SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 17. Juni 2021 ( 1 )

Rechtssache C‑203/20

AB u. a. (Rücknahme einer Amnestie)

(Vorabentscheidungsersuchen des Okresný súd Bratislava III [Kreisgericht Bratislava III, Slowakei])

„Vorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Grundsatz ne bis in idem – Verfahrenseinstellung aufgrund einer Amnestie – Aufhebung der Amnestie“

I. Einleitung

1.

Das vorlegende Gericht beabsichtigt den Erlass eines Europäischen Haftbefehls nach dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI ( 2 ) gegen einen slowakischen Staatsangehörigen. Das zugrunde liegende Strafverfahren war jedoch zunächst aufgrund einer Amnestie eingestellt worden und wurde erst nach Aufhebung dieser Amnestie erneut aufgenommen.

2.

Nun stellt sich im Kern die Frage, ob der Grundsatz ne bis in idem nach Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dem Erlass des Europäischen Haftbefehls entgegensteht.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   EMRK

3.

Art. 4 („Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden“) des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bestimmt:

„(1)   Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.

(2)   Abs. 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.

(3)   Von diesem Artikel darf nicht nach Art. 15 der Konvention abgewichen werden.“

B.   Unionsrecht

1. Charta der Grundrechte der Europäischen Union

4.

Der Grundsatz ne bis in idem ist in Art. 50 der Charta niedergelegt:

„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“

5.

Art. 51 der Charta regelt ihren Anwendungsbereich:

„(1)   Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.

(2)   Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.“

2. Rahmenbeschluss 2002/584

6.

Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 enthält Gründe für die Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls:

„Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats (nachstehend ‚vollstreckende Justizbehörde‘ genannt) lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab,

1.

wenn die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsstaat unter eine Amnestie fällt und dieser Staat nach seinem eigenen Strafrecht für die Verfolgung der Straftat zuständig war;

2.

wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

3.

…“

7.

Art. 8 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses verlangt bestimmte Angaben in einem Europäischen Haftbefehl:

„Der Europäische Haftbefehl enthält entsprechend dem im Anhang beigefügten Formblatt folgende Informationen:

c)

die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Art. 1 und 2 vorliegt;

…“

3. Richtlinie 2012/13

8.

Rechtsgrundlage der Richtlinie 2012/13/EU ( 3 ) ist Art. 82 Abs. 2 AEUV. Der neunte Erwägungsgrund hält dazu fest:

„[Art. 82 Abs. 2 AEUV] sieht die Festlegung von in den Mitgliedstaaten anwendbaren Mindestvorschriften zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension vor. Dort werden ‚die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren‘ als einer der Bereiche genannt, in denen Mindestvorschriften festgelegt werden können.“

9.

Art. 1 der Richtlinie 2012/13 beschreibt ihren Gegenstand:

„Mit dieser Richtlinie werden Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt. Mit dieser Richtlinie werden auch Bestimmungen über das Recht von Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, auf Belehrung über ihre Rechte festgelegt.“

10.

Art. 2 der Richtlinie 2012/13 regelt ihren Anwendungsbereich:

„(1)   Diese Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.

(2)   Sieht das Recht eines Mitgliedstaats die Verhängung einer Sanktion wegen geringfügiger Zuwiderhandlungen durch eine Behörde, die kein in Strafsachen zuständiges Gericht ist, vor, und kann gegen die Verhängung einer solchen Sanktion bei einem solchen Gericht ein Rechtsbehelf eingelegt werden, so findet diese Richtlinie nur auf das Verfahren vor diesem Gericht nach Einlegung eines solchen Rechtsbehelfs Anwendung.“

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

11.

Die im Ausgangsverfahren angeklagten Personen (im Folgenden: die Beschuldigten) sollen als Mitglieder slowakischer Sicherheitsbehörden im Jahr 1995 mehrere Delikte begangen haben, darunter die Entführung einer Person ins Ausland, Raub und Erpressung. Das Opfer dieser Taten war der Sohn des damaligen Präsidenten der Slowakei.

12.

Am 3. März 1998 erließ der damalige Premierminister der Slowakei in Vertretung des Präsidenten für diese Vorwürfe eine Amnestie.

13.

Gleichwohl erhob die Krajská prokuratúra Bratislava (Bezirksstaatsanwaltschaft Bratislava, Slowakei) wegen dieser Vorwürfe am 27. November 2000 vor dem Okresný súd Bratislava III (Kreisgericht Bratislava III, Slowakei) Anklage.

14.

Mit Beschluss des Okresný súd Bratislava III (Kreisgericht Bratislava III) vom 29. Juni 2001 wurde die Strafverfolgung gegen sämtliche Beschuldigte mit der Begründung eingestellt, dass sie unter die Amnestie vom 3. März 1998 fielen. Der genannte Beschluss wurde am 5. Juni 2002 durch eine Entscheidung des Krajský súd v Bratislave (Bezirksgericht Bratislava, Slowakei) bestätigt und ist rechtskräftig geworden. Nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften war dieser Beschluss endgültig, hat den Charakter einer Entscheidung in der Sache und die Wirkungen eines freisprechenden Urteils.

15.

Der Nationalrat der Slowakischen Republik hob die erwähnte Amnestie mit Beschluss Nr. 570 vom 5. April 2017 auf. Ein Urteil des Verfassungsgerichts der Slowakischen Republik vom 31. Mai 2017 stellte fest, der Beschluss des Nationalrats sei mit der Verfassung der Slowakischen Republik vereinbar. Daher war auch der genannte rechtskräftige gerichtliche Beschluss über die Einstellung der Strafverfolgung aufzuheben.

16.

Nunmehr erwägt der Kammervorsitzende des Okresný súd Bratislava III (Kreisgericht Bratislava III), für einen der Angeklagten einen europäischen Haftbefehl auszustellen. In diesem Verfahren richtet er die folgenden Fragen an den Gerichtshof:

1)

Steht der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584 der Grundsatz ne bis in idem entgegen, und zwar unter Berücksichtigung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, wenn die Strafsache durch ein gerichtliches Urteil über den Freispruch vom Anklagevorwurf oder die Einstellung des Verfahrens rechtskräftig abgeschlossen wurde, falls diese Entscheidungen auf der Grundlage einer Amnestie ergangen sind, die, nachdem diese Entscheidungen rechtskräftig geworden waren, durch den Gesetzgeber aufgehoben wurde, und die innerstaatliche Rechtsordnung vorsieht, dass durch die Aufhebung einer solchen Amnestie auch die Entscheidungen staatlicher Organe in dem Umfang aufgehoben sind, in dem sie auf der Grundlage und mit der Begründung von Amnestien und Begnadigungen ergangen sind, und gesetzliche Strafverfolgungshindernisse, die auf eine in dieser Weise aufgehobene Amnestie gestützt sind, wegfallen, und zwar ohne eine besondere gerichtliche Entscheidung oder ein besonderes gerichtliches Verfahren?

2)

Steht eine Bestimmung eines nationalen Gesetzes, die, ohne Entscheidung eines nationalen Gerichts, unmittelbar die Entscheidung eines nationalen Gerichts über die Einstellung der Strafverfolgung, die nach der nationalen Regelung den Charakter einer endgültigen Entscheidung mit den Wirkungen eines Freispruchs vom Anklagevorwurf hat, aufhebt, mit dem durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleisteten Recht auf ein unparteiisches Gericht und dem in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleisteten Recht, nicht zweimal wegen derselben Tat verfolgt oder bestraft zu werden, sowie Art. 82 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union in Einklang?

3)

Steht eine solche Bestimmung eines nationalen Gesetzes, die das Verfassungsgericht bei der Überprüfung des Beschlusses der Národna rada Slovenskej republiky (Nationalrat der Slowakischen Republik) über die Aufhebung einer Amnestie oder einer individuellen Begnadigung nach Art. 86 Buchst. i der Verfassung der Slowakischen Republik darauf beschränkt, nur dessen Vereinbarkeit mit der Verfassung der Slowakischen Republik zu beurteilen, ohne Rücksicht auf verbindliche Rechtsakte der Europäischen Union, insbesondere die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta), den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und den Vertrag über die Europäische Union (EUV), in Einklang mit dem Loyalitätsgrundsatz nach Art. 4 Abs. 3 EUV, mit Art. 267 AEUV, mit Art. 82 AEUV, mit dem in Art. 47 der Charta verbürgten Recht auf ein unparteiisches Gericht sowie mit dem in Art. 50 der Charta verbürgten Recht, nicht zweimal wegen derselben Tat verfolgt oder bestraft zu werden?

17.

Den Antrag des innerstaatlichen Gerichts, dieses Vorabentscheidungsersuchen im Eilvorlageverfahren zu behandeln, hat der Gerichtshof abgelehnt, da keine hinreichende Dringlichkeit besteht.

18.

Die Beschuldigten AB und CD, die Slowakische Republik sowie die Europäische Kommission haben sich schriftlich geäußert. Ein weiterer Beschuldigter, IJ, hat nach Durchführung des schriftlichen Verfahrens eine mündliche Verhandlung beantragt. Diese hat der Gerichtshof am 6. Mai 2021 durchgeführt und dabei alle diese Beteiligten sowie die Krajská prokuratúra Bratislava (Bezirksstaatsanwaltschaft Bratislava) angehört.

IV. Rechtliche Würdigung

19.

Das Okresný súd Bratislava III (Kreisgericht Bratislava III) möchte erfahren, ob unter den Umständen des Ausgangsverfahrens der Erlass eines Europäischen Haftbefehls für einen der Beschuldigten und die Aufhebung der Amnestie mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Seine Bedenken beruhen insbesondere auf dem Grundsatz ne bis in idem, weil das Verfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen war.

A.   Zum Europäischen Haftbefehl

20.

Die erste Frage soll aufklären, ob der Grundsatz ne bis in idem dem Erlass eines Europäischen Haftbefehls entgegensteht, nachdem das Gericht das Strafverfahren zunächst wegen einer Amnestie rechtskräftig eingestellt hat, diese Amnestie allerdings später aufgehoben wurde und infolgedessen das Strafverfahren erneut auflebt.

1. Zur Zulässigkeit der ersten Frage

21.

Zwar ist der Gerichtshof nach der Kommission und der Slowakei für diese Frage nicht zuständig, weil die Charta im Ausgangsverfahren nicht anwendbar sei, doch diese Auffassung ist zurückzuweisen. Genauso wenig greifen Zweifel hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit durch.

a) Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

22.

Richtig ist, dass der Gerichtshof nicht zuständig ist, um über eine rechtliche Situation zu entscheiden, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Die Bestimmungen der Charta vermögen als solche diese Zuständigkeit auch nicht zu begründen. ( 4 ) Denn nach Art. 51 Abs. 1 der Charta finden die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte nur in unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung. ( 5 )

23.

Die Slowakei hebt zwar zutreffend hervor, dass die streitgegenständlichen Tatvorwürfe sich auf die Zeit vor ihrem Beitritt beziehen und schon daher keinen Bezug zur Anwendung des Unionsrechts erkennen lassen. Auch fehlen Regelungen der Union zur Aufhebung einer innerstaatlichen Amnestie. Zudem führt die Kommission richtigerweise aus, dass das nationale Strafverfahren und die gegenständlichen Straftatbestände nicht unionsrechtlich harmonisiert sind.

24.

Jedoch erwägt das vorlegende Gericht, einen Europäischen Haftbefehl auszustellen. Der Erlass eines Europäischen Haftbefehls wäre als solcher zwangsläufig eine Durchführung von Unionsrecht. Er ist ein unionsrechtlich vorgesehener Rechtsakt, der bestimmte unionsrechtlich determinierte Rechtsfolgen auslöst – etwa die Begrenzung der möglichen Ablehnungsgründe einer Vollstreckung nach den Art. 3 bis 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 oder die Fristen für die Vollstreckung nach Art. 17.

25.

Somit ist der Gerichtshof im vorliegenden Verfahren dafür zuständig, die Charta der Grundrechte und insbesondere den Grundsatz ne bis in idem nach Art. 50 im Hinblick auf den Erlass eines Europäischen Haftbefehls auszulegen.

b) Zur Entscheidungserheblichkeit

26.

Daneben ist zu untersuchen, ob die erste Vorlagefrage für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblich ist. Die Kommission und die Slowakei stellen insoweit im Wesentlichen darauf ab, dass das vorlegende Gericht den Europäischen Haftbefehl noch nicht erlassen hat, sondern dies bisher lediglich beabsichtigt.

27.

Jedoch ist einem innerstaatlichen Gericht nicht zumutbar, zunächst einen – seiner Ansicht nach gegebenenfalls unionsrechtswidrigen – Europäischen Haftbefehl zu erlassen, um so ein Vorabentscheidungsersuchen zu ermöglichen. Vielmehr entspricht es gerade der Natur des Vorabentscheidungsverfahrens, dass eine letztverbindliche Auslegung durch den Gerichtshof eingeholt wird, bevor diese Entscheidung ergeht. Schließlich soll dieses Verfahren die richtige Anwendung des Unionsrechts durch die Gerichte der Mitgliedstaaten sicherstellen.

28.

Die Slowakei beruft sich zwar außerdem auf die Beurteilung des von der Staatsanwaltschaft angerufenen Berufungsgerichts, wonach die Frage nach dem Erlass eines Europäischen Haftbefehls hypothetischer Natur sei, weil der Gesuchte sich nicht in Europa aufhalte und gegen ihn ein internationaler Haftbefehl ergangen sei. ( 6 ) Doch nach Art. 267 AEUV liegt die Beurteilung der Erheblichkeit und der Erforderlichkeit der Vorabentscheidungsfrage in der alleinigen Verantwortung des Gerichts, das das Vorabentscheidungsersuchen beschließt, vorbehaltlich der eingeschränkten Überprüfung, die der Gerichtshof vornimmt. ( 7 )

29.

Zudem hat AB in der mündlichen Verhandlung unwidersprochen vorgetragen, dass ein Europäischer Haftbefehl auch notwendig sein kann, um die reibungslose Auslieferung eines Beschuldigten aus einem Drittstaat zu gewährleisten, wenn dieser auf dem Weg in den ersuchenden Mitgliedstaat durch andere Mitgliedstaaten transportiert wird.

30.

Somit ist die erste Frage entscheidungserheblich und damit zulässig.

2. Beantwortung der ersten Frage

31.

Folglich ist zu klären, ob ein Europäischer Haftbefehl erlassen werden darf, nachdem ein Gericht des ersuchenden Staats das Strafverfahren zunächst wegen einer Amnestie rechtskräftig eingestellt hat, diese Amnestie allerdings später aufgehoben wurde und infolgedessen das Strafverfahren erneut auflebt.

32.

Art. 3 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ist für diese Fragestellung ohne Bedeutung. Danach lehnt die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab, wenn die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsstaat unter eine Amnestie fällt. Eine Amnestie im ersuchenden Staat oder ihre Aufhebung werden von dieser Regelung nicht erfasst. ( 8 )

33.

Eine Amnestie im ersuchenden Staat könnte dagegen für Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 eine Rolle spielen. Danach enthält der Europäische Haftbefehl die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung vorliegt. Wenn die Tat im ersuchenden Staat unter eine wirksame Amnestie fällt, dürfte in diesem Staat keine solche vollstreckbare justizielle Entscheidung existieren. Das stünde einem Europäischen Haftbefehl entgegen. ( 9 ) Wegen der Aufhebung der Amnestie kann diese Hypothese im vorliegenden Verfahren jedoch keine Rolle spielen.

34.

Somit kommt es tatsächlich darauf an, ob der Grundsatz ne bis in idem dem Europäischen Haftbefehl entgegensteht.

35.

Nach Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lehnt die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab, wenn die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist. Aber wie Art. 3 Nr. 1 verpflichtet diese Bestimmung nicht den ersuchenden Mitgliedstaat.

36.

Der ersuchende Mitgliedstaat ist beim Erlass eines Europäischen Haftbefehls allerdings an Art. 50 der Charta gebunden. Gemäß dieser Bestimmung darf niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden. Der Erlass eines Europäischen Haftbefehls wäre jedoch eine Verfolgungshandlung.

37.

Zu klären ist daher, ob die Einstellung eines Strafverfahrens wegen einer Amnestie trotz der späteren Aufhebung der Amnestie als rechtskräftige Verurteilung oder rechtskräftiger Freispruch anzusehen ist.

38.

Der Gerichtshof hat im Zusammenhang mit dem Grundsatz ne bis in idem nach Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und Art. 54 SDÜ entschieden, dass eine solche rechtskräftige Entscheidung zwei Voraussetzungen erfüllen muss: Erstens ist zu untersuchen, ob die fragliche Entscheidung die Strafklage endgültig verbraucht hat. ( 10 ) Und zweitens muss die Entscheidung auf einer Prüfung in der Sache beruhen. ( 11 ) Diese Voraussetzungen müssen auch bei Art. 50 der Charta zur Anwendung kommen. ( 12 )

a) Zum endgültigen Verbrauch der Strafklage

39.

Nach dem Vorabentscheidungsersuchen wurde gegen die Beschuldigten ein Strafverfahren betrieben, das die zuständigen Gerichte aufgrund der Amnestie rechtskräftig eingestellt haben. ( 13 )

40.

Die Slowakei vertritt jedoch die Auffassung, dass diese Einstellungsentscheidung zumindest seit der Aufhebung der Amnestie nicht mehr den endgültigen Verbrauch der Strafklage im Sinne der ersten Voraussetzung bewirkt. Vielmehr soll die Aufhebung der Amnestie nach slowakischem Recht die Strafklage gerade wieder ermöglichen.

41.

Da es bei der Beurteilung des Strafklageverbrauchs im Ausgangspunkt auf das Recht des Mitgliedstaats ankommt, der die in Rede stehende strafrechtliche Entscheidung erlassen hat, ( 14 ) scheint es auf den ersten Blick keine Möglichkeit zu geben, dieses Ergebnis in Frage zu stellen.

42.

Der Gerichtshof hat jedoch anerkannt, dass außerordentliche Rechtsbehelfe des innerstaatlichen Rechts bei der Beurteilung, ob die Strafklage endgültig verbraucht wurde, nicht berücksichtigt werden dürfen. ( 15 )

43.

Dabei stützte sich der Gerichtshof auf die Erwägung, dass das in Art. 50 der Charta enthaltene Recht dem in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK vorgesehenen Recht entspricht und somit nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die Auslegung von Art. 50 das durch die EMRK garantierte Schutzniveau nicht verletzen darf. ( 16 )

44.

Der EGMR hat entschieden, dass die Strafklage im Sinne des Grundsatzes ne bis in idem nach Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK endgültig verbraucht ist, wenn alle ordentlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind. ( 17 ) Dies ist bereits in den Nrn. 22 und 29 des explanatory report zum Protokoll Nr. 7 niedergelegt und beruht letztlich auf den Erläuterungen zum Begriff einer rechtskräftigen Entscheidung nach dem Europäischen Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen. ( 18 )

45.

Diese Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem nach Art. 50 der Charta entspricht seiner Funktion, im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts die Rechtssicherheit zu gewährleisten. ( 19 ) Im Anwendungsbereich des Unionsrechts sind die Mitgliedstaaten folglich nicht frei, uneingeschränkt über den endgültigen Strafklageverbrauch zu bestimmen und auf diese Weise rechtskräftig Verurteilte oder Freigesprochene erneut zu verfolgen. Vielmehr müssen sie bei der Prüfung des endgültigen Strafklageverbrauchs berücksichtigen, ob die ordentlichen Rechtsbehelfe ihrer eigenen Rechtsordnung erschöpft sind. Falls dies nicht der Fall ist, greift der Grundsatz ne bis in idem mangels rechtskräftiger Verurteilung nicht.

46.

Die Aufhebung einer Amnestie, die zugleich justizielle Entscheidungen beseitigt, die in Durchführung der Amnestie Strafverfahren rechtskräftig beendet haben, kann jedoch normalerweise nicht im Wege eines ordentlichen Rechtsbehelfs erreicht werden.

47.

Für das slowakische Recht gilt im Ausgangsfall nach den vorliegenden Informationen nichts anderes. Die streitgegenständliche Amnestie wurde in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren aufgehoben, und das Verfassungsgericht hat diesen Akt anschließend überprüft. ( 20 ) Das ist kein ordentlicher Rechtsbehelf.

48.

In einem solchen Fall ist folglich durch die rechtskräftige Einstellung des Verfahrens aufgrund der Amnestie der endgültige Strafklageverbrauch eingetreten. Daher liegt die erste Voraussetzung einer rechtskräftigen Entscheidung im Sinne von Art. 50 der Charta vor.

b) Zur Prüfung in der Sache

49.

Somit kommt der zweiten Voraussetzung einer rechtskräftigen Entscheidung im Sinne des Grundsatzes ne bis in idem nach Art. 50 der Charta, nämlich der Prüfung in der Sache, entscheidende Bedeutung zu.

50.

Diese Voraussetzung beruht darauf, dass dieser Grundsatz nicht nur die Rechtssicherheit gewährleisten soll, sondern dabei auch die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts berücksichtigt werden muss. In diesem Raum sollen nämlich nach Art. 3 Abs. 2 EUV die persönlichen Freiheiten und die notwendigen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität zum Ausgleich gebracht werden. ( 21 )

51.

Die Formulierung des Grundsatzes ne bis in idem in Art. 50 der Charta bestätigt diese zweckorientierte Auslegung, denn danach gilt dieser Grundsatz erst, nachdem die betroffene Person rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen wurde. Die Begriffe Verurteilung und Freispruch implizieren nämlich, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten nach einer Beurteilung der Umstände des Falls festgestellt wurde, mit anderen Worten also eine Entscheidung in der Sache ergangen ist. ( 22 )

52.

Eine Einstellungsentscheidung aufgrund einer Amnestie beruht jedoch nicht auf einer Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der betroffenen Personen, sondern setzt nur die Amnestie um.

53.

Das Vorabentscheidungsersuchen ist diesem Punkt widersprüchlich. Zunächst wird dargelegt, die Einstellung sei mit der Amnestie begründet worden, ( 23 ) doch später heißt es, dies sei nur ein Teil der Begründung gewesen. ( 24 ) Außerdem habe der Einstellungsbeschluss nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften den Charakter einer Entscheidung in der Sache. ( 25 )

54.

Gleichwohl fehlt jeder Hinweis darauf, ob die strafrechtliche Verantwortung der Beschuldigten geprüft wurde. Auch auf Rückfrage in der mündlichen Verhandlung hat AB nur vage Hinweise auf ein anderes Urteil gegeben.

55.

Daher kann der Gerichtshof sich nur dazu äußern, ob ein Einstellungsbeschluss aufgrund einer Amnestie eine Prüfung in der Sache im Sinne der zweiten Voraussetzung einer rechtskräftigen Entscheidung gemäß dem Grundsatz ne bis in idem nach Art. 50 der Charta beinhaltet. Dies ist in der Regel nicht der Fall.

c) Zwischenergebnis

56.

Somit steht der Grundsatz ne bis in idem nach Art. 50 der Charta der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584 nicht entgegen, wenn die Strafsache zunächst ohne Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der betroffenen Personen aufgrund einer Amnestie rechtskräftig eingestellt wurde, die Einstellungsentscheidung aber mit der Aufhebung der Amnestie ihre Wirkung verloren hat.

B.   Zur zweiten Frage – Aufhebung der Amnestie

57.

Die zweite Frage zielt nach ihrer Formulierung darauf ab, ob die Rücknahme der Amnestie, die zwangsläufig zur Wiederaufnahme des rechtskräftig eingestellten Strafverfahrens führte, mit dem Unionsgrundrecht auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 47 der Charta und dem Grundsatz ne bis in idem nach Art. 50 der Charta sowie Art. 82 AEUV vereinbar ist.

1. Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

58.

Auf den ersten Blick ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Frage nach den Grundrechten nicht zuständig, weil das Unionsrecht weder den Erlass einer Amnestie noch ihre Aufhebung regelt und folglich kein Unionsrecht durchgeführt wurde. ( 26 ) Die inhaltlichen Überlegungen der Beschuldigten zu den Unionsgrundrechten gehen folglich ins Leere und könnten höchstens entsprechend im innerstaatlichen Verfahren oder vor dem EGMR durchgreifen.

59.

Soweit die zweite Frage die Rechtsgrundlage des Art. 82 AEUV erwähnt, ist nicht ersichtlich, inwiefern diese Bestimmung überhaupt als solche anwendbar ist.

60.

Aus der Begründung des Vorabentscheidungsersuchens ergibt sich jedoch, dass das vorlegende Gericht erfahren möchte, ob die auf der Grundlage von Art. 82 AEUV erlassene Richtlinie 2012/13 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren auch in einem spezifischen Verfahren anwendbar ist, dessen Gegenstand die Aufhebung einer Amnestie ist. Wenn die Richtlinie insofern anwendbar wäre, würden zwangsläufig auch die in ihr vorgesehenen Verfahrensrechte gelten. Diese waren nach dem Vorabentscheidungsersuchen im Zusammenhang mit der Aufhebung der Amnestie durch den Nationalrat und im anschließenden Verfahren vor dem Verfassungsgericht nicht gewährleistet.

61.

Für eine Frage nach dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2012/13 ist der Gerichtshof zuständig.

2. Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2012/13

62.

Das vorlegende Gericht leitet die Anwendbarkeit der Richtlinie 2012/13 aus der Definition des Anwendungsbereichs in Art. 2 Abs. 1 ab. Danach gilt die Richtlinie ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens. Darunter ist die endgültige Klärung der Frage zu verstehen, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.

63.

Da die Beschuldigten im Jahr 2000 angeklagt wurden und erst in der Zukunft im Ausgangsverfahren über diese Anklage entschieden werden soll, neigt das vorlegende Gericht möglicherweise dazu, dass alle zwischenzeitlichen Rechtsakte, die für den Ausgang des Verfahrens bedeutsam sind, den Anforderungen der Richtlinie 2012/13 genügen müssen. Die Aufhebung der Amnestie wäre ein solcher Rechtsakt.

64.

Eine solche Annahme ginge allerdings fehl.

65.

Bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2012/13 ist nämlich auch ihr Art. 1 zu beachten. ( 27 ) Danach umfasst ihr Gegenstand das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf. Daneben wird auch das Recht von Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, auf Belehrung über ihre Rechte festgelegt. Die Richtlinie ist somit auf Strafverfahren und Verfahren im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl anwendbar. Ein außergerichtliches Verfahren zur Aufhebung einer Amnestie oder ein verfassungsgerichtliches Verfahren zur Überprüfung dieser Aufhebung sind dagegen nicht Gegenstand der Richtlinie.

66.

Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 bestätigt die Beschränkung auf gerichtliche Strafverfahren und gerichtliche Verfahren im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl. Danach gilt die Richtlinie nicht für die Verhängung einer Sanktion wegen geringfügiger Zuwiderhandlungen durch eine Behörde, sondern nur in einem eventuellen gerichtlichen Verfahren zur Überprüfung einer solchen Sanktion. Weder das außergerichtliche Verfahren zur Aufhebung der Amnestie noch das verfassungsgerichtliche Verfahren sind allerdings gerichtliche Verfahren zur Festlegung oder Überprüfung einer Sanktion.

67.

Eine Anwendung der Richtlinie 2012/13 auf ein außergerichtliches Verfahren zur Aufhebung einer Amnestie oder auf ein verfassungsgerichtliches Verfahren zu deren Überprüfung wäre auch nicht mehr von ihrer Rechtsgrundlage umfasst. Nach dem neunten Erwägungsgrund wurde die Richtlinie auf Art. 82 Abs. 2 Buchst. b AEUV gestützt. Diese Bestimmung erlaubt der Union, Mindestvorschriften betreffend die Rechte des Einzelnen in Strafverfahren festzulegen. Sie erlaubt der Union nicht, Regelungen über die Aufhebung einer Amnestie oder über die verfassungsgerichtliche Überprüfung dieser Aufhebung zu erlassen.

68.

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich im Übrigen, dass das mit der Anklage im Jahr 2000 eingeleitete Strafverfahren zunächst durch die Einstellung im Jahr 2001 endete ( 28 ) und erst im Anschluss an die Aufhebung der Amnestie und das Urteil des Verfassungsgerichts im Jahr 2017 wieder auflebte. In der Zwischenzeit gab es kein Strafverfahren und auch kein Verfahren im Zusammenhang mit einem Europäischen Haftbefehl, in dem die Richtlinie 2012/13 hätte anwendbar sein können.

69.

Somit gilt die Richtlinie 2012/13 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren nicht für ein Verfahren zur Aufhebung einer Amnestie oder für ein anschließendes Verfahren vor dem mitgliedstaatlichen Verfassungsgericht zur Überprüfung dieser Aufhebung. Daher kann diese Richtlinie auch nicht die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in diesen Verfahren begründen.

C.   Zur dritten Frage – Zuständigkeit des Verfassungsgerichts

70.

Mit seiner dritten Vorlagefrage fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob die Vorschriften des nationalen Gesetzes, die das Verfassungsgericht der Slowakischen Republik darauf beschränken, die Vereinbarkeit lediglich mit dem nationalen Verfassungsrecht zu überprüfen, mit den durch die EMRK und die Charta verbürgten Grundrechten und insbesondere mit dem Loyalitätsgrundsatz des Art. 4 Abs. 3 EUV vereinbar sind. Dabei geht das Gericht davon aus, dass nach dieser Bestimmung diese Verpflichtung auch in den gegenseitigen Beziehungen der Mitgliedstaaten und der Union anwendbar ist.

71.

Das vorlegende Gericht ist gleichfalls der Ansicht, dass die Regelungen über die Rücknahme der Amnestie unter Umständen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und insbesondere den Grundsatz der Effektivität verstoßen, der die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Union beim Erlass nationaler Rechtsvorschriften beschränkt.

72.

Es ist allerdings nicht ersichtlich, dass die vorliegende Aufhebung der Amnestie als Durchführung des Unionsrechts anzusehen ist. Daher ist sie weder an der Charta der Grundrechte der Europäischen Union noch an den unionsrechtlichen Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Effektivität zu messen. Auch gibt es keine Regelungen des Unionsrechts, die das Verfassungsgericht der Slowakischen Republik dazu verpflichten würden, die Vereinbarkeit der Aufhebung dieser Amnestie mit den durch die EMRK und die Charta verbürgten Grundrechten und insbesondere mit dem Loyalitätsgrundsatz des Art. 4 Abs. 3 EUV zu prüfen.

73.

Daher ist der Gerichtshof für die Beurteilung dieser Frage nicht zuständig.

V. Ergebnis

74.

Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, wie folgt zu entscheiden:

1)

Der Grundsatz ne bis in idem nach Art. 50 der Charta steht der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI nicht entgegen, wenn die Strafsache zunächst ohne Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der betroffenen Personen aufgrund einer Amnestie rechtskräftig eingestellt wurde, die Einstellungsentscheidung aber mit der Aufhebung der Amnestie ihre Wirkung verloren hat.

2)

Die Richtlinie 2012/13/EU über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren gilt nicht für ein Verfahren zur Aufhebung einer Amnestie oder für ein anschließendes Verfahren vor dem mitgliedstaatlichen Verfassungsgericht zur Überprüfung dieser Aufhebung. Daher kann diese Richtlinie auch nicht die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in diesen Verfahren begründen.


( 1 ) Originalsprache: Deutsch.

( 2 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002 L 190, S. 1), in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung.

( 3 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung im Strafverfahren (ABl. 2012 L 142, S. 1).

( 4 ) Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 22), vom 6. Oktober 2015, Delvigne (C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 27), und vom 14. Januar 2021, Okrazhna prokuratura – Haskovo und Apelativna prokuratura – Plovdiv (C‑393/19, EU:C:2021:8, Rn. 32).

( 5 ) Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19), vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 66), und vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78).

( 6 ) Beschluss des Krajský súd v Bratislave (Bezirksgericht Bratislava) vom 11. Februar 2020 (2Tos/116/2019, abrufbar unter http://www.pravnelisty.sk/rozhodnutia/a811-uznesenie-krajskeho-sudu-v-bratislave-vo-vecizavlecenia-michala-kovaca-mlasieho-do-cudziny).

( 7 ) Urteile vom 16. Dezember 2008, Cartesio (C‑210/06, EU:C:2008:723, Rn. 96), und vom 27. Februar 2014, Pohotovosť (C‑470/12, EU:C:2014:101, Rn. 31).

( 8 ) Vgl. Urteil vom 29. April 2021, X (Europäischer Haftbefehl – Ne bis in idem) (C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 95).

( 9 ) Urteile vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi (C‑241/15, EU:C:2016:385, Rn. 64), und vom 13. Januar 2021, MM (C‑414/20 PPU, EU:C:2021:4, Rn. 56).

( 10 ) Urteile vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge (C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87, Rn. 27 und 30), vom 22. Dezember 2008, Turansky (C‑491/07, EU:C:2008:768, Rn. 32), vom 5. Juni 2014, M (C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 31, 32 und 36), sowie vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 34 und 35).

( 11 ) Urteile vom 10. März 2005, Miraglia (C‑469/03, EU:C:2005:156, Rn. 30), vom 5. Juni 2014, M (C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 28), und vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 42). Vgl. auch Urteil des EGMR vom 8. Juli 2019, Mihalache/Rumänien (54012/10, CE:ECHR:2019:0708JUD005401210, Rn. 97 und 98).

( 12 ) Vgl. Urteile vom 5. Juni 2014, M (C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 35), und vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 31).

( 13 ) Siehe Rn. 3 des Vorabentscheidungsersuchens.

( 14 ) Urteile vom 5. Juni 2014, M (C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 36), und vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 35).

( 15 ) Urteil vom 5. Juni 2014, M (C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 39 und 40).

( 16 ) Urteil vom 5. Juni 2014, M (C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 37). Siehe auch Urteile vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti (C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 24), und vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 60).

( 17 ) Urteile des EGMR vom 20. Juli 2004, Nikitin/Russland (50178/99, CE:ECHR:2004:0720JUD005017899, Rn. 37), vom 10. Februar 2009, Zolotukhin/Russland (14939/03, CE:ECHR:2009:0210JUD001493903, Rn. 107), und vom 8. Juli 2019, Mihalache/Rumänien (54012/10, CE:ECHR:2019:0708JUD005401210, Rn. 103 und 109 bis 111).

( 18 ) European Treaty Series Nr. 70, siehe S. 13 des explanatory report.

( 19 ) Urteile vom 27. Mai 2014, Spasic (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 77), vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 44), und vom 29. April 2021, X (Europäischer Haftbefehl – Ne bis in idem) (C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 99).

( 20 ) Siehe oben, Nr. 15.

( 21 ) Siehe in diesem Sinne Urteile vom 10. März 2005, Miraglia (C‑469/03, EU:C:2005:156, Rn. 34), und vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 46, 47 und 49). Vgl. auch Urteil des EGMR vom 27. Mai 2014, Marguš/Kroatien (4455/10, CE:ECHR:2014:0527JUD000445510, Rn. 122 bis 141).

( 22 ) Urteil des EGMR vom 8. Juli 2019, Mihalache/Rumänien (54012/10, CE:ECHR:2019:0708JUD005401210, Rn. 97), zum identisch formulierten Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK.

( 23 ) Rn. 3 des Vorabentscheidungsersuchens.

( 24 ) Rn. 46 des Vorabentscheidungsersuchens.

( 25 ) Ebenfalls Rn. 46 des Vorabentscheidungsersuchens.

( 26 ) Vgl. oben, Nr. 22.

( 27 ) Urteil vom 13. Juni 2019, Moro (C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 33).

( 28 ) Anders im Urteil vom 12. Februar 2020, Kolev u. a. (C‑704/18, EU:C:2020:92, Rn. 54).