SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 13. Januar 2022 ( 1 )

Rechtssache C‑569/20

IR,

Strafverfahren

unter Beteiligung der

Spetsializirana prokuratura

(Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad [Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung – Art. 8 und 9 – Anforderungen im Fall einer Verurteilung in Abwesenheit – Recht auf eine neue Verhandlung – Flucht der beschuldigten Person – Nationale Regelung über den Ausschluss der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, wenn die beschuldigte Person nach Kenntnisnahme von den gegen sie im Vorermittlungsverfahren erhobenen Anklagepunkten geflohen ist“

I. Einleitung

1.

Hat eine Person, die nach Durchführung einer Verhandlung, zu der sie aufgrund ihrer Flucht nicht erschienen ist, gemäß Art. 8 Abs. 4 Satz 2 und Art. 9 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren ( 2 ) das Recht auf eine neue Verhandlung?

2.

Das ist im Wesentlichen der Gegenstand der Vorlagefragen des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien).

3.

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, in dem beschlossen wurde, IR in Abwesenheit zu verurteilen. Obwohl er im Vorermittlungsverfahren über die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe informiert worden war, ergriff er die Flucht, so dass ihm weder die endgültige Anklageschrift noch Termin und Ort ihrer Verhandlung noch die Folgen eines Nichterscheinens mitgeteilt wurden.

4.

Die Frage des vorlegenden Gerichts betrifft somit die Tragweite der vom Unionsgesetzgeber in der Richtlinie 2016/343 im Hinblick auf die Gewährleistung der Verteidigungsrechte dieser Person aufgestellten Anforderungen. Insbesondere will dieses Gericht wissen, ob es möglich ist, die Entscheidung, die nach Durchführung der in ihrer Abwesenheit nach Art. 8 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie durchgeführten Verhandlung erlassen wurde, zu vollstrecken, oder ob es im Gegenteil erforderlich ist, nach Art. 8 Abs. 4 Satz 2 und Art. 9 dieser Richtlinie ein neues Gerichtsverfahren durchzuführen.

5.

In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich darlegen, dass die Information der beschuldigten Person über ihre Verhandlung im Hinblick auf die Beachtung der Verteidigungsrechte zwar eine von der Richtlinie 2016/343 aufgestellte wesentliche Anforderung darstellt, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten aber erlaubt, zu prüfen, in welchem Umfang dieser Anforderung im konkreten Fall entsprochen wurde. Er ersucht die Mitgliedstaaten, besonderes Augenmerk darauf zu richten, was für ein Verhalten sowohl die zuständigen nationalen Behörden bei der Mitteilung dieser Information als auch diese Person bei der Entgegennahme dieser Mitteilung an den Tag gelegt haben.

6.

In diesem Kontext werde ich darlegen, warum Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2016/343, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, eine nach Durchführung einer Verhandlung, zu der die beschuldigte Person nicht erschienen ist, erlassene Entscheidung zu vollstrecken, eine Situation erfasst, in der das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller konkreten die in Rede stehende Situation kennzeichnenden Umstände feststellt, dass, obwohl die zuständigen nationalen Behörden Sorgfalt geübt und Bemühungen unternommen haben, um die beschuldigte Person über ihre Verhandlung und über die Folgen ihres Nichterscheinens zu informieren, diese Person vorsätzlich und absichtlich gegen ihre Verpflichtungen zur Entgegennahme dieser Informationen mit dem Ziel verstoßen hat, sich den justiziellen Maßnahmen zu entziehen. Ich werde auch klarstellen, dass, wenn das nationale Gericht diese Feststellungen trifft, weder Art. 8 Abs. 4 Satz 2 noch Art. 9 der Richtlinie 2016/343 einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der kein neues Gerichtsverfahren durchzuführen ist, wenn die beschuldigte Person nach Unterrichtung über die gegen sie erhobenen Anklagepunkte im Vorermittlungsverfahren, aber noch vor Mitteilung der endgültigen Anklageschrift die Flucht ergriffen hat.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Richtlinie 2016/343

7.

Die Richtlinie 2016/343 legt gemäß Art. 1 gemeinsame Mindestvorschriften für zum einen bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und zum anderen das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung fest.

8.

In den Erwägungsgründen 37 und 38 dieser Richtlinie heißt es:

„(37)

Es sollte … möglich sein, in Abwesenheit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person eine Verhandlung durchzuführen, die zu einer Entscheidung über Schuld oder Unschuld führen kann, wenn diese Person über die Verhandlung unterrichtet wurde und sie einem von ihr oder vom Staat bestellten Rechtsanwalt ein Mandat erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu vertreten, und dieser den Verdächtigen oder die beschuldigte Person tatsächlich vor Gericht vertreten hat.

(38)

Bei der Prüfung der Frage, ob die Art der Übermittlung der Informationen eine ausreichende Gewähr dafür bietet, dass die Person Kenntnis von der Verhandlung hat, sollte gegebenenfalls auch in besonderem Maße darauf geachtet werden, welche Sorgfalt die Behörden bei der Unterrichtung der betroffenen Person an den Tag gelegt haben und welche Sorgfalt die betroffene Person im Zusammenhang mit der Entgegennahme der an sie gerichteten Informationen an den Tag gelegt hat.“

9.

Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) dieser Richtlinie sieht in den Abs. 1 bis 4 vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

(2)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern

a)

der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder

b)

der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.

(3)   Eine Entscheidung, die im Einklang mit Absatz 2 getroffen wurde, kann gegen die betreffende Person vollstreckt werden.

(4)   Wenn Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu führen, es jedoch nicht möglich ist, die in Absatz 2 dieses Artikels genannten Voraussetzungen zu erfüllen, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass gleichwohl eine Entscheidung ergehen und vollstreckt werden kann. In einem solchen Fall stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie über die Entscheidung unterrichtet werden, insbesondere wenn sie festgenommen werden, auch über die Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, gemäß Artikel 9 eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet werden.“

10.

Art. 9 („Recht auf eine neue Verhandlung“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend waren und die in Artikel 8 Absatz 2 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt wurden, das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs haben, die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann. In diesem Zusammenhang stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht haben, anwesend zu sein, im Einklang mit den Verfahren des nationalen Rechts effektiv mitzuwirken und ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“

B.   Bulgarisches Recht

11.

Art. 55 Abs. 1 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) bestimmt:

„Die beschuldigte Person hat folgende Rechte: … am Strafverfahren teilzunehmen …“

12.

Art. 94 Abs. 1 und 3 NPK sieht vor:

„(1)   Die Mitwirkung eines Verteidigers (Rechtsanwalts) im Strafverfahren ist zwingend, wenn

8.

die Sache in Abwesenheit der beschuldigten Person verhandelt wird;

(3)   Wenn die Mitwirkung eines Verteidigers zwingend ist, bestimmt die zuständige Behörde einen Rechtsanwalt als Verteidiger.“

13.

Art. 247b Abs. 1 NPK lautet:

„Auf Anordnung des berichterstattenden Richters wird dem Angeklagten eine Abschrift der Anklageschrift zugestellt. Mit der Zustellung der Anklageschrift wird der Angeklagte über die Anberaumung der Vorverhandlung und über die in Art. 248 Abs. 1 genannten Fragen, über sein Recht, mit einem Verteidiger zu erscheinen, und die ihm eingeräumte Möglichkeit, sich in den in Art. 94 Abs. 1 vorgesehenen Fällen einen Verteidiger bestellen zu lassen, sowie über den Umstand unterrichtet, dass über die Strafsache unter den Voraussetzungen nach Art. 269 in seiner Abwesenheit verhandelt und entschieden werden kann.“

14.

Art. 269 NPK sieht vor:

„(1)   In Strafsachen, in denen dem Angeklagten eine schwere Straftat vorgeworfen wird, ist dessen Anwesenheit in der Verhandlung zwingend.

(3)   Sofern es der Ermittlung der objektiven Wahrheit nicht entgegensteht, kann die Sache in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt werden, wenn

1.

sich dieser nicht an der von ihm angegebenen Adresse befindet oder diese Adresse geändert hat, ohne die zuständige Behörde darüber zu unterrichten;

2.

sein Aufenthaltsort in Bulgarien nicht bekannt ist und auch nach gründlicher Nachforschung nicht zu ermitteln ist;

4.

[dieser] sich außerhalb des bulgarischen Hoheitsgebiets befindet und

a)

sein Aufenthaltsort unbekannt ist;

…“

15.

Art. 423 Abs. 1 bis 3 NPK bestimmt:

„(1)   Innerhalb von sechs Monaten nach Kenntnisnahme von dem rechtskräftigen Strafurteil oder ihrer tatsächlichen Überstellung durch ein anderes Land an die Republik Bulgarien kann die in Abwesenheit verurteilte Person unter Berufung auf ihre Abwesenheit vom Strafverfahren die Wiederaufnahme des Strafverfahrens beantragen. Dem Antrag wird stattgegeben, es sei denn, die verurteilte Person hat nach der Mitteilung der Anklagepunkte im Rahmen des Vorermittlungsverfahrens die Flucht ergriffen, weswegen das Verfahren nach Art. 247b Abs. 1 nicht durchgeführt werden kann, oder ist nach Durchführung dieses Verfahrens ohne triftigen Grund nicht zur Verhandlung erschienen.

(2)   Der Antrag hat keine die Vollstreckung des Strafurteils aufschiebende Wirkung, es sei denn, das Gericht bestimmt etwas anderes.

(3)   Das Verfahren zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens wird eingestellt, wenn die in Abwesenheit verurteilte Person ohne triftige Gründe nicht zur Verhandlung erscheint.“

16.

Art. 425 NPK bestimmt in Abs. 1 Nr. 1:

„Wenn der Antrag auf Wiederaufnahme begründet ist, kann das Gericht

1.   die Verurteilung aufheben … und die Sache zu erneuter Prüfung zurückverweisen und dabei angeben, in welchem Stadium die erneute Prüfung der Sache beginnen muss.“

III. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17.

Die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien) leitete gegen IR ein Strafverfahren ein wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung an einer organisierten kriminellen Vereinigung, deren Ziel die Begehung von mit Freiheitsstrafen bedrohten Steuerstraftaten war.

18.

Die Anklageschrift wurde IR persönlich zugestellt. Auf diese Zustellung gab IR eine Anschrift an, unter der er erreichbar sei. Er war jedoch weder bei Einleitung der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens noch bei Versuchen des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht), ihn zum Gerichtstermin zu laden, an der angegebenen Adresse ausfindig zu machen. Darüber hinaus legte der von ihm beauftragte Rechtsanwalt die Verteidigung nieder. Das vorlegende Gericht bestellte daraufhin einen Pflichtverteidiger, der jedoch mit IR nicht in Kontakt trat.

19.

Da die Anklageschrift mit einem Fehler behaftet war, wurde dieses Schriftstück für nichtig erklärt und das gegen ihn eingeleitete Gerichtsverfahren geschlossen ( 3 ).

20.

In der weiteren Folge wurde eine neue Anklageschrift erstellt und das Verfahren wiedereröffnet. Auch in diesem Zusammenhang wurde nach IR – in diesem Fall auch über Verwandte, ehemalige Arbeitgeber und Mobilfunkanbieter – gesucht, ohne dass er ausfindig gemacht werden konnte. Es scheint daher, dass die zuständigen nationalen Behörden im neuen Gerichtsverfahren IR aufgrund seiner Flucht trotz der von ihnen insoweit unternommenen Schritte die neue ihn betreffende Anklageschrift nicht zustellen konnten.

21.

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass in Anwesenheit von IR verhandelt werden müsse, ein Umstand, der auch in der ersten mündlichen Verhandlung in dieser Rechtssache erörtert worden sei. Dieses Gericht führt jedoch auch aus, dass es bei einer etwaigen Verurteilung von IR in Abwesenheit in seiner Entscheidung die Verfahrensgarantien und insbesondere die Rechtsbehelfe angeben müsse, die ihm nach Abschluss der Verhandlung zustünden, und zwar um die Wahrung der Richtlinie 2016/343 zu gewährleisten.

22.

Sowohl hinsichtlich der Ordnungsmäßigkeit der Verhandlung in Abwesenheit als auch hinsichtlich der Rechtsbehelfe bestünden Unklarheiten in Bezug auf die Verfahrensgarantien, die der betroffenen Person in einer Situation zustehen müssten, in der, wie es vorliegend der Fall sei, diese Person nach Mitteilung der ersten Anklageschrift und vor Einleitung der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens die Flucht ergriffen habe. Im Übrigen könne nicht ausgeschlossen werden, dass IR im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufgefunden, festgenommen und auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls an die bulgarischen Behörden übergeben werde. Die Fragen zur Tragweite der Richtlinie 2016/343 seien unter Berücksichtigung von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ( 4 ) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 ( 5 ) geänderten Fassung zu prüfen.

23.

Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 8 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 36 bis 39 und Art. 4а Abs. 1 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit dessen Erwägungsgründen 7 bis 10 dahin auszulegen, dass sie einen Fall erfassen, in dem der Angeklagte über den gegen ihn erhobenen Anklagevorwurf in dessen ursprünglicher Fassung unterrichtet wurde, danach aufgrund seiner Flucht objektiv nicht über die Gerichtsverhandlung unterrichtet werden kann und von einem von Amts wegen bestellten Rechtsanwalt verteidigt wird, mit dem er keinerlei Kontakt pflegt?

2.

Wenn dies verneint wird:

Ist mit Art. 9 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 und Art. 4а Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2002/584 eine nationale Regelung (Art. 423 Abs. 1 und 5 [NPK]) vereinbar, wonach gegen in Abwesenheit durchgeführte Ermittlungsmaßnahmen und gegen eine in Abwesenheit erfolgte Verurteilung kein Rechtsschutz vorgesehen ist, wenn sich der Angeklagte nach Unterrichtung über den ursprünglichen Anklagevorwurf verborgen hält und daher weder über den Termin und den Ort der Gerichtsverhandlung noch über die Folgen seines Nichterscheinens unterrichtet werden konnte?

3.

Wenn dies verneint wird:

Entfaltet Art. 9 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unmittelbare Wirkung?

24.

Nur die Europäische Kommission hat schriftliche Erklärungen eingereicht und die auf die zur schriftlichen Beantwortung gestellten Fragen des Gerichtshofs geantwortet.

IV. Würdigung

A.   Zur Zulässigkeit

25.

Bei der Prüfung der Vorlage zur Vorabentscheidung sind vorab Ausführungen zur Zulässigkeit der ersten und der zweiten Vorlagefrage erforderlich.

26.

Diese zwei Fragen bestehen jeweils aus zwei Teilen. Der erste Teil betrifft die Auslegung der maßgeblichen Bestimmungen der Richtlinie 2016/343, wohingegen sich der zweite Teil auf die Auslegung der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 bezieht. Ich stimme mit der Kommission darin überein, dass die Auslegung der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses und insbesondere seines Art. 4a für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nicht relevant ist. Denn im Licht des im Vorabentscheidungsersuchen dargestellten Sachverhalts ist festzustellen, dass der beim vorlegenden Gericht anhängige Rechtsstreit, über den dieses Gericht zu entscheiden hat, weder in der Hauptsache noch hilfsweise die Frage der Wirksamkeit oder der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls betrifft. Die Auslegung der Bestimmungen von Art. 4a des Rahmenbeschlusses, um die der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) ersucht, betrifft in Wirklichkeit ein hypothetisches Problem, soweit dieses Gericht ausführt, dass nicht auszuschließen sei, dass IR im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufgefunden, festgenommen und auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls an die bulgarischen Behörden übergeben werden könnte.

27.

Unter diesen Umständen schlage ich in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs vor, die erste und die zweite Vorlagefrage für unzulässig zu erklären, soweit sich diese Fragen auf die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 beziehen ( 6 ).

B.   Zur Begründetheit

28.

Im Rahmen der vorliegenden Vorlage zur Vorabentscheidung wird der Gerichtshof im Wesentlichen um Klärung ersucht, inwieweit eine verurteilte Person nach Durchführung einer Verhandlung, zu der sie nicht erschienen ist, nach Art. 9 der Richtlinie 2016/343 Anspruch auf Durchführung eines neuen Gerichtsverfahrens hat, wenn diese Person, der eine später für nichtig erklärte Anklageschrift zugestellt wurde, die Flucht ergriffen hat, so dass sie zum einen weder über die endgültige Anklageschrift noch über die Gerichtsverhandlung oder über die Folgen des Nichterscheinens informiert wurde und zum anderen von einem staatlich bestellten Verteidiger vertreten wurde, zu dem von ihrer Seite kein Kontakt besteht.

29.

Das vorlegende Gericht richtet seine Fragen an den Gerichtshof unter Berücksichtigung der Bestimmungen von Art. 423 Abs. 1 NPK. Dieser Artikel stellt nämlich den Grundsatz auf, dass dem Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens stattgegeben wird, wenn dieser Antrag von einer in Abwesenheit verurteilten Person innerhalb von sechs Monaten, nachdem sie von der Entscheidung über ihre Verurteilung Kenntnis erlangt hat, gestellt wird ( 7 ). In diesem Artikel sind jedoch auch Ausnahmen von diesem Grundsatz vorgesehen ( 8 ). So kann der Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens abgelehnt werden, wenn die verurteilte Person nach der Mitteilung der Anklagepunkte im Rahmen des Vorermittlungsverfahrens, aber vor Zustellung der endgültigen Anklageschrift die Flucht ergriffen hat. Daraus folgt nach Ansicht des vorlegenden Gerichts, dass eine neue Verhandlung nicht durchgeführt wird, wenn die beschuldigte Person weder über die Durchführung einer vorbereitenden Verhandlung noch über die Möglichkeit, sich durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen, oder über die Folgen des Nichterscheinens informiert wurde.

30.

Da nach der Auffassung des vorlegenden Gerichts keine Bestimmung der Richtlinie 2016/343 klare Angaben dazu enthält, welche Rechtsvorschriften auf eine auf der Flucht befindliche Person anwendbar sind und welche Rechte dieser Person nach Durchführung einer Verhandlung, zu der sie nicht erschienen ist, zustehen, ersucht es den Gerichtshof um Feststellung, ob eine solche Regelung mit dieser Richtlinie vereinbar ist.

31.

Zu diesem Zweck ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klarstellung, ob bei einer Person, die sich in einer Situation wie IR befindet, davon auszugehen ist, dass sie unter die Regelung von Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2016/343 fällt, wonach es möglich ist, eine nach Durchführung einer Verhandlung, zu der diese Person nicht erschienen ist, erlassene Entscheidung zu vollstrecken (erste Frage), oder ob vielmehr für diese Person die Regelung gemäß Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 dieser Richtlinie gilt, nach der diese Person das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren hat (zweite Frage).

32.

Da beide Regelungskomplexe miteinander zusammenhängen, rege ich an, die erste und die zweite Vorlagefrage zusammen zu prüfen.

33.

Ich werde meine Würdigung mit einer Prüfung des Wortlauts der Art. 8 und 9 der Richtlinie 2016/343 beginnen, bevor ich dann mein Augenmerk auf die Prüfung zum einen der Ziele, die der Unionsgesetzgeber im Rahmen dieser Richtlinie zu verfolgen beabsichtigt, und zum anderen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) zur Wahrung von Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ( 9 ) richten werde.

1. Analyse des Wortlauts von Art. 8 Abs. 2 und 4 sowie von Art. 9 der Richtlinie 2016/343

34.

Der Unionsgesetzgeber bestätigt den Grundsatz, dass beschuldigte Personen das Recht auf Anwesenheit in ihrer Verhandlung haben, und ermächtigt sodann die Mitgliedstaaten, Verfahren vorzusehen, in deren Rahmen Personen in Abwesenheit verurteilt werden können. Somit können die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2016/343 vorsehen, dass eine Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person durchgeführt wird und die nach Durchführung dieser Verhandlung erlassene Entscheidung vollstreckt wird. Nach diesen Bestimmungen ist es aber auch erforderlich, dass diese Person über Termin und Ort ihrer Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, damit davon ausgegangen werden kann, dass sie freiwillig und unzweideutig auf ihre Anwesenheit in der Verhandlung verzichtet hat.

35.

Wie ich darlegen werde, folgt nämlich aus den Art. 8 und 9 dieser Richtlinie, dass die in einem Verfahren, zu dem sie nicht erschienen sind, verurteilten Personen in zwei Kategorien einzuteilen sind. Zum einen gibt es die Kategorie von Personen, bei denen es ungewiss ist, ob sie von Termin und Ort ihrer Verhandlung Kenntnis hatten oder haben konnten, und zum anderen die Kategorie der anderen Personen. Die dieser zweiten Kategorie unterfallenden Personen haben das Recht auf eine neue Verhandlung, wohingegen den Personen der ersten Kategorie ein solches Recht nicht zukommt. Die Ablehnung der Durchführung einer neuen Verhandlung macht der Unionsgesetzgeber von zwei Voraussetzungen abhängig ( 10 ).

36.

Die erste, in Art. 8 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2016/343 vorgesehene Voraussetzung betrifft die Unterrichtung der beschuldigten Person. Sie muss rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen eines Nichterscheinens informiert worden sein. Mit anderen Worten muss diese Person davon Kenntnis gehabt haben, dass eine Entscheidung über ihre Schuld oder Unschuld gegen sie erlassen werden kann, auch wenn sie nicht zur Verhandlung erscheint.

37.

Die zweite, von Art. 8 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie geregelte Voraussetzung bezieht sich auf die Vertretung der beschuldigten Person durch einen Rechtsanwalt. Sie erfasst den Fall, in dem sich diese, über die Verhandlung unterrichtete Person freiwillig dafür entschieden hat, von einem beratenden Rechtsbeistand vertreten zu werden, anstatt persönlich zur Verhandlung zu erscheinen ( 11 ). Darin kann grundsätzlich der Nachweis gesehen werden, dass sie unter Wahrung ihres Rechts auf Verteidigung auf eine Anwesenheit in ihrer Verhandlung verzichtet hat. Nach Auffassung des EGMR gehört das Recht jedes Angeklagten, sich von einem ihm erforderlichenfalls von Amts wegen beizuordnenden Rechtsanwalt tatsächlich verteidigen zu lassen, zu den grundlegenden Merkmalen eines fairen Prozesses. Ein Angeklagter verliert dieses Recht nicht bereits dadurch, dass er nicht in der Hauptverhandlung anwesend ist. Es ist daher für die Gerechtigkeit des Strafrechtssystems entscheidend, dass die Abwesenheit des Angeklagten in seiner Verhandlung nicht dadurch bestraft wird, dass ihm das Recht auf Beistand durch einen Verteidiger verweigert wird, und dass er sowohl im ersten Rechtszug als auch in der Berufungsinstanz angemessen verteidigt wird ( 12 ).

38.

Ich stelle als Erstes fest, dass es für die Erfüllung jeder dieser Voraussetzungen erforderlich ist, dass die beschuldigte Person über ihre Verhandlung in Kenntnis gesetzt wird. Die Einhaltung dieser Verpflichtung ist daher im Hinblick auf die Vollstreckung einer nach Durchführung der Verhandlung, zu der diese Person nicht erschienen ist, erfolgten Verurteilung von wesentlicher Bedeutung.

39.

Als Zweites weise ich darauf hin, dass der Verstoß gegen diese Informationspflicht die Anwendung der in Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 vorgesehenen Regeln zur Folge hat, da die zuständigen nationalen Behörden in diesem Fall sicherstellen müssen, dass die beschuldigte Person das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren hat. Wie der Wortlaut dieser Artikel zeigt ( 13 ), hängen die Bestimmungen von Art. 8 Abs. 2 und 3 sowie jene von Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 dieser Richtlinie derart miteinander zusammen, dass sie eine kohärente Einheit bilden und dabei die Information dieser Person das Kriterium darstellt, das den Ausschlag für die eine oder die andere Regelung gibt.

40.

Die Tragweite des Rechts auf eine neue Verhandlung ist mithin in Art. 9 dieser Richtlinie definiert.

41.

Hinsichtlich der Form des neuen Gerichtsverfahrens überlässt es der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten, das System der Rechtsbehelfe und der Verfahren zur Gewährleistung der Wahrung der Verteidigungsrechte der in Abwesenheit verurteilten Personen festzulegen. Dieser den Mitgliedstaaten eingeräumte Spielraum steht ganz im Einklang mit dem Mindestcharakter der von der Richtlinie 2016/343 aufgestellten Regeln ( 14 ), da dieses System kein vollständiges und abschließendes Instrument darstellt, das darauf abzielt, sämtliche Voraussetzungen für den Erlass einer Gerichtsentscheidung zu regeln ( 15 ). Die Auswahl dieser Modalitäten ist Teil der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten und wird je nach den Besonderheiten ihres jeweiligen Rechtssystems vorgenommen.

42.

Dagegen legt der Unionsgesetzgeber hinsichtlich des Umfangs dieses neuen Gerichtsverfahrens den Mitgliedstaaten präzise und eindeutige Verpflichtungen auf. Er verlangt nämlich von ihnen, dass sie ein Verfahren vorsehen, das eine neue Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweise, ermöglicht und das zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann. Ferner gibt er den Mitgliedstaaten auf, sicherzustellen, dass die beschuldigte Person im Rahmen dieses neuen Rechtsbehelfs das Recht hat, im neuen Verfahren anwesend zu sein, im Einklang mit den Verfahren des nationalen Rechts effektiv mitzuwirken und ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.

43.

Der Unionsgesetzgeber berücksichtigt insoweit die vom EGMR entwickelten wesentlichen Anforderungen an ein neues Gerichtsverfahren, die ich in den Nrn. 66 und 67 der vorliegenden Schlussanträge darstellen werde ( 16 ).

44.

Nach dieser Prüfung des Wortlauts der Richtlinie 2016/343 ist festzustellen, dass eine Situation, in der die beschuldigte Person weder über ihre Verhandlung noch die Folgen eines Nichterscheinens in Kenntnis gesetzt wurde, a priori nicht von den Bestimmungen des Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie, sondern vielmehr von denen des Art. 8 Abs. 4 dieser Richtlinie erfasst wird.

45.

Bei der Situation von Personen, die aufgrund eines ihnen anzulastenden Umstands nicht von ihrer Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurden, bleibt jedoch eine Grauzone bestehen. Die nunmehr zu beantwortende Frage ist insbesondere, ob diese Auslegung auf eine Situation angewendet werden kann, in der die beschuldigte Person aufgrund ihrer Flucht weder über ihre Verhandlung noch die Folgen des Nichterscheinens informiert werden konnte.

46.

Mit anderen Worten ist zu fragen, ob der Unionsgesetzgeber die Informationspflicht zu einem absoluten Erfordernis machen wollte, bei dem es keine Rolle spielt, welches Verhalten die beschuldigte Person an den Tag gelegt hat und insbesondere aus welchen Gründen trotz aller Bemühungen der zuständigen nationalen Behörden der Aufenthalt dieser Person nicht ermittelt werden konnte. Verlangt der Unionsgesetzgeber von den Mitgliedstaaten, dass sie ein neues Gerichtsverfahren immer dann vorsehen, wenn die beschuldigte Person flüchtig ist?

47.

Aus nunmehr darzulegenden Gründen bin ich hiervon nicht überzeugt.

48.

Als Erstes folgt aus dem 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343, dass die den zuständigen nationalen Behörden obliegende Verpflichtung, die beschuldigte Person über die Verhandlung zu unterrichten, bedeutet, dass diese Person persönlich geladen oder auf anderem Wege amtlich über Termin und Ort der Verhandlung in einer Weise unterrichtet wird, dass sie von dieser Verhandlung Kenntnis nehmen kann. Der Unionsgesetzgeber berücksichtigt hier auch die Rechtsprechung des EGMR, wonach nur dann davon ausgegangen werden kann, dass ein Angeklagter durch sein Verhalten stillschweigend auf sein Recht auf Teilnahme an seiner Verhandlung verzichtet hat, wenn sich nachweisen lässt, dass er insoweit vernünftigerweise die Folgen seines Verhaltens voraussehen konnte ( 17 ). Die nationalen Gerichte müssen also unter Wahrung der erforderlichen Sorgfalt den Angeklagten ordnungsgemäß laden ( 18 ), was bedeutet, dass diese Person über eine mündliche Verhandlung in einer Weise informiert wird, dass sie nicht nur Kenntnis von Termin, Zeit und Ort dieser Verhandlung erhält, sondern dass ihr auch genügend Zeit für die Vorbereitung ihrer Verteidigung und für die Anreise zum Gericht eingeräumt wird ( 19 ).

49.

Jedoch folgt aus dem 38. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343, dass geprüft werden kann, auf welche Art die Mitteilung erfolgte und ob diese Mitteilung insbesondere ausreichend war. Der Unionsgesetzgeber weist nämlich darauf hin, dass „[b]ei der Prüfung der Frage, ob die Art der Übermittlung der Informationen eine ausreichende Gewähr dafür bietet, dass die Person Kenntnis von der Verhandlung hat, … gegebenenfalls auch in besonderem Maße darauf geachtet werden [sollte], welche Sorgfalt die Behörden bei der Unterrichtung der betroffenen Person an den Tag gelegt haben und welche Sorgfalt die betroffene Person im Zusammenhang mit der Entgegennahme der an sie gerichteten Informationen an den Tag gelegt hat“.

50.

Daraus ist nach meiner Ansicht zu folgern, dass die Mitgliedstaaten von Fall zu Fall die Art und Weise und die Umstände prüfen können, unter denen die Information der beschuldigten Person mitgeteilt wurde. Die Verwendung der Ausdrücke „gegebenenfalls“ und „auch“ soll meines Erachtens darauf hinweisen, dass die Mitgliedstaaten auch andere Gesichtspunkte berücksichtigen können als jene, die sich auf die Natur, die Form oder den Inhalt der Handlung beziehen, mit der die Information übermittelt wurde. Indem er von diesen Mitgliedstaaten verlangt, dass „in besonderem Maße darauf geachtet“ werden sollte, welche Sorgfalt sowohl die nationalen Behörden als auch die beschuldigte Person bei der Mitteilung bzw. bei der Entgegennahme der Information an den Tag gelegt haben, richtet der Unionsgesetzgeber meines Erachtens sein Augenmerk auf das Verhalten jedes der Beteiligten des Strafverfahrens.

51.

Im Rahmen dieser Prüfung können die Mitgliedstaaten nach meinem Dafürhalten die Flucht der beschuldigten Person berücksichtigen. Zwar wird dieser Begriff im 39. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 genannt, er wird dort aber nicht definiert. Allerdings ergibt sich aus der allgemeinen Wortbedeutung, dass unter „Flucht“ in erster Linie ein Verhalten zu verstehen ist und dass sich eine Person dabei insbesondere einer unangenehmen, belastenden oder gefährlichen Situation entzieht, sich aus einer solchen Situation rettet oder zu retten versucht oder ihr ausweicht ( 20 ).

52.

Meines Erachtens sind hinsichtlich der flüchtigen Personen zwei Fallgestaltungen zu unterscheiden.

53.

Im ersten Fall hat die beschuldigte Person trotz aller von den nationalen Behörden an den Tag gelegten Sorgfalt und der von ihnen unternommenen Bemühungen, sie über Termin und Ort ihrer Verhandlung sowie über die Folgen eines Nichterscheinens zu unterrichten, die Mitteilung über diese Informationen nicht erhalten, da sie vorsätzlich und absichtlich die ihr im Hinblick auf den Erhalt der Information über ihre Verhandlung obliegenden Verpflichtungen verletzt hat, und zwar in der Absicht, sich der Justiz zu entziehen. Ich denke, dass die Mitgliedstaaten in einem solchen Fall, in dem die nationalen Behörden alle zur Unterrichtung der beschuldigten Person erforderlichen Schritte unternommen haben und in dem sich diese Person durch ihr Verhalten ihrer Unterrichtung über diese Informationen widersetzt hat, in der Lage sein müssen, eine Vollstreckung der Verurteilung gemäß Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2016/343 vorzunehmen und die Durchführung einer neuen Verhandlung abzulehnen.

54.

Im zweiten Fall wurde die beschuldigte Person nicht über Termin und Ort ihrer Verhandlung informiert, aus Gründen, die – anders als im ersten Fall – sehr unterschiedlich sind, von ihr nicht willentlich beeinflusst werden oder die mit dem Vorliegen von berechtigten Motiven zusammenhängen, wie z. B. dann, wenn es sich bei ihr um eine ausgegrenzte oder um eine vulnerable Person handelt. In einem solchen Fall, in dem die Nichterfüllung der Verpflichtung zur Unterrichtung nicht darauf zurückzuführen ist, dass die beschuldigte Person vorsätzlich und absichtlich die ihr obliegenden Verpflichtungen verletzt hat, müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass diese Person gemäß den in Art. 8 Abs. 4 Satz 2 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 festgelegten Grundsätzen das Recht auf eine neue Verhandlung hat.

55.

Die Unterscheidung, deren Vornahme ich hinsichtlich der flüchtigen Personen vorschlage, verlangt, dass das nationale Gericht eine vollständige Prüfung aller Umstände der Rechtssache vornimmt.

56.

Deshalb ist zu prüfen, ob die nationalen Behörden bei ihren Bemühungen, die beschuldigte Person zu unterrichten, ihre Anwesenheit vor dem erkennenden Gericht sicherzustellen und sie ausfindig zu machen, ausreichende Sorgfalt haben walten lassen und dabei Natur und Umfang der dieser Person obliegenden Verpflichtungen, diese Informationen über ihre Verhandlung entgegenzunehmen, berücksichtigt haben. Gegebenenfalls muss das nationale Gericht in der Lage sein, auf der Grundlage genau und objektiv ermittelter Tatumstände der Rechtssache den eindeutigen Nachweis zu erbringen, dass diese Person über die Natur sowie über den Grund der ihr angelasteten Anklagevorwürfe informiert wurde und dass sie vorsätzlich und absichtlich ihre Verpflichtungen, eine Unterrichtung über ihre Verhandlung zu ermöglichen, verletzt hat, beispielsweise indem sie eine fehlerhafte Anschrift angegeben oder es trotz entsprechender Anweisungen unterlassen hat, eine Änderung der Anschrift mitzuteilen.

57.

Die von mir vorgeschlagene Auslegung des Wortlauts von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 kann meines Erachtens nicht die vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziele beeinträchtigen ( 21 ).

2. Teleologische Analyse der Richtlinie 2016/343

58.

Ich weise darauf hin, dass die Richtlinie 2016/343 bezweckt, gemeinsame Mindestvorschriften in Bezug auf das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung zur Verbesserung der gegenseitigen Anerkennung und zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege aufzustellen ( 22 ). Ferner erinnere ich in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs daran, dass diese Richtlinie kein vollständiges und abschließendes Instrument darstellt, das darauf abzielt, sämtliche Voraussetzungen für den Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu regeln ( 23 ). Auch wenn der Unionsgesetzgeber von den Mitgliedstaaten verlangt, zur Gewährleistung der Wahrung der Verteidigungsrechte der in Abwesenheit verurteilten Personen ein neues Gerichtsverfahren vorzusehen, muss, damit die von dieser Richtlinie verfolgten Ziele erreicht werden, diesen Personen nicht zwingend ein für alle Fälle geltendes Recht auf ein neues Verfahren zuerkannt werden.

59.

Wie der Gerichtshof im Beschluss vom 14. Januar 2021, UC und TD (Formfehler der Anklageschrift) ( 24 ), entschieden hat, ist es daher Sache des nationalen Gerichts, „ein angemessenes Gleichgewicht zwischen einerseits der Wahrung der Verteidigungsrechte und andererseits der Notwendigkeit sicherzustellen, die Effektivität der Strafverfolgung zu gewährleisten und dafür zu sorgen, dass das Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist durchgeführt wird“ ( 25 ). Ein derart eng gefasster Begriff des Rechts auf ein faires Verfahren, wonach die Einleitung eines neuen gerichtlichen Verfahrens systematisch möglich sein muss, auch wenn es den zuständigen nationalen Behörden wegen der Flucht der beschuldigten Person faktisch nicht möglich ist, diese über ihre Verhandlung zu unterrichten, weil sie vorsätzlich und absichtlich ihre Verpflichtungen auf Entgegennahme dieser Information verletzt, könnte indes dazu führen, dass dem Rechts- und Verfahrensmissbrauch seitens bestimmter Angeklagter Vorschub geleistet wird, die darauf hoffen, sich auf das Versäumen einer angemessenen Frist oder die Verjährung der öffentlichen Anklage berufen zu können, mit der Folge, dass es zu verspätetem Handeln der Justiz kommt, dass die Opfer der Straftat, die oftmals die moralischen und finanziellen Folgen mehrmaliger Verhandlungstermine tragen müssen, entmutigt werden und dass es sogar zu einer Rechtsverweigerung kommt.

60.

Die von Art. 8 Abs. 2 bis 4 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 vorgesehenen Regeln müssen daher die Gewährleistung eines angemessenen Gleichgewichts ermöglichen zwischen, auf der einen Seite, der Effektivität der Strafverfolgung und einer ordnungsgemäßen Justizverwaltung, indem es den Mitgliedstaaten erlaubt wird, eine Entscheidung gegen eine Person zu vollstrecken, die es unter offensichtlicher Verletzung der ihr obliegenden Verpflichtungen den zuständigen nationalen Behörden unmöglich macht, sie über ihre Verhandlung zu unterrichten, um sich auf diese Weise der Justiz zu entziehen, und, auf der anderen Seite, dem Recht auf ein neues Gerichtsverfahren, das darauf gerichtet sein muss, die Verteidigungsrechte der Person zu gewährleisten, die weder auf ihre Anwesenheit und Verteidigung verzichten wollte noch die Absicht hatte, sich der Justiz zu entziehen.

61.

Die von mir befürwortete Auslegung entspricht schließlich auch der Rechtsprechung des EGMR zur Beachtung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.

3. Analyse der Rechtsprechung des EGMR

62.

Der Gerichtshof hat im Urteil vom 13. Februar 2020, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person) ( 26 ), darauf hingewiesen, weshalb die Rechtsprechung des EGMR zur Beachtung des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung bei der Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 berücksichtigt werden muss ( 27 ). Der Unionsgesetzgeber hat nämlich in den Erwägungsgründen 11, 13, 33, 45, 47 und 48 dieser Richtlinie seinen Willen, die effektive Anwendung des Rechts auf ein faires Verfahren in Strafverfahren durch Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zur Beachtung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu stärken und zu gewährleisten, eindeutig zum Ausdruck gebracht.

63.

Zu diesem Artikel hat der EGMR festgestellt, dass eine hinreichende Qualifizierung der Flucht einer Person darin zu sehen sei, dass dieser Person die Anhängigkeit eines Strafverfahrens gegen sie bekannt sei, dass sie die Natur sowie den Grund der Anklage kenne und dass sie nicht beabsichtige, an der Verhandlung teilzunehmen, oder sich der Strafverfolgung entziehen wolle ( 28 ).

64.

In diesem Kontext nimmt der EGMR eine Prüfung in zwei Schritten vor.

65.

In einem ersten Schritt prüft der EGMR, ob sich auf der Grundlage objektiver und erheblicher Tatsachen nachweisen lässt, dass die beschuldigte Person auf ihr Recht auf Anwesenheit und Verteidigung verzichtet hat oder beabsichtigte, sich der Justiz zu entziehen. Insoweit verlangt der EGMR von den nationalen Gerichten, dass sie die erforderliche Sorgfalt walten lassen und der beschuldigten Person selbst die gegen sie erhobenen Anklagevorwürfe mitteilen und sie ordnungsgemäß zum Verhandlungstermin laden ( 29 ). Wird eine amtliche Ladung nicht entgegengenommen, kann nach Auffassung des EGMR anhand bestimmter Tatsachen und Feststellungen eindeutig der Nachweis erbracht werden, dass die beschuldigte Person davon Kenntnis hat, dass gegen sie ein Strafverfahren durchgeführt wird, dass sie von der Natur sowie dem Grund der Anklage Kenntnis hat und dass sie nicht beabsichtigt, an der Verhandlung teilzunehmen, oder dass sie sich der Strafverfolgung entzieht ( 30 ). In diesem Kontext prüft der EGMR, ob die zuständigen nationalen Behörden bei ihren Bemühungen, die beschuldigte Person ausfindig zu machen und sie über das Strafverfahren in Kenntnis zu setzen ( 31 ), hinreichende Sorgfalt haben walten lassen, insbesondere indem sie angemessene Nachforschungen angestellt haben ( 32 ). Im Urteil vom 11. Oktober 2012, Abdelali/Frankreich ( 33 ), hat der EGMR auch darauf hingewiesen, dass der bloße Umstand, dass der Beschwerdeführer weder an seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort noch am Wohnsitz seiner Eltern anwesend gewesen sei, nicht ausreiche, um anzunehmen, dass er Kenntnis von der gegen ihn durchgeführten Strafverfolgung und Verhandlung gehabt und sich „auf der Flucht“ befunden habe.

66.

Für den Fall, dass diese Feststellungen nicht ausreichen, untersucht der EGMR in einem zweiten Schritt, inwieweit die beschuldigte Person zweifelsfrei die Möglichkeit hatte, zu einer neuen Verhandlung zu erscheinen ( 34 ). Nach seiner Ansicht ist die Pflicht, dem Angeklagten das Recht auf Anwesenheit im Verhandlungssaal zu garantieren – sei es im ersten Verfahren, sei im Wiederaufnahmeverfahren – eines der Wesensmerkmale von Art. 6 EMRK. Andernfalls muss nach seiner Ansicht angenommen werden, dass das Strafverfahren „offensichtlich gegen die Bestimmungen von Art. 6 [EMRK] verstößt“ oder eine „offensichtliche Rechtsverweigerung“ darstellt ( 35 ).

67.

Deshalb verlangt der EGMR, dass der beschuldigten Person die Möglichkeit einer neuen tatsächlichen und rechtlichen Prüfung der Begründetheit der gegen sie vorgebrachten Anklagepunkte durch ein „in vollem Umfang entscheidungsbefugtes“ und in ihrer Anwesenheit verhandelndes Gericht eröffnet wird ( 36 ) und ihr damit alle ihr von Art. 6 EMRK zuerkannten Garantien zur Verfügung gestellt werden. Er lässt den Vertragsstaaten jedoch „bei der Wahl der Mittel, anhand derer ihre Justizsysteme mit den Anforderungen [dieses Artikels] in Einklang gebracht werden können“ einen weiten Spielraum, soweit „sich die vom innerstaatlichen Recht gebotenen Mittel als wirksam erweisen, wenn der Angeklagte weder auf sein Erscheinen noch auf seine Verteidigung verzichtet hat noch die Absicht hatte, sich der Justiz zu entziehen“ ( 37 ).

68.

Diese Grundsätze wurden vom EGMR im Urteil vom 26. Januar 2017, Lena Atanasova/Bulgarien ( 38 ), angewendet. In der diesem Urteil zugrunde liegenden Rechtssache war der EGMR aufgerufen, zu prüfen, ob der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen hatte, weil er auf der Grundlage von dem – in der vorliegenden Vorlage zur Vorabentscheidung in Rede stehenden – Art. 423 Abs. 1 NPK einen Antrag der flüchtigen Beschwerdeführerin auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens mit der Begründung abgelehnt hatte, dass diese versucht habe, sich der Justiz zu entziehen, und sich aufgrund ihres Fehlverhaltens selbst die Möglichkeit genommen habe, an ihrem Strafverfahren teilzunehmen ( 39 ).

69.

Der EGMR war der Auffassung, dass diese Ablehnung nicht den Tatbestand einer solchen Verletzung erfülle, da die Angeklagte wissentlich und wirksam stillschweigend auf ihr von Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiertes Recht auf persönliches Erscheinen bei Gericht verzichtet habe. Der EGMR stellte zunächst fest, dass die Beschwerdeführerin ordnungsgemäß über ein Strafverfahren sowie über die gegen sie erhobenen Vorwürfe unterrichtet worden sei, dass sie den Sachverhalt eingeräumt und sich bereit erklärt habe, detailliert zu verhandeln und zu den gegen sie erhobenen Anklagepunkten Stellung zu nehmen. Ferner stellte er fest, dass ihr die Ladung zur Verhandlung aufgrund ihres – den zuständigen Behörden nicht mitgeteilten – Wohnsitzwechsels nicht habe zugestellt werden können. Die nationalen Behörden hätten zudem die nach vernünftiger Betrachtung angemessenen Schritte unternommen, um die Anwesenheit der Angeklagten im Verhandlungstermin sicherzustellen. Die Behörden hätten in dieser Rechtssache versucht, diese Person zunächst unter der Anschrift, die sie den Behörden vor den Nachforschungen angegeben hatte, und danach unter den ihnen bekannten Anschriften bzw. über die Strafanstalten zu laden, und sich schließlich Gewissheit verschafft, dass sie das nationale Hoheitsgebiet nicht verlassen habe ( 40 ).

70.

Dagegen ist der EGMR im Urteil vom 23. Mai 2006, Kounov/Bulgarien ( 41 ), zu einer anderen Schlussfolgerung gelangt. In diesem Urteil kam der EGMR nämlich zu dem Ergebnis, dass eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliege, da dem in Abwesenheit verurteilten Beschwerdeführer das Recht auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens vorenthalten worden sei, ohne dass die Behörden den Nachweis erbracht hätten, dass er unzweideutig auf sein Recht auf ein Erscheinen in der Verhandlung verzichtet habe. In diesem Urteil stellte der EGMR fest, dass der Angeklagte zwar zu dem ihm zur Last gelegten Sachverhalt gehört worden sei, dass er aber nicht persönlich über die Einleitung des gegen ihn durchgeführten Ermittlungsverfahrens in Kenntnis gesetzt worden sei. In Anbetracht des Umstands, dass ihm die gegen ihn erhobenen Anklagepunkte nicht mitgeteilt worden seien, habe aufgrund keines dem EGMR vorgelegten Beweises nachgewiesen werden können, dass er von der Einleitung der Strafverfolgung, der Eröffnung des Hauptverfahrens und vom Termin seiner Verhandlung Kenntnis gehabt habe. Der EGMR befand, dass der Beschwerdeführer nach seiner polizeilichen Anhörung zum Sachverhalt lediglich habe vermuten können, dass eine Strafverfolgung eingeleitet werde, dass er aber keinesfalls genaue Kenntnis von den späteren Anklagepunkten gehabt haben könne ( 42 ).

71.

Ich stelle fest, dass der EGMR somit ebenfalls ein Gleichgewicht herstellen will zwischen der Wahrung der Verteidigungsrechte der nicht zu ihrer Verhandlung erschienenen Person und der Notwendigkeit, die Wirksamkeit der Strafverfolgung in Situationen sicherzustellen, in denen diese Person unzweideutig ihren Willen zum Ausdruck gebracht hat, sich dem Verfahren zu entziehen.

72.

In Anbetracht dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, für Recht zu erkennen, dass Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2016/343 eine Situation erfasst, in der das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände, die für die in Rede stehende Situation kennzeichnend sind, feststellt, dass die beschuldigte Person – trotz der von den zuständigen nationalen Behörden bei der Unterrichtung dieser Person über ihre Verhandlung und die Folgen eines Nichterscheinens an den Tag gelegten Sorgfalt und der von diesen Behörden insoweit unternommenen Bemühungen – vorsätzlich und absichtlich ihre Verpflichtungen zur Entgegennahme dieser Informationen mit dem Ziel verletzt hat, sich der Justiz zu entziehen.

73.

Im Rahmen dieser Prüfung ist es Sache des nationalen Gerichts, Natur und Umfang der Verpflichtungen der beschuldigten Person zur Entgegennahme von Informationen zu bestimmen und gegebenenfalls auf der Grundlage präziser und objektiver Tatsachen zweifelsfrei nachzuweisen, dass diese Person Kenntnis von Natur und Grund der gegen sie vorgebrachten Anklagepunkte hatte und dass sie vorsätzlich und absichtlich die Flucht ergriffen hat.

74.

Art. 8 Abs. 4 Satz 2 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der ein neues Gerichtsverfahren nicht durchgeführt wird, wenn die beschuldigte Person nach Unterrichtung über die gegen sie im Vorermittlungsverfahren erhobenen Anklagepunkte, aber vor Mitteilung der endgültigen Anklageschrift die Flucht ergriffen hat, vorausgesetzt, das nationale Gericht trifft die oben genannten Feststellungen.

75.

In Anbetracht der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die erste und zweite Vorlagefrage, die zusammen geprüft wurden, erscheint es mir nicht erforderlich, auf die dritte Vorlagefrage zu antworten.

V. Ergebnis

76.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) wie folgt zu antworten:

1.

Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass er eine Situation erfasst, in der das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände, die für die in Rede stehende Situation kennzeichnend sind, feststellt, dass die beschuldigte Person trotz der von den zuständigen nationalen Behörden bei der Unterrichtung dieser Person über ihre Verhandlung und die Folgen eines Nichterscheinens an den Tag gelegten Sorgfalt und der von diesen Behörden insoweit unternommenen Bemühungen vorsätzlich und absichtlich ihre Verpflichtungen zur Entgegennahme dieser Informationen mit dem Ziel verletzt hat, sich der Justiz zu entziehen.

2.

Im Rahmen dieser Prüfung ist es Sache des nationalen Gerichts, Natur und Umfang der Verpflichtungen der beschuldigten Person zur Entgegennahme von Informationen zu bestimmen und gegebenenfalls auf der Grundlage präziser und objektiver Tatsachen zweifelsfrei nachzuweisen, dass diese Person Kenntnis von Natur und Grund der gegen sie vorgebrachten Anklagepunkte hatte und dass sie vorsätzlich und absichtlich die Flucht ergriffen hat.

3.

Art. 8 Abs. 4 Satz 2 und Art. 9 der Richtlinie 2016/343 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der ein neues Gerichtsverfahren nicht durchgeführt wird, wenn die beschuldigte Person nach Unterrichtung über die gegen sie im Vorermittlungsverfahren erhobenen Anklagepunkte, aber vor Mitteilung der endgültigen Anklageschrift die Flucht ergriffen hat, vorausgesetzt, das nationale Gericht trifft die oben genannten Feststellungen.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. 2016, L 65, S. 1.

( 3 ) Gemäß der Rechtsprechung des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien) muss ein fehlerhafter Rechtsakt durch einen neuen Rechtsakt ersetzt werden; dabei kann das Gericht Verstöße der Staatsanwaltschaft gegen wesentliche Formvorschriften nicht selbst beheben, sondern muss zu diesem Zweck die Rechtssache an diese zurückverweisen.

( 4 ) ABl. 2002, L 190, S. 1.

( 5 ) ABl. 2009, L 81, S. 24, im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584.

( 6 ) Vgl. insbesondere Urteile vom 29. Januar 2013, Radu (C‑396/11, EU:C:2013:39, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 28. Oktober 2021, Komisia za protivodeystvie na koruptsiyata i za otnemane na nezakonno pridobitoto imushtestvo (C‑319/19, EU:C:2021:883, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 7 ) Nach Art. 425 Abs. 1 Nr. 1 NPK kann die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zur Aufhebung der Verurteilung und zur Zurückverweisung der Sache zu erneuter Prüfung führen, wobei das Gericht angibt, in welchem Stadium die erneute Prüfung der Sache beginnen muss.

( 8 ) Der Antrag kann bei Vorliegen von zwei Fallgestaltungen zurückgewiesen werden. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die erste Konstellation. Die zweite Konstellation besteht darin, dass der beschuldigten Person die endgültige Anklageschrift zugestellt wurde und sie ohne triftigen Grund nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist.

( 9 ) Unterzeichnet in Rom am 4. November 1950, im Folgenden: EMRK.

( 10 ) Vgl. auch den 35. Erwägungsgrund dieser Richtlinie.

( 11 ) Vgl. auch den 37. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343.

( 12 ) Vgl. insoweit Urteile des EGMR vom 13. Februar 2001, Krombach/Frankreich (CE:ECHR:2001:0213JUD002973196, § 89), und vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien (CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 91).

( 13 ) Die Bestimmungen über ein neues Gerichtsverfahren sind nur anwendbar, wenn „es … nicht möglich ist, die in [Art. 8] Absatz 2 dieses Artikels genannten Voraussetzungen zu erfüllen, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann“ (Art. 8 Abs. 4) oder wenn „die in Artikel 8 Absatz 2 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt [sind]“ (Art. 9).

( 14 ) Vgl. Art. 1 sowie die Erwägungsgründe 2 bis 4 und 9 dieser Richtlinie.

( 15 ) Vgl. Urteil vom 19. September 2018, Milev (C‑310/18 PPU, EU:C:2018:732, Rn. 45 bis 47).

( 16 ) Der EGMR vertritt ebenfalls die Auffassung, dass die EMRK den Vertragsstaaten bei der Wahl der Mittel, die geeignet sind, ihre Justizsysteme mit den Anforderungen von Art. 6 dieser Konvention in Einklang zu bringen, einen weiten Spielraum belässt, jedoch nur, wenn sich die vom innerstaatlichen Recht gebotenen Mittel auch dann als wirksam erweisen, wenn der Angeklagte weder auf sein Erscheinen und auf seine Verteidigung verzichtet hat oder die Absicht hatte, sich der Justiz zu entziehen. Vgl. z. B. EGMR, 14. Juni 2001, Medenica/Schweiz (CE:ECHR:2001:0614JUD002049192, § 55).

( 17 ) Vgl. insbesondere Urteile des EGMR vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien (CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, §§ 87 und 89), vom 24. April 2012, Haralampiev/Bulgarien (CE:ECHR:2012:0424JUD002964803, § 33), und vom 22. Mai 2012, Idalov/Russland (CE:ECHR:2012:0522JUD000582603, § 173).

( 18 ) Vgl. z. B. Urteile des EGMR vom 12. Februar 1985, Colozza/Italien (CE:ECHR:1985:0212JUD000902480, § 32), und vom 12. Juni 2018, M.T.B./Türkei (CE:ECHR:2018:0612JUD004708106, §§ 49 bis 53).

( 19 ) Vgl. z. B. Urteil des EGMR vom 28. August 2018, Vyacheslav Korchagin/Russland (CE:ECHR:2018:0828JUD001230716, § 65).

( 20 ) Vgl. Dictionnaire de l’Académie française und Dictionnaire Larousse.

( 21 ) Vgl. Urteil vom 13. Februar 2020, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person) (C‑688/18, EU:C:2020:94, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 22 ) Vgl. Art. 1 sowie die Erwägungsgründe 2 bis 4, 9 und 10 der Richtlinie 2016/343.

( 23 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2018, Milev (C‑310/18 PPU, EU:C:2018:732, Rn. 45 bis 47).

( 24 ) C‑769/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:28.

( 25 ) Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 26 ) C‑688/18, EU:C:2020:94.

( 27 ) Vgl. Rn. 34 und 35 dieses Urteils.

( 28 ) Vgl. Urteil des EGMR vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien (CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, §§ 98 bis 101).

( 29 ) Vgl. Fn. 18 der vorliegenden Schlussanträge. Gemäß der Rechtsprechung des EGMR kann weder auf der Grundlage einer vagen und nicht offiziellen Kenntnis (vgl. insbesondere EGMR, 23. Mai 2006, Kounov/Italien, CE:ECHR:2006:0523JUD002437902, § 47) noch ausgehend von einer bloßen Vermutung noch allein wegen der Flucht der Person auf das Vorliegen eines solchen Verzichts geschlossen werden (vgl. EGMR, 12. Februar 1985, Colozza/Italien, CE:ECHR:1985:0212JUD000902480, § 28).

( 30 ) Vgl. Urteile des EGMR vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien, (CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, §§ 98 bis 101), vom 23. Mai 2006, Kounov/Bulgarien (CE:ECHR:2006:0523JUD002437902, § 48), vom 26. Januar 2017, Lena Atanasova/Bulgarien (CE:ECHR:2017:0126JUD005200907, § 52), sowie vom 2. Februar 2017, Ait Abbou/Frankreich (CE:ECHR:2017:0202JUD004492113, §§ 62 bis 65).

( 31 ) Im Urteil vom 12. Februar 1985, Colozza/Italien (CE:ECHR:1985:0212JUD000902480, § 28), stellt der EGMR fest, dass der festgestellte Sachverhalt „kaum mit der Sorgfalt in Einklang zu bringen ist, die die Vertragsstaaten an den Tag legen müssen, um eine effektive Wahrnehmung der von Art. 6 [EMRK] garantierten Rechte sicherzustellen“. Im Urteil vom 12. Juni 2018, M.T.B./Türkei (CE:ECHR:2018:0612JUD004708106, §§ 51 bis 54), hat der EGMR entschieden, dass das Gericht der Hauptsache, indem es sich darauf beschränkt habe, die Entscheidung gemäß den Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts mitzuteilen, bei seinen Bemühungen, den Beschwerdeführer ausfindig zu machen, nicht die erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt habe. Nach Ansicht des EGMR reicht diese Mitteilung allein nicht aus, um den Staat von seinen Verpflichtungen aus Art. 6 EMRK zu entbinden.

( 32 ) Vgl. Urteil des EGMR vom 12. Februar 1985, Colozza/Italien (CE:ECHR:1985:0212JUD000902480, § 28).

( 33 ) CE:ECHR:2012:1011JUD004335307, § 54.

( 34 ) Vgl. Urteile des EGMR vom 12. Februar 1985, Colozza/Italien (CE:ECHR:1985:0212JUD000902480, § 29), und vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien (CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 101 am Ende).

( 35 ) Vgl. Urteile des EGMR vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien (CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 84), und vom 12. Juni 2018, M.T.B./Türkei (CE:ECHR:2018:0612JUD004708106, § 61).

( 36 ) Vgl. Urteil des EGMR vom 12. Februar 1985, Colozza/Italien (CE:ECHR:1985:0212JUD000902480, §§ 31 und 32).

( 37 ) Vgl. Urteil des EGMR vom 14. Juni 2001, Medenica/Schweiz (CE:ECHR:2001:0614JUD002049192, § 55). Vgl. auch Urteile des EGMR vom 12. Februar 1985, Colozza/Italien (CE:ECHR:1985:0212JUD000902480, § 30), und vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien (CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 82).

( 38 ) CE:ECHR:2017:0126JUD005200907.

( 39 ) Vgl. §§ 27 und 28 dieses Urteils.

( 40 ) Vgl. §§ 52 und 53 dieses Urteils.

( 41 ) CE:ECHR:2006:0523JUD002437902, §§ 32, 49, 53 und 54. Vgl. auch Grundsatzurteil vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien (CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 100), in dem der EGMR entschied, dass solche Umstände mangels anderer objektiver Anhaltspunkte als desjenigen, dass der Angeklagte sich nicht an seinem üblichen Wohnsitz aufhalte, nicht nachgewiesen seien und die nationalen Behörden von der Prämisse ausgegangen seien, dass der Beschwerdeführer in die ihm zur Last gelegte Straftat verwickelt oder für diese Straftat verantwortlich sei. In seinem Urteil vom 28. September 2006, Hu/Italien (CE:ECHR:2006:0928JUD000594104, §§ 53 bis 56), vertrat der EGMR die gleiche Auffassung.

( 42 ) Im Urteil vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien (CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 85), hat der EGMR jedoch entschieden, dass eine Wiedereinsetzung in eine Frist für die Berufung gegen ein in Abwesenheit ergangenes Urteil, verbunden mit der der beschuldigten Person eingeräumten Möglichkeit, an der Berufungsverhandlung teilzunehmen und die Vorlage neuer Beweise zu beantragen, bedeute, dass über die Begründetheit der Anklage in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht erneut entschieden werden könne, was den Schluss erlaube, dass insgesamt ein faires Verfahren durchgeführt worden sei.