das Königreich Spanien ein.

Mit ihrer Klage hat die Kommission beantragt, festzustellen, dass das Königreich Spanien dadurch gegen seine ihm nach den Grundsätzen der Effektivität und der Äquivalenz obliegenden Pflichten verstoßen hat, dass es diese nationalen Bestimmungen erlassen und beibehalten hat.

Der Gerichtshof (Große Kammer) gibt der Klage der Kommission teilweise statt und stellt fest, dass das Königreich Spanien dadurch gegen seine ihm nach dem Grundsatz der Effektivität obliegenden Pflichten verstoßen hat, dass es die streitigen Bestimmungen erlassen und beibehalten hat, soweit diese Bestimmungen den Ersatz von Schäden, die Einzelnen durch einen Verstoß des spanischen Gesetzgebers gegen das Unionsrecht entstanden sind, knüpfen an

die Voraussetzung, dass eine Entscheidung des Gerichtshofs vorliegt, mit der die Unvereinbarkeit der angewandten gesetzlichen Vorschrift mit dem Unionsrecht festgestellt wird;

die Voraussetzung, dass der Geschädigte bei irgendeiner Instanz eine endgültige Entscheidung erlangt hat, mit der eine Klage gegen die Verwaltungshandlung, die den Schaden verursacht hat, abgewiesen wurde, ohne Ausnahmen für die Fälle vorzusehen, in denen sich der Schaden unmittelbar aus einer unionsrechtswidrigen Handlung oder Unterlassung des Gesetzgebers ergibt, ohne dass eine anfechtbare Verwaltungshandlung vorläge;

eine Verjährungsfrist von einem Jahr ab der Veröffentlichung der Entscheidung des Gerichtshofs, mit der die Unvereinbarkeit der angewandten gesetzlichen Vorschrift mit dem Unionsrecht festgestellt wird, im Amtsblatt der Europäischen Union, so dass nur die Fälle erfasst werden, in denen eine solche Entscheidung vorliegt, und

die Voraussetzung, dass nur Schäden ersetzt werden können, die innerhalb von fünf Jahren vor dem Zeitpunkt dieser Veröffentlichung entstanden sind, sofern in dieser Entscheidung nichts anderes bestimmt ist.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der ersten Rüge, mit der ein Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz geltend gemacht wird, gibt der Gerichtshof teilweise statt.

Zunächst weist der Gerichtshof darauf hin, dass es gegen den Grundsatz der Effektivität verstößt, wenn der Ersatz des einem Einzelnen durch den Verstoß eines Mitgliedstaats gegen das Unionsrecht entstandenen Schadens durch diesen Staat davon abhängig gemacht wird, dass der Gerichtshof zuvor einen diesem Mitgliedstaat zuzurechnenden Verstoß gegen das Unionsrecht feststellt. Ebenso darf der Ersatz des Schadens, der durch einen einem Mitgliedstaat zuzurechnenden Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden ist, nicht davon abhängig gemacht werden, dass dieser Verstoß in einem Urteil festgestellt worden ist, das der Gerichtshof im Wege einer Vorabentscheidung erlassen hat. Infolgedessen muss für die Feststellung, dass das Vorbringen der Kommission zutrifft, nicht geprüft werden, ob die streitigen Bestimmungen verlangen, dass eine Entscheidung des Gerichtshofs, mit der ein Verstoß des Königreichs Spanien gegen eine der Pflichten, die ihm nach dem Unionsrecht obliegen, erlassen wurde oder ob diese Bestimmungen so zu verstehen sind, dass sie sich auf jede Entscheidung des Gerichtshofs beziehen, der die Unvereinbarkeit einer Handlung oder Unterlassung des spanischen Gesetzgebers mit dem Unionsrecht entnommen werden kann. Der Ersatz des durch den Verstoß eines Mitgliedstaats, einschließlich des nationalen Gesetzgebers, gegen das Unionsrecht verursachten Schadens darf nämlich in keinem Fall davon abhängig gemacht werden, dass zuvor eine solche Entscheidung des Gerichtshofs ergangen ist, da andernfalls gegen den Grundsatz der Effektivität verstoßen würde.

Des Weiteren stellt der Gerichtshof fest, dass das Unionsrecht nicht der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Einzelner keinen Ersatz für einen Schaden verlangen kann, bei dem er es vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, ihn durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden, vorausgesetzt allerdings, dass der Gebrauch dieses Rechtsmittels dem Geschädigten keine übermäßigen Schwierigkeiten bereitet und ihm zumutbar ist. Diese Voraussetzung wird von den streitigen Bestimmungen schon deshalb nicht erfüllt, weil sie den Ersatz der vom Gesetzgeber verursachten Schäden von der Voraussetzung abhängig machen, dass der Geschädigte bei irgendeiner Instanz eine endgültige Entscheidung erlangt hat, mit der eine Klage gegen die Verwaltungshandlung, die den Schaden verursacht hat, abgewiesen wurde, ohne Ausnahmen für die Fälle vorzusehen, in denen sich der Schaden unmittelbar aus einer unionsrechtswidrigen Handlung oder Unterlassung des Gesetzgebers ergibt, ohne dass eine anfechtbare Verwaltungshandlung vorläge. Ferner weist der Gerichtshof darauf hin, dass es eine übermäßige verfahrensrechtliche Komplikation, die dem Effektivitätsgrundsatz zuwiderläuft, darstellen kann, wenn vom Geschädigten verlangt wird, schon vor der Klage, die gegen die Verwaltungshandlung, mit der sich der Schaden materialisiert hat, gerichtet ist, den in der Folge anerkannten Verstoß gegen das Unionsrecht geltend gemacht zu haben. In diesem Stadium kann es nämlich übermäßig schwer oder sogar unmöglich sein, vorherzusehen, welcher Verstoß gegen das Unionsrecht letztendlich vom Gerichtshof festgestellt wird. Der Gerichtshof weist allerdings das Vorbringen der Kommission zurück, soweit sie vorgetragen hat, dass nur Bestimmungen des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung im Rahmen einer solchen Klage wirksam geltend gemacht werden könnten.

Gemäß den streitigen Bestimmungen beginnt erstens die Frist für die Verjährung des Anspruchs auf Haftung des Staates für gesetzgeberisches Handeln wegen ihm zuzurechnender Verstöße gegen das Unionsrecht mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Entscheidung des Gerichtshofs, mit der ein Verstoß des Königreichs Spanien mit dem Unionsrecht festgestellt wird oder aus der sich die Unvereinbarkeit der schadenstiftenden Handlung oder Unterlassung des Gesetzgebers ergibt, im Amtsblatt, und zweitens können nur Schäden ersetzt werden, die innerhalb von fünf Jahren vor diesem Zeitpunkt entstanden sind. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof zum einen fest, dass es gegen den Effektivitätsgrundsatz verstößt, wenn für den Beginn dieser Verjährungsfrist allein auf die Veröffentlichung einer solchen Entscheidung im Amtsblatt abgestellt wird, da der Ersatz des Schadens, der einem Einzelnen durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden ist, nicht von der Voraussetzung abhängig gemacht werden darf, dass es eine solche Entscheidung des Gerichtshofs gibt, und die Fälle, in denen es eine solche Entscheidung nicht gibt, nicht erfasst werden. Zum anderen weist der Gerichtshof darauf hin, dass es in Ermangelung von Unionsvorschriften auf diesem Gebiet Sache der nationalen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats ist, den Umfang der Entschädigung sowie die Vorschriften über die Bewertung der durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht verursachten Schäden festzulegen. Doch müssen die nationalen Regelungen, die die Kriterien für die Bestimmung dieses Umfangs und die Festlegung dieser Vorschriften vorsehen, u. a. den Effektivitätsgrundsatz wahren und daher einen Ersatz der Schäden ermöglichen, der dem erlittenen Schaden angemessen sein muss, und zwar in dem Sinne, dass damit die tatsächlich erlittenen Schäden in vollem Umfang ausgeglichen werden können, was die streitigen Bestimmungen nicht in allen Fällen ermöglichen.

Bezüglich der zweiten Rüge, mit der ein Verstoß gegen den Grundsatz der Äquivalenz geltend gemacht wird, entscheidet der Gerichtshof, dass sie auf einem fehlerhaften Verständnis der Rechtsprechung des Gerichtshofs beruht und daher als unbegründet zurückzuweisen ist.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass dieser Grundsatz den Rahmen für die Verfahrensautonomie bildet, über die die Mitgliedstaaten verfügen, wenn sie das Unionsrecht umsetzen und dieses keine einschlägige Bestimmung enthält. Dieser Grundsatz kommt daher im Bereich der Haftung des Staates für ihm zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht nur dann zum Tragen, wenn diese Haftung auf der Grundlage des Unionsrechts ausgelöst wird. Im vorliegenden Fall will die Kommission mit ihrer zweiten Rüge nicht die Voraussetzungen in Frage stellen, unter denen in Spanien der Grundsatz der Haftung des Staates für ihm zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht umgesetzt wird, sondern die Voraussetzungen für den Eintritt der Haftung des Staates für gesetzgeberisches Handeln wegen ihm zuzurechnender Verstöße gegen das Unionsrecht, wie sie im spanischen Recht definiert sind, das die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Voraussetzungen getreu übernimmt. Selbst wenn die Voraussetzungen für den Eintritt der Haftung des Staates für gesetzgeberisches Handeln wegen ihm zuzurechnender Verstöße gegen das Unionsrecht weniger günstig sein sollten als die Voraussetzungen für den Eintritt der Haftung des Staates für gesetzgeberisches Handeln bei Verstößen gegen die Verfassung, kommt der Äquivalenzgrundsatz in einem solchen Fall nicht zur Anwendung.

Der Gerichtshof hat im Übrigen bereits klargestellt, dass die Mitgliedstaaten zwar vorsehen können, dass ihre Haftung unter weniger strengen als den vom Gerichtshof genannten Voraussetzungen ausgelöst wird, diese Haftung beruht dann jedoch nicht auf dem Unionsrecht, sondern auf dem nationalen Recht.


( 1 ) Urteile vom 26. Januar 2010, Transportes Urbanos y Servicios Generales (C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 18. Januar 2022, Thelen Technopark Berlin (C‑261/20, EU:C:2022:33, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 2 ) In diesem Sinne Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame (C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 32 und 36), sowie vom 25. November 2010, Fuß (C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 3 ) Die drei Voraussetzungen sind folgende: Die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß gegen diese Norm ist hinreichend qualifiziert, und zwischen diesem Verstoß und dem den Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang.

( 4 ) Urteile vom 26. Januar 2010, Transportes Urbanos y Servicios Generales (C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 18. Januar 2022, Thelen Technopark Berlin (C‑261/20, EU:C:2022:33, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 5 ) Urteile vom 26. Januar 2010, Transportes Urbanos y Servicios Generales (C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 4. Oktober 2018, Kantarev (C‑571/16, EU:C:2018:807, Rn. 123).

( 6 ) Ein von der Kommission in einem frühzeitigen Stadium angewandtes System, um Probleme zu klären oder zu lösen und damit nach Möglichkeit die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen den betreffenden Mitgliedstaat zu vermeiden.

( 7 ) Art. 32 Abs. 3 bis 6 und Art. 34 Abs. 1 Unterabs. 2 der Ley 40/2015 de Régimen Jurídico del Sector Público (Gesetz 40/2015 über die rechtliche Regelung des öffentlichen Sektors) vom 1. Oktober 2015 (BOE Nr. 236 vom 2. Oktober 2015, S. 89411) sowie Art. 67 Abs. 1 Unterabs. 3 der Ley 39/2015 del Procedimiento Administrativo Común de las Administraciones Públicas (Gesetz 39/2015 über das allgemeine Verwaltungsverfahren der öffentlichen Verwaltung) vom 1. Oktober 2015 (BOE Nr. 236 vom 2. Oktober 2015, S. 89343).