SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 2. September 2021 ( 1 )

Rechtssache C‑151/20

Bundeswettbewerbsbehörde

gegen

Nordzucker AG,

Südzucker AG,

Agrana Zucker GmbH

(Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs [Österreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Von zwei nationalen Wettbewerbsbehörden untersuchte Verhaltensweise – Grundsatz ne bis in idem – Gleichzeitige Anwendung europäischen und nationalen Wettbewerbsrechts – Identität des geschützten Rechtsguts – Räumliche Wirkungen der Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde – Kronzeugenprogramm“

I. Einleitung

1.

Nordzucker und Südzucker sind zwei Zuckerhersteller. Von der deutschen nationalen Wettbewerbsbehörde wurde eine Zuwiderhandlung dieser beiden Unternehmen gegen Art. 101 AEUV und das deutsche Wettbewerbsrecht festgestellt. Im Ausgangsverfahren begehrt die österreichische nationale Wettbewerbsbehörde die Feststellung eines Verstoßes dieser Unternehmen gegen Art. 101 AEUV und das österreichische Wettbewerbsrecht und stützt sich insoweit auf denselben Sachverhalt, der bereits Gegenstand der deutschen Entscheidung war.

2.

In diesem Zusammenhang wirft der Oberste Gerichtshof (Österreich) Fragen nach der Tragweite des in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Grundsatzes ne bis in idem auf. Die Frage ist im Wesentlichen, ob dieser Grundsatz parallelen oder späteren wettbewerbsrechtlichen Verfahren in anderen Mitgliedstaaten entgegensteht, wenn diese offenbar zumindest teilweise dasselbe Verhalten zum Gegenstand haben.

3.

Die vorliegende Rechtssache wirft insbesondere zwei Fragestellungen auf. Erstens, welche Kriterien sind für die Auslegung des idem im Sinne des Grundsatzes ne bis in idem im Wettbewerbsrecht und allgemein nach Art. 50 der Charta maßgebend? Diese Fragestellungen werden in meinen parallelen Schlussanträgen in der Rechtssache bpost im Einzelnen erörtert ( 2 ). Insoweit bauen die vorliegenden Schlussanträge daher auf die dort bereits vorgenommene Würdigung auf. Zweitens liegt die Besonderheit der vorliegenden Rechtssache darin, dass erneut klarzustellen ist, was im Sinne des Grundsatzes ne bis in idem als Identität des einschlägigen Sachverhalts anzusehen ist ( 3 ). Vor allem aber ist der Gerichtshof, so mag ergänzt werden, erneut aufgerufen, seine Auffassung zur Identität des geschützten Rechtsguts klarzustellen. Liegt in zwei nationalen Verfahren, in denen zwei nationale Wettbewerbsbehörden eine (dieselbe) Bestimmung des Wettbewerbsrechts der Union und ihre jeweiligen nationalen Wettbewerbsvorschriften angewendet haben, dasselbe geschützte Rechtsgut vor?

II. Rechtlicher Rahmen

4.

Nach Art. 50 („Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden“) der Charta „[darf n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“.

5.

Nach Art. 101 AEUV sind „alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“, mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten.

6.

Art. 3 („Verhältnis zwischen den Artikeln 81 und 82 des Vertrags und dem einzelstaatlichen Wettbewerbsrecht“) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 ( 4 ) lautet:

„(1)   Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne des Artikels 81 Absatz 1 des Vertrags an, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne dieser Bestimmung beeinträchtigen können, so wenden sie auch Artikel 81 des Vertrags auf diese Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen an. Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf nach Artikel 82 des Vertrags verbotene Missbräuche an, so wenden sie auch Artikel 82 des Vertrags an.

(2)   Die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts darf nicht zum Verbot von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen führen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind, aber den Wettbewerb im Sinne des Artikels 81 Absatz 1 des Vertrags nicht einschränken oder die Bedingungen des Artikels 81 Absatz 3 des Vertrags erfüllen oder durch eine Verordnung zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags erfasst sind. Den Mitgliedstaaten wird durch diese Verordnung nicht verwehrt, in ihrem Hoheitsgebiet strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen zu erlassen oder anzuwenden.

(3)   Die Absätze 1 und 2 gelten unbeschadet der allgemeinen Grundsätze und sonstigen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts nicht, wenn die Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten einzelstaatliche Gesetze über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen anwenden, und stehen auch nicht der Anwendung von Bestimmungen des einzelstaatlichen Rechts entgegen, die überwiegend ein von den Artikeln 81 und 82 des Vertrags abweichendes Ziel verfolgen.“

7.

Art. 5 („Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten“) lautet:

„Die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sind für die Anwendung der Artikel 81 und 82 des Vertrags in Einzelfällen zuständig. Sie können hierzu von Amts wegen oder aufgrund einer Beschwerde Entscheidungen erlassen, mit denen

die Abstellung von Zuwiderhandlungen angeordnet wird,

einstweilige Maßnahmen angeordnet werden,

Verpflichtungszusagen angenommen werden oder

Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen verhängt werden.

Sind die Voraussetzungen für ein Verbot nach den ihnen vorliegenden Informationen nicht gegeben, so können sie auch entscheiden, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden.“

8.

Art. 13 betrifft die „Aussetzung oder Einstellung des Verfahrens“:

„(1)   Sind die Wettbewerbsbehörden mehrerer Mitgliedstaaten aufgrund einer Beschwerde oder von Amts wegen mit einem Verfahren gemäß Artikel 81 oder Artikel 82 des Vertrags gegen dieselbe Vereinbarung, denselben Beschluss oder dieselbe Verhaltensweise befasst, so stellt der Umstand, dass eine Behörde den Fall bereits bearbeitet, für die übrigen Behörden einen hinreichenden Grund dar, ihr Verfahren auszusetzen oder die Beschwerde zurückzuweisen. Auch die Kommission kann eine Beschwerde mit der Begründung zurückweisen, dass sich bereits eine Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats mit dieser Beschwerde befasst.

(2)   Ist eine einzelstaatliche Wettbewerbsbehörde oder die Kommission mit einer Beschwerde gegen eine Vereinbarung, einen Beschluss oder eine Verhaltensweise befasst, die bereits von einer anderen Wettbewerbsbehörde behandelt worden ist, so kann die Beschwerde abgewiesen werden.“

III. Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefragen

9.

Nordzucker und Südzucker sind zwei deutsche Zuckerhersteller. Agrana wird von Südzucker kontrolliert. Sie betreibt Zuckerwerke in Österreich und Osteuropa.

10.

Aus historischen Gründen sowie aufgrund der Produkthomogenität und der hohen Transportkosten war der deutsche Zuckermarkt in die Kernabsatzgebiete der großen deutschen Hersteller aufgeteilt („Heimatmarktprinzip“). Als Reaktion auf Markteintrittsbestrebungen ausländischer Zuckerproduzenten in Deutschland kam es spätestens ab 2004 zu mehreren Treffen zwischen den Vertriebsleitern von Nordzucker und Südzucker. Bei diesen Treffen wurde die Wichtigkeit besonders betont, dem neu entstandenen Wettbewerbsdruck dadurch auszuweichen, dass die deutschen Unternehmen sich nicht gegenseitig Konkurrenz machten, indem sie in ihre jeweiligen angestammten Kernabsatzgebiete eindrängen.

11.

Gegen Ende 2005/Anfang 2006 stellte Agrana fest, dass einige ihrer österreichischen Kunden Zucker von einer slowakischen Tochtergesellschaft von Nordzucker bezogen. Der Geschäftsführer von Agrana informierte den Vertriebsleiter von Südzucker anlässlich eines Telefonats vom 22. Februar 2006 über diese Lieferungen und fragte ihn, ob er jemanden bei Nordzucker kenne, mit dem er darüber reden könne. Der Vertriebsleiter von Südzucker rief daraufhin den Vertriebsleiter von Nordzucker an. Er beschwerte sich über die Lieferungen nach Österreich und gab zu verstehen, dass dies Konsequenzen für den deutschen Markt haben könne. Der Vertriebsleiter von Nordzucker wurde angewiesen, auf diese Aufforderung nicht ausdrücklich zu reagieren. Er stellte aber gegenüber dem Vertriebsleiter der slowakischen Tochtergesellschaft von Nordzucker klar, dass er nicht wünsche, dass die Exporte nach Österreich ausgedehnt würden.

12.

Mit Bescheid vom 18. Februar 2014 verhängte das Bundeskartellamt (im Folgenden: BKartA), die deutsche nationale Wettbewerbsbehörde, gegen Südzucker eine Geldbuße von 195500000 Euro, im Wesentlichen wegen des von ihr in der Bundesrepublik Deutschland begangenen Verstoßes gegen das Verbot von Vereinbarungen zwischen miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken. Das BKartA stellte fest, dass Nordzucker, Südzucker und ein drittes deutsches Unternehmen sich für Verarbeitungs- und Haushaltszucker an Absprachen beteiligt hätten, ihre jeweiligen Kernabsatzgebiete zu respektieren. In dem Bescheid des BKartA wird auch der Inhalt des oben genannten Telefongesprächs vom 22. Februar 2006 in Bezug auf Österreich wiedergegeben.

13.

Das Ausgangsverfahren wurde eingeleitet, nachdem Nordzucker in Österreich einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt hatte. Die Bundeswettbewerbsbehörde (im Folgenden: BWB) beantragte bei den zuständigen österreichischen Gerichten die Feststellung gegenüber Nordzucker, dass diese Art. 101 AEUV und den einschlägigen Bestimmungen des nationalen Kartellrechts zuwidergehandelt habe. Gegenüber Südzucker beantragte die BWB die Verhängung einer Geldbuße in Höhe von 12460000 Euro für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis 21. September 2006. Für den Zeitraum vom 22. September 2006 bis 31. Oktober 2008 hat die BWB gegenüber Südzucker eine weitere Geldbuße in Höhe von 15390000 Euro gesamtschuldnerisch mit Agrana beantragt.

14.

Das nationale Gericht des ersten Rechtszugs wies diesen Antrag ab. Es entschied, dass die BWB kein berechtigtes Interesse an einer Feststellung gegenüber Nordzucker habe. Nordzucker sei nämlich ein unter eine Kronzeugenregelung fallendes Unternehmen, für das die BWB von der Beantragung einer Geldbuße Abstand genommen habe. Für den Zeitraum bis zum 22. Februar 2006 gebe es keine Hinweise dafür, dass Österreich in das Grundverständnis über die Respektierung der angestammten deutschen Absatzgebiete einbezogen gewesen sei, auch nicht „implizit“.

15.

Die Aufforderung im Telefongespräch vom 22. Februar 2006 habe jedoch auf die Lieferungen durch die slowakische Tochtergesellschaft von Nordzucker nach Österreich zumindest einen dämpfenden Einfluss haben können. Mit der folgenden Umsetzung dieser Aufforderung sei somit zwischen Nordzucker und Südzucker eine gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßende Absprache zustande gekommen. Sei jedoch ein bestimmter Aspekt der Verhaltensweisen von einer Sanktion umfasst, die eine andere nationale Wettbewerbsbehörde bereits verhängt habe, widerspreche eine neuerliche Sanktionierung dem Grundsatz ne bis in idem. Eben dies sei bei der Vereinbarung vom 22. Februar 2006 der Fall.

16.

Die BWB legte Rechtsmittel beim Obersten Gerichtshof, dem vorlegenden Gericht, ein. Sie beantragt, aufgrund der im Telefongespräch vom 22. Februar 2006 getroffenen Vereinbarung gegenüber Nordzucker festzustellen, dass sie gegen Art. 101 AEUV und die einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts verstoßen habe. Gegenüber Südzucker begehrt die BWB ebenso die Verhängung einer Geldbuße wegen der gleichen Zuwiderhandlung. Die BWB wendet sich gegen die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem durch das Gericht des ersten Rechtszugs. Diese Beurteilung lasse die Gebiete außer Betracht, für die die Geldbußen aufgrund der dort erzielten Umsätze festgesetzt worden seien. Die im ersten Rechtszug ergangene Entscheidung verstoße auch gegen die durch die Verordnung Nr. 1/2003 geregelte dezentrale Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union, die ein paralleles Vorgehen durch mehrere nationale Wettbewerbsbehörden zulasse.

17.

Das vorlegende Gericht führt aus, dass gegen Südzucker seitens des BKartA eine Geldbuße wegen Taten verhängt worden sei, zu denen auch das Telefongespräch vom 22. Februar 2006 zähle, während es sich dabei um die einzige einschlägige Zuwiderhandlung in der bei ihm anhängigen Rechtssache handele. Das Gericht verweist ferner auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem an die dreifache Voraussetzung der Identität in Bezug auf den Zuwiderhandelnden, den einschlägigen Sachverhalt und das geschützte Rechtsgut gebunden sei. Das Kriterium des geschützten Rechtsguts stehe seiner Auffassung nach in einem Spannungsverhältnis zu dem in anderen Bereichen des Unionsrechts verfolgten Ansatz, nach dem die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem nur von der Identität des Zuwiderhandelnden und des Sachverhalts abhängig sei.

18.

Der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei nicht zu entnehmen, wie der Grundsatz ne bis in idem in Fällen anzuwenden sei, in denen zwei nationale Wettbewerbsbehörden in zwei denselben Sachverhalt und denselben Zuwiderhandelnden betreffenden Verfahren das Wettbewerbsrecht der Union und nationales Wettbewerbsrecht anwendeten. Auch der Verordnung Nr. 1/2003 könnten keine Hinweise entnommen werden. Außerdem fragt sich das Gericht, ob der Umstand, dass eine nationale Wettbewerbsbehörde die Auswirkungen einer bestimmten Zuwiderhandlung in einem anderen Mitgliedstaat berücksichtigt habe, für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem relevant sei und ob der Umstand, dass es im Ausgangsverfahren zur Anwendung der Kronzeugenregelung gekommen sei, insoweit von Bedeutung sei.

19.

Vor diesem Hintergrund hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist das in der wettbewerbsrechtlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Anwendbarkeit des Grundsatzes „ne bis in idem“ aufgestellte dritte Kriterium, nämlich dass das gleiche geschützte Rechtsgut betroffen sein muss, auch dann anzuwenden, wenn die Wettbewerbsbehörden zweier Mitgliedstaaten berufen sind, für denselben Sachverhalt und in Bezug auf dieselben Personen neben nationalen Rechtsnormen auch dieselben europäischen Rechtsnormen (hier: Art. 101 AEUV) anzuwenden?

Bei Bejahung dieser Frage:

2.

Liegt in einem solchen Fall der parallelen Anwendung europäischen und nationalen Wettbewerbsrechts das gleiche geschützte Rechtsgut vor?

3.

Ist es darüber hinaus für die Anwendung des Grundsatzes „ne bis in idem“ von Bedeutung, ob die zeitlich erste Geldbußenentscheidung der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats die Auswirkungen des Wettbewerbsverstoßes in tatsächlicher Hinsicht auf jenen weiteren Mitgliedstaat berücksichtigt hat, dessen Wettbewerbsbehörde erst danach im von ihr geführten wettbewerbsrechtlichen Verfahren entschieden hat?

4.

Liegt auch bei einem Verfahren, in dem wegen der Teilnahme eines Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm nur dessen Zuwiderhandlung gegen Wettbewerbsrecht festgestellt werden kann, ein vom Grundsatz „ne bis in idem“ beherrschtes Verfahren vor, oder kann eine solche bloße Feststellung der Zuwiderhandlung unabhängig vom Ergebnis eines früheren Verfahrens betreffend die Verhängung einer Geldbuße (in einem anderen Mitgliedstaat) erfolgen?

20.

Südzucker, Agrana, die BWB, die belgische, die deutsche und die italienische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Südzucker, Agrana, die BWB, die belgische, die deutsche und die polnische Regierung sowie die Kommission haben in der Sitzung vom 22. März 2021 mündliche Ausführungen gemacht. Es handelte sich bei dieser Sitzung um eine für die vorliegende Rechtssache und für die Rechtssache C-117/20, bpost, anberaumte gemeinsame mündliche Verhandlung.

IV. Würdigung

21.

Die vorliegenden Schlussanträge sind wie folgt aufgebaut. Zu Beginn meiner Würdigung werde ich die Entscheidungserheblichkeit der ersten und der zweiten Vorabentscheidungsfrage erörtern (A). Anschließend werde ich auf die Prüfungskriterien eingehen, die meines Erachtens für die Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem im Bereich des Wettbewerbsrechts und in allen sonstigen Fällen nach Art. 50 der Charta maßgeblich sein sollten (B). Ich werde insbesondere die Frage des geschützten Rechtsguts im Wettbewerbsrecht der Union erörtern (B.1) und dann zur Identität des einschlägigen Sachverhalts innerhalb eines bestimmten Gebiets und Zeitraums kommen (B.2). Abschließend werde ich den Schwerpunkt auf die Frage der Relevanz legen, die der im nationalen Verfahren beantragten Feststellung für die Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem auf dieses Verfahren zukommt, in dem keine Geldbuße verhängt wird, weil es zu einer Anwendung der Kronzeugenregelung kam (C).

A.   Entscheidungserheblichkeit der ersten und der zweiten Vorabentscheidungsfrage

22.

Mit der ersten und der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts wird der Gerichtshof um eine Stellungnahme dazu ersucht, ob das Kriterium des geschützten Rechtsguts im Rahmen zweier, dieselben Zuwiderhandelnden und denselben Sachverhalt betreffender nationaler Verfahren, in denen die jeweiligen nationalen Wettbewerbsbehörden Art. 101 AEUV und nationales Wettbewerbsrecht anwenden, Anwendung findet (erste Frage). Wenn das Kriterium des Rechtsguts als relevant erachtet wird, fragt das vorlegende Gericht weiter, ob das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht dasselbe Rechtsgut schützen (zweite Frage).

23.

Auch wenn eine Einrede der Unzulässigkeit formal nicht erhoben wurde, halten die BWB, die deutsche Regierung und die Kommission eine Beantwortung der ersten Frage (und in gewissem Umfang der zweiten Frage) nicht für erheblich, um über die vorliegende Rechtssache zu entscheiden. Sie sind im Wesentlichen der Ansicht, dass im Ausgangsverfahren keine Identität des Sachverhalts gegeben sei, da das BKartA und die BWB das jeweilige wettbewerbswidrige Verhalten nur in Bezug auf ihr jeweiliges nationales Hoheitsgebiet geprüft hätten. Daher bedürfe es keiner Prüfung des geschützten Rechtsguts.

24.

Ich würde davon abraten, von einer Beantwortung der ersten und der zweiten Vorabentscheidungsfrage abzusehen.

25.

Erstens ist vor allem unklar, ob das BKartA sich in seinem Vorgehen auf das deutsche Hoheitsgebiet beschränkt hat. Es gibt nämlich offenbar einige Verunsicherung darüber, was genau diese nationale Wettbewerbsbehörde berücksichtigt hat und was daraus folgt. Diese Verunsicherung ergibt sich aus der Erwähnung des Telefongesprächs vom 22. Februar 2006, in dem der österreichische Markt erörtert wurde, in der Entscheidung des BKartA. Auf dieses Gespräch stützt sich im Ausgangsverfahren auch die BWB.

26.

Es liegen jedoch keine Erkenntnisse vor, die Klarheit darüber schaffen, ob (und inwieweit) die sich aus diesem Gespräch ergebende Absprache sich in dem räumlichen Umfang, der dem Verfahren vor dem BKartA gegeben wurde, und in dessen endgültiger Entscheidung niedergeschlagen hat. Das vorlegende Gericht bringt Zweifel im Hinblick auf den räumlichen Umfang der Entscheidung des BKartA zum Ausdruck. Es stellt ferner fest, dass diese Entscheidung keine näheren Angaben zu dem Umsatz enthalte, der der Berechnung der gegen Südzucker verhängten Geldbuße zugrunde gelegt worden sei.

27.

Über diese Zweifel hinaus bezieht sich die erste Frage ihrem Wortlaut nach ausdrücklich auf denselben Sachverhalt. Mit der dritten Frage wird sodann die Frage nach denselben Auswirkungen des fraglichen Wettbewerbsverstoßes aufgeworfen. Werden diese Fragen im Kontext des Vorabentscheidungsersuchens betrachtet, scheint es aus Sicht des vorlegenden Gerichts eine räumliche Überschneidung zwischen dem vom BKartA geführten Verfahren einerseits und dem bei ihm anhängigen Verfahren andererseits zu geben.

28.

Zweitens ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof eindeutig um Hinweise zur Frage des geschützten Rechtsguts. Auch wenn dieses Element tatsächlich eher nach Prüfung der Identität des Zuwiderhandelnden und des einschlägigen Sachverhalts zu prüfen sein dürfte, können die Besonderheiten einer Rechtssache und Belange der Prozessökonomie eine andere Prüfungsreihenfolge gebieten. Über diese Reihenfolge zu entscheiden, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

29.

Drittens fragt das nationale Gericht mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen in eher beiläufiger, aber nicht unbedeutender Weise nach den Kriterien für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem insbesondere in wettbewerbsrechtlichen Verfahren und allgemein nach Art. 50 der Charta. Insoweit wäre es meines Erachtens eher verwirrend und stände sicherlich nicht im Einklang mit dem Geist der justiziellen Zusammenarbeit, wenn der Gerichtshof einfach eine der Voraussetzungen herausgreifen würde, die möglicherweise nicht erfüllt ist (was tatsächlich indes eine vom vorlegenden Gericht festzustellende Tatsachenfrage ist), ohne zu erläutern, welches die sonstigen Prüfungskriterien sind.

30.

Zusammenfassend kann, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass beide Verfahren sich in tatsächlicher Hinsicht in der einen oder anderen Weise überschneiden oder dass das vorlegende Gericht die Frage des Rechtsguts möglicherweise vor der Frage der Identität des Sachverhalts prüfen möchte, die für Vorabentscheidungsersuchen geltende Vermutung der Entscheidungserheblichkeit ( 5 ) nicht als widerlegt angesehen werden. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die erste und die zweite Vorabentscheidungsfrage zu beantworten.

B.   Der Grundsatz ne bis in idem im (Wettbewerbs‑)Recht der Union: Prüfungskriterien und Bestandteile

31.

Die erste und die zweite Vorabentscheidungsfrage betreffen die Definition der Prüfungskriterien, die für die Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem im Bereich des Wettbewerbsrechts maßgeblich sein sollten, und insoweit insbesondere die Definition des idem.

32.

Zunächst werde ich noch einmal kurz erläutern, warum sich in dieser Hinsicht Fragen stellen. Mein Vorschlag zur Beantwortung der ersten Frage baut auf die in meinen parallelen Schlussanträgen in der Rechtssache bpost bereits vorgenommene Würdigung auf. Ich schlage eine einheitliche Prüfung des Grundsatzes ne bis in idem nach Art. 50 der Charta auf Basis dessen vor, dass in dreierlei Hinsicht, nämlich in Bezug auf den Zuwiderhandelnden, den einschlägigen Sachverhalt und das geschützte Rechtsgut, eine Identität zu bejahen ist (1).

33.

Sodann werde ich in Beantwortung der zweiten Frage auf die Frage des geschützten Rechtsguts, insbesondere im Wettbewerbsrecht, eingehen. Ich komme insoweit zu dem Ergebnis, dass zwei nationale Wettbewerbsbehörden, wenn sie Art. 101 AEUV und die entsprechenden Vorschriften des nationalen Rechts anwenden, dasselbe Rechtsgut schützen (2).

34.

Schließlich werde ich zu der Frage kommen, ob die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden beiden Verfahren sich auf denselben Sachverhalt beziehen und ob dies, in rechtlicher Hinsicht, überhaupt zulässig ist. Ich werde zu dem Ergebnis kommen, dass die Frage, ob das BKartA die Auswirkungen des in Rede stehenden Wettbewerbsverstoßes in Österreich berücksichtigt hat, für die Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem im Ausgangsverfahren in der Tat relevant, in tatsächlicher Hinsicht aber alles andere als eindeutig ist (3).

1. Die Prüfungskriterien: Identität in dreierlei Hinsicht

35.

Die erste und die zweite Vorabentscheidungsfrage gehen offenbar darauf zurück, dass der Gerichtshof wiederholt bestätigt hat, dass im Wettbewerbsrecht die Voraussetzung des idem nur erfüllt ist, wenn nicht nur die Identität des Zuwiderhandelnden und des Sachverhalts, sondern auch die Identität des geschützten Rechtsguts gegeben ist ( 6 ).

36.

Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Grundsatz ne bis in idem im Wettbewerbsrecht der Union begann vor etwa 50 Jahren mit dem Urteil des Gerichtshofs Wilhelm u. a. ( 7 ). In jener Rechtssache ging es um eine parallele nationale und supranationale Untersuchung eines wettbewerbswidrigen Verhaltens. Die Feststellung des Gerichtshofs, dass „das Kartellrecht der Gemeinschaft und das staatliche Kartellrecht … die Kartelle nicht nach den gleichen Gesichtspunkten [beurteilen]“ ( 8 ), wurde später durch die Klarstellung ergänzt, dass der durch den Grundsatz ne bis in idem im Wettbewerbsrecht gewährte Schutz erst dann eintritt, wenn das zweite Verfahren nicht nur denselben Zuwiderhandelnden und Sachverhalt, sondern auch dasselbe geschützte Rechtsgut betrifft ( 9 ). Dieses Verständnis des Grundsatzes wurde insbesondere im Urteil Toshiba bestätigt ( 10 ). Ungeachtet der zunehmenden Kritik an der Voraussetzung des geschützten Rechtsguts ( 11 ), die in anderen Bereichen des Unionsrechts nicht zur Anwendung kommt, wurde diese Auslegung zuletzt im Urteil Slovak Telecom bestätigt ( 12 ).

37.

Der Gerichtshof hat in der Rechtsprechung zu Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (im Folgenden: SDÜ) ( 13 ) die Prüfung des idem ausdrücklich allein auf die Identität des Zuwiderhandelnden und der Tat beschränkt. Er hat insoweit festgestellt, dass das einzige maßgebende Kriterium für die Prüfung der Voraussetzung des idem die „Identität der materiellen Tat, im Sinne des Vorhandenseins eines Komplexes konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände“, ist ( 14 ). Ebenso hat der Gerichtshof in der Rechtsprechung zur Verbindung von Straf- und Verwaltungsverfahren festgestellt, dass „Art. 50 der Charta einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten im Bereich der Mehrwertsteuer steuerliche und strafrechtliche Sanktionen zu kombinieren“ ( 15 ). Später hat der Gerichtshof klargestellt, dass „Art. 50 der Charta verbietet …, wegen derselben Tat am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur zu verhängen“ ( 16 ). Indem er die Prüfung stärker auf den Begriff des bis ausrichtete, hat der Gerichtshof zugelassen, dass das zweite Verfahren in derselben Sache stattfindet, sofern die Voraussetzungen der Bestimmung über die Einschränkung von Rechten nach Art. 52 Abs. 1 der Charta erfüllt sind ( 17 ).

38.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt dürften die Prüfungskriterien nach dem Urteil Menci daher allgemeine Geltung haben und auf alle Situationen anwendbar sein, die unter Art. 50 der Charta fallen. Dies lässt daneben weiterhin Raum für die Anwendung speziellerer Vorschriften wie etwa Art. 54 SDÜ oder Art. 3 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl ( 18 ). Die grundlegenderen Prüfungskriterien für den Anwendungsbereich von Art. 50 der Charta dürften jetzt jedoch in dem sehr weiten Begriff des idem factum zu sehen sein, in Verbindung mit einem recht großzügigen Notausgang in Form der Frage der Möglichkeit der Einschränkung von Rechten nach Art. 52 Abs. 1 der Charta.

39.

Ich werde die Argumente dafür, warum dieser Ansatz meines Erachtens problematisch ist, hier nicht wiederholen. Insoweit kann ich nur auf meine Würdigung in der Rechtssache bpost verweisen ( 19 ). Demnach sollten (einheitliche) Prüfungskriterien für das idem im Sinne von Art. 50 der Charta meines Erachtens auf einer dreifachen Identitätsvoraussetzung basieren, nämlich in Bezug auf den Zuwiderhandelnden, den einschlägigen Sachverhalt und das geschützte Rechtsgut ( 20 ).

40.

Nachdem dieser Ausgangspunkt geklärt ist, sollten meines Erachtens zwei Elemente dieser Prüfungskriterien näher untersucht werden, die im Mittelpunkt der vorliegenden Rechtssache stehen, nämlich die Identität des geschützten Rechtsguts (2) und die Identität des Sachverhalts (3).

2. Identität des geschützten Rechtsguts

41.

Soweit mir bekannt, ist zwar die Voraussetzung des geschützten Rechtsguts im Bereich des Wettbewerbsrechts vielfach bestätigt worden, diese Voraussetzung ist jedoch niemals wirklich erläutert worden ( 21 ), wenn einmal von der Feststellung abgesehen wird, dass „jede der innerstaatlichen Wettbewerbsgesetzgebungen von ihren eigenen Erwägungen aus[geht] und … die Praktiken allein nach diesen [beurteilt]“ ( 22 ).

42.

Die konkrete Frage, ob das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht dasselbe Rechtsgut schützen, wurde dem Gerichtshof noch vor nicht langer Zeit in der Rechtssache Powszechny Zakład Ubezpieczeń na Życie vorgelegt ( 23 ). Der Gerichtshof hielt es nicht für erforderlich, auf diese Frage einzugehen. Im dortigen Ausgangsverfahren ging es zwar um die gleichzeitige Anwendung nationaler und unionsrechtlicher Wettbewerbsvorschriften, es betraf aber nur ein einziges Verfahren vor der nationalen Wettbewerbsbehörde. Demnach beschränkte der Gerichtshof sich auf die Feststellung, dass es schon kein bis gebe, ohne auf das idem einzugehen.

43.

Dagegen geht es in der vorliegenden Rechtssache eindeutig um zwei Verfahren, die, soweit vorliegend relevant, dieselben Zuwiderhandelnden betreffen ( 24 ). Sofern das vorlegende Gericht vor der Prüfung der Frage nach dem geschützten Rechtsgut nicht zu dem Ergebnis gelangt, dass die beiden Verfahren unterschiedliche Sachverhalte betreffen, ist die Frage des geschützten Rechtsguts somit eindeutig relevant.

44.

Schützen das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht dasselbe Rechtsgut? Ausgehend von einem eher allgemeinen Ansatz mit Blick auf das Gebot eines fairen und ungestörten Wettbewerbs im Binnenmarkt ist dies eindeutig der Fall. Meines Erachtens kann die Würdigung hier jedoch richtigerweise nicht abgeschlossen werden. Die Frage des geschützten Rechtsguts ist anhand einer konkreten Bestimmung zu beurteilen. Sie muss auf das spezifische Rechtsgut oder den konkreten Zweck ausgerichtet sein, das bzw. der mit der angewandten Bestimmung verfolgt wird, darauf, was diese Bestimmung sanktioniert und warum ( 25 ).

45.

Einerseits haben sich, abstrakt betrachtet, die Wettbewerbsregeln der Union und die nationalen Wettbewerbsregeln gegenwärtig zweifelsohne weitgehend angeglichen. Unbeschadet der historischen Hintergründe der im Urteil Wilhelm u. a. getroffenen Feststellung zur Unterschiedlichkeit des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft und des nationalen Wettbewerbsrechts ( 26 ) hat die Verordnung Nr. 1/2003 das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht einander eindeutig angenähert. Die Notwendigkeit der Angleichung und Zusammenarbeit kommt sowohl inhaltlich auf der Ebene der einschlägigen Vorschriften als auch in Bezug auf die sie anwendenden Stellen zum Ausdruck.

46.

Was die materiell-rechtlichen Vorschriften angeht, werden die nationalen Wettbewerbsbehörden durch die Verordnung Nr. 1/2003 eindeutig zur Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV ermächtigt ( 27 ). Sie legt auch die Regelungen fest, die die Kohärenz ihrer Anwendung gewährleisten sollen. Dabei sind es vielleicht die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1/2003 über die Organe und Verfahren, mit denen das recht anspruchsvoll gestaltete System des „Europäischen Wettbewerbsnetzes“ eingerichtet wird, die zu einer Beteiligung sowohl der Kommission als auch der nationalen Wettbewerbsbehörden führen, mit denen Einheitlichkeit bei der Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV geschaffen werden soll. Ferner sollten mit dem Erlass der Richtlinie (EU) 2019/1 ( 28 ) durch den Unionsgesetzgeber Lücken geschlossen werden, die in der laufenden Regelung wahrgenommen wurden. Durch diese Richtlinie werden die nationalen Wettbewerbsbehörden im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Art. 101 und 102 AEUV in den von den einzelnen Kapiteln dieses Instruments erfassten Bereichen gestärkt ( 29 ).

47.

Angesichts dieser systematischen Überholung führt kaum etwas an dem Schluss vorbei, dass das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht sich seit dem Zeitpunkt der Erörterung ihres Verhältnisses durch den Gerichtshof im Urteil Wilhelm u. a. angenähert haben. Dieser Schluss wird nicht nur durch den genauen Wortlaut des Gerichtshofs in jenem Urteil belegt, soweit er sich auf das „Kartellrecht der Gemeinschaft und das staatliche Kartellrecht“ ( 30 ) bezog, sondern auch durch die allgemeinere Erwähnung „restriktiver Praktiken“ ( 31 ) in der späteren Rechtsprechung.

48.

Andererseits lässt sich dann, wenn der Schwerpunkt auf die konkreten Bestimmungen gelegt wird, nicht mit völliger Sicherheit sagen, dass es keine Unterschiede in bestimmten Bereichen der Wettbewerbsregeln mehr gibt (oder vielmehr geben kann) ( 32 ). In Art. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 ist im Gegensatz zu ihrer Vorgängerregelung, der Verordnung Nr. 17, nicht nur das Verhältnis zwischen unionsrechtlichen und nationalen Wettbewerbsregeln geregelt, sondern es wird dort auch konkret anerkannt, dass es Fälle gibt, in denen nationale Wettbewerbsregeln möglicherweise, in materieller Hinsicht, von den unionsrechtlichen Regeln abweichen.

49.

Was die nationale Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV angeht, dürfen die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen keinen strengeren Regeln unterwerfen als denjenigen, die auf Unionsebene gelten. Bei einseitigen Handlungen von Unternehmen dagegen steht es den Mitgliedstaaten frei, dies zu tun. Es besteht daher ein Unterschied im Hinblick auf den Spielraum, der für besondere nationale Regelungen zugelassen ist, je nachdem, ob das betreffende Verhalten unter Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV fällt.

50.

Ferner wird nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 noch größerer Spielraum für eine Differenzierung geschaffen, soweit es um nationale Gesetze auf dem Gebiet der Unternehmenszusammenschlüsse geht, und die Möglichkeit vorbehalten, Vorschriften des nationalen Rechts, die überwiegend ein von den Art. 101 und 102 AEUV abweichendes Ziel verfolgen, weiterhin anzuwenden. Für die letztgenannte Möglichkeit spricht auch der neunte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1/2003, wonach u. a. „die Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet innerstaatliche Rechtsvorschriften anwenden [dürfen], mit denen unlautere Handelspraktiken – unabhängig davon, ob diese einseitig ergriffen oder vertraglich vereinbart wurden – untersagt oder geahndet werden“.

51.

Systematisch betrachtet, umfasst das normative Zusammenspiel zwischen unionsrechtlichen Vorschriften und unter Art. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 fallenden innerstaatlichen Vorschriften also mindestens vier verschiedene Fallgestaltungen. Erstens besteht bei den unter Art. 101 AEUV fallenden Sachverhalten eine vollständige materiell-rechtliche Übereinstimmung. Insoweit können die Mitgliedstaaten keine strengeren Vorschriften erlassen. Zweitens gibt es eine recht weitgehende, aber nicht vollständige materiell-rechtliche Übereinstimmung bei unter Art. 102 AEUV fallenden Sachverhalten, für die die Mitgliedstaaten strengere Vorschriften erlassen können ( 33 ). Drittens ist die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen Gegenstand einer teilweisen Harmonisierung. Viertens, was vielleicht am wichtigsten ist, besteht ein gesonderter normativer Spielraum der Mitgliedstaaten, soweit es um innerstaatliche Vorschriften geht, die von den Art. 101 und 102 AEUV abweichende Ziele verfolgen, beispielsweise im Bereich der nationalen Regelung unlauterer Handelspraktiken.

52.

Durch Art. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 wird somit anerkannt, dass das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht nicht identisch sind, zumindest nicht in jeder Hinsicht ( 34 ). Dieser potenzielle Unterschied bezieht sich jedoch auf die normative Qualität des verfolgten Rechtsguts (oder Ziels). Er kann nicht lediglich in einem anderen räumlichen Anwendungsbereich bestehen.

53.

Mit anderen Worten ergibt sich meines Erachtens aus dem bloßen (quantitativen) Unterschied im räumlichen Umfang ein und derselben Zuwiderhandlung und somit der jeweiligen Regelung an sich kein (qualitativer) Unterschied im Hinblick auf das Rechtsgut ( 35 ). Während das Wettbewerbsrecht der Union für Sachverhalte gilt, in denen der Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt wird, findet das nationale Wettbewerbsrecht auf innerstaatliche Sachverhalte Anwendung. Meines Erachtens bezieht sich dieser Unterschied auf den räumlichen Umfang der Zuwiderhandlung, möglicherweise in Verbindung mit der Schwere des Eingriffs in das geschützte Rechtsgut, nicht jedoch notwendigerweise auf die unterschiedliche Qualität dieses geschützten Rechtsguts ( 36 ).

54.

Einfach ausgedrückt, wird eine in der Tschechischen Republik getroffene und durchgeführte Preisabsprache wahrscheinlich qualitativ dasselbe geschützte Rechtsgut beeinträchtigen, unabhängig davon, ob letztlich und unter dem Gesichtspunkt einer Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten lediglich die Art. 101 AEUV entsprechende Bestimmung des nationalen Rechts ( 37 ) oder Art. 101 AEUV in Verbindung mit dieser nationalen Bestimmung oder möglicherweise nur Art. 101 AEUV allein zur Anwendung kommt.

55.

Dieses zusammengesetzte Bild ergibt sich in der Tat aus der allgemeinen Regel, dass nationales Wettbewerbsrecht nur dann Anwendung findet, wenn das Unionsrecht keine besonderen Vorschriften vorsieht ( 38 ). Soweit beide Normkomplexe sich jedoch tatsächlich überschneiden, oder jedenfalls sobald sie beginnen, denselben Sachverhalt zu sanktionieren, ist die Frage, ob das geschützte Rechtsgut auf der Unions- und der nationalen Ebene jeweils dasselbe ist, in concreto anhand der konkreten Bestimmungen, die auf beiden Seiten auf denselben Sachverhalt angewendet werden, zu entscheiden.

56.

Wendet man diesen Ansatz auf die vorliegende Rechtssache an, muss eine nationale Wettbewerbsbehörde (oder ein nationales Gericht) dann, wenn sie ihr (bzw. es sein) nationales Recht auf ein Verhalten anwendet, das im Sinne von Art. 101 AEUV den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt, auch Art. 101 AEUV heranziehen. Mit anderen Worten: Wenn das jeweilige Verhalten auch unter Art. 101 AEUV fällt, müssen die nationalen Wettbewerbsbehörden oder Gerichte auch diese Bestimmung anwenden ( 39 ).

57.

Ferner kann, wie sich aus Art. 3 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1/2003 ergibt, das Ergebnis der Anwendung des nationalen Rechts auf einen unter Art. 101 AEUV fallenden Sachverhalt nicht anders ausfallen, als wenn Art. 101 AEUV allein zur Anwendung käme. Ungeachtet der Frage, worin dann in einer solchen Fallgestaltung der Mehrwert der parallelen Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts besteht ( 40 ), ist jedenfalls schwer vorstellbar, inwiefern die jeweiligen Ziele der betreffenden nationalen Regelung und des Art. 101 AEUV voneinander abweichen könnten. Darüber hinaus muss, wenn zwei nationale Wettbewerbsbehörden sodann dieselbe unionsrechtliche Bestimmung, nämlich Art. 101 AEUV, anwenden, in deren Rahmen ihnen ein Abweichen auf der nationalen Ebene verwehrt ist, das von beiden nationalen Wettbewerbsbehörden verfolgte konkrete geschützte Rechtsgut ebenfalls identisch sein.

58.

Kurz gesagt, sollte die zweite Vorabentscheidungsfrage dahin beantwortet werden, dass die Frage, ob das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht dasselbe Rechtsgut schützen, durch Prüfung der konkreten angewendeten Regelungen zu klären ist. Insoweit ist auch zu prüfen, ob die betreffenden nationalen Regelungen von denjenigen des Unionsrechts abweichen. Wenden die Wettbewerbsbehörden zweier Mitgliedstaaten Art. 101 AEUV und die entsprechende Bestimmung des nationalen Wettbewerbsrechts an, schützen sie dasselbe Rechtsgut.

3. Identität des einschlägigen Sachverhalts in zeitlicher und räumlicher Hinsicht

59.

Ich komme jetzt zur dritten Frage. Das vorlegende Gericht fragt, ob es relevant sei, dass das BKartA die Auswirkungen der in Rede stehenden Absprache in dem anderen Mitgliedstaat, also nach meinem Verständnis auf dem österreichischen Markt, berücksichtigt habe.

60.

Diese Frage ist zu bejahen.

61.

Wie Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Toshiba ausgeführt hat, „[sind] Kartelle … gerade deswegen verboten und werden verfolgt, weil sie sich wettbewerbsschädlich auswirken oder jedenfalls geeignet sind, den Wettbewerb nachteilig zu beeinflussen[ ( 41 )]. … Ob in einem Fall eine solche Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt war, lässt sich nicht abstrakt beurteilen, sondern muss stets mit Blick auf einen bestimmten Zeitraum und ein bestimmtes Gebiet … geprüft werden.“ ( 42 )

62.

Mit anderen Worten hängt die Frage, ob der Grundsatz ne bis in idem dem zweiten Verfahren entgegensteht, davon ab, wie der zeitliche und räumliche Bezug der in Rede stehenden Beschränkung zu definieren ist. Im Urteil Toshiba stimmte der Gerichtshof insoweit mit dem Generalanwalt darin überein und betonte, dass das Verhalten von Unternehmen, „mit dem eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt wurde, … sich … nicht abstrakt beurteilen [lässt]; vielmehr ist die Prüfung daran auszurichten, in welchem … Gebiet und in welchem Zeitraum mit dem entsprechenden Verhalten ein solcher Zweck verfolgt oder eine solche Wirkung entfaltet wurde.“ ( 43 ) Nach Auffassung des Gerichtshofs sind sowohl das Gebiet als auch der Zeitraum einschlägige Gesichtspunkte, die für die Identität des Sachverhalts prägend sind ( 44 ).

63.

In den folgenden Abschnitten der vorliegenden Schlussanträge werde ich auf dieser Grundlage kurz auf die Identität in zeitlicher und räumlicher Hinsicht im Ausgangsverfahren eingehen. Erstens kann ich aufgrund der in den Akten enthaltenen Angaben lediglich eine Annahme dazu aufstellen, ob das BKartA die Auswirkungen des verbotenen Verhaltens in Bezug auf den österreichischen Markt ebenfalls berücksichtigt hat (a). Zweitens werde ich auf die Frage eingehen, die am besten vom Gerichtshof behandelt werden kann, nämlich ob eine solche extraterritoriale Sanktion der Auswirkungen bestimmter Verhaltensweisen, die offenbar in einem anderen Mitgliedstaat stattgefunden haben, tatsächlich rechtlich möglich gewesen wäre (b).

a) Das vom BKartA in tatsächlicher Hinsicht berücksichtigte Gebiet

64.

Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge wird im Bescheid des BKartA der Inhalt des Telefongesprächs vom 22. Februar 2006 in Bezug auf Österreich wiedergegeben. Auf dasselbe Telefongespräch stützt sich zugleich auch die BWB in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsmittelverfahren.

65.

Es ist durchaus möglich, dass ein und dasselbe Telefongespräch mehrere geografische Märkte betreffen kann. Es gibt insoweit jedoch keine Klarheit darüber, ob das BKartA die Auswirkungen der in Rede stehenden Marktaufteilungsabsprache auf den österreichischen Markt tatsächlich berücksichtigt hat und was „Berücksichtigung von Auswirkungen“ in der vorliegenden Rechtssache tatsächlich bedeutet.

66.

Für das Entstehen des Schutzes durch den Grundsatz ne bis in idem reicht es nicht aus, dass ein bestimmtes Verhalten oder bestimmte Sachverhaltsangaben in einer Entscheidung an irgendeiner Stelle erwähnt und wiedergegeben werden. Der identische tatsächliche Umstand einschließlich der Einstufung und Bewertung seiner Wirkungen muss als rechtlich relevant angesehen werden. Waren in der vorliegenden Rechtssache solche tatsächlichen Umstände im Zusammenhang mit dem in Rede stehenden Telefongespräch für die Feststellung eines wettbewerbsrechtlichen Verstoßes durch das BKartA von Bedeutung? Ergibt sich aus der Entscheidung des BKartA, dass diese nationale Wettbewerbsbehörde die jeweiligen Unternehmen auch in Bezug auf den österreichischen Markt verfolgt und geahndet hat? Oder betrachtete das BKartA dieses Gespräch als Beweismittel für eine Zuwiderhandlung in Bezug auf den deutschen Markt? ( 45 )

67.

Ich würde davon ausgehen, dass eine Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde diese Art von Informationen enthalten sollte, und zwar unabhängig davon, ob diese sich schon auf die Definition des berücksichtigten relevanten Marktes bezieht oder, was noch wichtiger ist, auf die Feststellung, wo und wann die Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln ihrer Ansicht nach begangen wurde.

68.

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, diese Fragen, erforderlichenfalls in Zusammenarbeit mit dem BKartA, zu prüfen und über ihre Beantwortung zu entscheiden, um den tatsächlichen Umfang des Vorgehens dieser nationalen Wettbewerbsbehörde zu ermitteln. Diese Zusammenarbeit könne entweder mittelbar, mit Hilfe der BWB ( 46 ), oder unmittelbar erfolgen ( 47 ).

69.

Schließlich hat das BKartA, wie das vorlegende Gericht in seinem Vorlagebeschluss ausgeführt hat und von einigen Beteiligten hervorgehoben wurde, bei der Berechnung des Gesamtbetrags der Geldbuße nur den Umsatz der betreffenden Unternehmen im deutschen Hoheitsgebiet berücksichtigt. Der Gerichtshof hat tatsächlich im Urteil Toshiba, im ähnlichen Kontext der Berechnung der Geldbußen durch die Kommission, festgestellt, dass dieser Gesichtspunkt von Bedeutung sein kann ( 48 ).

70.

Ein solcher Gesichtspunkt mag zwar tatsächlich ein hilfreicher mittelbarer Anhaltspunkt sein, kann jedoch für sich genommen kaum als ausschlaggebend betrachtet werden. Zum einen setzt er ein gewisses Maß an Rückschluss-Denken voraus. Umgekehrte Kausalität funktioniert indes vielleicht nicht immer: Dass eine Behörde die Geldbuße konkret auf die eine und nicht auf die andere Art und Weise berechnet hat, kann auch Gründe haben, die mit dem beabsichtigten Umfang der Entscheidung nichts zu tun haben. Zum anderen gibt es mittlerweile eine gewisse übereinstimmende Praxis der nationalen Wettbewerbsbehörden bei der Berechnung von Geldbußen ( 49 ). Diese Praxis ist jedoch nicht vollständig harmonisiert und wird zwangsläufig zum Teil von verschiedenen nationalen Gesetzen und Praktiken bestimmt.

71.

Zusammenfassend ist die Klärung des räumlichen (und möglicherweise zeitlichen) Umfangs der Entscheidung des BKartA eine Tatsachenfrage, die Sache des nationalen Gerichts ist. Die vorgelagerte Frage, die eher für eine Beurteilung durch den Gerichtshof geeignet ist, ist jedoch, ob eine nationale Wettbewerbsbehörde rechtlich befugt ist, extraterritoriale Auswirkungen einer bestimmten Zuwiderhandlung zu ahnden.

b) Das Gebiet, das von einer nationalen Wettbewerbsbehörde in rechtlicher Hinsicht berücksichtigt werden darf

72.

Hätte das BKartA unabhängig davon, was es in tatsächlicher Hinsicht getan hat, die Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln auf dem österreichischen Markt beachten und ebenfalls mit Sanktionen belegen können? Die Parteien des vorliegenden Verfahrens sind hierüber unterschiedlicher Ansicht.

73.

Nach Ansicht von Agrana können die Entscheidungen einer nationalen Wettbewerbsbehörde, die Art. 101 AEUV anwendet, nicht auf die Auswirkungen auf das eigene Hoheitsgebiet beschränkt werden. Wendeten die nationalen Wettbewerbsbehörden Art. 101 AEUV an, müssten sie alle Aspekte der in Rede stehenden Wettbewerbsbeschränkung im Binnenmarkt prüfen.

74.

Nach Ansicht der BWB ist die Sanktionsbefugnis einer nationalen Wettbewerbsbehörde dagegen durch das Territorialitätsprinzip auf das nationale Hoheitsgebiet begrenzt. Die BWB habe dementsprechend gehandelt und die gegen Südzucker zu verhängende Geldbuße anhand des Umsatzes auf dem österreichischen Markt berechnet. Das Territorialitätsprinzip schließe damit die Möglichkeit eines Verstoßes gegen den Grundsatz ne bis in idem aus, weil der geografische Umfang der geahndeten Verhaltensweisen immer voneinander abweiche. Die deutsche Regierung ist ähnlicher Ansicht. Eine nationale Wettbewerbsbehörde könne eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht nur in Bezug auf ihr eigenes Hoheitsgebiet ahnden, was sich auch darin zeige, dass die Geldbuße anhand des Umsatzes des Unternehmens im jeweiligen Mitgliedstaat berechnet werde.

75.

Nach Ansicht der belgischen Regierung muss eine nationale Wettbewerbsbehörde, wenn sie Art. 101 AEUV anwende, so vorgehen, wie die Kommission vorgehen würde, d. h., alle Auswirkungen der fraglichen Beschränkung auf den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts berücksichtigen. Dies gelte jedoch mit zwei Einschränkungen. Erstens könnten das Verfassungsrecht und die Verfassungsüberlieferungen des Mitgliedstaats einer nationalen Wettbewerbsbehörde die Ahndung extraterritorialer Auswirkungen verbieten. Zweitens sei eine Ahndung extraterritorialer Auswirkungen jedenfalls nur mit Zustimmung der nationalen Wettbewerbsbehörde, deren Hoheitsgebiet betroffen sei, möglich.

76.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Strafverfolgung und die Verhängung von Strafen herkömmlicherweise dem Territorialitätsprinzip unterliegen. Natürlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Staat versucht, „über seine Grenzen hinauszugehen“ und ein Verhalten zu ahnden, das andernorts stattgefunden hat. Dies mag der Fall sein, wenn in bestimmten Fällen besondere Zuständigkeiten gelten, sei es für bestimmte Arten von Personen (nämlich eigene Staatsbürger) oder für bestimmte Arten von Straftaten (nämlich solche, die sich unabhängig vom Ort ihrer Begehung entweder gegen Interessen dieses Staates richten, oder für bestimmte Arten furchtbarer Verbrechen, die einer universellen Gerichtsbarkeit unterliegen, usw.).

77.

Maßgebend in allen diesen Fällen einer tatsächlichen Extraterritorialität ist letztlich jedoch, dass sie einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage bedürfen, sei es im nationalen Recht, im Völkerrecht oder im Unionsrecht. Ein bemerkenswertes und aktuelleres Beispiel für eine solche extraterritoriale Ermächtigung im Unionsrecht ist die Zuständigkeit der federführenden Aufsichtsbehörde im Rahmen des One-Stop-Shop-Mechanismus der Verordnung (EU) 2016/679 (im Folgenden: DSGVO) für die Ermittlung und gegebenenfalls die Ahndung der von einem Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter durchgeführten grenzüberschreitenden Verarbeitung in ihrer Gesamtheit innerhalb der Europäischen Union ( 50 ). Auch wenn es sehr fernliegend wäre, zu behaupten, dass die genauen Grenzen der Zuständigkeit im Rahmen dieser Regelung unstreitig seien ( 51 ), ist indes unstreitig, dass es sowohl eine materiell-rechtliche Vorschrift in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung als auch eine ausdrückliche Zuständigkeitsklausel, die eine bestimmte Aufsichtsbehörde zu einem extraterritorialen Vorgehen bei der Anwendung dieser materiell-rechtlichen Regelungen ermächtigt, gibt.

78.

Welchen konzeptionellen Standpunkt nimmt die Verordnung Nr. 1/2003 insoweit ein? Er ist zugestandenermaßen nicht ganz leicht zu erfassen.

79.

Zum einen gibt es klare Anhaltspunkte dafür, dass eine grenzüberschreitende Dimension in Betracht gezogen wurde. Erstens entsteht die Pflicht der nationalen Behörden zur Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV dann, wenn der Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt werden kann. Damit könnte einer nationalen Wettbewerbsbehörde auch die ihr eigene Befugnis entstehen, die extraterritorialen Auswirkungen einer bestimmten Zuwiderhandlung zu verfolgen und zu ahnden.

80.

Zweitens dürfte hierfür auch Art. 13 der Verordnung Nr. 1/2003 sprechen. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung kann eine nationale Wettbewerbsbehörde das Verfahren aussetzen oder die Beschwerde zurückweisen, wenn eine andere Behörde mit derselben Vereinbarung, demselben Beschluss oder derselben Verhaltensweise befasst ist ( 52 ). Ebenso kann nach Abs. 2 dieser Bestimmung eine nationale Wettbewerbsbehörde eine Beschwerde abweisen, wenn sie mit einer Beschwerde gegen eine Vereinbarung, einen Beschluss oder eine Verhaltensweise befasst ist, die bereits von einer anderen Wettbewerbsbehörde behandelt worden ist ( 53 ).

81.

Drittens wird das Verständnis, dass das Vorgehen einer nationalen Wettbewerbsbehörde extraterritoriale Dimensionen haben kann, offenbar auch durch die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit bestätigt. Diese Bekanntmachung führt zu Art. 13 aus, dass „mit einer Beschwerde befasst sein“ im Sinne dieser Bestimmung „[nicht nur bedeutet,] dass eine Beschwerde bei einer anderen Behörde eingereicht wurde. Es bedeutet vielmehr, dass die andere Behörde in dem Fall ein eigenes Verfahren durchführt oder durchgeführt hat.“ ( 54 ) Nach dieser Bekanntmachung ist ferner „eine Berufung auf Artikel 13 der Ratsverordnung möglich …, wenn die Vereinbarung oder Verhaltensweise dieselbe(n) Zuwiderhandlung(en) auf den gleichen sachlich und räumlich relevanten Märkten betrifft“ ( 55 ).

82.

Weiterhin konkretisiert diese Bekanntmachung den Begriff einer „gut geeigneten Behörde“ im Sinne der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit für eine bestimmte Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht ( 56 ). Wenn die Zuständigkeit einer nationalen Wettbewerbsbehörde stets auf das nationale Hoheitsgebiet begrenzt ist, hat der Begriff einer „gut geeigneten Behörde“ nur dann einen Sinn, wenn man anerkennt, dass bestimmte Teile einer Zuwiderhandlung wegen der territorialen Grenzen der Zuständigkeit der jeweiligen „gut geeigneten Behörde“ möglicherweise ungeahndet bleiben. Wird hingegen anerkannt, dass der wirksame Schutz des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts die Untersuchung eines bestimmten wettbewerbswidrigen Verhaltens durch eine einzige gut geeignete nationale Wettbewerbsbehörde allein erforderlich machen kann, müsste diese nationale Wettbewerbsbehörde tatsächlich in der Lage sein, dieses Verhalten in seiner Gesamtheit zu untersuchen, damit nicht ein Teil davon ungeahndet bleibt.

83.

Dessen ungeachtet kann die Bekanntmachung über die Zusammenarbeit kaum als rechtsverbindlicher Unionsrechtsakt angesehen werden, und es lässt sich vertreten, dass das, was unter der Möglichkeit einer „Aussetzung oder Zurückweisung“ der Beschwerde nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 zu verstehen ist, nicht ganz eindeutig ist. In seiner Gesamtheit betrachtet, ist Art. 13 jedoch zu entnehmen, dass es räumliche Überschneidungen geben kann. Wären die Befugnisse jeder einzelnen nationalen Wettbewerbsbehörde streng auf das nationale Hoheitsgebiet begrenzt, würde sich die Frage stellen, welchen Nutzen eine Aussetzung oder Beschwerdezurückweisung im Fall eines bei einer anderen nationalen Wettbewerbsbehörde anhängigen Verfahrens wegen desselben Verhaltens haben sollte. Natürlich gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher, aber ähnlicher Sachverhalte, bei denen eine Aussetzung angemessen sein mag, aber die „Zurückweisung“ dürfte nur dann sinnvoll sein, wenn beide nationalen Wettbewerbsbehörden mit demselben Sachverhalt, einschließlich desselben räumlichen Umfangs, befasst wurden.

84.

Zum anderen ist sicherlich zuzugestehen, dass dies alles lediglich „mittelbare Hinweise“ darauf sind, dass bei der Gestaltung der Verordnung Nr. 1/2003 eine Extraterritorialität in Betracht gezogen wurde. Darüber hinaus stimme ich jedoch mit der deutschen Regierung darin überein, dass eine Schlüsselbestimmung, die tatsächlich eine extraterritoriale Zuständigkeit für Verfahren der nationalen Wettbewerbsbehörden vorsieht, in der Verordnung Nr. 1/2003 fehlt. Wie von der vorgenannten Regierung treffend vorgetragen, enthält Art. 5 („Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1/2003, wo eine entsprechende Ermächtigungsbestimmung normalerweise zu erwarten gewesen wäre, hierzu überhaupt nichts. Er stellt daher keine hinreichende Rechtsgrundlage dar, auf deren Grundlage eine nationale Wettbewerbsbehörde eine extraterritoriale Entscheidung erlassen könnte, soweit eine solche Grundlage im nationalen Recht nicht vorgesehen ist. Auch die belgische Regierung vertritt diese Ansicht.

85.

Ich stimme mit den vorgenannten Regierungen darin überein, dass eine extraterritoriale Ausübung der Befugnisse einer nationalen Wettbewerbsbehörde eine angemessene Rechtsgrundlage voraussetzt, die sich nach dem derzeitigen Stand des Unionsrechts nur aus der nationalen Rechtsordnung ergeben kann. Hingewiesen sei kurz noch darauf, dass die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass es eine solche Rechtsgrundlage auch im deutschen Recht nicht gebe.

86.

Betonen möchte ich, dass diese Ansicht mit dem Wortlaut von Art. 101 AEUV voll in Einklang steht, der als eine der Voraussetzungen für seine Anwendung u. a. aufführt, dass der Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt sein kann. Meines Erachtens kann Art. 101 AEUV, der im Wesentlichen eine materiell-rechtliche Vorschrift ist, jedoch unmöglich dahin ausgelegt werden, dass er als Ermächtigungsbestimmung anzusehen wäre, die jeder einzelnen nationalen Wettbewerbsbehörde die Befugnis verliehe, jedes wettbewerbswidrige Verhalten überall in der Europäischen Union zu verfolgen und zu ahnden ( 57 ).

87.

Daher schlage ich vor, die dritte Frage dahin zu beantworten, dass der Umstand, dass eine nationale Wettbewerbsbehörde extraterritoriale Auswirkungen eines bestimmten wettbewerbswidrigen Verhaltens in einer früheren Entscheidung berücksichtigt hat, sofern sie hierzu nach nationalem Recht berechtigt war, für die Prüfung der Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem im Rahmen des später durchgeführten Verfahrens relevant ist. Es ist einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder einem Gericht durch Art. 50 der Charta verwehrt, ein wettbewerbswidriges Verhalten zu ahnden, das bereits Gegenstand eines früheren, durch eine rechtskräftige Entscheidung einer anderen nationalen Wettbewerbsbehörde abgeschlossenen Verfahrens war. Dieses Verbot gilt jedoch nur insoweit, als der zeitliche und geografische Umfang des Gegenstands beider Verfahren derselbe ist.

C.   Der Grundsatz ne bis in idem in einem Verfahren, in dem es zur Anwendung der Kronzeugenregelung gekommen ist

88.

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz ne bis in idem in Verfahren zur Anwendung kommt, in denen es zur Anwendung der Kronzeugenregelung gekommen ist und in denen daher keine Geldbuße verhängt wird.

89.

Meines Erachtens ist diese Frage zu bejahen.

90.

Erstens schützt, auf der konzeptionellen Ebene, wie die italienische Regierung zu Recht vorträgt, der Grundsatz ne bis in idem nicht nur vor der Verhängung einer zweiten Geldbuße in derselben Sache, sondern auch vor einer zweiten Verfolgung ( 58 ). Die Einleitung eines zweiten Verfahrens in derselben Sache an sich stellt meines Erachtens einen Verstoß gegen die in Art. 50 der Charta verankerte Garantie dar. Aus den in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache bpost im Einzelnen dargelegten Gründen ( 59 ) stimme ich insoweit auch nicht mit dem Standpunkt überein, den der Gerichtshof hierzu in der Menci-Rechtsprechung eingenommen hat ( 60 ).

91.

Zweitens betrifft die vierte Frage eine Situation, in der eine nationale Wettbewerbsbehörde ein Verfahren betreibt, in dem ein Unternehmen eine Kronzeugenregelung in Anspruch nehmen will. Durch ein solches Programm können Unternehmen, die sich dafür entschieden haben, bei der Untersuchung von Zuwiderhandlungen gegen Art. 101 AEUV mit der jeweiligen Wettbewerbsbehörde zusammenzuarbeiten, begünstigend behandelt werden ( 61 ).

92.

Der Erlass oder die Ermäßigung einer Geldbuße ist jedoch keineswegs automatisch gewährleistet. Dies hängt von einer Reihe von Voraussetzungen ab, die durch das gemeinsame Merkmal des „Mehrwerts“ der Mitwirkung des Unternehmens für die Aufdeckung und Ahndung der verbotenen Absprache verbunden sind ( 62 ). Je nach den Umständen kann einer Person, die einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt hat, ein vollständiger oder teilweiser Erlass gewährt werden (oder nicht), derweil ihre Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht festgestellt wird ( 63 ). Ein Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung wird somit zwar Änderungen für die Durchführung oder den Ausgang des nationalen Verfahrens mit sich bringen, maßgebend bleibt aber, dass es sich um ein eigenständiges Verfahren handelt, das die Teilnahme aller betreffenden Unternehmen, einschließlich des Antragstellers, erfordert.

93.

Drittens führt das Verfahren selbst bei einem für das von der Kronzeugenregelung betroffene Unternehmen uneingeschränkt günstigen Verlauf und der abschließenden Gewährung des vollen Erlasses der Geldbuße immer noch zu einer Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht durch den Kronzeugenantragsteller. Nach meinem Verständnis gibt es daher metaphorisch gesprochen immer noch so etwas wie einen „Schuldspruch“ nach nationalem Recht. Eine solche Feststellung kann für das/die betreffende/n Unternehmen möglicherweise in der Zukunft von durchaus erheblicher Bedeutung sein. Sollte dieses Unternehmen in Zukunft erneut für einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht verantwortlich gemacht werden, würden seine frühere Verurteilung und sein „Rückfall“ wahrscheinlich automatisch zu einer Erhöhung der Geldbuße führen. Zugleich ist nicht auszuschließen, dass eine verbindliche Feststellung eines Rechtsverstoßes seitens dieses Unternehmens durch die zuständige Behörde oder ein Gericht, die der Öffentlichkeit wahrscheinlich zugänglich sein wird ( 64 ), von privaten Parteien als Grundlage für Schadensersatzforderungen wegen des durch das jeweilige wettbewerbswidrige Verhalten entstandenen Schadens geltend gemacht werden könnte ( 65 ).

94.

Kurz gesagt, sehe ich grundsätzlich keinen Grund, weshalb Anwendbarkeit und Anwendungsbereich des Grundsatzes ne bis in idem je nachdem unterschiedlich beurteilt werden sollten, ob es in dem in Rede stehenden wettbewerbsrechtlichen Verfahren zur Anwendung der Kronzeugenregelung kam, selbst wenn dies letztlich zum vollständigen Erlass einer Geldbuße führt. Vor diesem Hintergrund stimme ich also mit dem eher indizienbezogenen Vorbringen der Kommission nicht überein, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem davon abhängen sollte, ob noch eine Möglichkeit bestehe, dass Nordzucker ihre Stellung als Kronzeugin verliere und somit doch noch eine Geldbuße verhängt werden könne.

95.

Ich schlage daher vor, die vierte Vorabentscheidungsfrage dahin zu beantworten, dass der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem auch im Rahmen eines nationalen Verfahrens gilt, in dem es zur Anwendung der Kronzeugenregelung kommt und in dem keine Geldbuße verhängt wird.

V. Ergebnis

96.

Ich schlage dem Gerichtshof vor, die vom Obersten Gerichtshof (Österreich) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.

Die Anwendbarkeit des in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatzes ne bis in idem hängt von der Prüfung des idem ab, das durch Identität des Zuwiderhandelnden, des einschlägigen Sachverhalts und des geschützten Rechtsguts definiert wird.

2.

Ob das Wettbewerbsrecht der Union und das nationale Wettbewerbsrecht dasselbe Rechtsgut schützen, ist durch Prüfung der konkreten angewendeten Regelungen zu klären. Insoweit ist auch zu prüfen, ob die betreffenden nationalen Regelungen von denjenigen des Unionsrechts abweichen. Wenden die Wettbewerbsbehörden zweier Mitgliedstaaten Art. 101 AEUV und die entsprechende Bestimmung des nationalen Wettbewerbsrechts an, schützen sie dasselbe Rechtsgut.

3.

Der Umstand, dass eine nationale Wettbewerbsbehörde extraterritoriale Auswirkungen eines bestimmten wettbewerbswidrigen Verhaltens in einer früheren Entscheidung berücksichtigt hat, sofern sie hierzu nach nationalem Recht berechtigt war, ist für die Prüfung der Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem im Rahmen des später durchgeführten Verfahrens relevant. Es ist einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder einem Gericht durch Art. 50 der Charta verwehrt, ein wettbewerbswidriges Verhalten zu ahnden, das bereits Gegenstand eines früheren, durch eine rechtskräftige Entscheidung einer anderen nationalen Wettbewerbsbehörde abgeschlossenen Verfahrens war. Dieses Verbot gilt jedoch nur insoweit, als der zeitliche und geografische Umfang des Gegenstands beider Verfahren derselbe ist.

4.

Der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem gilt auch im Rahmen eines nationalen Verfahrens, in dem es zur Anwendung der Kronzeugenregelung kommt und in dem keine Geldbuße verhängt wird.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Rechtssache bpost (C‑117/20).

( 3 ) Was der Gerichtshof möglicherweise in der Vergangenheit im Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72), bereits in eingehendster Weise getan hat.

( 4 ) Verordnung des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1).

( 5 ) Zuletzt z. B. Urteil vom 29. April 2021, Ubezpieczeniowy Fundusz Gwarancyjny z siedzibą (C‑383/19, EU:C:2021:337, Rn. 29 und 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 6 ) Vgl. insbesondere Urteile vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission (C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 338), vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 97), sowie vom 25. Februar 2021, Slovak Telekom (C‑857/19, EU:C:2021:139, Rn. 43).

( 7 ) Urteil vom 13. Februar 1969 (14/68, EU:C:1969:4).

( 8 ) Ebd. (Rn. 3).

( 9 ) Urteile vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission (C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 338), und vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 97). Vgl. auch Urteil des Gerichts vom 26. Oktober 2017, Marine Harvest/Kommission (T‑704/14, EU:T:2017:753, Rn. 308).

( 10 ) Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 11 ) Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2011:552, Nrn. 114 bis 122), des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache Powszechny Zakład Ubezpieczeń na Życie (C‑617/17, EU:C:2018:976, Nr. 45), und des Generalanwalts Tanchev in der Rechtssache Marine Harvest (C‑10/18 P, EU:C:2019:795, Nr. 95, Fn. 34).

( 12 ) Urteil vom 25. Februar 2021, Slovak Telekom (C‑857/19, EU:C:2021:139, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 13 ) ABl. 2000, L 239, S. 19.

( 14 ) Urteile vom 9. März 2006, van Esbroeck (C‑436/04, EU:C:2006:165, Rn. 36), vom 28. September 2006, Gasparini u. a. (C‑467/04, EU:C:2006:610, Rn. 54), vom 28. September 2006, van Straaten (C‑150/05, EU:C:2006:614, Rn. 48), vom 18. Juli 2007, Kraaijenbrink (C‑367/05, EU:C:2007:444, Rn. 26), vom 16. November 2010, Mantello (C‑261/09, EU:C:2010:683, Rn. 39), vom 29. April 2021, X (Europäischer Haftbefehl – Ne bis in idem) (C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung), wobei in der letztgenannten Rechtssache eine vorherige Verurteilung durch einen Drittstaat vorlag.

( 15 ) Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 34). Hervorhebung nur hier.

( 16 ) Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 35). Hervorhebung nur hier. Vgl. jedoch auch Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 27), wo wieder auf dieselbe Tat abgestellt wird.

( 17 ) Ergänzt sei, dass die synonyme Verwendung der Begriffe des (einschlägigen) Sachverhalts und der (einschlägigen) Tat möglicherweise zum Teil auch zu der Verunsicherung darüber beigetragen hat, welche Art von Identität und in welchem Umfang diese gegeben sein muss. Bei einer engen Auslegung und in bestimmten Zusammenhängen könnte der Begriff „Tat“ (in der englischen Originalfassung der Schlussanträge: „act“, AdÜ) nämlich mit dem Begriff „Sachverhalt“ (in der englischen Originalfassung der Schlussanträge: „facts“, AdÜ) gleichgestellt werden. In einigen Sprachen, und jedenfalls bei abstrakter Verwendung, ist der Begriff der (Straf‑)Tat jedoch weiter als ihre bloßen tatsächlichen Umstände. Er beinhaltet nicht nur „das, was sich ereignet hat“, sondern auch die rechtliche Bewertung und Einstufung dessen, was sich ereignet hat, was wiederum wahrscheinlich für das geschützte Rechtsgut von Bedeutung sein wird, jedenfalls mittelbar, indem die schädlichen sozialen Auswirkungen des in Rede stehenden Verhaltens definiert werden.

( 18 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1).

( 19 ) Rechtssache bpost (C‑117/20, Nrn. 101 bis 117).

( 20 ) Gestützt auf die ebenfalls dort in den Nrn. 119 bis 122 angeführten Grundsätze.

( 21 ) Der Gerichtshof hat (unmittelbar oder mittelbar) auf die im Urteil Wilhem u. a. getroffene Feststellung zum Unterschied zwischen den nationalen und den gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften verwiesen, z. B. in den Urteilen vom 10. Juli 1980, Giry und Guerlain u. a. (253/78 und 1/79 bis 3/79, EU:C:1980:188, Rn. 15), vom 16. Juli 1992, Asociación Española de Banca Privada u. a. (C‑67/91, EU:C:1992:330, Rn. 11), vom 26. November 1998, Bronner (C‑7/97, EU:C:1998:569, Rn. 19), vom 9. September 2003, Milk Marque und National Farmers’ Union (C‑137/00, EU:C:2003:429, Rn. 61), vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a. (C‑295/04 bis C‑298/04, EU:C:2006:461, Rn. 38), oder vom 1. Oktober 2009, Compañía Española de Comercialización de Aceite (C‑505/07, EU:C:2009:591, Rn. 50).

( 22 ) Vgl. z. B. Urteil vom 10. Juli 1980, Giry und Guerlain u. a. (253/78 und 1/79 bis 3/79, EU:C:1980:188, Rn. 15), vom 9. September 2003, Milk Marque und National Farmers’ Union (C‑137/00, EU:C:2003:429, Rn. 61), oder vom 1. Oktober 2009, Compañía Española de Comercialización de Aceite (C‑505/07, EU:C:2009:591, Rn. 50).

( 23 ) Urteil vom 3. April 2019 (C‑617/17, EU:C:2019:283).

( 24 ) Auch wenn nicht alle Beteiligten der beiden nationalen Verfahren identisch sind, ist insbesondere im Hinblick auf Nordzucker und Südzucker die Identität des/der Zuwiderhandelnden eindeutig gegeben.

( 25 ) Im Einzelnen weiter veranschaulichend Nrn. 136 bis 141 sowie 142 bis 151 meiner Schlussanträge in der Rechtssache bpost.

( 26 ) Der Gerichtshof verwendete, genauer gesagt, den Wortlaut: „Kartellrecht der Gemeinschaft und das staatliche Kartellrecht“, Urteil vom 13. Februar 1969, Wilhelm u. a. (14/68, EU:C:1969:4, Rn. 3).

( 27 ) Was teilweise schon nach der Verordnung Nr. 17 für die Art. 85 und 86 EG der Fall war, vgl. Verordnung Nr. 17, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204).

( 28 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts (ABl. 2019, L 11, S. 3).

( 29 ) Wie der Überschrift der betreffenden Kapitel der Richtlinie 2019/1 zu entnehmen ist, handelt es sich bei diesen Bereichen um die Unabhängigkeit und Ressourcen der nationalen Wettbewerbsbehörden, Befugnisse zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben, Festsetzung von Geldbußen, Kronzeugenprogramme, Amtshilfe und Verjährungsfristen.

( 30 ) Urteil vom 13. Februar 1969, Wilhelm u. a. (14/68, EU:C:1969:4, Rn. 3). Hervorhebung nur hier.

( 31 ) Vgl. z. B. Urteil vom 10. Juli 1980, Giry und Guerlain u. a. (253/78 und 1/79 bis 3/79, EU:C:1980:188, Rn. 15).

( 32 ) Im Rahmen der dem Erlass der Verordnung Nr. 1/2003 vorangegangenen Vorarbeiten stellte die Kommission fest, dass viele (der damals 15) Mitgliedstaaten nationale Wettbewerbsgesetze erlassen hätten, die den Inhalt der Art. 81 und 82 EG aufgriffen. Gleichzeitig räumte sie ein, dass es keine förmliche Harmonisierung gebe und Abweichungen sowohl im Recht als auch in der Anwendungspraxis beständen. Vgl. Punkt 1, A, „Hintergrund“, dritter Absatz, und Punkt 2, C, 2, a, zweiter Absatz, der Begründung des Vorschlags für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 1017/68, (EWG) Nr. 2988/74, (EWG) Nr. 4056/86 und (EWG) Nr. 3975/87 („Durchführungsverordnung zu den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag“), KOM(2000) 582 endg. (ABl. 2000, C 365E, S. 284).

( 33 ) Zum Begriff der „strengeren innerstaatlichen Vorschriften“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 vgl. z. B. Feteira, L. T., The Interplay Between European and National Competition Law after Regulation 1/2003: United (Should) We Stand?, Wolters Kluwer Law International, 2015, S. 62 bis 67.

( 34 ) Dies mag als Grund dafür anzusehen sein, dass Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Toshiba Corporation u. a. im Wesentlichen zu dem Schluss kam, dass die Ausgangsfeststellung im Urteil Walt Wilhem weiter Geltung habe (C‑17/10, EU:C:2011:552, Nr. 81).

( 35 ) Vgl. auch Nazzini, R., „Parallel Proceedings in EU Competition Law: Ne bis in idem as a Limiting Principle“, van Bockel, B. (Hrsg.), Ne Bis in Idem in EU Law, Cambridge University Press, Cambridge, 2016, S. 159.

( 36 ) Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer vertrat die Ansicht, dass „[d]as Kriterium der territorialen Ausdehnung des wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens … nicht wesentlich, sondern beiläufig [ist], weil es nicht die Natur der Zuwiderhandlung, sondern nur ihre Intensität berührt“. Er widersprach dem Urteil Wilhelm u. a. und führte dagegen an, dass „[i]m System der Sicherstellung des freien Wettbewerbs … in der Europäischen Union nicht von unterschiedlichen Zielen, dem gemeinschaftlichen und den nationalen, die Rede sein [kann], als ob es sich um hermetisch abgeschlossene Abteilungen handele. Beide Bereiche orientieren sich am Schutz eines freien und offenen Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt: Der eine erfasst ihn in seiner Gesamtheit, der andere aus der Sicht seiner einzelnen Bestandteile, der Kerngehalt aber ist derselbe.“ Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in den Rechtssachen Aalborg Portland u. a./Kommission (C‑217/00 P, EU:C:2003:83, Nrn. 176, 173 und Fn. 121) und Aalborg Portland u. a./Kommission (C‑213/00 P, EU:C:2003:84, Nrn. 94, 91 und Fn 71).

( 37 ) Gegenwärtig § 3 zákon č. 143/2001 Sb., o ochraně hospodářské soutěže (Gesetz zum Schutze des Wettbewerbs) in geänderter Fassung.

( 38 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Mai 2011, Tele2 Polska (C‑375/09, EU:C:2011:270, Rn. 33). Vgl. auch Urteile vom 5. Juni 2014, Kone u. a. (C‑557/12, EU:C:2014:1317, Rn. 32), und vom 7. Dezember 2010, VEBIC (C‑439/08, EU:C:2010:739, Rn. 56 und 57), wonach das nationale Recht „die volle Wirksamkeit des Wettbewerbsrechts der Union“ sicherstellen bzw. die wirksame Anwendung dieses Rechts durch die nationalen Wettbewerbsbehörden, die den Zweck der Verordnung Nr. 1/2003 darstellt, nicht beeinträchtigen darf.

( 39 ) Insoweit wird im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2019/1 festgestellt, dass „[i]n der Praxis … die meisten nationalen Wettbewerbsbehörden das nationale Wettbewerbsrecht parallel zu den Bestimmungen der Artikel 101 und 102 AEUV an[wenden]“.

( 40 ) Was mir zugestandenermaßen unklar bleibt. Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission für die Verordnung Nr. 1/2003 sah im Entwurf von Art. 3 eine etwas einleuchtendere Regel dahin vor, dass „[b]ei Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Sinne von Artikel 81 EG-Vertrag und bei Fällen der missbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung im Sinne von Artikel 82, die geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, … allein das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft unter Ausschluss des Wettbewerbsrechts der Mitgliedstaaten anwendbar [ist]“. Hervorhebung nur hier. Vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 1017/68, (EWG) Nr. 2988/74, (EWG) Nr. 4056/86 und (EWG) Nr. 3975/87 („Durchführungsverordnung zu den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag“), KOM(2000) 582 endg. (ABl. 2000, C 365E, S. 284).

( 41 ) Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2011:552, Nr. 128).

( 42 ) Ebd. (Nr. 129).

( 43 ) Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 99). Hervorhebung nur hier.

( 44 ) Ebd. (Rn. 99). Vgl. auch Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2011:552, Nr. 130).

( 45 ) Der Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache in seiner Darstellung durch das vorlegende Gericht (siehe oben, Nr. 11) könnte ebenso dahin verstanden werden, dass das Telefongespräch in Bezug auf den österreichischen Markt als Indiz für die rechtswidrige Beschränkung des Wettbewerbs auf dem deutschen Markt im maßgeblichen Zeitraum „berücksichtigt“ worden sein könnte.

( 46 ) Nach Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 ist eine nationale Wettbewerbsbehörde sicherlich befugt, auch eine rechtskräftige Entscheidung einer anderen nationalen Wettbewerbsbehörde, einschließlich möglicherweise vertraulicher Bestandteile, anzufordern.

( 47 ) Es gibt in der Tat zwar keine konkrete Bestimmung in der Verordnung Nr. 1/2003, die ein nationales Gericht dazu befugt, eine Kopie einer rechtskräftigen Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats anzufordern. Meines Erachtens wäre es jedoch durchaus gerechtfertigt, dass ein nationales Gericht zur Anforderung einer solchen rechtskräftigen Entscheidung entweder nach Art. 12 Abs. 1 oder Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 in entsprechender Anwendung oder unmittelbar nach Art. 4 Abs. 3 EUV befugt ist.

( 48 ) Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 101).

( 49 ) Mehrere nationale Wettbewerbsbehörden sind in der Vergangenheit in der Tat schon den hierzu herausgegebenen Leitlinien der Kommission gefolgt. Außerdem werden mehrere Aspekte der Verhängung von Geldbußen durch die Richtlinie 2019/1 in ihrem Kapitel V harmonisiert; diese Richtlinie ist im Ausgangsverfahren jedoch zeitlich nicht anwendbar.

( 50 ) Art. 56 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1).

( 51 ) Wie das Urteil vom 15. Juni 2021, Facebook Ireland u. a. (C‑645/19, EU:C:2021:483), gezeigt hat.

( 52 ) Hervorhebung nur hier. Auch wenn nach dieser Bestimmung „der Umstand, dass eine Behörde den Fall bereits bearbeitet, für die übrigen Behörden einen hinreichenden Grund dar[stellt], ihr Verfahren auszusetzen oder die Beschwerde zurückzuweisen“, ist eine nationale Wettbewerbsbehörde nach der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit zu einer Aussetzung des Verfahrens oder einer Zurückweisung der Beschwerde nicht verpflichtet. Denn Flexibilität ist für die Zusammenarbeit nach der Verordnung Nr. 1/2003 prägend. Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden (ABl. 2004, C 101, S. 43, Nr. 22) (Bekanntmachung über die Zusammenarbeit).

( 53 ) Hervorhebung nur hier.

( 54 ) Ebd. (Nr. 20).

( 55 ) Ebd. (Nr. 21).

( 56 ) Eine nationale Wettbewerbsbehörde kann als solche angesehen werden, wenn erstens die Vereinbarung oder Verhaltensweise wesentliche unmittelbare tatsächliche oder absehbare Auswirkungen auf den Wettbewerb innerhalb des Hoheitsgebiets dieser Behörde hat, in deren Hoheitsgebiet umgesetzt wird oder in deren Hoheitsgebiet ihren Ursprung hat, zweitens die Behörde die gesamte Zuwiderhandlung wirksam beenden kann und drittens, gegebenenfalls mit Unterstützung anderer Behörden, die zum Nachweis der Zuwiderhandlung erforderlichen Beweise erheben kann. Ebd. (Nr. 8).

( 57 ) In Anbetracht dieser Erwägungen kann rückblickend die Klarheit der ursprünglichen Kommissionsfassung hierzu (siehe oben, Fn. 40) nur als vorbildlich hervorgehoben und bedauert werden, dass sie nicht beibehalten wurde.

( 58 ) Vgl. z. B. Urteil vom 3. April 2019, Powszechny Zakład Ubezpieczeń na Życie (C‑617/17, EU:C:2019:283, Rn. 29 und 30).

( 59 ) Rechtssache bpost (C‑117/20, Nrn. 107 bis 110.

( 60 ) Die vierte Frage des vorlegenden Gerichts veranschaulicht nämlich gut eines der konzeptionellen Probleme der Menci-Rechtsprechung. Eine bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit ohne Verhängung einer Sanktion dürfte von vornherein mit dem in Rede stehenden einschränkenden Element der Verhältnismäßigkeit nach Art. 52 Abs. 1 der Charta im Einklang stehen. Könnten dann zwei parallele Verfahren gegen dasselbe Unternehmen, die infolge zweier Kronzeugenverfahren zustande gekommen sind, tatsächlich erst recht niemals gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen, da keine Geldbußen verhängt wurden? Der Grundsatz ne bis in idem kann jedoch, wie gesagt, nicht auf eine nachträgliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit der insgesamt verhängten Sanktionen reduziert werden.

( 61 ) Vgl. z. B. Art. 2 Nr. 15 der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. 2014, L 349, S. 1). Vgl. auch Art. 2 Abs. 1 Nr. 16 der Richtlinie 2019/1.

( 62 ) Vgl. ferner Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2006, C 298, S. 17, Nr. 8).

( 63 ) Die konkreten Modalitäten hängen vom nationalen Recht ab. Die BWB trägt vor, dass es sich bei dem infolge eines Antrags auf Anwendung der Kronzeugenregelung eingeleiteten Verfahren nach § 38 des Kartellgesetzes 2005 um ein in Form des Außerstreitverfahrens geführtes zivilgerichtliches Verfahren handele. Anders als das Verfahren vor der Kommission ist das nationale Verfahren nicht in das Gesamtverfahren einbezogen, an dem alle anderen Beteiligten beteiligt sind, sondern ein eigenständiges Verfahren. Es führt nicht zur Verhängung einer Geldbuße oder zur Ermäßigung dieser Geldbuße auf null. Vielmehr stellt das Gericht fest, dass eine Zuwiderhandlung begangen wurde, nachdem der Erlass von der BWB gewährt wurde.

( 64 ) Ist die Feststellung eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln nebst allen zusammengetragenen Beweisen, die Bestandteil der Begründung des Gerichts sind, in einer gerichtlichen Entscheidung enthalten, erscheint ein Schutz durch Kapitel II der Richtlinie 2014/104 ausgeschlossen. Die Situation dürfte sich jedoch kaum wesentlich anders darstellen, soweit es sich um eine dieselbe Feststellung beinhaltende rechtskräftige Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde über eine Zuwiderhandlung handelt (und nicht um bloße Verfahrensunterlagen oder ‑beweismittel, die in Kronzeugenverfahren vorgelegt werden, wie etwa solche im Sinne von Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2014/104).

( 65 ) Damit entfallen die recht hohen Beweisanforderungen, die einen privaten Kläger, der eine „eigenständige“ Schadensersatzklage wegen des Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln erheben will, wahrscheinlich treffen, um den spezifischen Inhalt einer solchen Entscheidung genau darzulegen, dass nämlich eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln stattgefunden hat. Vgl. ferner unlängst meine Schlussanträge in der Rechtssache Stichting Cartel Compensation und Equilib Netherlands (C‑819/19, EU:C:2021:373, Nrn. 93 bis 96).