SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 21. Oktober 2021 ( 1 )

Rechtssache C‑432/20

ZK,

Beteiligter:

Landeshauptmann von Wien

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Wien [Österreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Richtlinie 2003/109/EG – Art. 9 Abs. 1 Buchst. c – Verlust der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Abwesenheit vom Unionsgebiet während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten – Unterbrechung dieses Abwesenheitszeitraums – Unregelmäßige und kurze Aufenthalte im Unionsgebiet“

I. Einleitung

1.

In der vorliegenden Rechtssache, die ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV zum Gegenstand hat, legt das Verwaltungsgericht Wien (Österreich) dem Gerichtshof drei Fragen zur Vorabentscheidung vor, die sich auf die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ( 2 ) in der durch die Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 ( 3 ) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2003/109) beziehen.

2.

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen ZK, einem kasachischen Staatsangehörigen, und dem Landeshauptmann von Wien (Österreich) wegen dessen Weigerung, die Rechtsstellung von ZK als langfristig aufenthaltsberechtigtem Drittstaatsangehörigen zu verlängern. Die ablehnende Entscheidung wurde damit begründet, dass sich ZK von August 2013 bis August 2018 jedes Jahr nur wenige Tage in der Europäischen Union aufgehalten habe. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die auf den vorliegenden Fall anwendbaren österreichischen Rechtsvorschriften, wonach kurze und unregelmäßige Aufenthalte in der Union nicht ausreichten, um den Verlust dieser Rechtsstellung aufgrund einer länger als zwölf Monate dauernden Abwesenheit vom Unionsgebiet zu verhindern, mit Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 unvereinbar seien. Nach dieser Bestimmung verliert ein Drittstaatsangehöriger den Anspruch auf die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten, wenn er sich „während eines Zeitraums von 12 aufeinander folgenden Monaten nicht im Gebiet der [Union] aufgehalten hat“. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts geht die oben genannte österreichische Regelung über das hinaus, was das Unionsrecht verlangt und zulässt.

3.

Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, sich zu einer neuen Rechtsfrage zu äußern, nämlich zu den Voraussetzungen, die Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 für den Entzug der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen durch die nationalen Behörden aufstellt. Konkret wird der Gerichtshof zu klären haben, welche Anforderungen an die Dauer und die Qualität des Aufenthalts im Unionsgebiet zu stellen sind, die jeder Drittstaatsangehörige erfüllen muss, um die ihm durch die Richtlinie 2003/109 verliehene Rechtsstellung behalten zu können. Die Antwort, die der Gerichtshof auf diese Vorlagefragen geben wird, kann sich auf die Integration von Drittstaatsangehörigen in den durch die Unionsverträge vorgesehenen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auswirken.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

4.

In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 10 und 12 der Richtlinie 2003/109 heißt es:

„(2)

Der Europäische Rat hat auf seiner Sondertagung in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 erklärt, dass die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen an diejenige der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten angenähert werden sollte und einer Person, die sich während eines noch zu bestimmenden Zeitraums in einem Mitgliedstaat rechtmäßig aufgehalten hat und einen langfristigen Aufenthaltstitel besitzt, in diesem Mitgliedstaat eine Reihe einheitlicher Rechte gewährt werden sollte, die denjenigen der Unionsbürger so nah wie möglich sind.

(4)

Die Integration von Drittstaatsangehörigen, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind, trägt entscheidend zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts bei, der als eines der Hauptziele der Gemeinschaft im Vertrag angegeben ist.

(6)

Die Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sollte das Hauptkriterium für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sein. Der Aufenthalt sollte rechtmäßig und ununterbrochen sein, um die Verwurzlung der betreffenden Person im Land zu belegen. Eine gewisse Flexibilität sollte vorgesehen werden, damit Umstände berücksichtigt werden können, die eine Person veranlassen können, das Land zeitweilig zu verlassen.

(10)

Für die Prüfung des Antrags auf Gewährung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sollte ein System von Verfahrensregeln festgelegt werden. Diese Verfahren sollten effizient und angemessen sein, wobei die normale Arbeitsbelastung der mitgliedstaatlichen Verwaltungen zu berücksichtigen sind; sie sollten auch transparent und gerecht sein, um den betreffenden Personen angemessene Rechtssicherheit zu bieten. Sie sollten nicht dazu eingesetzt werden, um die betreffenden Personen in der Ausübung ihres Aufenthaltsrechts zu behindern.

(12)

Um ein echtes Instrument zur Integration von langfristig Aufenthaltsberechtigten in die Gesellschaft, in der sie leben, darzustellen, sollten langfristig Aufenthaltsberechtigte nach Maßgabe der entsprechenden, in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen, in vielen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen wie die Bürger des Mitgliedstaats behandelt werden.“

5.

Art. 1 („Gegenstand“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung

a)

der Bedingungen, unter denen ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhält, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilen oder entziehen kann, sowie der mit dieser Rechtsstellung verbundenen Rechte und

b)

der Bedingungen für den Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, der ihm diese Rechtsstellung zuerkannt hat.“

6.

In Art. 4 („Dauer des Aufenthalts“) dieser Richtlinie heißt es:

„(1)   Die Mitgliedstaaten erteilen Drittstaatsangehörigen, die sich unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten.

(3)   Zeiten, in denen der Drittstaatsangehörige sich nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufgehalten hat, unterbrechen die Dauer des Zeitraums gemäß Absatz 1 nicht und fließen in die Berechnung dieses Aufenthalts ein, wenn sie sechs aufeinander folgende Monate nicht überschreiten und innerhalb des Zeitraums gemäß Absatz 1 insgesamt zehn Monate nicht überschreiten.

…“

7.

Art. 8 („Langfristige Aufenthaltsberechtigung – [EU]“) der Richtlinie 2003/109 sieht vor:

„(1)   Vorbehaltlich des Artikels 9 ist die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten dauerhaft.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine ‚langfristige Aufenthaltsberechtigung – [EU]‘ aus. Dieser Aufenthaltstitel ist mindestens fünf Jahre gültig und wird – erforderlichenfalls auf Antrag – ohne weiteres verlängert.

…“

8.

Art. 9 („Entzug oder Verlust der Rechtsstellung“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Ein Drittstaatsangehöriger ist nicht mehr berechtigt, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu behalten, wenn

c)

er sich während eines Zeitraums von 12 aufeinander folgenden Monaten nicht im Gebiet der [Union] aufgehalten hat.

(2)   Abweichend von Absatz 1 Buchstabe c) können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Abwesenheit von mehr als 12 aufeinander folgenden Monaten oder eine Abwesenheit aus spezifischen Gründen oder in Ausnahmesituationen nicht den Entzug oder den Verlust der Rechtsstellung bewirken.

(5)   Im Hinblick auf die Fälle des Absatzes 1 Buchstabe c) und des Absatzes 4 führen die Mitgliedstaaten, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt haben, ein vereinfachtes Verfahren für die Wiedererlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ein.

…“

9.

Art. 11 („Gleichbehandlung“) der Richtlinie 2003/109 lautet:

„(1)   Langfristig Aufenthaltsberechtigte werden auf folgenden Gebieten wie eigene Staatsangehörige behandelt:

b)

allgemeine und berufliche Bildung, einschließlich Stipendien und Ausbildungsbeihilfen gemäß dem nationalen Recht;

d)

soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz im Sinn des nationalen Rechts;

e)

steuerliche Vergünstigungen;

f)

Zugang zu Waren und Dienstleistungen sowie zur Lieferung von Waren und Erbringung von Dienstleistungen für die Öffentlichkeit und zu Verfahren für den Erhalt von Wohnraum;

g)

Vereinigungsfreiheit sowie Mitgliedschaft und Betätigung in einer Gewerkschaft, einem Arbeitgeberverband oder einer sonstigen Organisation, deren Mitglieder einer bestimmten Berufsgruppe angehören, sowie Inanspruchnahme der von solchen Organisationen angebotenen Leistungen, unbeschadet der nationalen Bestimmungen über die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit;

(2)   In Bezug auf Absatz 1 Buchstaben b), d), e), f) und g) kann der betreffende Mitgliedstaat die Gleichbehandlung auf die Fälle beschränken, in denen der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des langfristig Aufenthaltsberechtigten oder seiner Familienangehörigen, für die er Leistungen beansprucht, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats liegt.

…“

B. Österreichisches Recht

10.

Die einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts finden sich im Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz ( 4 ) (im Folgenden: NAG).

11.

§ 2 Abs. 7 NAG lautet:

„Kurzfristige Inlands- und Auslandsaufenthalte, insbesondere zu Besuchszwecken, unterbrechen nicht die anspruchsbegründende oder anspruchsbeendende Dauer eines Aufenthalts oder einer Niederlassung. …“

12.

§ 20 NAG („Gültigkeitsdauer von Aufenthaltstiteln“) sieht vor:

„…

(3)   Inhaber eines Aufenthaltstitels ‚Daueraufenthalt – EU‘ (§ 45) sind in Österreich – unbeschadet der befristeten Gültigkeitsdauer des diesen Aufenthaltstiteln entsprechenden Dokuments – unbefristet niedergelassen. Dieses Dokument ist für einen Zeitraum von fünf Jahren auszustellen und, soweit keine Maßnahmen nach dem Fremdenpolizeigesetz 2005 durchsetzbar sind, abweichend von § 24 auch nach Ablauf auf Antrag zu verlängern.

(4)   Ein Aufenthaltstitel nach Abs. 3 erlischt, wenn sich der Fremde länger als zwölf aufeinander folgende Monate außerhalb des [Gebiets des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)] aufhält. Aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen, wie einer schwerwiegenden Erkrankung, der Erfüllung einer sozialen Verpflichtung oder der Leistung eines der allgemeinen Wehrpflicht oder dem Zivildienst vergleichbaren Dienstes, kann sich der Fremde bis zu 24 Monate außerhalb des EWR-Gebietes aufhalten, wenn er dies der Behörde vorher mitgeteilt hat. Liegt ein berechtigtes Interesse des Fremden vor, hat die Behörde auf Antrag festzustellen, dass der Aufenthaltstitel nicht erloschen ist. Der Nachweis des Aufenthalts im EWR-Gebiet obliegt dem Fremden.

…“

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorabentscheidungsfragen

13.

Am 6. September 2018 stellte ZK, ein kasachischer Staatsangehöriger, einen Antrag auf Verlängerung seiner langfristigen Aufenthaltsberechtigung. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Landeshauptmanns von Wien vom 9. Juli 2019 abgewiesen.

14.

Am 12. August 2019 erhob ZK gegen diesen Bescheid Beschwerde beim vorlegenden Gericht.

15.

Das vorlegende Gericht führt aus, dass ZK sich zwar in der Zeit von August 2013 bis August 2018 und danach nie zwölf aufeinanderfolgende Monate oder länger außerhalb des Unionsgebiets aufgehalten habe, aber unstreitig sei, dass er sich in diesem Zeitraum nur wenige Tage pro Jahr in diesem Gebiet aufgehalten habe. Der letztgenannte Umstand wurde von der beklagten Verwaltungsbehörde herangezogen, um die Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers abzulehnen.

16.

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass der Kläger dem vorlegenden Gericht eine rechtliche Analyse der Expertengruppe der Europäischen Kommission für legale Migration vorgelegt hat, die zu dem Ergebnis kommt, dass die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 vorgesehene Voraussetzung der Abwesenheit vom Unionsgebiet eng und dahin gehend auszulegen sei, dass nur die physische Abwesenheit von diesem Gebiet während zwölf aufeinanderfolgender Monate den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach sich ziehe. Nach dieser Analyse spielt es insoweit keine Rolle, ob ein langfristig Aufenthaltsberechtigter im maßgeblichen Zeitraum außerdem materiell in diesem Gebiet niedergelassen war oder dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt genommen hatte.

17.

Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass diese Analyse, der es sich anzuschließen geneigt sei, das Vorbringen des Beschwerdeführers stütze. Folge man dieser Auffassung, würden nämlich selbst kurze Aufenthalte oder gar, wie im vorliegenden Fall, Aufenthalte von nur wenigen Tagen im Jahr ausreichen, um die Anwendung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 auszuschließen, so dass der Beschwerdeführer seine Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigter behalte.

18.

Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Wien beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 9 Abs. 1 Buchst c der Richtlinie 2003/109 dahin gehend auszulegen, dass jeder physische Aufenthalt, mag dieser auch noch so kurz sein, eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen im Gebiet der Union während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen nach dieser Bestimmung ausschließt?

2.

Sollte der Gerichtshof die erste Frage verneinen: Welchen qualitativen und/oder quantitativen Anforderungen müssen Aufenthalte im Gebiet der Union während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten genügen, um den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen auszuschließen? Schließen Aufenthalte während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten im Gebiet der Union den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen nur dann aus, wenn die betroffenen Drittstaatsangehörigen während dieses Zeitraums ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihren Mittelpunkt der Lebensinteressen im Gebiet der Union hatten?

3.

Sind Regelungen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen anordnen, wenn sich solche Drittstaatsangehörige während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten zwar im Gebiet der Union aufhielten, dort jedoch weder ihren gewöhnlichen Aufenthalt noch ihren Mittelpunkt der Lebensinteressen hatten, mit Art 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 vereinbar?

IV. Verfahren vor dem Gerichtshof

19.

Die Vorlageentscheidung vom 28. August 2020 ist am 14. September 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

20.

Das vorlegende Gericht hat den Gerichtshof ersucht, das Vorabentscheidungsersuchen im Eilverfahren nach Art. 107 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu behandeln.

21.

Mit Entscheidung des Gerichtshofs vom 28. September 2020 ist dieser Antrag nach Anhörung des Generalanwalts zurückgewiesen worden.

22.

Die österreichische Regierung und die Europäische Kommission haben innerhalb der Frist des Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union schriftliche Erklärungen eingereicht.

23.

In der mündlichen Verhandlung vom 15. Juli 2021 haben die Prozessbevollmächtigten der österreichischen Regierung und der Kommission Erklärungen abgegeben.

V. Rechtliche Würdigung

A. Vorbemerkungen

24.

Drittstaatsangehörige wandern aus verschiedenen Gründen in die EU ein: aus wirtschaftlichen Gründen, aus familiären Gründen, zum Studium oder um internationalen Schutz zu erhalten. Einige dieser Personen bleiben über viele Jahre im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und entwickeln Bindungen zu dem betreffenden Mitgliedstaat. Deshalb wird die Integration langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger in die Mitgliedstaaten als entscheidender Faktor zur Förderung des in Art. 3 EUV genannten grundlegenden Ziels des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in der Union angesehen. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 79 Abs. 1 AEUV die Entwicklung einer gemeinsamen Einwanderungspolitik vorsieht, die u. a. „eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, … gewährleisten soll“ ( 5 ).

25.

Einer der ersten von der Union auf dem Gebiet der Einwanderung erlassenen Rechtstexte war die Richtlinie 2003/109. Ziel dieser Richtlinie ist es, Drittstaatsangehörigen, die sich dauerhaft und rechtmäßig in der Union aufhalten, einen „europäischen“ Status zu verleihen. Um deren Integration sicherzustellen, zielt diese Richtlinie darauf ab, die Rechte dieser Personen denen der Unionsbürger anzunähern, indem u. a. ihre Gleichbehandlung mit den Unionsbürgern in einem breiten Spektrum von wirtschaftlichen und sozialen Bereichen herbeigeführt wird. Der Umfang der Rechte, die ihnen zuerkannt werden, bleibt im Vergleich zu den Rechten der Unionsbürger geringer ( 6 ), diese Rechte umfassen jedoch Bestimmungen über die Freizügigkeit, die ihnen das Recht einräumen, sich im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten als desjenigen, der ihnen die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat, länger als drei Monate aufzuhalten. Außerdem erhält der Inhaber der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, sofern seine Tätigkeiten nicht mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden oder die Arbeitsplätze nicht den eigenen Staatsangehörigen, den Bürgern der Union und denen des EWR vorbehalten sind. Im Bereich des sozialen Schutzes können die Mitgliedstaaten beschließen, den Zugang langfristig Aufenthaltsberechtigter auf „Kernleistungen“ zu beschränken.

26.

Die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ist Drittstaatsangehörigen vorbehalten, die sich fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufgehalten haben. Ausgeschlossen sind alle Personen, deren Aufenthalt als vorübergehend angesehen werden kann. Die Mitgliedstaaten verfügen über einen weiten Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ( 7 ). Zu den Voraussetzungen fester, regelmäßiger und ausreichender Einkünfte sowie des Bestehens einer Krankenversicherung, die auch von Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat verlangt werden, kommt eine fakultative Voraussetzung in Bezug auf „Integrationsanforderungen“ hinzu, die es erlaubt, den Zugang zur Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu beschränken. Der Nachweis ausreichender Kenntnisse der Sprache des Mitgliedstaats auf unterschiedlichem Kompetenzniveau ist die wichtigste Voraussetzung der Integration, die in allen Mitgliedstaaten verlangt wird.

27.

Der Unionsgesetzgeber will das Ziel einer dauerhaften Integration von Drittstaatsangehörigen durch eine Harmonisierung der Voraussetzungen für die Zuerkennung und den Entzug (oder Verlust) der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erreichen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass sich die vorliegende Rechtssache von anderen bereits vom Gerichtshof behandelten Rechtssachen dadurch unterscheidet, dass sie eher den zweiten Aspekt betrifft, d. h. die Auslegung der Voraussetzungen für den Entzug (oder Verlust) dieser Rechtsstellung wegen fortgesetzter Abwesenheit vom Hoheitsgebiet der Union gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109. Zwar geht aus dieser Bestimmung hervor, dass der Drittstaatsangehörige die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verliert, wenn er sich während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten nicht im Unionsgebiet aufhält, aber sie präzisiert nicht, wie sporadische und kurzzeitige Aufenthalte zu behandeln sind, und insbesondere nicht, ob sie den Eintritt dieser Rechtsfolge verhindern können.

B. Prüfung der Vorlagefragen

28.

Mit seinen drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, nach welchen Kriterien zu prüfen ist, ob sich ein langfristig Aufenthaltsberechtigter während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 „nicht im Gebiet der [Union] aufgehalten hat“, was grundsätzlich zum Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten führt. Insbesondere fragt sich das vorlegende Gericht, ob jeder Aufenthalt während dieses Zeitraums, so kurz er auch sein mag, diese Abwesenheit unterbrechen und damit den Verlust dieser Rechtsstellung ausschließen kann, oder ob der Betroffene während dieses Zeitraums seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in diesem Gebiet haben muss.

1.   Rückgriff auf verschiedene Auslegungsmethoden

29.

Da Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 keinen Verweis auf das nationale Recht enthält, ist davon auszugehen, dass die Wendung „nicht im Gebiet der [Union] aufgehalten“ ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, der unter Berücksichtigung des Wortlauts dieser Bestimmung, der Ziele der Regelung, zu der sie gehört, und ihres Kontexts einheitlich auszulegen ist ( 8 ).

a)   Wörtliche Auslegung

30.

Zum Wortlaut dieser Bestimmung ist darauf hinzuweisen, dass es zwischen den verschiedenen Sprachfassungen der Bestimmung gewisse Abweichungen gibt.

31.

Zum einen ist nämlich in einer großen Zahl von Sprachfassungen ( 9 ) von einer „Abwesenheit“ vom Unionsgebiet während des Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten die Rede, was darauf hindeuten könnte, dass die bloße körperliche Anwesenheit diese Abwesenheit beenden würde. Zum anderen beziehen sich einige Sprachfassungen ( 10 ) darauf, dass sich der Betroffene in diesem Zeitraum nicht in diesem Gebiet „aufhält“, so dass die Verwendung dieses Verbs eine etwas „stabilere“ Anwesenheit verlangen könnte, ohne jedoch Aufenthalte von nur wenigen Tagen auszuschließen.

32.

Abgesehen von diesen leichten sprachlichen Nuancen scheint mir jedoch der Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 für sich genommen keine eindeutige Bestimmung der genauen Tragweite der Wendung „nicht im Gebiet der [Union] aufgehalten“ zu ermöglichen. Aus einer wörtlichen Auslegung dieser Bestimmung lässt sich keine eindeutige Schlussfolgerung ziehen. Daher erweist es sich als notwendig, auf andere in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannte Auslegungsmethoden zurückzugreifen ( 11 ).

b)   Systematische Auslegung

1) Die Ausnahme von der allgemeinen Regel, die langfristig Aufhältigen eine besondere Rechtsstellung verleiht, ist eng auszulegen

33.

Der Kontext von Art. 9 der Richtlinie 2003/109 liefert einige sachdienliche Anhaltspunkte, um die Tragweite dieser Bestimmung genauer einzugrenzen. Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt nämlich, dass die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten „vorbehaltlich des Artikels 9“ dauerhaft ist. Da der dauerhafte Charakter dieser Rechtsstellung die „allgemeine Regel“ ist, dürfte Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie somit eine „Ausnahme“ darstellen und daher gemäß einem in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten Auslegungsgrundsatz eng auszulegen sein ( 12 ).

34.

Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2003/109 ein subjektives Recht der Drittstaatsangehörigen auf Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sowie der weiteren Rechte begründet, die sich aus der Zuerkennung dieser Rechtsstellung ergeben, sobald die hierfür vorgesehenen Voraussetzungen tatsächlich erfüllt sind ( 13 ) und die jeweiligen Verfahren eingehalten wurden ( 14 ). Wie in der Einleitung der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt ( 15 ), harmonisiert die Richtlinie die Voraussetzungen für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten abschließend. Das Gleiche gilt für die Voraussetzungen, unter denen diese Rechtsstellung nach Art. 9 der Richtlinie 2003/109 entzogen werden kann ( 16 ). Folglich können die Mitgliedstaaten keine zusätzlichen Voraussetzungen aufstellen ( 17 ) oder Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 weit auslegen, ohne die Aufrechterhaltung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu gefährden.

35.

Insoweit ist der Schutz der erworbenen Rechte meines Erachtens zwingend geboten, um den Bestimmungen in Art. 4 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie, die langfristig Ansässigen eine besondere Rechtsstellung verleihen, nicht ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen. Der Umstand, dass der Unionsgesetzgeber in Art. 10 dieser Richtlinie auch Verfahrensgarantien aufgenommen hat, indem er u. a. die Pflicht vorsieht, jede Entscheidung über den Entzug dieser Rechtsstellung zu begründen und den betreffenden Drittstaatsangehörigen auf die möglichen Rechtsbehelfe und die entsprechenden Fristen hinzuweisen, macht deutlich, welche Bedeutung dem Schutz dieser Rechtsstellung beizumessen ist. Alle diese Erwägungen sprechen ebenfalls für eine enge Auslegung dieser Bestimmung.

2) Etwaige Beschränkungen der Gleichbehandlung lassen die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten unberührt

36.

Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 bietet einen Anhaltspunkt, der für die Auffassung spricht, dass die Aufrechterhaltung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nicht voraussetzt, dass dieser seinen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder der Union hat. Zum einen sieht Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie vor, dass langfristig Aufenthaltsberechtigte in vielen Bereichen wie eigene Staatsangehörige behandelt werden. Zum anderen ermächtigt Art. 11 Abs. 2 dieser Richtlinie den betreffenden Mitgliedstaat, die Gleichbehandlung auf Drittstaatsangehörige zu beschränken, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet haben. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sie trotz dieser Einschränkung der Gleichbehandlung ihre Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigte behalten.

37.

Diese Bestimmung macht deutlich, dass zwischen den Vorteilen, die ein Drittstaatsangehöriger aufgrund seines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats genießen kann, und der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten, die dieser Drittstaatsangehörige besitzt, unterschieden werden muss. Das Fehlen eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats kann sich negativ auf den Umfang der Vorteile auswirken, die die Richtlinie 2003/109 und das zu ihrer Umsetzung erlassene nationale Recht gewähren, hat aber nicht zwangsläufig den Verlust dieser Rechtsstellung zur Folge.

3) Die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sind weniger streng als diejenigen für die Zuerkennung dieser Rechtsstellung

38.

Die Richtlinie 2003/109 regelt im Wesentlichen zwei verschiedene Aspekte: die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten und ihre Beibehaltung. Die Erlangung dieser Rechtsstellung erfordert eine Integrationsbemühung des Drittstaatsangehörigen. Mit der Festlegung eines Zeitraums von fünf Jahren ununterbrochenen Aufenthalts geht der Unionsgesetzgeber davon aus, dass die Integration des Drittstaatsangehörigen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats nach Ablauf dieses Zeitraums gewährleistet ist. Wie der Gerichtshof im Urteil Singh ausgeführt hat, „belegt die Dauer des rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalts von fünf Jahren die Verwurzlung der betreffenden Person im Land und somit, dass sie dort langfristig ansässig ist“ ( 18 ). Sobald dieses Integrationsziel erreicht ist, weil der Drittstaatsangehörige eine enge Bindung zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpft hat, was rechtlich durch die Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten bestätigt wird, werden die Anforderungen an die Aufrechterhaltung dieser Rechtsstellung weniger streng.

39.

Es ist nämlich festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten und die für ihre Aufrechterhaltung erheblich voneinander abweichen. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 verlangt für die Zuerkennung dieser Rechtsstellung einen ununterbrochenen „Aufenthalt“ von fünf Jahren im betreffenden Mitgliedstaat ( 19 ), während ihr Entzug von der Voraussetzung einer „Abwesenheit“ vom Unionsgebiet während zwölf aufeinanderfolgender Monate abhängig ist, ohne dass festgelegt wird, wo genau sich der Drittstaatsangehörige aufhalten muss. Daraus folgt, dass ein ständiger Aufenthalt im Unionsgebiet nach Ablauf des für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten festgelegten Zeitraums von fünf Jahren nicht mehr unerlässlich ist.

4) Auslegung unter Berücksichtigung des größeren Zusammenhangs

40.

Da die Richtlinie 2003/109 darauf abzielt, die Rechte dieser Staatsangehörigen denen der Unionsbürger anzunähern, könnte Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 unter Berücksichtigung des größeren Zusammenhangs ausgelegt werden, nämlich der Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG ( 20 ). Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zeigt, dass sich die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 durchaus für eine vergleichende Prüfung mit denen der Richtlinie 2003/109 eignen, was es ermöglicht, trotz bestimmter Unterschiede, die sich insbesondere aus ihren spezifischen gesetzgeberischen Zielen erklären, Schlussfolgerungen zu ziehen, die für die Zwecke der Auslegung sachdienlich sind ( 21 ).

41.

Insoweit ist auf Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 hinzuweisen, wonach jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht hat, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Diese Bestimmung weist eine besondere Ähnlichkeit mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 auf, weil dieser von Drittstaatsangehörigen einen rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt von ebenfalls fünf Jahren verlangt, um die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu erlangen.

42.

Gleiches gilt für die Bestimmungen über den Verlust des Aufenthaltsrechts. Nach Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38 führt, wenn das Recht auf Daueraufenthalt erworben wurde, „nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander folgende Jahre überschreitet, zu seinem Verlust“ (Hervorhebung nur hier). Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil Dias ( 22 ), das speziell die Auslegung der Richtlinie 2004/38 betraf, ausgeführt hat, dass der Verlust des Rechts des Unionsbürgers auf Daueraufenthalt wegen Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat für eine längere Dauer als zwei aufeinanderfolgende Jahre sich damit rechtfertigt, dass nach einer solchen Abwesenheit „die Verbindung zum Aufnahmemitgliedstaat gelockert ist“.

43.

Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 beruht insofern auf demselben Gedankengang, als davon auszugehen ist, dass die Verbindung zwischen dem Drittstaatsangehörigen und der Union, die durch Integrationsbemühungen im Lauf der nach Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen fünf Jahre hergestellt wurde, „gelockert“ ist, wenn dieser Drittstaatsangehörige länger als zwölf aufeinanderfolgende Monate abwesend war.

44.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Vorschlag der Kommission, der dem Erlass der Richtlinie 2003/109 vorausging, ursprünglich eine Abwesenheit von ebenfalls zwei aufeinanderfolgenden Jahren vorsah ( 23 ). Die Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung zeigt somit die ursprüngliche Absicht auf, die Bestimmungen über den Daueraufenthalt von Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen einander anzugleichen.

45.

Unter Berücksichtigung aller oben genannten Gesichtspunkte ist meines Erachtens die von der österreichischen Regierung vertretene Auslegung abzulehnen, wonach es erforderlich ist, dass sich der Drittstaatsangehörige tatsächlich weiterhin im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder im Unionsgebiet „gewöhnlich aufhält“.

c)   Teleologische Auslegung

46.

Da mit der Richtlinie 2003/109, wie sich aus ihrem vierten Erwägungsgrund ergibt, die Integration von Drittstaatsangehörigen, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind, im Interesse der Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts gefördert werden soll ( 24 ), ist sicherzustellen, dass die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nur denjenigen gewährt wird, denen sie zugutekommen soll, d. h. allen Personen, die eine hinreichend enge und echte Verbindung zur Union und ihren Mitgliedstaaten aufweisen, die durch eine erfolgreiche Integration während eines fünfjährigen rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalts begründet wurde.

47.

Dagegen lässt sich aus Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 ableiten, dass die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu entziehen ist, wenn die betreffenden Personen diese Verbindung zum Aufnahmemitgliedstaat nicht mehr aufweisen. Es gibt nämlich keinen berechtigten Grund, der die Aufrechterhaltung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Fall einer „Auflösung“ dieser Verbindung rechtfertigen könnte, weil das mit der Richtlinie 2003/109 verfolgte Ziel nicht mehr erreicht würde. Alle diese Erwägungen sind bei der Auslegung der in Rede stehenden Bestimmung zu berücksichtigen.

48.

Eine Auslegung im Licht des in den vorstehenden Nummern genannten gesetzgeberischen Ziels hat zur Folge, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 je nach den Umständen des Einzelfalls differenziert anzuwenden ist. Um dem vorlegenden Gericht sachdienliche Auslegungshinweise zu geben, halte ich es für angebracht, anhand einiger praktischer Beispiele zu erläutern, wie sich die teleologische Auslegung dieser Bestimmung auf ihre Anwendung auswirkt.

2.   Folgen für die Anwendung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109

a)   Obligatorischer Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach Ablauf eines Zeitraums von zwölf aufeinander folgenden Monaten

49.

Zunächst ist festzustellen, dass eine Abwesenheit während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten in der Regel den Verlust der Berechtigung nach sich zieht, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu behalten, wie es Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 vorsieht ( 25 ). Der eindeutige Wortlaut dieser Bestimmung lässt insoweit nicht nur keinen Auslegungsspielraum; vielmehr kann auch unter dem Gesichtspunkt der Integration des Drittstaatsangehörigen gefolgert werden, dass die Verbindung zum Aufnahmemitgliedstaat im Allgemeinen nach Ablauf eines so langen Zeitraums „aufgelöst“ ist.

50.

Eine solche Rechtsfolge erscheint mir nicht unverhältnismäßig, weil sich aus Art. 9 Abs. 5 der Richtlinie 2003/109 ergibt, dass die Mitgliedstaaten, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt haben, ein „vereinfachtes Verfahren“ für die Wiedererlangung dieser Rechtsstellung vorsehen müssen. Daher besteht für die betreffende Person stets die Möglichkeit, die Verbindung zum Aufnahmemitgliedstaat im gegenseitigen Interesse beider Parteien wiederherzustellen.

51.

Ich möchte klarstellen, dass sich eine solche Rechtsfolge aus einer Situation ergibt, in der der Aufnahmemitgliedstaat von der in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 vorgesehenen Ausnahme keinen Gebrauch gemacht hat. Nach dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten abweichend von Abs. 1 Buchst. c vorsehen, dass „eine Abwesenheit von mehr als 12 aufeinander folgenden Monaten“ oder „eine Abwesenheit aus spezifischen Gründen oder in Ausnahmesituationen“ nicht den Entzug oder den Verlust der Rechtsstellung bewirken ( 26 ). Daraus folgt, dass den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Bestimmung ein großer Spielraum belassen wird, der es ermöglicht, die Rechtsfolge der oben vertretenen Auslegung zu vermeiden.

b)   Rechtliche Behandlung sporadischer und kurzzeitiger Aufenthalte

52.

Solange sich die betreffende Person in diesem Zeitraum von zwölf Monaten überwiegend im Unionsgebiet aufhält, dürfte dieser Umstand bei der Anwendung der Richtlinie 2003/109 keine Schwierigkeiten bereiten, weil offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie nicht erfüllt sind. Dagegen stellt sich die Frage, wie ein Fall zu behandeln ist, in dem der Aufenthalt des Betroffenen im Unionsgebiet sporadisch ist und sich auf kurze Zeiträume innerhalb des Jahres beschränkt.

53.

Meines Erachtens sollte selbst eine solche sporadische und kurzzeitige Anwesenheit im Unionsgebiet geeignet sein, den Verlust der Berechtigung zu verhindern, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu behalten, sofern mit Sicherheit festgestellt werden kann, dass die betreffende Person noch im Sinne des sechsten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2003/109 im Land „verwurzelt“ ist. Mit anderen Worten müsste der Drittstaatsangehörige, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, ein hinreichend enges „Band der Integration“ zwischen ihm und dem Aufnahmemitgliedstaat nachweisen. Sollte diese Voraussetzung nicht erfüllt sein, halte ich die Anwendung der allgemeinen Regel, die zum Verlust der Berechtigung führt, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu behalten ( 27 ), für geboten ( 28 ).

54.

Da Art. 4 der Richtlinie 2003/109 in Verbindung mit ihrem Art. 8 die Gewährung eines Rechts auf Daueraufenthalt unter der Voraussetzung vorsieht, dass der Drittstaatsangehörige gemäß Art. 5 dieser Richtlinie den Nachweis erbringt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieser Rechtsstellung erfüllt sind, erscheint es mir folgerichtig und gerecht, davon auszugehen, dass es andererseits Sache der nationalen Behörden ist, alle relevanten Umstände des Einzelfalls zu prüfen und gegebenenfalls das Fehlen einer solchen Verbindung zu beweisen, bevor sie eine Entscheidung über den Entzug der Rechtsstellung der betreffenden Person treffen. Den nationalen Behörden die Beweislast dafür aufzuerlegen, dass im konkreten Fall tatsächliche Umstände vorliegen, die den Rückgriff auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 rechtfertigen können, erscheint mir zwingend geboten, um den oben genannten Bestimmungen, die langfristig Ansässigen eine besondere Rechtsstellung verleihen, nicht ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen.

55.

Ich halte einen solchen Ansatz für angemessen, um sicherzustellen, dass die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nicht für andere als die vom Unionsgesetzgeber in Betracht gezogenen Zwecke ausgenutzt wird. Insbesondere muss verhindert werden, dass aus dieser Rechtsstellung ein ungerechtfertigter Vorteil gezogen wird, z. B. durch die Wahl einer nationalen Gerichtsbarkeit mit dem Ziel, die Anwendung eines für die eigenen Interessen günstigeren Rechts sicherzustellen (forum shopping), durch die Erlangung von Sozialleistungen, durch die Erleichterung rechtswidriger Aktivitäten usw. ( 29 ). Da die Mitgliedstaaten Adressaten der Richtlinie 2003/109 sind und sie in innerstaatliches Recht umzusetzen haben, kommt ihnen die entscheidende Rolle zu, für die Verwirklichung der Ziele dieser Richtlinie zu sorgen.

56.

Insbesondere bringt das Erfordernis eines Aufenthalts im Unionsgebiet, das sich aus Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 ergibt, den Gedanken zum Ausdruck, dass langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige, um diese Rechtsstellung dauerhaft behalten zu können, eine „echte“ und nicht nur eine „formale“ Verbindung zum betreffenden Mitgliedstaat beibehalten müssen.

57.

Insoweit ist jedoch klarzustellen, dass an das Bestehen eines solchen hinreichend engen und echten Bandes der Integration keine übermäßig strengen Anforderungen gestellt werden dürfen, weil die „Verwurzlung“ des Drittstaatsangehörigen in dem betreffenden Mitgliedstaat bereits Gegenstand einer eingehenden Prüfung durch die nationalen Behörden im Rahmen des Verfahrens zur Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten gewesen sein wird. Darüber hinaus liefe die Aufstellung übermäßig strenger Anforderungen meines Erachtens der Verwirklichung des Ziels zuwider, die Rechtsstellung der Drittstaatsangehörigen an die der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten anzunähern ( 30 ).

58.

Wie in den vorliegenden Schlussanträgen bereits ausgeführt, bestünde nämlich bei einer zu weiten Auslegung der Voraussetzungen für den Entzug oder den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten die Gefahr, dass das Ziel, die Integration von Drittstaatsangehörigen sicherzustellen, vereitelt würde. Der in den vorliegenden Schlussanträgen vorgeschlagene Ansatz betrifft nur die Fälle, in denen die Beibehaltung dieser Rechtsstellung nicht mehr gerechtfertigt erscheint, weil sie nicht zu dem vom Unionsgesetzgeber angestrebten wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt beiträgt.

59.

Da sich die Aufgabe, ein Band der Integration zu beurteilen, in der Praxis als besonders kompliziert erweisen kann, schlage ich vor, dem vorlegenden Gericht einige Hinweise in Form von Kriterien zu geben, die den Willen des Drittstaatsangehörigen erkennen lassen, am wirtschaftlichen und sozialen Leben des Aufnahmemitgliedstaats teilzunehmen. Die zuständigen nationalen Behörden könnten die Liste dieser Kriterien im Rahmen der Ausübung ihres Ermessens heranziehen. Diese Liste der von der Rechtsprechung zu entwickelnden Kriterien sollte dahin verstanden werden, dass sie nur als Hinweis dient und nicht erschöpfend ist. Da jede Integration in eine Gesellschaft auf territorialen, zeitlichen und qualitativen Faktoren beruht ( 31 ), bin ich der Ansicht, dass diese Liste aus Kriterien bestehen sollte, die diesen Kategorien zuzuordnen sind.

60.

Obwohl Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 auf den ersten Blick an ein „territoriales“ Kriterium anknüpft, halte ich es für erforderlich, die Wendung „nicht im Gebiet der [Union] aufgehalten“ in einer Weise auszulegen, die den Anforderungen einer globalisierten Gesellschaft wie der unseren besser gerecht wird. Die bloße „physische“ Anwesenheit im Unionsgebiet kann sich als irreführend erweisen, wenn die betroffene Person nicht wirklich in die Gesellschaft integriert ist. In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass die Integration einer Person in die Gesellschaft eines anderen Landes einen komplexen Prozess kultureller Anpassung darstellt, dessen Hauptelemente nach den 2004 vom Rat aufgestellten und durch das Stockholmer Programm ( 32 ) bestätigten Gemeinsamen Grundprinzipien der Integrationspolitik in der Interaktion, dem Ausbau von Kontakten zwischen den Einwanderern und den Staatsangehörigen des betreffenden Staats sowie der Förderung des Dialogs zwischen den Kulturen bestehen.

61.

Umgekehrt kann der verhältnismäßig kurze Aufenthalt einer Person mit diversen und intensiven Bindungen persönlicher und/oder beruflicher Art, die während des oben beschriebenen Integrationsprozesses entstanden sind, ausreichen, um den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu verhindern. Es ist Sache der nationalen Behörden, die Umstände des Einzelfalls anhand der nachstehend vorgeschlagenen Kriterien zu prüfen.

c)   Als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste von Kriterien, die das Bestehen einer echten Verbindung zur Union erkennen lassen

62.

Zunächst haben die nationalen Behörden die Dauer der Abwesenheit vom Unionsgebiet festzustellen und dabei etwaige Aufenthalte zu berücksichtigen, die diese Abwesenheit unterbrechen können, auch solche von kurzer Dauer. Insbesondere können Gesichtspunkte wie das Verhältnis zwischen Abwesenheits- und Aufenthaltszeiten, die Gesamtdauer und die Häufigkeit dieser Abwesenheitszeiten sowie die Gründe, die den Inhaber der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten bewogen haben, den Aufnahmemitgliedstaat zu verlassen, einen ersten Anhaltspunkt für den Grad seiner Integration liefern.

63.

Zu prüfen ist nämlich, ob die fraglichen Abwesenheiten bedeuten, dass sich der Mittelpunkt der persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen des Betroffenen in einen anderen Staat verlagert hat ( 33 ). Dies dürfte bei Aufenthalten im Ausland, die aus spezifischen Gründen oder aufgrund zeitlich begrenzter Ausnahmesituationen gerechtfertigt sind, grundsätzlich auszuschließen sein, und zwar in Analogie zu den in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 genannten Fällen, in denen die Mitgliedstaaten davon absehen können, diese Aufenthalte bei der Berechnung des Zeitraums von fünf Jahren „ununterbrochenen“ Aufenthalts in ihrem Hoheitsgebiet – wobei dieser Zeitraum eine der Voraussetzungen für die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ist – als Zeiten der „Abwesenheit“ zu berücksichtigen. Gründe für Aufenthalte im Ausland, die zeitlich begrenzter Natur sind, können z. B. Urlaubsreisen oder Geschäftsreisen von ähnlicher Dauer sein sowie Aufenthalte zur vorübergehenden Betreuung von Verwandten, zur Ableistung des Wehrdiensts oder zeitlich begrenzte Aufenthalte während der Schul- oder Berufsausbildung, aber gewiss nicht solche, die die Ausbildung insgesamt ins Ausland verlagern. Gleichwohl sind zusätzliche Anhaltspunkte unerlässlich, um eine hinreichend enge und echte Verbindung zum Aufnahmemitgliedstaat feststellen zu können ( 34 ).

64.

Neben der physischen Anwesenheit der Person selbst, die aus den in den vorliegenden Schlussanträgen dargelegten Gründen nur ein Ausgangspunkt für eine eingehendere Beurteilung der Umstände des Einzelfalls sein kann, dürfte sich meines Erachtens auch das Vorhandensein von Vermögen in Form von Bankkonten, Privateigentum an Immobilien oder in den Mitgliedstaaten niedergelassenen Unternehmen als sachdienlicher Anhaltspunkt erweisen können ( 35 ). Finanzielle Investitionen können nämlich eine gewisse Verankerung in der Wirtschaft eines Landes sowie ein persönliches Interesse an der Teilnahme an ihrer Entwicklung erkennen lassen.

65.

Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Umstand, dass der Drittstaatsangehörige einen nicht unerheblichen Teil seines Lebens im Unionsgebiet verbracht und sich mit den Traditionen, den Gebräuchen und der Sprache des Aufnahmemitgliedstaats vertraut gemacht hat, es ihm ermöglicht hat, familiäre Bindungen zu Unionsbürgern zu knüpfen, z. B. infolge einer Ehe, aus der möglicherweise Kinder hervorgegangen sind. Dieser Art verwandtschaftlicher Bindungen zu Mitgliedern der örtlichen Bevölkerung kann im Rahmen der von den nationalen Behörden vorzunehmenden Beurteilung besondere Bedeutung zukommen.

66.

Gleiches gilt für berufliche Beziehungen, z. B. in Form von Geschäftsbeziehungen oder akademischen Kontakten, die im Laufe der Zeit entstanden sind. Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ist sicherlich mit diesem Kriterium verbunden ( 36 ), dem die Richtlinie 2003/109 eine besondere Bedeutung zuzumessen scheint, weil zum einen Art. 5 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie verlangt, dass der Drittstaatsangehörige über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen, und weil zum anderen Art. 11 Abs. 1 Buchst a und c die Gleichbehandlung in Bezug auf die Bedingungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt im Aufnahmestaat sowie die Anerkennung der berufsqualifizierenden Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstiger Befähigungsnachweise gemäß den einschlägigen nationalen Verfahren garantiert. Alle diese Maßnahmen sollen offensichtlich die berufliche Entwicklung eines Drittstaatsangehörigen in der Union zu dessen eigenem Nutzen und zu dem der Gesellschaft insgesamt fördern.

67.

Da die Richtlinie 2003/109 den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt fördern soll, sollte zudem ein soziales Engagement der betreffenden Person im Aufnahmemitgliedstaat meines Erachtens nicht unterschätzt werden. Die aktive Mitgliedschaft in politischen Parteien, in sozialen Organisationen mit karitativen oder staatsbürgerlichen Zielen sowie ehrenamtliche Tätigkeiten können Anhaltspunkte für eine echte Bindung an die örtliche Gemeinschaft sein, in der die betreffende Person gelebt hat.

68.

Ebenso halte ich das Bestehen steuerlicher Verpflichtungen, die möglicherweise mit dem Vorhandensein von Vermögen oder der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat verbunden sind, für geeignet, den Willen des Drittstaatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erlangt hat, aufzuzeigen, der Gesellschaft gegenüber Verantwortung zu übernehmen und zu deren Entwicklung beizutragen ( 37 ).

69.

Schließlich sollte es meines Erachtens auch möglich sein, rechtswidrige Handlungen zu berücksichtigen, die dem Inhaber der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuzurechnen sind und die somit als „negatives“ Kriterium eine mangelnde Verankerung oder zumindest eine der Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats entgegenstehende Haltung erkennen lassen ( 38 ). Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit wäre es jedoch erforderlich, bei der Beurteilung des Einzelfalls sowohl die Schwere als auch die Art der Zuwiderhandlung gebührend zu berücksichtigen. Daraus folgt, dass eine kriminelle Vorgeschichte zwar Einfluss auf die Entscheidung über den Entzug oder den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten haben kann, es aber gleichwohl geboten ist, die Situation des Inhabers dieser Rechtsstellung umfassend zu prüfen.

70.

Ich möchte allerdings betonen, dass die Möglichkeit, auf dieses „negative“ Kriterium zurückzugreifen, keinesfalls dahin ausgelegt werden darf, dass die nationalen Behörden nicht mehr verpflichtet wären, die in den Art. 6 und 12 der Richtlinie 2003/109 genannten Bestimmungen zu beachten. Vielmehr behalten diese Bestimmungen in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich, d. h. bei der Ausübung der Befugnis, die Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu versagen und seine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zu verfügen, ihre volle Geltung. Die Inanspruchnahme dieser Befugnisse hängt von bestimmten Voraussetzungen ab, die der Gerichtshof kürzlich im Urteil Subdelegación del Gobierno en Barcelona (Langfristig Aufenthaltsberechtigte) aufgestellt hat ( 39 ).

71.

Da sich der in den vorliegenden Schlussanträgen vorgeschlagene Ansatz durch eine Flexibilität auszeichnet, die dem Einzelfall Rechnung trägt und es den nationalen Behörden ermöglicht, nach einer Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände der konkreten Situation des betreffenden Drittstaatsangehörigen gegebenenfalls zu dem Schluss zu gelangen, dass selbst ein kurzer Aufenthalt den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verhindert, ist festzustellen, dass dieser Ansatz nationalen Rechtsvorschriften wie den hier vorliegenden entgegensteht, die den Verlust dieser Rechtsstellung vorsehen, wenn ihr Inhaber seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht in der Union hat.

72.

Diese Feststellung hat zur Folge, dass die mit dieser Gesamtbeurteilung betrauten nationalen Behörden nicht allein daraus, dass die betreffende Person diese Voraussetzung nicht erfüllt, auf das Fehlen einer echten Bindung zur Union schließen dürfen. Vielmehr müssen sie ein breites Spektrum relevanter Kriterien berücksichtigen, wie sie in den vorstehenden Nummern der vorliegenden Schlussanträge beispielhaft aufgeführt sind. Der Wohnsitz oder gewöhnliche Aufenthalt ist nämlich, für sich allein genommen, meines Erachtens kein geeigneter Indikator für den Grad der Integration eines Drittstaatsangehörigen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 2004/38 zeigt deutlich, dass die Integration einer Person nur anhand verschiedener Kriterien beurteilt werden kann, unter denen soziale und kulturelle Faktoren besondere Bedeutung haben ( 40 ). Aus den in den vorliegenden Schlussanträgen angeführten Gründen, nämlich dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel, die Rechte dieser Drittstaatsangehörigen denen der Unionsbürger anzunähern ( 41 ), bin ich der Auffassung, dass sich diese Erwägungen auf die Auslegung der Richtlinie 2003/109 auswirken müssen.

73.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der vorgeschlagene Ansatz auf einer Auslegung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 beruht, die dem Wortlaut dieser Bestimmung sowie den Zielen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, und ihrem Regelungszusammenhang im Einklang mit der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten Methodik gebührend Rechnung trägt. Ich bin überzeugt, dass nur ein flexibler Ansatz wie der von mir dargelegte, der sich auf das Ermessen der nationalen Behörden stützt und ihnen zugleich sachdienliche Kriterien für die Beurteilung einer echten Verbindung zur Union an die Hand gibt, geeignet ist, eine angemessene Behandlung der vielfältigen Umstände zu gewährleisten, mit denen diese Behörden täglich konfrontiert werden.

VI. Ergebnis

74.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Verwaltungsgerichts Wien (Österreich) wie folgt zu antworten:

Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen in der durch die Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen vorsieht, wenn der Inhaber dieser Rechtsstellung seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht in der Union hat.

Diese Bestimmung ist auch dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden in den Fällen, in denen ein langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der Union hat, über ein gewisses Ermessen bei der Beurteilung verfügen, ob ein kurzer Aufenthalt im Unionsgebiet innerhalb eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten dem Verlust der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen nach dieser Bestimmung entgegensteht. Die Mitgliedstaaten können im Einklang mit der Richtlinie 2003/109 in der durch die Richtlinie 2011/51 geänderten Fassung insbesondere davon ausgehen, dass kurze Aufenthalte den Verlust dieser Rechtsstellung nur ausschließen, wenn der Drittstaatsangehörige während seiner Abwesenheit im Übrigen eine echte Bindung zur Union aufrechterhalten hat.

Um das Bestehen einer solchen echten Bindung zur Union festzustellen, sind alle relevanten Aspekte der konkreten Situation des Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, insbesondere die Gesamtdauer und Häufigkeit seiner Abwesenheiten, die Gründe, die ihn zum Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats veranlasst haben, das Vorhandensein von Vermögen sowie das Bestehen familiärer Bindungen, beruflicher Beziehungen, sozialen Engagements und steuerlicher Verpflichtungen in diesem Mitgliedstaat.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. 2004, L 16, S. 44.

( 3 ) ABl. 2011, L 132, S. 1.

( 4 ) BGBl. I Nr. 100/2005.

( 5 ) Iglésias Sánchez, S., „Free movement of third country national in the European Union? Main features, deficiencies and challenges of the new mobility rights in the area of freedom security and justice“, European Law Journal, Bd. 15, Nr. 6, S. 798 und 799, erläutert, dass die Anerkennung des Rechts von Drittstaatsangehörigen auf Freizügigkeit auf zwei eng miteinander verbundenen Gründen beruht habe, nämlich der Förderung der sozialen Integration und dem Ziel, qualifizierte Arbeitnehmer im Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada anzuwerben.

( 6 ) Halleskov, L., „The Long-Term Residents Directive: a fulfillment of the Tampere objective of near-equality“, European Journal of Migration and Law, Bd. 7, Nr. 2, 2005, S. 200.

( 7 ) Balleix, C., La politique migratoire de l’Union européenne, Paris 2013, S. 218.

( 8 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 2012, Singh (C‑502/10, EU:C:2012:636, Rn. 42).

( 9 ) Vgl. z. B. die bulgarische („отсъствие“), die spanische („ausencia“), die dänische („fraværende“), die estnische („äraolek“), die griechische („απουσία“), die englische („absence“), die französische („absence“), die italienische („assenza“), die polnische („nieobecność“) und die schwedische („bortovaro“) Sprachfassung.

( 10 ) Vgl. z. B. die deutsche („aufgehalten“) und die niederländische Fassung („verblijven“). In diesen beiden Sprachfassungen werden jedoch in Art. 9 Abs. 2 dieser Richtlinie, der die Möglichkeit einer Abweichung von Abs. 1 eröffnet, ebenfalls Ausdrücke verwendet, die denen der Abwesenheit entsprechen, nämlich „Abwesenheit“ bzw. „afwezigheid“.

( 11 ) Vgl. hierzu Lenaerts, K./Gutiérez-Fons, A., Les méthodes de la Cour de justice de l’Union européenne, Brüssel 2020.

( 12 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juli 2008, Metock u. a. (C‑127/08, EU:C:2008:449, Rn. 84), und vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a. (C‑202/13, EU:C:2014:2450, Rn. 32).

( 13 ) Vgl. Urteil vom 26. April 2012, Kommission/Niederlande (C‑508/10, EU:C:2012:243, Rn. 68), und Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Singh (C‑502/10, EU:C:2012:294, Nrn. 29 und 35), in denen der Generalanwalt die Ansicht vertritt, dass die in Rede stehenden Bestimmungen dahin auszulegen sind, dass eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten besteht, diese Rechtsstellung zu gewähren, wenn die einschlägigen Voraussetzungen erfüllt sind.

( 14 ) Vgl. hierzu Urteil vom 8. November 2012, Iida (C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 45 bis 48). Wie Peers, S., EU Justice and Home Affairs Law, Bd. I: EU Immigration and Asylum Law, 4. Aufl., Oxford 2016, S. 425, ausführt, wird die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nicht automatisch zuerkannt, sondern setzt voraus, dass der Betroffene bei den zuständigen nationalen Behörden einen entsprechenden Antrag stellt.

( 15 ) Siehe Nr. 27 der vorliegenden Schlussanträge.

( 16 ) Thym, D., „Long Term Residents Directive 2003/109/EC“, EU Immigration and Asylum Law, 04/2016, S. 473, Rn. 1, weist darauf hin, dass die Richtlinie 2003/109 die Voraussetzungen für die Zuerkennung und den Entzug (oder Verlust) der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten abschließend harmonisiert. Folglich hat der Drittstaatsangehörige, sobald er diese Rechtsstellung erworben hat, das Recht, sie beizubehalten, auch wenn er die in den Art. 5 und 6 der Richtlinie 2003/109 genannten Voraussetzungen zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr erfüllt. Ebenso kommt ein Entzug (oder Verlust) dieser Rechtsstellung nur in Betracht, wenn die in Art. 9 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

( 17 ) Vgl. in diesem Sinne Boelaert-Suominen, S., „Non-EU nationals and Council Directive 2003/109/EC on the status of third-country nationals who are long-term residents: Five paces forward and possibly three paces back“, Common Market Law Review, Bd. 42, Nr. 4, 2005, S. 1025.

( 18 ) Urteil vom 18. Oktober 2012 (C‑502/10, EU:C:2012:636, Rn. 46). Hervorhebung nur hier.

( 19 ) Vgl. hierzu Urteil vom 17. Juli 2014, Tahir (C‑469/13, EU:C:2014:2094, Rn. 30), in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Aufenthaltsvoraussetzung eine unabdingbare Voraussetzung für die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ist.

( 20 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).

( 21 ) Urteil vom 3. Oktober 2019, X (Ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte) (C‑302/18, EU:C:2019:830, Rn. 32 ff.).

( 22 ) Urteil vom 21. Juli 2011 (C‑325/09, EU:C:2011:498, Rn. 59). Hervorhebung nur hier.

( 23 ) Vgl. Art. 10 Abs. 1 Buchst. a des Vorschlags für eine Richtlinie des Rates betreffend den Status der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, KOM(2001) 127 endgültig (ABl. 2001, C 240 E, S. 79).

( 24 ) Siehe Nr. 24 der vorliegenden Schlussanträge.

( 25 ) Thym, D., „Long Term Residents Directive 2003/109/EC“, EU Immigration and Asylum Law, 04/2016, S. 474, Rn. 6, legt diese Bestimmung dahin aus, dass sie zum „automatischen“ Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten führt.

( 26 ) Vgl. hierzu den Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Umsetzung der Richtlinie [2003/109], COM(2019) 161 final, S. 6, aus dem sich ergibt, dass Österreich die in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 vorgesehene Möglichkeit genutzt hat, indem es vorgesehen hat, dass eine Abwesenheit von mehr als zwölf aufeinanderfolgenden Monaten vom Gebiet der Union regelmäßig zum Verlust der Rechtsstellung führt, während gleichzeitig die Möglichkeit vorgesehen wurde, eine längere Abwesenheit aufgrund von außergewöhnlichen Umständen zu gestatten.

( 27 ) Siehe Nr. 49 der vorliegenden Schlussanträge.

( 28 ) Vgl. hierzu Thym, D., „Long Term Residents Directive 2003/109/EC“, EU Immigration and Asylum Law, 04/2016, S. 475, Rn. 7, der die Auffassung vertritt, dass kurzzeitige Besuche in Anbetracht des mit der Richtlinie 2003/1009 verfolgten Ziels, die Integration von Drittstaatsangehörigen zu fördern und ihre „Verwurzlung“ im Aufnahmemitgliedstaat zu gewährleisten, grundsätzlich nicht geeignet sein sollten, den Zeitraum von zwölf Monaten zu unterbrechen. Andererseits spricht sich der Verfasser für einen weniger „formalistischen“ Ansatz aus, wenn eine individuelle Beurteilung der Situation, in der sich die betreffende Person befindet, eine Entscheidung zugunsten der Aufrechterhaltung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten rechtfertigt.

( 29 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 14. März 2019, Y. Z. u. a. (Täuschung bei der Familienzusammenführung) (C‑557/17, EU:C:2019:203, Rn. 64), zum auf einer Täuschung beruhenden Entzug der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten.

( 30 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 26. April 2012, Kommission/Niederlande (C‑508/10, EU:C:2012:243, Rn. 65), in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass das den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie 2003/109 eingeräumte Ermessen hinsichtlich der von Drittstaatsangehörigen und ihren Familienangehörigen für die Ausstellung von Aufenthaltstiteln geforderten Gebühren nicht schrankenlos ist. Unter Bezugnahme auf seine Rechtsprechung hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten keine nationale Regelung anwenden dürfen, die die Verwirklichung der mit einer Richtlinie verfolgten Ziele gefährden und dieser damit ihre praktische Wirksamkeit nehmen könnte.

( 31 ) Vgl. hierzu Urteil vom 21. Juli 2011, Dias (C‑325/09, EU:C:2011:498, Rn. 64), in dem der Gerichtshof zur Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 festgestellt hat, dass „der Integrationsgedanke, der dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts … zugrunde liegt, nicht nur auf territoriale und zeitliche Umstände, sondern auch auf qualitative Elemente im Zusammenhang mit dem Grad der Integration im Aufnahmemitgliedstaat abstellt“. Hervorhebung nur hier.

( 32 ) Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger (ABl. 2010, C 115, S. 1). Vgl. Pressemitteilung 14615/04 des Rates vom 19. November 2004 und Vermerk 17024/09 des Rates vom 2. Dezember 2009 sowie Mitteilung der Kommission vom 1. September 2005„Eine gemeinsame Integrationsagenda – Ein Rahmen für die Integration von Drittstaatsangehörigen in die Europäische Union“ (KOM[2005] 389 endgültig).

( 33 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis (C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 33), zur Auslegung von Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38. Diese Bestimmung gewährt Unionsbürgern einen verstärkten Schutz vor jeder Ausweisung aus dem Aufnahmemitgliedstaat, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben. Da diese Bestimmung offenlässt, inwieweit Abwesenheiten vom Aufnahmemitgliedstaat die betroffene Person daran hindern, in den Genuss dieses verstärkten Schutzes zu kommen, ist es Sache des Gerichtshofs, den nationalen Behörden sachdienliche Kriterien zu liefern.

( 34 ) Vgl. in diesem Zusammenhang Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache P und S (C‑579/13, EU:C:2015:39, Nr. 92), in denen er auf das Netz der Verbindungen verweist, die eine Person über einen längeren Zeitraum in der jeweiligen Umgebung knüpft und das es ihr ermöglicht, sich zu integrieren. Er erwähnt die „Ehe oder [die] Familie, [die] Nachbarschaft, [den] ausgeübten Beruf, [das] betriebene Hobby sowie [die] Tätigkeit in Nichtregierungsorganisationen“.

( 35 ) Vgl. entsprechend Schlussanträge des Generalanwalts Tanchev in der Rechtssache Hummel Holding (C‑617/15, EU:C:2017:13, Nr. 85), in denen er die „Niederlassung des Beklagten“ als Anknüpfungskriterium für die Begründung einer gerichtlichen Zuständigkeit im Zivilprozessrecht nennt.

( 36 ) Vgl. in diesem Zusammenhang Schlussanträge des Generalanwalts Hogan in der Rechtssache Land Oberösterreich (Wohnbeihilfe) (C‑94/20, EU:C:2021:155, Nr. 75), in denen er die Bedeutung des Erlernens der Sprache als Mittel hervorhebt, um den Zugang der Drittstaatsangehörigen zum Arbeitsmarkt und zur Berufsausbildung zu gewährleisten.

( 37 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 18. Juni 2015, Kieback (C‑9/14, EU:C:2015:406, Rn. 22), in dem der Gerichtshof als Kriterium für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen auf den „Ort, … an dem [dieser den] Mittelpunkt seiner persönlichen Interessen und seiner Vermögensinteressen“ hat, Bezug nimmt, der im Allgemeinen dem Ort seines „gewöhnlichen Aufenthalts“ entspricht.

( 38 ) Vgl. hierzu Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Dias (C‑325/09, EU:C:2011:86, Nr. 106), in denen sie im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. 16 der Richtlinie 2004/38 argumentiert, dass ein rechtsuntreues Verhalten eines Unionsbürgers durchaus geeignet sei, den Grad seiner Integration in den Aufnahmemitgliedstaat in qualitativer Hinsicht zu verringern.

( 39 ) Urteil vom 3. September 2020 (C‑503/19 und C‑592/19, EU:C:2020:629, Rn. 43).

( 40 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis (C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 26).

( 41 ) Siehe Nr. 40 der vorliegenden Schlussanträge.