SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 13. Januar 2022 ( 1 )

Verbundene Rechtssachen C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20

Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost Produktions GmbH (C‑415/20),

F. Reyher Nchfg. GmbH & Co. KG vertr. d. d. Komplementärin Verwaltungsgesellschaft F. Reyher Nchfg. mbH (C‑419/20)

gegen

Hauptzollamt Hamburg (C‑415/20 und C‑419/20)

und

Flexi Montagetechnik GmbH & Co. KG

gegen

Hauptzollamt Kiel (C‑427/20)

(Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Hamburg [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Erstattung von durch einen Mitgliedstaat unionsrechtswidrig erhobenen Abgaben – Verzinsung – Zollunion – Art. 241 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 (Zollkodex der Gemeinschaft) – Art. 116 Abs. 6 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 (Zollkodex der Union) – Beschränkung der Zahlung von Zinsen im Fall der Erstattung von Zöllen – Effektivitätsgrundsatz – Nationale Regelungen, wonach Zinsen ab Rechtshängigkeit einer gerichtlichen Klage zu zahlen sind“

I. Einleitung

1.

Die vorliegenden drei Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Hamburg (Deutschland) betreffen die Auslegung des Unionsrechts im Hinblick auf den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs als unionsrechtlichen Anspruch anerkannten Verzinsungsanspruch von Einzelpersonen. Sie beziehen sich auf drei verschiedene Sachverhalte, in denen es um Ansprüche auf Zahlung von Zinsen auf rechtsgrundlos und unionsrechtswidrig erhobene Abgaben geht, und zwar im Zusammenhang mit erstens der verspäteten Auszahlung von Ausfuhrerstattungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse und der Erstattung zu Unrecht festgesetzter finanzieller Sanktionen in Verbindung mit solchen Erstattungen, zweitens der Erstattung von Antidumpingzöllen und drittens der Erstattung von Einfuhrzöllen.

2.

Die in den vorliegenden Rechtssachen aufgeworfenen Fragen geben dem Gerichtshof Gelegenheit, seine Rechtsprechung zum Anspruch auf Zahlung von Zinsen zu erläutern und weiterzuentwickeln sowie insbesondere die Frage zu beantworten, in welchen Fällen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht dieser Anspruch unionsrechtlich entsteht. Darüber hinaus ist der Gerichtshof zur Klärung der Frage aufgerufen, unter welchen Voraussetzungen der Verzinsungsanspruch zum einen durch das Unionsrecht und zum anderen durch das nationale Recht beschränkt werden kann.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

3.

Die Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften ( 2 ) wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 450/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaft (Modernisierter Zollkodex) ( 3 ) aufgehoben und ersetzt, die ihrerseits durch die Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union aufgehoben und ersetzt wurde ( 4 ).

4.

Art. 241 des Zollkodex der Gemeinschaften bestimmte:

„Erstatten die Zollbehörden Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbeträge sowie bei deren Entrichtung gegebenenfalls erhobene Kredit- oder Säumniszinsen, so sind dafür von diesen Behörden keine Zinsen zu zahlen. Dagegen sind Zinsen zu zahlen,

wenn eine Entscheidung, mit der einem Erstattungsantrag stattgegeben wird, nicht innerhalb von drei Monaten nach ihrem Ergehen vollzogen wird;

wenn dies aufgrund der einzelstaatlichen Bestimmungen vorgesehen ist.

…“

5.

Art. 116 Abs. 6 des Zollkodex der Union bestimmt:

„Im Falle der Erstattung sind von den betreffenden Zollbehörden keine Zinsen zu zahlen.

Zinsen sind jedoch zu zahlen, wenn eine Erstattungsentscheidung nicht innerhalb von drei Monaten nach dem Tag, an dem sie getroffen wurde, vollzogen wird, es sei denn, dass die Nichteinhaltung der Frist nicht von den Zollbehörden zu vertreten ist.

In diesem Fall sind die Zinsen ab dem Tag, an dem die Dreimonatsfrist abläuft, bis zum Tag der Erstattung zu zahlen. Der Zinssatz wird nach Artikel 112 festgesetzt.“

B.   Deutsches Recht

6.

Den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge sind die einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften diejenigen der Abgabenordnung (BGBl. 2002 I S. 3866) in der für die Rechtsstreite der Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung (im Folgenden: AO).

7.

§ 3 AO bestimmt:

„…

(3) Einfuhr- und Ausfuhrabgaben nach Artikel 5 Nummer 20 und 21 des Zollkodex der Union sind Steuern im Sinne dieses Gesetzes. …

(4) Steuerliche Nebenleistungen sind … Zinsen nach den §§ 233 bis 237 [und] Zinsen auf Einfuhr- und Ausfuhrabgaben nach Artikel 5 Nummer 20 und 21 des Zollkodex der Union …

…“

8.

§ 233 AO sieht vor:

„Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37) werden nur verzinst, soweit dies gesetzlich vorgeschrieben ist. …“

9.

§ 236 AO bestimmt:

„(1) Wird durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder auf Grund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt, so ist der zu erstattende oder zu vergütende Betrag vorbehaltlich des Absatzes 3 vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag zu verzinsen. …

…“

10.

Zu den einschlägigen Rechtsvorschriften in der Rechtssache C‑415/20 gehört ferner das Gesetz zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen (BGBl. 2017 I S. 3746) in der für die Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung (im Folgenden: MOG).

11.

§ 14 MOG bestimmt:

„(1) Ansprüche auf Erstattung von Vergünstigungen sowie auf Beträge, die wegen Nichteinhaltung anderweitiger Verpflichtungen zu erstatten sind, sind vom Zeitpunkt ihrer Entstehung an mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen. Werden Abgaben nicht rechtzeitig gezahlt, sind sie vom Fälligkeitstag an mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen. Satz 1 oder 2 ist nicht anzuwenden, soweit Regelungen im Sinne des § 1 Absatz 2 etwas anderes vorsehen.

(2) Ansprüche auf Vergünstigungen und im Rahmen von Interventionen sind ab Rechtshängigkeit nach Maßgabe der §§ 236, 238 und 239 der Abgabenordnung zu verzinsen. Im Übrigen sind diese Ansprüche unverzinslich.“

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

A.   Rechtssache C‑415/20

12.

Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge handelt es sich bei der Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost Produktions GmbH (im Folgenden: Gräfendorfer) um ein deutsches Unternehmen, das Geflügelschlachtkörper in Drittländer ausführt.

13.

Im Zeitraum zwischen Januar und Juni 2012 versagte das Hauptzollamt Hamburg (Deutschland) Gräfendorfer die Gewährung von Ausfuhrerstattungen mit der Begründung, dass die Geflügelschlachtkörper nicht von handelsüblicher Qualität seien, weil sie nicht vollständig gerupft gewesen seien bzw. zu viele Innereien aufgewiesen hätten. Das Hauptzollamt Hamburg setzte gegen Gräfendorfer auf der Grundlage der einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften ( 5 ) ferner Sanktionen mit der Begründung fest, dass sie eine höhere als die ihr zustehende Ausfuhrerstattung beantragt habe.

14.

Danach entschied das Finanzgericht Hamburg im Rahmen von Klagen anderer Personen als Gräfendorfer ( 6 ) auf der Grundlage des Urteils des Gerichtshofs vom 24. November 2011, Gebr. Stolle ( 7 ), dass das Vorhandensein einer geringen Anzahl von Federn für eine Ausfuhrerstattung unschädlich sei und dass insgesamt bis zu vier Innereien zulässig seien. Daraufhin gab das Hauptzollamt Hamburg dem Einspruch von Gräfendorfer statt, gewährte ihr die beantragten Ausfuhrerstattungen und erstattete die festgesetzten Sanktionen zurück.

15.

Mit Schreiben vom 16. April 2015 beantragte Gräfendorfer beim Hauptzollamt Hamburg die Zahlung von Zinsen auf die verspätete Zahlung von Ausfuhrerstattungen und auf die erstatteten Sanktionen. Mit Bescheid vom 22. Juli 2015 lehnte das Hauptzollamt Hamburg diesen Antrag ab. Mit Bescheid vom 18. April 2018 wies es den von Gräfendorfer gegen seinen Bescheid vom 22. Juli 2015 eingelegten Einspruch ebenfalls zurück.

16.

Gegen diese Ablehnung erhob Gräfendorfer am 23. Mai 2018 Klage beim vorlegenden Gericht. Sie stützt ihre Klage auf das Unionsrecht und den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Verzinsungsanspruch. Das Hauptzollamt Hamburg macht u. a. geltend, dass seine Weigerung, die Ausfuhrerstattungen zu gewähren, seinerzeit nicht gegen das Unionsrecht verstoßen habe, sondern mit den anwendbaren unionsrechtlichen Bestimmungen und der nationalen Rechtsprechung im Einklang gestanden habe; erst in Folge des Urteils des Gerichtshofs und der anschließenden Entscheidungen des vorlegenden Gerichts habe Gräfendorfer Anspruch auf die Gewährung von Ausfuhrerstattungen gehabt, so dass sie in diesem Fall keine Zinsen auf den berichtigten Betrag verlangen könne. Das Hauptzollamt Hamburg berief sich insoweit auf das Urteil des Gerichtshofs vom 18. Januar 2017, Wortmann ( 8 ).

17.

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es im Unionsrecht und im nationalen Recht keine auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbare Vorschrift gebe, nach der den von Gräfendorfer geltend gemachten Ansprüchen auf Verzinsung der verspäteten Zahlung der Ausfuhrerstattungen oder der erstatteten Sanktionen entsprochen werden könne. Der Ausgang des Rechtsstreits hänge daher davon ab, ob diese Ansprüche sich aus dem unionsrechtlichen Anspruch auf Zahlung von Zinsen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben könnten.

18.

Da das Finanzgericht Hamburg Zweifel hat, ob der sich aus dem Unionsrecht ergebende Verzinsungsanspruch im Fall eines in dieser Rechtssache in Rede stehenden Verstoßes gegen das Unionsrecht besteht, hat es beschlossen, das Ausgangsverfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Besteht die unionsrechtliche Pflicht der Mitgliedstaaten, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Abgaben zuzüglich Zinsen zu erstatten, auch in Fällen, in denen der Grund für die Erstattung nicht ein vom Gerichtshof der Europäischen Union festgestellter Verstoß der Rechtsgrundlage gegen das Unionsrecht, sondern eine vom Gerichtshof getroffene Auslegung einer (Unter‑)Position der Kombinierten Nomenklatur ist?

2.

Sind die Grundsätze des vom Gerichtshof der Europäischen Union entwickelten unionsrechtlichen Zinsanspruchs auch auf die Zahlung von Ausfuhrerstattungen, die die mitgliedstaatliche Behörde unter Verstoß gegen das Unionsrecht verweigert hat, übertragbar?

B.   Rechtssache C‑419/20

19.

Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge handelt es sich bei der F. Reyher Nchfg. GmbH & Co. KG (im Folgenden: Reyher) um ein deutsches Unternehmen, das in den Jahren 2010 und 2011 Verbindungselemente von einem Unternehmen in Indonesien, einer Tochtergesellschaft eines Unternehmens mit Sitz in China, in die Union einführte.

20.

Das Hauptzollamt Hamburg war der Ansicht, dass Ursprung dieser Verbindungselemente China gewesen sei, so dass ihre Einfuhr in die Union den Antidumpingzöllen nach der Verordnung Nr. 91/2009 ( 9 ) unterliege. Demnach erließ das Hauptzollamt Hamburg im Jahr 2013 mehrere Bescheide, mit denen gegenüber Reyher Antidumpingzölle erhoben wurden, die von ihr entrichtet wurden. Gegen die Festsetzung dieser Abgaben erhob Reyher daraufhin Klage beim Finanzgericht Hamburg.

21.

Mit rechtskräftigem Urteil vom 3. April 2019 gab das Finanzgericht Hamburg der Klage Reyhers statt und hob die ihr gegenüber festgesetzten Antidumpingzölle mit der Begründung auf, dass das Hauptzollamt Hamburg nicht nachgewiesen habe, dass die von Reyher in die Union eingeführten Verbindungselemente ihren Ursprung in der Volksrepublik China gehabt hätten.

22.

Das Hauptzollamt Hamburg erstattete Reyher die von ihr entrichteten Antidumpingzölle im Mai 2019 zurück. Dagegen lehnte es den Antrag von Reyher auf Verzinsung dieser Zölle ab und wies anschließend auch den von Reyher gegen diese Ablehnung eingelegten Einspruch zurück.

23.

Gegen diese Ablehnung erhob Reyher am 10. Februar 2020 Klage beim vorlegenden Gericht. Zwar ist zwischen den Parteien streitig, ob die Zahlung von Zinsen nach Art. 116 Abs. 6 des Zollkodex der Union ausgeschlossen ist, nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist auf den Sachverhalt der Rechtssache jedoch nicht dieser Kodex, sondern der frühere Zollkodex der Gemeinschaften anwendbar. Nach Art. 241 des Zollkodex der Gemeinschaften sind Zinsen zu zahlen, wenn dies durch das nationale Recht vorgesehen ist. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts konnte Reyher daher nach § 236 Abs. 1 AO Zinsen ab Rechtshängigkeit verlangen. Das Gericht hält jedoch für fraglich, ob Reyher Anspruch auf Zinsen auch für den Zeitraum von der Zahlung der nicht geschuldeten Antidumpingzölle bis zur Rechtshängigkeit hat.

24.

Da das Finanzgericht Hamburg Zweifel hat, ob Reyher die Zinsen, die sie nach nationalem Recht nicht verlangen kann, aufgrund des sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verzinsungsanspruchs nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs geltend machen kann, hat es beschlossen, das Ausgangsverfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist ein Verstoß gegen das Unionsrecht als Voraussetzung des vom Gerichtshof der Europäischen Union entwickelten unionsrechtlichen Zinsanspruchs auch gegeben, wenn eine mitgliedstaatliche Behörde eine Abgabe unter Anwendung des Unionsrechts festsetzt, ein mitgliedstaatliches Gericht jedoch später feststellt, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für die Erhebung der Abgabe nicht vorliegen?

C.   Rechtssache C‑427/20

25.

Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge handelt es sich bei der Flexi Montagetechnik GmbH & Co. KG (im Folgenden: Flexi Montagetechnik) um ein deutsches Unternehmen, das Bolzenhaken, die zur Herstellung von Hundeleinen verwendet werden, in die Union einführte.

26.

Das Hauptzollamt Kiel (Deutschland) war nach einer Außenprüfung der Ansicht, dass diese Bolzenhaken nicht in die Position 8308 der Kombinierten Nomenklatur (im Folgenden: KN) mit einem Zollsatz von 2,7 %, eingereiht werden dürften, wie von Flexi Montagetechnik angemeldet, sondern als in die KN-Position 7907 eingereihte Ware mit einem Zollsatz von 5 %, und damit einem höheren Einfuhrzollsatz als von Flexi Montagetechnik entrichtet, zu behandeln seien. Das Hauptzollamt Kiel erließ zwei Bescheide über die Erhebung von Einfuhrzöllen, die Flexi Montagetechnik im März 2014 entrichtete. Gegen diese Bescheide erhob Flexi Montagetechnik im September 2014 gerichtliche Klage.

27.

Mit Urteil vom 20. Juni 2017 hob der Bundesfinanzhof (Deutschland) diese Bescheide mit der Begründung auf, dass die Erhebung der Einfuhrabgaben rechtswidrig sei, weil die Bolzenhaken in die KN-Position 8308 einzureihen seien, wie von Flexi Montagetechnik vorgenommen.

28.

Das Hauptzollamt Kiel erstattete Flexi Montagetechnik im Oktober 2017 die von ihr entrichteten Einfuhrabgaben zurück. Dagegen lehnte es eine Verzinsung dieser Abgaben für den Zeitraum ab ihrer Entrichtung bis zur Erstattung ab und wies den von Flexi Montagetechnik gegen diese Ablehnung eingelegten Einspruch zurück.

29.

Gegen diese Ablehnung erhob Flexi Montagetechnik Klage beim vorlegenden Gericht. Im Verlauf des Klageverfahrens gewährte das Hauptzollamt Kiel ihr Zinsen für den Zeitraum ab Klageerhebung gegen die Nacherhebungsbescheide (September 2014) bis zur Erstattung der Einfuhrabgaben (Oktober 2017). Die Parteien streiten jedoch noch darum, ob Flexi Montagetechnik Zinsen auch für den Zeitraum ab Entrichtung der rechtswidrig erhobenen Einfuhrabgaben (März 2014) bis zur Klageerhebung gegen die Nacherhebungsbescheide (September 2014) beanspruchen kann.

30.

Da das Finanzgericht Hamburg Zweifel hat, ob Flexi Montagetechnik die Zinsen, die sie nach nationalem Recht nicht verlangen kann, aufgrund des sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verzinsungsanspruchs nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs geltend machen kann, hat es beschlossen, das Ausgangsverfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist ein Verstoß gegen das Unionsrecht als Voraussetzung des vom Gerichtshof der Europäischen Union entwickelten unionsrechtlichen Zinsanspruchs auch gegeben, wenn eine mitgliedstaatliche Behörde eine Abgabe unter Verletzung rechtsgültiger Vorschriften des Unionsrechts festsetzt und ein mitgliedstaatliches Gericht diesen Verstoß gegen das Unionsrecht feststellt?

IV. Verfahren vor dem Gerichtshof

31.

Mit Beschluss vom 9. Oktober 2020 hat der Präsident des Gerichtshofs die Rechtssachen C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

32.

Gräfendorfer, Reyher, Flexi Montagetechnik, die niederländische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Beteiligten haben ferner schriftliche Fragen des Gerichtshofs nach Art. 62 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung beantwortet.

V. Würdigung

33.

Mit seinen Fragen ersucht das vorlegende Gericht um Hinweise zu mehreren Fragestellungen im Zusammenhang mit dem in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten unionsrechtlichen Verzinsungsanspruch.

34.

Das vorlegende Gericht hält nicht für fraglich, dass der Verzinsungsanspruch nach dem Unionsrecht besteht, sondern vielmehr, ob dieser Anspruch in verschiedenen, ihm zur Entscheidung vorliegenden Fällen von Verstößen gegen das Unionsrecht besteht.

35.

Die erste Frage, die allen drei Rechtssachen zugrunde liegt, ist im Wesentlichen, ob es für das Entstehen des Anspruchs auf Zahlung von Zinsen nach dem Unionsrecht darauf ankommt, worin der Verstoß gegen das Unionsrecht liegt. Darüber hinaus stellt sich mittelbar die Frage, ob es darauf ankommt, dass der Verstoß gegen das Unionsrecht von den nationalen Gerichten und nicht vom Gerichtshof festgestellt wurde.

36.

Die zweite Frage, die diesen Rechtssachen zugrunde liegt, ist im Wesentlichen, ob und unter welchen Voraussetzungen der unionsrechtliche Anspruch auf Zahlung von Zinsen beschränkt werden kann. Die Rechtssachen C‑419/20 und C‑427/20 werfen die Frage auf, ob die im Zollrecht der Union vorgesehene Beschränkung des Verzinsungsanspruchs Anwendung findet, wohingegen alle drei Rechtssachen die Frage aufwerfen, ob dieser Anspruch durch das nationale Recht beschränkt werden kann.

37.

Um diese Fragen zu beantworten, werde ich zunächst den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Erstattung unionsrechtswidrig erhobener Abgaben entwickelten Verzinsungsanspruch erörtern (Abschnitt A). Sodann werde ich prüfen, ob es für die Entstehung des Verzinsungsanspruchs nach dem Unionsrecht darauf ankommt, worin der Verstoß gegen das Unionsrecht liegt (Abschnitt B.1), und anschließend erörtern, ob es darauf ankommt, ob der Verstoß gegen das Unionsrecht von den nationalen Gerichten oder vom Gerichtshof festgestellt wird (Abschnitt B.2). Schließlich werde ich mich mit den möglichen Rechtfertigungen für Einschränkungen des Verzinsungsanspruchs sowohl nach dem Unionsrecht (Abschnitt C.1) als auch nach nationalem Recht (Abschnitt C.2) befassen.

38.

Meine Würdigung wird zeigen, dass der Anspruch auf Zahlung von Zinsen eine allgemeine Regelung des Unionsrechts darstellt, die in allen Fällen gilt, in denen eine nach dem Unionsrecht geschuldete Zahlung verspätet geleistet wird, und zwar unabhängig davon, ob es sich um die Erstattung zu Unrecht geleisteter Geldzahlungen oder um die verspätete Auszahlung von Leistungen, auf die eine Person nach dem Unionsrecht Anspruch hat, handelt. Eine solche allgemeine Regelung kann durch das Unionsrecht oder durch das nationale Recht beschränkt werden, sofern eine solche Einschränkung durch ein anzuerkennendes öffentliches Interesse gerechtfertigt und im Hinblick auf dieses Interesse verhältnismäßig ist. Vor diesem Hintergrund werde ich die durch das Zollrecht der Union eingeführte Beschränkung und die nach dem anwendbaren nationalen Recht bestehende Beschränkung prüfen.

A.   Verzinsungsanspruch nach dem Unionsrecht

39.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der unionsrechtliche Verzinsungsanspruch sich mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Anspruch auf Erstattung unionsrechtswidrig zu Unrecht gezahlter Beträge entwickelt hat.

40.

Die Fälle, in denen verschiedene Abgaben unionsrechtswidrig erhoben wurden, sind nicht neu. In der frühen Rechtsprechung war der Gerichtshof beispielsweise mit Gebühren für phytosanitäre Untersuchungen ( 10 ), Ausfuhrabgaben ( 11 ), gesundheitspolizeilichen Gebühren bei der Einfuhr ( 12 ), Abgaben auf zur Herstellung von Bacon bestimmte geschlachtete Schweine ( 13 ), Bananenverbrauchsteuern ( 14 ) und Abgaben bei der Eintragung neuer Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung ( 15 ) befasst. In jüngeren Rechtssachen ging es um die Vorauszahlung von Körperschaftsteuer auf von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschüttete Gewinne ( 16 ), zu viel erhobene Mehrwertsteuer ( 17 ), eine Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge ( 18 ) und zu viel entrichtete Steuern auf den Stromverbrauch ( 19 ), um nur einige zu nennen.

41.

Soweit diese Abgaben für unionsrechtswidrig erklärt wurden, beantragten diejenigen, die sie entrichtet hatten, ihre Erstattung. Diese Ansprüche waren oft mit Anträgen auf Zahlung von Zinsen verbunden.

42.

Das Unionsrecht enthält jedoch keine schriftlichen allgemeinen Regelungen zu Rechten oder Rechtsbehelfen, die Personen zur Verfügung stehen, die Zahlungen unionsrechtswidrig entrichtet haben. Daher wurde, und wird, dieses Rechtsgebiet durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelt. Im Folgenden stelle ich mein Verständnis dieser Rechtsprechung in einem kurzen Überblick dar.

43.

Nach ständiger Rechtsprechung ist das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte, die dem Einzelnen durch die unionsrechtlichen Bestimmungen in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof eingeräumt worden sind. Die Mitgliedstaaten sind daher grundsätzlich verpflichtet, unionsrechtswidrig erhobene Abgaben zurückzuzahlen ( 20 ).

44.

Meines Erachtens ist dieser Rechtsprechung eindeutig zu entnehmen, dass der Erstattungsanspruch selbst ein Recht ist, das nach dem Unionsrecht dann entsteht, wenn eine Person Abgaben unionsrechtswidrig entrichtet hat ( 21 ).

45.

Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass die Einzelnen, wenn ein Mitgliedstaat unionsrechtswidrig Steuern erhoben hat, Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge haben, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Darunter fallen auch die Einbußen aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen ( 22 ).

46.

Der Gerichtshof hat außerdem klargestellt, dass sich nach dieser Rechtsprechung der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten, aus dem Unionsrecht ergibt ( 23 ).

47.

Ich habe die angeführte Rechtsprechung dahin verstanden, dass immer dann, wenn nach dem Unionsrecht ein Erstattungsanspruch besteht, mit diesem auch ein Verzinsungsanspruch einhergeht. Diese Auslegung der Rechtsprechung wird auch von den Generalanwälten des Gerichtshofs ( 24 ) und im Schrifttum ( 25 ) vertreten.

48.

Durch die Rechtsprechung noch nicht eindeutig geklärt ist jedoch, ob Zinsen in allen Fällen zu zahlen sind, in denen der Erstattungsanspruch sich aus dem Unionsrecht ergibt, oder ob es Fälle gibt, in denen das Unionsrecht zwar einen Erstattungsanspruch gewährt, aber keine Verzinsung vorschreibt. Außerdem ist bisher nicht geklärt, ob der Anspruch auf Zahlung von Zinsen nur in Verbindung mit dem unionsrechtlichen Erstattungsanspruch oder auch in anderen Fällen besteht, in denen die verspätet erfüllte Zahlungsverpflichtung sich unmittelbar aus dem Unionsrecht ergibt (wie etwa im Fall der Ausfuhrerstattungen in der Rechtssache C‑415/20).

49.

Die Antwort auf diese Frage muss meines Erachtens auch im Unionsrecht liegen und hängt nicht von den nationalen Rechtsordnungen ab. Mit anderen Worten ist der Umfang des Zinsanspruchs keine Frage der nationalen Verfahrensautonomie. Dieser Begriff bezieht sich auf die Befugnisse der Mitgliedstaaten, materiell- und verfahrensrechtliche Fragen in ihren Rechtsordnungen zu regeln, die für die Ausübung unionsrechtlicher Rechtsbehelfe (wie etwa des unionsrechtlichen Erstattungs- oder Schadensersatzanspruchs) von Bedeutung sind, soweit es an für ihre Umsetzung erforderlichen unionsrechtlichen Vorschriften fehlt. Die Frage, ob der Anspruch auf Zahlung von Zinsen in allen oder nur in bestimmten Fällen besteht, in denen der Erstattungsanspruch besteht, oder ob er auch in anderen Fällen besteht, in denen die Zahlungsverpflichtung sich aus dem Unionsrecht ergibt, ist jedoch eine Frage des Bestehens dieses Anspruchs und nicht seiner Umsetzung und daher ausschließlich eine Frage des Unionsrechts. Dagegen ist die Frage, ob ein solches Recht, wenn es nach dem Unionsrecht besteht, durch die nationalen Rechtsordnungen beschränkt werden kann, eine andere Art von Frage, auf die ich unten gesondert eingehen werde (siehe Abschnitt C.2).

B.   Verstoß gegen das Unionsrecht, der nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs den Erstattungsanspruch zuzüglich Zinsen begründet

1. Kommt es darauf an, worin der Verstoß gegen das Unionsrecht liegt?

50.

Eine der in den vorliegenden Rechtssachen aufgeworfenen Fragen ist, ob es im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Rückforderung zu Unrecht geleisteter Zahlungen zuzüglich Zinsen darauf ankommt, worin der Verstoß gegen das Unionsrecht liegt. Genauer gesagt stellt sich die Frage, ob Zinsen nur in Fällen zu zahlen sind, in denen die Unionsmaßnahme oder die nationale Maßnahme, die als Rechtsgrundlage der zu Unrecht erhobenen Abgaben dient, aufgehoben oder für ungültig erklärt wird, wie von der niederländischen Regierung vorgetragen, oder ob Zinsen für jede Art von Verstoß gegen das Unionsrecht zu zahlen sind, was die Auffassung des vorlegenden Gerichts und die Ansicht von Gräfendorfer, Reyher, Flexi Montagetechnik und der Kommission ist.

51.

Das vorlegende Gericht führt insoweit aus, dass das gemeinsame Merkmal der Rechtssachen, in denen der Gerichtshof festgestellt habe, dass die Kläger unionsrechtlich einen Anspruch auf Zinsen hätten, darin liege, dass der Erstattungsanspruch nach der Ungültigerklärung der Rechtsgrundlage für die Zahlung durch den Gerichtshof entstanden sei ( 26 ).

52.

Dagegen ergab sich der Verstoß gegen das Unionsrecht in den vorliegenden Rechtssachen daraus, dass die zuständigen nationalen Behörden bei der Anwendung rechtsgültiger unionsrechtlicher Regelungen das Unionsrecht fehlerhaft ausgelegt oder Tatsachen fehlerhaft gewürdigt hätten. In der Rechtssache C‑415/20 bestand der Verstoß in einer fehlerhaften Auslegung gültiger unionsrechtlicher Regelungen, aufgrund deren der Klägerin die Zahlung von Ausfuhrerstattungen verweigert und zudem gegen sie von den zuständigen nationalen Behörden eine Geldstrafe verhängt wurde. In der Rechtssache C‑419/20 bestand der Verstoß in einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung durch die zuständigen nationalen Behörden, die zur Erhebung von Antidumpingzöllen führte, die nach gültigem Unionsrecht nicht geschuldet waren, und in der Rechtssache C‑427/20 folgte die Erhebung von Einfuhrzöllen aus einer fehlerhaften Auslegung des gültigen Unionsrechts durch diese Behörden.

53.

Zwar ging es in den vom vorlegenden Gericht angeführten Rechtssachen um Fälle, in denen die Rechtsgrundlage für die Zahlung für ungültig erklärt worden war. Im Urteil Zuckerfabrik Jülich ( 27 ) ging es um die Zahlung von Zinsen auf zu Unrecht gezahlte Produktionsabgaben im Zuckersektor, die auf der Grundlage von Verordnungen der Union entrichtet worden waren, die der Gerichtshof für ungültig erklärt hatte. Das Urteil Irimie ( 28 ) betraf die Zahlung von Zinsen auf eine zu erstattende Umweltsteuer nach nationalem Recht, die aufgrund der Auslegung des Gerichtshofs für unionsrechtswidrig befunden wurde. Das Urteil Wortmann ( 29 ) schließlich betraf die Zahlung von Zinsen im Zusammenhang mit der Erstattung von Antidumpingzöllen, die von der Klägerin aufgrund einer Verordnung der Union entrichtet worden waren, die vom Gerichtshof teilweise für nichtig erklärt worden war.

54.

Zunächst ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es zum einen vom Gerichtshof entschiedene Fälle gibt, in denen der Grund für die Zahlung von Zinsen nicht in der Ungültigerklärung der Rechtsgrundlage für die Zahlung, sondern in einem anderen Verstoß gegen das Unionsrecht lag. Einen dieser Fälle hat das vorlegende Gericht selbst angesprochen ( 30 ). Zum anderen gibt es meines Erachtens wichtige konzeptionelle Gründe, die dafür sprechen, dass ein Anspruch auf Zahlung von Zinsen im Unionsrecht unabhängig davon besteht, worin der Verstoß gegen das Unionsrecht liegt. Mit anderen Worten gibt es meines Erachtens keine Rechtfertigung dafür, den Verzinsungsanspruch ausschließlich auf Fälle zu beschränken, in denen es um die Ungültigerklärung der Rechtsgrundlage für die Zahlung geht. Um diesen Standpunkt zu erläutern, muss ich zunächst auf die Gründe eingehen, die für die den Verzinsungsanspruch begründende Rechtsprechung des Gerichtshofs bestimmend waren.

a) Zweck des Verzinsungsanspruchs

55.

Hat jemand unionsrechtswidrig eine Zahlung geleistet, entsteht zugleich das Recht, sie zurückzuerhalten, auch wenn es möglicherweise erst zu einem späteren Zeitpunkt vom Gerichtshof oder von einem nationalen Gericht festgestellt wird. Dies ergibt sich aus der in Nr. 43 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte ist, die dem Einzelnen durch die unionsrechtlichen Bestimmungen, nach denen er diese Abgaben nicht zu zahlen hat, eingeräumt worden sind. Zwischen dem Zeitpunkt, zu dem der Erstattungsanspruch entsteht, und dem Zeitpunkt, zu dem die Erstattung erfolgt, liegt ein Zeitraum, der bisweilen durchaus erheblich sein kann ( 31 ). Die Zinsen sollen diesem Zeitablauf Rechnung tragen.

56.

Die Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen stellt keine gegen die zuständigen nationalen Behörden verhängte Strafe oder Sanktion wegen des begangenen Verstoßes gegen das Unionsrecht dar, sondern soll den Einzelnen einen angemessenen Ersatz der Schäden gewährleisten, die ihnen dadurch entstanden sind, dass die unter Verstoß gegen das Unionsrecht rechtsgrundlos erhobenen Beträge nicht zur Verfügung stehen. Mit anderen Worten beruht der Anspruch auf Zahlung von Zinsen auf dem Gedanken, dem Einzelnen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dafür zu gewähren, dass diese Beträge für einen bestimmten Zeitraum nicht verwendet werden konnten ( 32 ).

57.

Da es sich lediglich um ein Mittel handelt, mit dem dem über die Zeit entgangenen Nutzwert des Geldes Rechnung getragen werden soll, hängt der Verzinsungsanspruch nicht davon ab, ob die zuständigen nationalen Behörden ihrer Ansicht nach im Einklang mit dem Unionsrecht handelten, das erst später anders ausgelegt wurde, als von diesen Behörden zu jenem Zeitpunkt für seine richtige Anwendung gehalten wurde. Die vom vorlegenden Gericht insoweit geäußerten Bedenken dahin, dass diese Behörden möglicherweise nicht zur Zahlung von Zinsen verpflichtet sein könnten, weil sie die Abgaben in gutem Glauben erhoben hätten, ist daher für die Entstehung des Zinsanspruchs unerheblich.

58.

Der Verzinsungsanspruch ist nicht mit dem Schadensersatzanspruch identisch. In Fällen im Bereich der Erstattung ergibt er sich aus der unionsrechtswidrigen Zahlung von Geldbeträgen und hängt nicht von der Feststellung einer Haftung der unionsrechtswidrig handelnden zuständigen nationalen Behörden ab. Es ist daher unerheblich, warum die zuständigen nationalen Behörden Abgaben unionsrechtswidrig erhoben haben. Ebenso wie es für den Erstattungsanspruch als unionsrechtlichen Anspruch nur auf die objektive Tatsache ankommt, dass diese Abgaben nicht geschuldet waren, kommt es für den Verzinsungsanspruch auf die Tatsache des Zeitablaufs an.

59.

In Fällen, in denen der Anspruch auf Erstattung besteht, decken die Zinsen den Zeitraum ab, in dem eine Person über die Geldbeträge hätte verfügen sollen, sie ihr jedoch nicht zur Verfügung standen, ohne dass die Gründe für den Verstoß der zuständigen nationalen Behörden gegen das Unionsrecht geprüft werden müssten. Der Verstoß an sich genügt. Die Zinsen beziehen sich lediglich auf den Zeitablauf und sind daher von der Frage einer möglichen Exkulpation für den Verstoß gegen das Unionsrecht losgelöst.

60.

Die Rechtsprechung bestätigt eine solche wirtschaftliche Rechtfertigung des Zinsanspruchs. Der Gerichtshof hat zunächst auf den wirtschaftlichen Sinn und Zweck des Erstattungsanspruchs verwiesen. Er hat entschieden, dass „der Anspruch auf Rückzahlung der rechtsgrundlos gezahlten Beträge die Folgen der Unvereinbarkeit der Abgabe mit dem Unionsrecht dadurch beheben soll, dass die mit dieser Abgabe zu Unrecht auferlegte wirtschaftliche Belastung des Wirtschaftsteilnehmers, der sie letztlich tatsächlich getragen hat, neutralisiert wird“ ( 33 ). In einer Reihe von Rechtssachen aus jüngerer Zeit hat der Gerichtshof, wie in Nr. 45 der vorliegenden Schlussanträge angeführt, weiterhin erläutert, dass das Unionsrecht zur Rückzahlung zu Unrecht erhobener Abgaben einschließlich Zinsen verpflichtet, weil die Zinsen die „Einbußen aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen“ abdecken ( 34 ).

61.

Daher ist die Zahlung von Zinsen zur Wiederherstellung der Wahrung des Unionsrechts dadurch erforderlich, dass eine Situation geschaffen wird, die derjenigen am nächsten kommt, die bestanden hätte, wenn der Verstoß gegen das Unionsrecht nicht stattgefunden hätte. Mit ihr soll somit die Wirksamkeit des Unionsrechts wiederhergestellt werden.

62.

Eine alternative oder möglicherweise zusätzliche Erklärung für die Zuerkennung von Zinsen, wie vom vorlegenden Gericht, Gräfendorfer und Flexi Montagetechnik vertreten, ist der Begriff der ungerechtfertigten Bereicherung ( 35 ).

63.

Dieser Begriff wurde von Generalanwältin Sharpston in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Zuckerfabrik Jülich u. a. ( 36 ) angeführt, einer Rechtssache, die ebenfalls eine von den nationalen Behörden geforderte Erstattung von Abgaben betraf, wobei die Abgaben allerdings zugunsten des Unionshaushalts aufgrund einer ungültigen unionsrechtlichen Rechtsgrundlage erhoben worden waren.

64.

Darüber hinaus hat der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 16. Dezember 2008, Masdar (UK)/Kommission ( 37 ), und vom 9. Juli 2020, Tschechische Republik/Kommission ( 38 ), die ungerechtfertigte Bereicherung als Grundlage für eine mögliche Klage auf Erstattung gegen die Union auf der Grundlage von Art. 268 AEUV und Art. 340 Abs. 2 AEUV angeführt. Der Gerichtshof betonte, dass eine Person, die einen Verlust erlitten hat, der zu einem Vermögenszuwachs bei einer anderen Person (in jenem Fall der Union) geführt hat, ohne dass ein Rechtsgrund für diese Bereicherung besteht, im Allgemeinen gegen den Bereicherten einen Herausgabeanspruch bis zur Höhe dieses Verlusts hat. Nach Ansicht des Gerichtshofs wäre für eine Klage auf Erstattung aus dem Unionshaushalt der Nachweis erforderlich, dass der Beklagte ohne wirksame Rechtsgrundlage bereichert und der Kläger im Zusammenhang mit dieser Bereicherung entreichert ist.

65.

Auch wenn der Begriff der ungerechtfertigten Bereicherung eine geeignete Grundlage für die Klage eines Mitgliedstaats auf Erstattung von Beträgen sein mag, die von ihm zu Unrecht zugunsten des Unionshaushalts entrichtet worden sind, bedarf es einer Berufung auf diesen Begriff meines Erachtens zur Rechtfertigung eines Zinsanspruchs in Fällen der in den vorliegenden Rechtssachen in Rede stehenden Art nicht. Vielmehr könnte er der Zahlung von Zinsen sogar entgegenstehen. Aufgrund der Organisation der Verwaltung in der Union werden vielfach verschiedene Beträge von den nationalen Behörden zugunsten des Unionshaushalts erhoben. Im Einklang mit der im vorstehenden Absatz der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung müsste eine Person, die zu Unrecht erhobene Abgaben entrichtet hat, eine Bereicherung der nationalen Behörden nachweisen, die diese erhoben haben. Wenn diese Beträge dem Unionshaushalt zugeführt worden wären, könnte eine Bereicherung der nationalen Behörden möglicherweise nicht nachgewiesen werden.

66.

Der Verzinsungsanspruch stützt sich nicht auf den Grundgedanken der ungerechtfertigten Bereicherung, sondern konzentriert sich vielmehr auf die andere Seite dieses Verhältnisses – die ungerechtfertigte Entreicherung. Er soll die Wirksamkeit des Unionsrechts dadurch sicherstellen, dass die Person, die unionsrechtswidrig entreichert ist, in die Situation zurückversetzt wird, die ohne den Verstoß bestanden hätte. Maßgebend ist also die Entreicherung des Klägers und nicht die Bereicherung der nationalen Behörden. Der Nachweis einer Bereicherung ist für den unionsrechtlichen Verzinsungsanspruch nicht erforderlich ( 39 ).

67.

Meines Erachtens spricht die vom Gerichtshof für das Bestehen des Zinsanspruchs angeführte wirtschaftliche Rechtfertigung dafür, dass dieser Anspruch im Unionsrecht immer dann entsteht, wenn eine Person unionsrechtswidrig entreichert ist, ohne dass geprüft werden müsste, ob das Rechtssubjekt, das den Verstoß begangen hat, in gutem Glauben gehandelt hat und ob es bereichert ist.

b) Besteht in den vorliegenden Rechtssachen ein Verzinsungsanspruch?

68.

Erkennt man an, dass das Unionsrecht mit der Gewährung des Zinsanspruchs seine eigene Wirksamkeit dadurch wiederherstellen will, dass der entgangene Nutzwert des Geldes für den Zeitraum ausgeglichen wird, für den er einer Person unionsrechtswidrig vorenthalten wurde, gibt es keine Rechtfertigung dafür, zwischen verschiedenen Fällen von Verstößen gegen das Unionsrecht zu unterscheiden.

69.

Der Anspruch auf die Zinsen besteht unabhängig davon, ob der Verstoß in einer ungültigen unionsrechtlichen oder nationalen Rechtsgrundlage für die Zahlung, in einer falschen Auslegung des Unionsrechts oder des nationalen Umsetzungsrechts, in einer zu einer unionsrechtswidrigen Erhebung von Abgaben führenden falschen Tatsachenwürdigung oder in einem sonstigen Verstoß bestand.

70.

Der Rechtsprechung ist meines Erachtens zu entnehmen, dass der Zinsanspruch in allen Fällen besteht, in denen ein Geldbetrag unionsrechtlich geschuldet ist, um den Zeitablauf vom Zeitpunkt des Entstehens des Zahlungsanspruchs bis zur Leistung der Zahlung auszugleichen ( 40 ). Der Zinsanspruch entsteht als Folge des Verstoßes gegen die zur Zahlung bzw. Nichtzahlung berechtigende unionsrechtliche Norm ab dem Zeitpunkt des Verstoßes gegen dieses Recht und dient der Wiederherstellung der Wirksamkeit des Unionsrechts.

71.

In Fällen, in denen der Erstattungsanspruch aufgrund der Ungültigerklärung der gegen das Unionsrecht verstoßenden Rechtsgrundlage für die Zahlung entstanden ist, ist somit die Zahlung von Zinsen erforderlich, um den Zustand wiederherzustellen, der bestanden hätte, wenn der Rechtsakt nicht erlassen worden wäre ( 41 ).

72.

Aus den gleichen Gründen ist die Zahlung von Zinsen auch in Fällen erforderlich, in denen die Erstattung wegen falscher Tatsachenwürdigung oder fehlerhafter Rechtsauslegung beansprucht wird. In der Rechtssache C‑415/20 wäre die Klägerin nicht zur Zahlung finanzieller Sanktionen verpflichtet gewesen, wenn die zuständigen nationalen Behörden das Unionsrecht richtig ausgelegt hätten. Um den Zustand wiederherzustellen, der ohne den Verstoß gegen das Unionsrecht bestanden hätte, reicht eine Rückzahlung dieser Sanktionen allein nicht aus, sondern es müssen als Ausgleich für den Zeitablauf auch Zinsen gezahlt werden. Nur so kann die Wirksamkeit des Unionsrechts wiederhergestellt werden.

73.

Diese Erwägungen gelten auch in den Rechtssachen C‑419/20 und C‑427/20. Die Wirksamkeit des Unionsrechts kann nur dann wiederhergestellt werden, wenn die Klägerinnen in einen Zustand ohne den Verstoß gegen das Unionsrecht durch falsche Tatsachenwürdigung oder fehlerhafte Auslegung des Unionsrechts „zurückversetzt“ werden. Dies erfordert den Ausgleich des entgangenen Nutzwerts des Geldes, der den Klägerinnen durch den Verstoß gegen das Unionsrecht vorenthalten wurde.

74.

Dieser Ansatz wird durch die neuere Rechtsprechung bestätigt, in der der Gerichtshof entschieden hat, dass Zinsen auch in Fällen zu zahlen sind, in denen der Erstattungsanspruch der Kläger nicht aus der Ungültigerklärung der Rechtsgrundlage für die Zahlung folgt, sondern aus der fehlerhaften Auslegung des zu der rechtsgrundlosen Zahlung führenden Rechts oder Sachverhalts. Im Urteil Littlewoods Retail ( 42 ) hatte die Klägerin aufgrund einer fehlerhaften Auslegung des einschlägigen Unionsrechts und nationalen Rechts Mehrwertsteuer zu viel gezahlt. Im Urteil Hauptzollamt B ( 43 ) war die Erstattung Folge fehlerhaft berechneter Steuern auf Strom. In beiden Fällen sprach der Gerichtshof den Klägerinnen einen unionsrechtlichen Anspruch auf Verzinsung zu.

75.

Der Fall der Rechtssache C‑415/20, in der der Klägerin für einen bestimmten Zeitraum die Auszahlung der Ausfuhrerstattungen, auf die sie nach dem Unionsrecht Anspruch hatte, vorenthalten wurde, ist von Fällen im Bereich der Erstattung zu unterscheiden. In diesen Fällen folgt der Verzinsungsanspruch aus dem Verstoß gegen das Recht auf Nichtleistung einer Zahlung, während in der Rechtssache C‑415/20 der Verzinsungsanspruch in Verbindung mit dem Recht auf Erhalt einer Zahlung geltend gemacht wurde. Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts in dieser Rechtssache ist somit im Wesentlichen, ob der Verzinsungsanspruch nur in Verbindung mit dem Erstattungsanspruch besteht oder ob er auch dann besteht, wenn gegen einen sich unmittelbar aus dem Unionsrecht ergebenden Zahlungsanspruch einer Person verstoßen wird.

76.

Wenn, wie von mir vertreten, der unionsrechtliche Verzinsungsanspruch durch die Notwendigkeit gerechtfertigt ist, die Wirksamkeit des Unionsrechts dadurch wiederherzustellen, dass der Zeitablauf ausgeglichen wird, für den einer Person ein Geldbetrag unionsrechtswidrig vorenthalten wurde, besteht der Verzinsungsanspruch auch dann, wenn der Verstoß in der Verweigerung einer Zahlung besteht, auf die eine Person nach dem Unionsrecht Anspruch hatte. Im Fall der Rechtssache C‑415/20 sind die Zinsen vom Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf die Ausfuhrerstattungen bis zum Zeitpunkt der Auszahlung dieser Ausfuhrerstattungen zu zahlen.

77.

Im Ergebnis ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs meines Erachtens dahin zu verstehen, dass sie einen Verzinsungsanspruch grundsätzlich in allen Fällen beinhaltet, in denen auf der Grundlage des Unionsrechts geschuldete Geldbeträge unionsrechtswidrig verspätet gezahlt werden.

78.

Daher ist meines Erachtens die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Zinsanspruch auf Ausfuhrerstattungen und finanzielle Sanktionen, die, wie in der Rechtssache C‑415/20, von den zuständigen nationalen Behörden unionsrechtswidrig zu Unrecht verweigert bzw. festgesetzt wurden, anwendbar. Sie gilt ebenso für die Erstattung von Antidumpingzöllen, die auf der Grundlage fehlerhaft festgestellter Tatsachen erhoben wurden, wie in der Rechtssache C‑419/20, und für die Erstattung von Einfuhrzöllen, die infolge einer fehlerhaften Auslegung des Unionsrechts zu Unrecht erhoben wurden, wie in der Rechtssache C‑427/20. In allen diesen Fällen ist der Zweck der Zahlung von Zinsen der gleiche, nämlich der Ausgleich des durch den Zeitablauf vom Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf die in Rede stehenden Geldbeträge bis zum Zeitpunkt ihrer Zahlung entgangenen Nutzwerts des Geldes.

79.

Würde man die Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin auslegen, dass sie sich auf Fälle beschränkt, in denen eine Unionsmaßnahme oder eine nationale Maßnahme vom Gerichtshof für nichtig oder für ungültig erklärt wird, würde das eigentliche Ziel der Rechtsprechung unterlaufen, nämlich sicherzustellen, dass unabhängig davon, worin der Verstoß gegen das Unionsrecht liegt, dem Einzelnen ein Anspruch auf Zinsen gewährt wird, um die Wirksamkeit des Unionsrechts wiederherzustellen.

2. Kommt es darauf an, ob der Verstoß gegen das Unionsrecht von den nationalen Gerichten oder vom Gerichtshof festgestellt wird?

80.

Im Zusammenhang hiermit wirft die Auslegung des Begriffs des Verstoßes gegen das Unionsrecht in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Rückforderung rechtsgrundlos erhobener Abgaben im Rahmen der vorliegenden Rechtssachen mittelbar auch die Frage auf, ob es darauf ankommt, ob die nationalen Gerichte oder der Gerichtshof den Verstoß gegen das Unionsrecht feststellen.

81.

Diese Frage ist meines Erachtens zu verneinen.

82.

Wie der Gerichtshof anerkannt hat, überträgt Art. 19 EUV den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Rechtsunterworfenen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten ( 44 ). Die nationalen Gerichte erfüllen dabei in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof eine Aufgabe, die ihnen gemeinsam übertragen ist, um die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung der Verträge zu sichern ( 45 ).

83.

Der Gerichtshof hat weiter betont, dass das in Art. 267 AEUV vorgesehene Verfahren eine direkte und enge Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten begründet, in deren Rahmen diese an der ordnungsgemäßen Anwendung und einheitlichen Auslegung des Unionsrechts sowie am Schutz der den Einzelnen von dieser Rechtsordnung gewährten Rechte mitwirken. Dementsprechend sind die den einzelstaatlichen Gerichten und dem Gerichtshof jeweils übertragenen Aufgaben für die Wahrung der Natur des durch die Verträge geschaffenen Rechts wesentlich ( 46 ).

84.

Daraus folgt, dass den nationalen Gerichten neben dem Gerichtshof eine maßgebende Aufgabe als „ordentliche Unionsgerichte“ innerhalb der Unionsrechtsordnung zukommt ( 47 ). Wenn also ein nationales Gericht einen Verstoß gegen das Unionsrecht feststellt, hat dies den gleichen Stellenwert wie eine Feststellung des Gerichtshofs zum Bestehen eines Anspruchs auf Erstattung zu Unrecht erhobener Abgaben und der entsprechenden Zinsen, die dem Einzelnen nach dem Unionsrecht zustehen.

85.

Hinzuweisen ist ferner darauf, dass dieser Ansatz offenbar auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesem Zusammenhang zum Ausdruck kommt. Im Urteil Wortmann ( 48 ) hat der Gerichtshof ausgeführt, dass dann, wenn Abgaben deshalb erstattet werden, weil sie unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben wurden, „was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist“, eine unionsrechtliche Pflicht der Mitgliedstaaten besteht, diese zu verzinsen.

86.

Daher liegt meines Erachtens ein Verstoß gegen das Unionsrecht vor, der einen Anspruch auf Zahlung von Zinsen unabhängig davon begründet, ob dieser Verstoß von den nationalen Gerichten oder vom Gerichtshof festgestellt wird.

C.   Mögliche Beschränkungen des Zinsanspruchs durch das Unionsrecht und das nationale Recht

87.

In allen drei Rechtssachen haben die Klägerinnen nach Auffassung des vorlegenden Gerichts nur dann Anspruch auf die Zahlung von Zinsen für den gesamten Zeitraum, für den ihnen die Geldbeträge unionsrechtswidrig vorenthalten wurden, wenn ein Zinsanspruch nach dem Unionsrecht besteht. In den vorstehenden Abschnitten der vorliegenden Schlussanträge habe ich die Ansicht vertreten, dass die Klägerinnen nach dem Unionsrecht in der Tat einen Zinsanspruch haben.

88.

Den Vorabentscheidungsersuchen ist jedoch eindeutig zu entnehmen, dass nach Auffassung des vorlegenden Gerichts zumindest in den Rechtssachen C‑419/20 und C‑427/20 die Klägerinnen einen Zinsanspruch nach nationalem Recht für die Zeit ab Klageerhebung bis zur Erstattung hätten, wohingegen in der Rechtssache C‑415/20 die Klägerin nach nationalem Recht keinen Anspruch auf Zinsen habe, da sie keine gerichtliche Klage auf Zahlung der Ausfuhrerstattungen erhoben habe.

89.

Meines Erachtens ist insoweit unerheblich, ob die Klägerinnen in den vorliegenden Rechtssachen einen Zinsanspruch nach nationalem Recht hatten, da dieser Anspruch sich unmittelbar aus dem Unionsrecht ergibt. Die Frage, auf die es für die Entscheidung des vorlegenden Gerichts ankommt, ist daher nicht, ob nach dem Unionsrecht für die Zeit bis zur Klageerhebung ein Zinsanspruch besteht, sondern ob die Regelungen des nationalen Rechts die Ausübung des sich aus dem Unionsrecht ergebenden Zinsanspruchs für diesen Zeitraum rechtswirksam beschränken oder von der Voraussetzung einer gerichtlichen Klageerhebung abhängig machen dürfen.

90.

Ebenso stellt sich die Frage, ob den Klägerinnen die Zahlung von Zinsen, auf die sie ansonsten nach dem Unionsrecht Anspruch haben, aufgrund der Anwendung des Zollrechts der Union vorenthalten werden darf.

91.

Die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechte, einschließlich des Anspruchs auf Zahlung von Zinsen, können unter bestimmten Voraussetzungen entweder durch das Unionsrecht selbst oder durch das nationale Recht eingeschränkt werden.

92.

Allgemein gesagt, müssen für die Einschränkung unionsrechtlicher Rechte zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss die Maßnahme, die das unionsrechtliche Recht einschränkt, durch ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel gerechtfertigt sein, das nach dem Unionsrecht zulässig ist, und zweitens muss diese Maßnahme im Hinblick auf dieses Ziel verhältnismäßig sein.

93.

In diesem Rahmen werde ich mich jetzt der Prüfung zweier für die vorliegenden Rechtssachen relevanter einschränkender Maßnahmen zuwenden, und zwar erstens einer solchen des Unionsrechts und zweitens einer solchen des nationalen Rechts.

1. Beschränkungen durch das Unionsrecht (Art. 241 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 116 Abs. 6 des Zollkodex der Union)

94.

Eine der Fragen, die in den vorliegenden Rechtssachen beantwortet werden müssen, ist, ob Art. 241 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 116 Abs. 6 des Zollkodex der Union (die ich im Folgenden zusammen als Zollkodex bezeichnen werde) auf die Sachverhalte der beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtssachen anwendbar sind.

95.

Durch diese Bestimmungen des Unionsrechts wird die Zahlung von Zinsen im Fall der Erstattung von Zöllen durch die zuständigen nationalen Behörden unter bestimmten Voraussetzungen jeweils beschränkt oder ausgeschlossen. Sie könnten daher für die Erstattung der in der Rechtssache C‑427/20 in Rede stehenden Einfuhrabgaben und für die Erstattung der in der Rechtssache C‑419/20 in Rede stehenden Antidumpingzölle relevant sein.

96.

Nach dem Vorbringen der niederländischen Regierung soll die im Zollkodex enthaltene Regelung des Ausschlusses von Zinsen auf die Sachverhalte der Rechtssachen C‑419/20 und C‑427/20 Anwendung finden, so dass in diesen Rechtssachen keine Zinsen zu zahlen seien. Anderer Ansicht sind Gräfendorfer, Reyher, Flexi Montagetechnik und die Kommission. Sie bringen unter Verweis auf das Urteil Wortmann vor, dass die Regelung des Zollkodex, die die Zahlung von Zinsen ausschließe, auf die Sachverhalte dieser Rechtssachen nicht anwendbar sei.

97.

Die niederländische Regierung geht in ihrem Vorbringen von dem Ausgangspunkt aus, dass die Regelung des Zollkodex, die die Zahlung von Zinsen ausschließe, eine allgemeine Regel sei. Sie betrachtet die Feststelllungen des Gerichtshofs im Urteil Wortmann als Ausnahme von dieser Regel.

98.

Entgegen dieser Ansicht ist die in Rede stehende Regelung des Zollkodex meines Erachtens keine allgemeine Regel, sondern eine Ausnahme von der allgemeinen Regel des Unionsrechts, dass im Fall einer Erstattung unionsrechtswidrig gezahlter Abgaben ein Zinsanspruch besteht. Gerade weil die allgemeine Regel die Zahlung von Zinsen verlangt, bedurfte es zu ihrem Ausschluss einer ausdrücklichen Regelung.

99.

Als Einschränkung der allgemeinen Regel muss die Regelung des Zollkodex gerechtfertigt und im Hinblick auf die angeführte Rechtfertigung verhältnismäßig sein. Ohne eine solche Rechtfertigung wäre die Regelung des Zollkodex, die eine Verzinsung im Fall einer Erstattung ausschließt, ungültig ( 49 ).

100.

Im Urteil Wortmann ( 50 ) wurde die Rechtfertigung für die in Rede stehende Regelung ( 51 ) des Zollkodex angeführt, ihre Anwendung zugleich aber auf bestimmte Fallgestaltungen begrenzt. Ich werde erläutern, dass dies erforderlich war, um die Rechtmäßigkeit der Regelung des Zollkodex zu wahren, und dass diese Regelung aus demselben Grund auf die vorliegenden Rechtssachen nicht anwendbar ist.

101.

Der Gerichtshof hat im Urteil Wortmann im Einklang mit der vom Generalanwalt in jener Rechtssache vorgetragenen Ansicht entschieden, dass der Entstehungsgeschichte von Art. 241 des Zollkodex der Gemeinschaften zu entnehmen ist, dass er auf „den Fall [anwendbar ist], dass es sich nach der Überlassung der betreffenden Waren durch die Zollbehörde erweist, dass die ursprüngliche Festsetzung der Einfuhrabgaben nach unten angepasst werden muss und daher die Einfuhrabgaben, die ein Wirtschaftsteilnehmer entrichtet hat, ganz oder teilweise zu erstatten sind“ ( 52 ).

102.

Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona erläuterte, dass, „die Zollbehörde … die Ware nicht prüfe, bevor sie sie freigebe, und erst danach die Ordnungsmäßigkeit der Einfuhren kontrolliere. Wenn zu diesem späteren Zeitpunkt eine Neufestsetzung erforderlich ist, kann dies sowohl dazu führen, dass der Importeur bis dahin nicht entrichtete Beträge zahlen muss (ursprünglich unzureichende Festsetzung), als auch dazu, dass die Verwaltung die Überzahlung erstatten muss“ ( 53 ). In beiden Fällen schließt der Zollkodex die Zahlung von Zinsen aus ( 54 ).

103.

Die Rechtfertigung für die durch den Zollkodex vorgenommene Einschränkung der allgemeinen Regel, die eine Verzinsung verlangt, liegt daher darin, ein rasches Zollabfertigungssystem und die schnelle Freigabe von Waren in den Handelsverkehr zu ermöglichen ( 55 ).

104.

Wenn diese Regelung im Hinblick auf das mit ihr verfolgte Ziel verhältnismäßig bleiben soll, muss ihre Anwendung auf die in den vorstehenden Absätzen der vorliegenden Schlussanträge erörterten Fälle von Zollabfertigungsverfahren beschränkt werden. Dies sind die Fälle, in denen entweder die Zollbehörde oder ein Wirtschaftsteilnehmer kurz nach der ursprünglichen Zollabfertigung eine Anpassung der Zollabgaben verlangt und diese Anpassung von beiden Parteien anerkannt wird. Wenn es jedoch zu einem Rechtsstreit kommt, fiele dieser Fall nicht unter die die Verzinsung ausschließende Ausnahme nach dem Zollkodex.

105.

Diese Ansicht wird durch das Urteil Wortmann bestätigt, wonach die die Verzinsung ausschließende Regelung des Zollkodex nicht für Fälle gilt, in denen die Erstattung von Abgaben auf Fehlern bei der Berechnung von Zöllen beruht, die nicht der Schnelligkeit des Zollabfertigungssystems geschuldet sind. Sie galt daher in jener Rechtssache nicht für die Verzinsung im Zusammenhang mit der Erstattung von Antidumpingzöllen, die auf der Grundlage einer Unionsverordnung erhoben wurden, die vom Gerichtshof teilweise für nichtig erklärt worden war.

106.

Nach Ansicht der niederländischen Regierung soll das Urteil Wortmann nur solche Fälle vom Anwendungsbereich der Regelung des Zollkodex ausschließen, in denen die Erstattung, wie in jenem Urteil der Fall, nach Ungültigerklärung der Rechtsgrundlage für die Zahlung erfolge.

107.

Meines Erachtens wäre diese Auslegung jedoch mit der im Urteil Wortmann angeführten Rechtfertigung dieser Regelung unvereinbar, nämlich ein rasches Zollabfertigungssystem zu ermöglichen, das Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona mit dem Begriff „normale Umstände“ bezeichnete ( 56 ). Werden Fälle, die nicht unter den „normalen“ Zollabfertigungsbetrieb fallen, nicht vom Anwendungsbereich der Regelung des Zollkodex ausgenommen, besteht die Gefahr, dass diese Regelung für ungültig erklärt wird, da sie im Hinblick auf das sie rechtfertigende Ziel nicht verhältnismäßig ist. Diese Fälle beschränken sich nicht auf solche, in denen die Erstattung nach Ungültigerklärung der Rechtsgrundlage der Zahlung erfolgt.

108.

In den vorliegenden Rechtssachen wurde die fehlerhafte Festsetzung durch die zuständigen nationalen Behörden nicht im Rahmen „normaler“ rascher Zollabfertigungsverfahren berichtigt. Die Abgaben wurden vielmehr aufgrund der Umsetzung von Urteilen der nationalen Gerichte angepasst, wonach die Abgaben unionsrechtswidrig erhoben worden waren. Diese Fälle fallen nicht unter die im Zollkodex vorgesehene Ausnahme.

109.

Daher schließen Art. 241 des Zollkodex der Gemeinschaften und Art. 116 Abs. 6 des Zollkodex der Union meines Erachtens die Verzinsung unter den Umständen der vorliegenden Rechtssachen nicht aus; vielmehr fallen diese Rechtssachen im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter die allgemeine Regel, dass ein Zinsanspruch besteht.

2. Beschränkungen durch das nationale Recht (nationale Regelungen, die den Zinsanspruch von der Erhebung einer gerichtlichen Klage abhängig machen und die Zahlung von Zinsen auf die Zeit ab ihrer Rechtshängigkeit beschränken)

110.

Der übliche Prüfungsrahmen für die Beurteilung nationaler Vorschriften, die Rechtsbehelfsregelungen des Unionsrechts einschränken, wird durch den Begriff der sogenannten nationalen Verfahrensautonomie vorgegeben. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich nicht darauf eingehen, ob der Begriff der „nationalen Verfahrensautonomie“ angemessen ist ( 57 ). Es mag der Hinweis darauf genügen, dass mit diesem Begriff anerkannt wird, dass die Regelung inhaltlicher und verfahrensrechtlicher Fragen, die für die Ausübung unionsrechtlicher Rechtsbehelfe von Bedeutung sind, Sache der Mitgliedstaaten ist. Diese nationale Verfahrensautonomie besteht, wenn es keine einschlägigen Unionsregelungen gibt. Sie unterliegt jedoch den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität ( 58 ).

111.

Nationale Regelungen, die die Wirksamkeit von Rechten, die sich aus dem Unionsrecht ergeben, einschränken, können indes dennoch gerechtfertigt sein, wenn sie ein legitimes Ziel in angemessener Weise verfolgen.

112.

Dieses „verfahrensrechtliche Vernunftprinzip [(procedural rule of reason)]“, wie es in der Lehre bezeichnet worden ist ( 59 ), ist vom Gerichtshof in den Urteilen vom 14. Dezember 1995, van Schijndel und van Veen ( 60 ) bzw. Peterbroeck ( 61 ), formuliert und in der späteren Rechtsprechung bestätigt worden ( 62 ). Der Gerichtshof hat im Hinblick auf den Effektivitätsgrundsatz entschieden, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Vorschrift die Anwendung des Unionsrechts praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist. Daher stehen nationale Vorschriften, die ein bestimmtes legitimes Ziel verfolgen, wie einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf oder die Einhaltung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte oder des Grundsatzes der Rechtssicherheit, mit dem Effektivitätsgrundsatz insoweit im Einklang, als sie ein solches legitimes Ziel in verhältnismäßiger Weise gewährleisten. Diese Prüfung muss im konkreten Fall vom betreffenden nationalen Gericht vorgenommen werden.

113.

Anhand dieses Prüfungsrahmens sind die nationalen Regelungen, die den Zinsanspruch in den vorliegenden Rechtssachen einschränken, zu prüfen.

114.

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts wird durch die in allen drei Rechtssachen anwendbaren nationalen Regelungen der Zeitpunkt, ab dem Zinsen zu zahlen sind, auf denjenigen ab Rechtshängigkeit beim zuständigen nationalen Gericht begrenzt.

115.

Zunächst ist festzustellen, dass es keine Anhaltspunkte gibt, die geeignet wären, Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Regelungen mit dem Äquivalenzgrundsatz aufkommen zu lassen ( 63 ).

116.

Was den Effektivitätsgrundsatz angeht, gibt es meines Erachtens jedoch starke Anhaltspunkte dafür, dass die in Rede stehenden nationalen Regelungen mit diesem Grundsatz nicht im Einklang stehen.

117.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ( 64 ) verlangt das Unionsrecht grundsätzlich die Verzinsung für den gesamten Zeitraum ab Zahlung bzw. Nichtzahlung der unionsrechtswidrig erhobenen bzw. nicht geleisteten Beträge bis zu ihrer Erstattung bzw. Auszahlung. Damit wird ein angemessener Ausgleich für die Einbußen aufgrund der Nichtverfügbarkeit dieser Beträge gewährleistet.

118.

So hat der Gerichtshof im Urteil Irimie ( 65 ) entschieden, dass eine Regelung, die die Zinsen auf die Zinsen beschränkt, die ab dem auf das Datum des Antrags auf Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuer folgenden Tag angefallen sind, dem Effektivitätsgrundsatz nicht genügt. Hinzuweisen ist im Übrigen darauf, dass Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Wortmann ( 66 ) der Ansicht war, dass dies auch für die in den vorliegenden Rechtssachen in Rede stehenden deutschen Rechtsvorschriften gilt.

119.

Ich bin der gleichen Ansicht. Durch nationale Regelungen, die die Zahlung von Zinsen auf die Zeit ab Erhebung einer gerichtlichen Klage beschränken, wird dem Betroffenen der für die wirksame Anwendung des Verzinsungsanspruchs erforderliche angemessene Ausgleich für den gesamten Zeitraum der Einbußen vorenthalten, die ihm dadurch entstanden sind, dass ihm die Verfügung über die zu Unrecht erhobenen Beträge vorenthalten wird.

120.

Wie von Gräfendorfer, Reyher und Flexi Montagetechnik vorgetragen, kann unter Umständen wie denjenigen der vorliegenden Rechtssachen der Zeitraum ab Zahlung der zu Unrecht erhobenen Beträge bis zur Erhebung der gerichtlichen Klage unter Einbeziehung des der Erhebung einer gerichtlichen Klage vorangehenden behördlichen Einspruchsverfahrens mehrere Jahre betragen. Daher dürften meines Erachtens die in allen drei Rechtssachen anwendbaren nationalen Regelungen den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes nicht genügen.

121.

Das vorlegende Gericht hat auf einen weiteren Aspekt hingewiesen, der nur in der Rechtssache C‑415/20 betreffend die Verzinsung einer verspäteten Zahlung von Ausfuhrerstattungen relevant ist. Nach dem einschlägigen nationalen Recht ( 67 ) sind dem Gericht zufolge im Fall einer verspäteten Zahlung von Vergünstigungen Zinsen offenbar ab Rechtshängigkeit einer gerichtlichen Klage des Wirtschaftsteilnehmers auf Zahlung dieser Vergünstigungen zu zahlen. Erfolgt dagegen eine verspätete Zahlung, ohne dass Klage erhoben wird, d. h. im Fall einer Entscheidung der zuständigen nationalen Behörden, die Ausfuhrerstattungen zu zahlen, hat der Wirtschaftsteilnehmer keinen Zinsanspruch. Hat daher der Wirtschaftsteilnehmer, wie im Fall dieser Rechtssache, lediglich im behördlichen Verfahren Einspruch bei den zuständigen nationalen Behörden erhoben und die Entscheidung in einem Musterverfahren abgewartet, nach dem diese Behörden die Ausfuhrerstattungen, allerdings unverzinst, gezahlt haben, hat dieser Wirtschaftsteilnehmer überhaupt keinen Zinsanspruch.

122.

Solche nationalen Regelungen sind meines Erachtens mit dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs besteht der Anspruch auf Zahlung von Zinsen aufgrund des Unionsrechts und somit unabhängig vom nationalen Recht. Daher hat ein Wirtschaftsteilnehmer, an den Ausfuhrerstattungen verspätet gezahlt wurden, Anspruch auf Zahlung von Zinsen. Wird dieser Anspruch von der Erhebung einer gerichtlichen Klage abhängig gemacht, wird Betroffenen wie dem Kläger in der Rechtssache C‑415/20, die keine gerichtliche Klage auf diese Erstattungen erhoben haben, das Recht vorenthalten, das ihnen aufgrund des Unionsrechts zusteht.

123.

Auch wenn die in Rede stehenden, vom vorlegenden Gericht dargestellten nationalen Regelungen die Wirksamkeit des sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anspruchs auf Zahlung von Zinsen beeinträchtigen, schließt dies, je nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, die Zulässigkeit solcher Regelungen nach dem Unionsrecht nicht aus. Dies ist indes nur möglich, sofern diese Regelungen im Hinblick auf wichtige Interessen der innerstaatlichen Rechtsordnung verhältnismäßig sind.

124.

In den vorliegenden Rechtssachen ist dem Gerichtshof jedoch nichts vorgetragen worden, was dafür sprechen könnte, dass die nationalen Regelungen, die den Anspruch auf Zahlung von Zinsen beschränken, gerechtfertigt sind. Was die nationalen Regelungen angeht, die den Anspruch auf Zahlung von Zinsen von der Erhebung einer gerichtlichen Klage abhängig machen, hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass diese Regelungen sich durch die den Marktteilnehmern zukommende autonome Entscheidung insbesondere dahin erklären ließen, den Ausgang eines Musterverfahrens abzuwarten, statt Klage zu erheben, worin eine Ausübung dieser Autonomie gesehen werden könne, durch die der Marktteilnehmer auf seinen Zinsanspruch verzichtet habe. Das mit diesen Regelungen verfolgte öffentliche Interesse kann ich nicht erkennen. Vielmehr scheint mir ganz im Gegenteil ihre Wirkung die zu sein, dass es zu einem unnötigen Anstieg gerichtlicher Verfahren kommt. Gleichwohl ist es im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, die beide Funktionen als europäische Gerichte erfüllen (vgl. Nrn. 82 bis 84 der vorliegenden Schlussanträge), Sache des vorlegenden Gerichts, die Rechtfertigungen und die Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden nationalen Regelungen zu beurteilen.

125.

Im Ergebnis ist vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht davon auszugehen, dass die in Rede stehenden nationalen Regelungen durch die Beschränkung der Zahlung von Zinsen auf die Erstattung von Beträgen, die von den zuständigen nationalen Behörden unter Verstoß gegen das Unionsrecht zu Unrecht erhoben wurden, oder auf Beträge, die von ihnen unter Verstoß gegen das Unionsrecht zu Unrecht verspätet gezahlt wurden, den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes nicht genügen.

126.

Die sich aus einer solchen Feststellung nach dem Unionsrecht ergebende Folge ist, dass das vorlegende Gericht diese nationalen Regelungen entweder in einer Weise auslegen kann, die der wirksamen Anwendung des Zinsanspruchs genügt oder, wenn sich dies als unmöglich erweisen sollte, sie in den vorliegenden Rechtssachen unangewendet lassen kann.

VI. Ergebnis

127.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Finanzgericht Hamburg (Deutschland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Rechtssache C‑415/20

1.

Die unionsrechtliche Pflicht der Mitgliedstaaten, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Abgaben zuzüglich Zinsen zu erstatten, besteht auch in Fällen, in denen der Grund für die Erstattung nicht ein vom Gerichtshof festgestellter Verstoß der Rechtsgrundlage gegen das Unionsrecht, sondern eine vom Gerichtshof getroffene Auslegung einer (Unter‑)Position der Kombinierten Nomenklatur ist.

2.

Die Grundsätze des vom Gerichtshof entwickelten unionsrechtlichen Zinsanspruchs sind auf die Zahlung von Ausfuhrerstattungen, die die zuständigen nationalen Behörden unter Verstoß gegen das Unionsrecht verweigert haben, übertragbar.

Rechtssache C‑419/20

Ein Verstoß gegen das Unionsrecht als Voraussetzung des vom Gerichtshof entwickelten unionsrechtlichen Zinsanspruchs ist auch gegeben, wenn die zuständigen nationalen Behörden Abgaben unter Anwendung des Unionsrechts festsetzen, ein nationales Gericht jedoch später feststellt, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für die Erhebung dieser Abgaben nicht vorliegen.

Rechtssache C‑427/20

Ein Verstoß gegen das Unionsrecht als Voraussetzung des vom Gerichtshof entwickelten unionsrechtlichen Zinsanspruchs ist auch gegeben, wenn die zuständigen nationalen Behörden Abgaben unter Verletzung rechtsgültiger Vorschriften des Unionsrechts festsetzen und ein nationales Gericht diesen Verstoß gegen das Unionsrecht feststellt.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) ABl. 1992, L 302, S. 1 (im Folgenden: Zollkodex der Gemeinschaften).

( 3 ) ABl. 2008, L 145, S. 1.

( 4 ) ABl. 2013, L 269, S. 1, sowie Berichtigung ABl. 2013, L 287, S. 90 (im Folgenden: Zollkodex der Union). Nach den Art. 287 und 288 des Kodex trat dieser am 30. Oktober 2013 in Kraft und gilt mit Ausnahme bestimmter Vorschriften (zu denen Art. 116 des Kodex nicht gehört) ab 1. Mai 2016.

( 5 ) Verordnung (EG) Nr. 800/1999 der Kommission vom 15. April 1999 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen (ABl. 1999, L 102, S. 11). Diese Verordnung wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 612/2009 der Kommission vom 7. Juli 2009 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen (ABl. 2009, L 186, S. 1) ersetzt und aufgehoben.

( 6 ) Das vorlegende Gericht verweist insoweit auf die Urteile des Finanzgerichts Hamburg vom 18. Februar 2014 (4 K 18/12 und 4 K 264/11).

( 7 ) C‑323/10 bis C‑326/10, EU:C:2011:774. Jene Rechtssache betraf die Auslegung der Unterpositionen 02071210 und 02071290 des Anhangs I der Verordnung (EWG) Nr. 3846/87 der Kommission vom 17. Dezember 1987 zur Erstellung einer Nomenklatur der landwirtschaftlichen Erzeugnisse für Ausfuhrerstattungen (ABl. 1987, L 366, S. 1).

( 8 ) C‑365/15, EU:C:2017:19 (im Folgenden: Urteil Wortmann).

( 9 ) Verordnung (EG) Nr. 91/2009 des Rates vom 26. Januar 2009 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren bestimmter Verbindungselemente aus Eisen oder Stahl mit Ursprung in der Volksrepublik China (ABl. 2009, L 29, S. 1). Diese Verordnung wurde durch die Durchführungsverordnung (EU) 2016/278 der Kommission vom 26. Februar 2016 zur Aufhebung des endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren bestimmter Verbindungselemente aus Eisen oder Stahl mit Ursprung in der Volksrepublik China, ausgeweitet auf aus Malaysia versandte Einfuhren bestimmter Verbindungselemente aus Eisen oder Stahl, ob als Ursprungserzeugnisse Malaysias angemeldet oder nicht (ABl. 2016, L 52, S. 24), aufgehoben.

( 10 ) Vgl. Urteil vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral (33/76, EU:C:1976:188).

( 11 ) Vgl. Urteil vom 16. Dezember 1976, Comet (45/76, EU:C:1976:191).

( 12 ) Vgl. Urteil vom 9. November 1983, San Giorgio (199/82, EU:C:1983:318).

( 13 ) Vgl. Urteil vom 26. Juni 1979, McCarren (177/78, EU:C:1979:164).

( 14 ) Vgl. Urteil vom 9. Februar 1999, Dilexport (C‑343/96, EU:C:1999:59).

( 15 ) Vgl. Urteil vom 2. Dezember 1997, Fantask u. a. (C‑188/95, EU:C:1997:580).

( 16 ) Vgl. Urteil vom 8. März 2001, Metallgesellschaft u. a. (C‑397/98 und C‑410/98, EU:C:2001:134).

( 17 ) Vgl. Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a. (C‑591/10, EU:C:2012:478).

( 18 ) Vgl. Urteile vom 18. April 2013, Irimie (C‑565/11, EU:C:2013:250), und vom 15. Oktober 2014, Nicula (C‑331/13, EU:C:2014:2285).

( 19 ) Vgl. Urteil vom 9. September 2021, Hauptzollamt B (fakultative Steuerermäßigungen) (C‑100/20, EU:C:2021:716).

( 20 ) Diese Rechtsprechung begann mit dem Urteil vom 9. November 1983, San Giorgio (199/82, EU:C:1983:318, Rn. 12). Sie wurde durch nachfolgende Rechtsprechung bestätigt, wie etwa durch das Urteil vom 8. März 2001, Metallgesellschaft u. a. (C‑397/98 und C‑410/98, EU:C:2001:134, Rn. 84), oder in jüngerer Zeit durch das Urteil vom 9. September 2021, Hauptzollamt B (fakultative Steuerermäßigungen) (C‑100/20, EU:C:2021:716, Rn. 26).

( 21 ) Man könnte sogar die Ansicht vertreten, dass der Erstattungsanspruch der erste sich aus dem Unionsrecht ergebende Anspruch war, den der Gerichtshof als aus dem Wesen der mit den Verträgen geschaffenen Rechtsordnung folgenden Anspruch anerkannt hat. Im Anschluss an die Rechtsprechung zum Erstattungsanspruch hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung noch andere Rechtsbehelfe entwickelt, wie etwa das Recht auf Erlass einstweiliger Anordnungen (beginnend mit dem Urteil vom 19. Juni 1990, Factortame u. a.,C‑213/89, EU:C:1990:257) oder den Anspruch auf Schadensersatz (beginnend mit dem Urteil vom 19. November 1991, Francovich u. a.,C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428). Der Erstattungsanspruch wurde jedoch nicht sofort als unionsrechtlicher Rechtsbehelf anerkannt, weil die meisten nationalen Rechtsordnungen Formen eines Anspruchs auf Herausgabe zu Unrecht gezahlter Abgaben vorsahen. Es stand daher nicht von vornherein eindeutig fest, dass das Unionsrecht eine eigene Rechtsgrundlage für die Erstattung beinhaltet, die nicht vom nationalen Recht abhängt. Vgl. hierzu Dougan, M., „Cutting Your Losses in the Enforcement Deficit: A Community Right to the Recovery of Unlawfully Levied Charges?“, Cambridge Yearbook of European Legal Studies, Vol. 1, 1998-1999, S. 233; Ćapeta, T., Sudovi Europske unije. Nacionalni sudovi kao europski sudovi (EU Courts. National Courts as European Courts), Institut za međunarodne odnose, IMO, Zagreb, 2002, S. 109 ff.

( 22 ) Vgl. z. B. Urteile vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail Ltd u. a. (C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 25), und vom 9. September 2021, Hauptzollamt B (fakultative Steuerermäßigungen) (C‑100/20, EU:C:2021:716, Rn. 27).

( 23 ) Vgl. z. B. Urteile vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail Ltd u. a. (C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 26), und vom 9. September 2021, Hauptzollamt B (fakultative Steuerermäßigungen) (C‑100/20, EU:C:2021:716, Rn. 27).

( 24 ) Vgl. hierzu Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Littlewoods Retail Ltd u. a. (C‑591/10, EU:C:2012:9, Nrn. 26 bis 30) und Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet in der Rechtssache Irimie (C‑565/11, EU:C:2012:803, Nrn. 21 bis 29).

( 25 ) Vgl. z. B. Gazin, F., „L’étendue du versement des sommes dues par les États en violation du droit de l’Union européenne: le beurre et l’argent du beurre au service de l’efficacité du droit“, Revue du marché commun et de l’Union européenne, Nr. 571, 2013, S. 475; Schlote, M., „The San Giorgio ‚cause of action‘“, British Tax Review, 2014, S. 103; van de Moosdijk, M., Unjust Enrichment in European Union Law, Kluwer, 2018, insbesondere S. 68 bis 83; Episcopo F.,, „The Vicissitudes of Life at the Coalface: Remedies and Procedures for Enforcing Union Law before the National Courts“, in Craig, P., und de Búrca, G. (Hrsg.), The Evolution of EU Law, 3. Aufl., Oxford University Press, 2021, S. 275, insbesondere S. 290 bis 291.

( 26 ) Das vorlegende Gericht verweist insoweit auf die Urteile vom 27. September 2012, Zuckerfabrik Jülich u. a. (C‑113/10, C‑147/10 und C‑234/10, EU:C:2012:591), vom 18. April 2013, Irimie (C‑565/11, EU:C:2013:250), und vom 18. Januar 2017, Wortmann (C‑365/15, EU:C:2017:19).

( 27 ) Vgl. Urteil vom 27. September 2012, Zuckerfabrik Jülich u. a. (C‑113/10, C‑147/10 und C‑234/10, EU:C:2012:591).

( 28 ) Vgl. Urteil vom 18. April 2013, Irimie (C‑565/11, EU:C:2013:250).

( 29 ) Vgl. Urteil vom 18. Januar 2017, Wortmann (C‑365/15, EU:C:2017:19).

( 30 ) Vgl. Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail Ltd u. a. (C‑591/10, EU:C:2012:478).

( 31 ) So hat z. B. in der Rechtssache C‑419/20 Reyher angegeben, dass sie im Jahr 2013 einen Betrag von 774000 Euro gezahlt und erst im Jahr 2019 eine Erstattung erhalten habe.

( 32 ) Vgl. z. B. Dougan, angeführt in Fn. 21 der vorliegenden Schlussanträge, Gazin, angeführt in Fn. 25 der vorliegenden Schlussanträge.

( 33 ) Urteil vom 20. Oktober 2011, Danfoss und Sauer-Danfoss (C‑94/10, EU:C:2011:674, Rn. 23).

( 34 ) Vgl. z. B. Urteile vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail Ltd u. a. (C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 25), und vom 9. September 2021, Hauptzollamt B (fakultative Steuerermäßigungen) (C‑100/20, EU:C:2021:716, Rn. 27).

( 35 ) Vgl. hierzu van de Moosdijk, angeführt in Fn. 25.

( 36 ) C‑113/10, C‑147/10 und C‑234/10, EU:C:2011:701, Nrn. 125 bis 129.

( 37 ) C‑47/07 P, EU:C:2008:726, insbesondere Rn. 44 bis 50.

( 38 ) C‑575/18 P, EU:C:2020:530, insbesondere Rn. 81 bis 84. Vgl. auch Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Tschechische Republik/Kommission (C‑575/18 P, EU:C:2020:205, Nrn. 120 bis 129) sowie Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in den Rechtssachen Slowakei/Kommission und Rumänien/Kommission (C‑593/15 P, C‑594/15 P und C‑599/15 P, EU:C:2017:441, Nr. 108).

( 39 ) Insoweit ist ein Blick auf die Rechtsprechung zu Fällen aufschlussreich, in denen der Gerichtshof den Mitgliedstaaten eine Berücksichtigung des Begriffs der ungerechtfertigten Bereicherung gestattet hat. Diese Rechtsprechung steht im Zusammenhang mit Sachverhalten, in denen nationale Regelungen den Anspruch auf Erstattung unionsrechtswidrig entrichteter Beträge beschränkten, soweit diese auf andere Unternehmen oder die Verbraucher abgewälzt wurden. Vgl. z. B. Urteil vom 27. Februar 1980, Just (68/79, EU:C:1980:57, Rn. 26 und 27). Diese Rechtsprechung bestätigt die hier vertretene Ansicht, dass der unionsrechtliche Verzinsungsanspruch durch die Notwendigkeit gerechtfertigt ist, eine unionsrechtswidrige Entreicherung zu verhindern. Eine Person, die zu Unrecht erhobene Beträge auf andere abwälzt, wäre nicht entreichert, so dass ihr ein Erstattungsanspruch zuzüglich Zinsen versagt werden könnte.

( 40 ) Die Erstattung von Steuern, Gebühren und Abgaben ist nicht der einzige Fall, für den das Unionsrecht die Zahlung von Zinsen vorsieht. Zinsen sind z. B. auch bei Schadensersatzansprüchen aufgrund eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu zahlen, vgl. z. B. Urteil vom 2. August 1993, Marshall (C‑271/91, EU:C:1993:335, Rn. 31).

( 41 ) Vgl. hierzu Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache Wortmann (C‑365/15, EU:C:2016:663, Nr. 66).

( 42 ) Vgl. Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail Ltd u. a. (C‑591/10, EU:C:2012:478).

( 43 ) Vgl. Urteil vom 9. September 2021, Hauptzollamt B (fakultative Steuerermäßigungen) (C‑100/20, EU:C:2021:716).

( 44 ) Vgl. z. B. Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 32), und vom 16. November 2021, WB u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 59).

( 45 ) Vgl. z. B. Gutachten 1/09 (Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems) vom 8. März 2011 (EU:C:2011:123, Rn. 69) und Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 33).

( 46 ) Vgl. z. B. Urteile vom 25. Juni 2020, SATCEN/KF (C‑14/19 P, EU:C:2020:492, Rn. 61), und vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi (C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 31).

( 47 ) Vgl. hierzu Gutachten 1/09 (Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems) vom 8. März 2011 (EU:C:2011:123, Rn. 80).

( 48 ) Vgl. Urteil vom 18. Januar 2017, Wortmann (C‑365/15, EU:C:2017:19, Rn. 38) (Hervorhebung nur hier).

( 49 ) In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Wortmann (C‑365/15, EU:C:2016:663, Nr. 45) führte Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona als eine von mehreren Lösungsmöglichkeiten in jener Rechtssache an, festzustellen, dass die Vorschrift des Zollkodex, die die Zahlung von Zinsen ausschließe, ungültig sei. Dies war nicht die Lösung, die er dem Gerichtshof vorschlug, da für die in Rede stehende Bestimmung eine hinreichende Rechtfertigung gegeben war. Festgehalten sei, dass die Gültigkeit dieser Regelung in den vorliegenden Rechtssachen nicht in Frage gestellt worden ist.

( 50 ) Vgl. Urteil vom 18. Januar 2017, Wortmann (C‑365/15, EU:C:2017:19, insbesondere Rn. 24 bis 32).

( 51 ) Diese Rechtfertigung hat auch die Kommission sowohl in der Rechtssache Wortmann als auch in ihren Erklärungen in den vorliegenden Rechtssachen vertreten.

( 52 ) Urteil vom 18. Januar 2017, Wortmann (C‑365/15, EU:C:2017:19, Rn. 27).

( 53 ) Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache Wortmann (C‑365/15, EU:C:2016:663, Nr. 50).

( 54 ) Diese Symmetrie des Ausschlusses der Verpflichtung zur Verzinsung sowohl für die Zollbehörden, im Fall einer Anpassung der Zölle nach unten, als auch für den Wirtschaftsteilnehmer, im Fall einer Anpassung der Zölle nach oben, wurde als wichtiger Gesichtspunkt zur Rechtfertigung der in Rede stehenden Regelung hervorgehoben, vgl. Urteil vom 18. Januar 2017, Wortmann (C‑365/15, EU:C:2017:19, Rn. 29 bis 31), und Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache Wortmann (C‑365/15, EU:C:2016:663, Nrn. 48 bis 52).

( 55 ) Meines Erachtens ist nicht ersichtlich, warum die im Urteil Wortmann angeführten Erwägungen, die sich auf Art. 241 des Zollkodex der Gemeinschaften bezogen, nicht auch für Art. 116 Abs. 6 des Zollkodex der Union gelten sollten, vgl. hierzu Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache Wortmann (C-365/15, EU:C:2016:663, Nr. 51, Fn. 25).

( 56 ) Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache Wortmann (C‑365/15, EU:C:2016:663, Nr. 52).

( 57 ) Vgl. hierzu jedoch Kakouris, C. N., „Do the Member States Possess Judicial Procedural ‚Autonomy‘?“, Common Market Law Review, Vol. 34, 1997, S. 1389; Bobek, M., „Why There is No Principle of ‚Procedural Autonomy‘ of the Member States“, in de Witte, B., und Micklitz, H.-W. (Hrsg.), The European Court of Justice and the Autonomy of the Member States, Intersentia, 2012, S. 305; Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Littlewoods Retail Ltd u. a. (C‑591/10, EU:C:2012:9, Nrn. 23 bis 25).

( 58 ) Vgl. zur Zahlung von Zinsen z. B. Urteile vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail Ltd u. a. (C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 27 und 28), und vom 23. April 2020, Sole-Mizo und Dalmandi Mezőgazdasági (C‑13/18 und C‑126/18, EU:C:2020:292, Rn. 37). Wie der Gerichtshof in diesen Urteilen festgestellt hat, kommt es in Ermangelung einer Regelung der Union der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zu, die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen festzulegen, sofern diese Bedingungen nicht ungünstiger sind als bei ähnlichen Forderungen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität).

( 59 ) Vgl. hierzu Prechal, S., „Community Law in National Courts: The Lessons from Van Schijndel“, Common Market Law Review, Vol. 35, 1998, S. 681, auf S. 690. Vgl. ferner z. B. Widdershoven, R., „National Procedural Autonomy and General EU Law Limits“, Review of European Administrative Law, Vol. 12, 2019, S. 5, und Episcopo, angeführt in Fn. 25 der vorliegenden Schlussanträge.

( 60 ) C‑430/93 und C‑431/93, EU:C:1995:441.

( 61 ) C‑312/93, EU:C:1995:437.

( 62 ) Vgl. z. B. Urteile vom 19. Dezember 2019, Cargill Deutschland (C‑360/18, EU:C:2019:1124, Rn. 51), und vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi (C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 63 und 64).

( 63 ) Entgegen dem Vorbringen von Reyher in der Rechtssache C‑419/20 werden unionsrechtliche Ansprüche nach den in Rede stehenden nationalen Regelungen offenbar nicht ungünstiger behandelt als solche des nationalen Rechts; dass die zuständigen nationalen Behörden im Ausgangsverfahren der Ansicht sein mögen, dass der Zinsanspruch durch Art. 116 Abs. 6 des Zollkodex der Union ausgeschlossen sei, folgt aus einer möglichen Beschränkung des Zinsanspruchs, die sich aus dem Unionsrecht und nicht aus dem nationalen Recht ergibt.

( 64 ) Vgl. z. B. Urteil vom 18. April 2013, Irimie (C‑565/11, EU:C:2013:250, Rn. 26 und 28). Vgl. hierzu auch Urteil vom 23. April 2020, Sole-Mizo und Dalmandi Mezőgazdasági (C‑13/18 und C‑126/18, EU:C:2020:292, Rn. 43).

( 65 ) Vgl. Urteil vom 18. April 2013, Irimie (C‑565/11, EU:C:2013:250, Rn. 27 und 29). Vgl. hierzu auch Urteil vom 15. Oktober 2014, Nicula (C‑331/13, EU:C:2014:2285, Rn. 37 und 38).

( 66 ) C‑365/15, EU:C:2016:663, Rn. 14 und 69 bis 73.

( 67 ) Das vorlegende Gericht verweist insoweit auf § 236 AO in Verbindung mit § 14 Abs. 2 MOG.