Rechtssache T136/19

Bulgarian Energy Holding EAD u. a.

gegen

Europäische Kommission

 Beschluss des Gerichts (Vierte erweiterte Kammer) vom 14. März 2022

„Beweiserhebung – Art. 103 Abs. 3 der Verfahrensordnung – Vorlage nicht vertraulicher Fassungen von Dokumenten“

1.      Gerichtliches Verfahren – Beweisaufnahme – Vorlage von Dokumenten, die der Kommission im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 102 AEUV vorgelegt werden – Antrag auf vertrauliche Behandlung – Beurteilungskriterien

(Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 91 Buchst. b, Art. 92 Abs. 3 und Art. 103)

(vgl. Rn. 4, 5, 8-10)

2.      Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Umfang – Grundsätze der Waffengleichheit und des kontradiktorischen Verfahrens – Einbeziehung – Beachtung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens – Umfang – Bestimmung der Behandlung vertraulicher Dokumente, die im Rahmen einer Beweiserhebung vorgelegt worden sind – Berücksichtigung der Erheblichkeit der Angaben für die Entscheidung über den Rechtsstreit – Klagegrund einer Verletzung der Verteidigungsrechte, die sich aus der vertraulichen Behandlung dieser Dokumente im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 102 AEUV ergibt

(Art. 102 und 263 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 91 Buchst. b, Art. 92 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 3)

(vgl. Rn. 6-8)

3.      Gerichtliches Verfahren – Behandlung der Rechtssachen vor dem Gericht – Verfahrensregelung für vertrauliche Auskünfte oder Unterlagen, die im Rahmen einer Beweiserhebung vorgelegt worden sind – Abwägung des vertraulichen Charakters und der Erfordernisse, die mit dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verbunden sind – Bestimmung der Daten, die der anderen Partei bekannt zu geben sind – Offenlegung der vertraulichen Fassung eines zusammenfassenden Berichts, der von den Vertretern dieser Partei erstellt wurde – Zugang zu vertraulichen Dokumenten, der von einer Verpflichtungszusage zur Nichtoffenlegung während des Verwaltungsverfahrens abhängig gemacht wird – Unerheblicher Umstand

(Art. 102 AEUV; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 91 Buchst. b, Art. 92 Abs. 3 und Art. 103; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 27 Abs. 1 und 2; Mitteilung der Kommission 2011/C 308/06, Rn. 98)

(vgl. Rn. 11, 20, 32, 33)


Zusammenfassung

Mit Beschluss vom 17. Dezember 2018(1) hat die Europäische Kommission der Bulgarian Energy Holding EAD (im Folgenden: BEH), ihrer Tochtergesellschaft für Gasbeschaffung Bulgargaz EAD (im Folgenden: Bulgargaz) und ihrer Tochtergesellschaft für Gasinfrastruktur Bulgartransgaz EAD (im Folgenden: Bulgartransgaz) den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Markt für Gaslieferungen in Bulgarien vorgeworfen, der zwischen dem 30. Juli 2010 und dem 1. Januar 2015 in der Verweigerung des Zugangs Dritter zu drei Gasinfrastrukturen bestanden habe. Infolgedessen verhängte sie eine Geldbuße gegen die Gesellschaften.

Mit Klageschrift, die am 1. März 2019 eingegangen ist, haben BEH und ihre beiden Tochtergesellschaften (im Folgenden: Klägerinnen) beim Gericht Klage auf Nichtigerklärung dieses Beschlusses und hilfsweise auf Herabsetzung der gegen sie verhängten Geldbuße erhoben.

Mit Beschluss vom 18. November 2019 ist die Gesellschaft Overgas Inc., die sich als Hauptwettbewerberin von BEH auf dem Markt für Erdgaslieferungen in Bulgarien darstellt, als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden. Insoweit ist zum einen darauf hingewiesen worden, dass ihre Stellung auf dem fraglichen Markt vom Zugang zu den Waren und Dienstleistungen von BEH abhängt, und zum anderen, dass sie als betroffene Dritte an dem Verwaltungsverfahren, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, beteiligt war.

Zur Stützung ihrer Klage gegen den angefochtenen Beschluss haben die Klägerinnen insbesondere einen Verstoß der Kommission gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und gegen ihre Verteidigungsrechte geltend gemacht. Die Kommission habe ihnen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt habe, keinen oder zumindest keinen ausreichenden Zugang zu Dokumenten gewährt, die entlastende Beweise enthielten. Im vorliegenden Fall handelt es sich um die ausführlichen Protokolle über die acht Zusammenkünfte der Kommission mit Overgas, die diesbezüglichen Vertraulichkeitsanträge von Overgas sowie die vertraulichen Fassungen der von Overgas im Anschluss an diese acht Zusammenkünfte eingereichten Stellungnahmen und die vertrauliche Fassung des Berichts, den die Vertreter der Klägerinnen erstellten, als sie am 28. Juni 2018 Zugang zum Informationsraum hatten (im Folgenden: Informationsbericht).

Mit Beweisbeschluss vom 26. Mai 2021 hat das Gericht auf einen Antrag der Klägerinnen hin der Kommission aufgegeben, die fraglichen Dokumente vorzulegen, und klargestellt, dass diese den Klägerinnen in dieser Phase nicht übermittelt würden. Die Kommission ist dieser Aufforderung am 17. Juni 2021 nachgekommen und hat die fraglichen Dokumente zu den Akten gegeben, sie hat dabei aber geltend gemacht, dass bestimmte Angaben in diesen Dokumenten gegenüber den Klägerinnen vertraulich zu behandeln seien.

Mit diesem Beschluss befindet das Gericht nach der eingehenden Prüfung, die unter solchen Umständen nach Art. 103 seiner Verfahrensordnung erforderlich ist, über den vertraulichen Charakter der von der Kommission genannten Angaben, um genau zu bestimmen, welche Unterlagen und Auskünfte den Klägerinnen bekannt zu geben sind. Zu diesem Zweck gibt es der Kommission auf, die gegenüber den Klägerinnen nicht vertraulichen Fassungen verschiedener der ursprünglich eingereichten Dokumente einzureichen, aus denen nur die Angaben entfernt sind, die dem Gericht zufolge vertraulichen Charakter haben und weiterhin als vertraulich zu behandeln sind.

Würdigung durch das Gericht

Art. 103 der Verfahrensordnung des Gerichts regelt die Behandlung der dem Gericht im Rahmen einer Beweiserhebung vorgelegten Auskünfte und Unterlagen, wenn die Partei, die sie vorbringt, eine vertrauliche Behandlung bestimmter darin enthaltener Informationen gegenüber der anderen Hauptpartei beantragt. Nach Art. 103 Abs. 1 hat das Gericht in einem solchen Fall zu prüfen, ob die betreffenden Auskünfte oder Unterlagen für die Entscheidung über den Rechtsstreit erheblich und vertraulich sind. Stellt sich nach dieser Prüfung heraus, dass einige der betreffenden Auskünfte oder Unterlagen diese beiden Kriterien erfüllen, so hat das Gericht nach Art. 103 Abs. 2 den vertraulichen Charakter und die Erfordernisse, die mit dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, insbesondere der Einhaltung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens, verbunden sind, gegeneinander abzuwägen.

Insoweit ist das Gericht zunächst der Auffassung, dass die Erfordernisse, die mit dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bekräftigten Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verbunden sind, unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles umso prägnanter sind. Bei den fraglichen Dokumenten handelt es sich nämlich um diejenigen, die der Kommission von Overgas vorgelegt und anschließend in die Verwaltungsakte aufgenommen wurden, zu denen den Klägerinnen jedoch bereits während des Verwaltungsverfahrens aus Gründen der Vertraulichkeit der Zugang verweigert wurde. Unter solchen Umständen müssen die Klägerinnen im Rahmen ihrer Klage, die insbesondere auf eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte gestützt wird, ihre Interessen verteidigen, ohne von diesen Dokumenten Kenntnis zu haben, anders als die Gegenparteien, d. h. die Kommission und Overgas. Nach alledem stützt sich das Gericht zur Sicherstellung, dass die Erfordernisse, die sich insbesondere aus den Grundsätzen des kontradiktorischen Verfahrens und der Waffengleichheit ergeben, in vollem Umfang eingehalten werden, auf die Befugnisse, die ihm als Unionsrichter eingeräumt sind, um festzustellen, dass unter solchen Umständen den Klägerinnen einen möglichst umfassenden Zugang zu den Akten zu gewähren ist, damit sie alle zur Stützung ihrer Klage verfügbaren und relevanten Argumente geltend machen können.

Das Gericht wendet diesen Grundsatz im Rahmen der Entscheidung, die es nach Art. 103 Abs. 3 der Verfahrensordnung zu treffen hat, an und stellt klar, dass alle Angaben in den im Rahmen einer Beweiserhebung vorgelegten Dokumenten, deren Prüfung den vertraulichen Charakter nicht zu belegen vermochte, bekannt zu geben sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die betreffende Information öffentlich oder ohne Weiteres auf rechtmäßige Weise zugänglich ist oder sich sogar aus gleichartigen Informationen ableiten lässt, auch wenn sie sich aus anderen Schriftstücken der Akten ergibt, bei denen kein entsprechender Antrag auf vertrauliche Behandlung gestellt worden ist. Ebenso kann nach ständiger Rechtsprechung die Vertraulichkeit von Informationen grundsätzlich nicht länger als fünf Jahre andauern, sofern nicht außergewöhnliche Umstände vorliegen.

Handelt es sich demgegenüber um Dokumente, die einen vertraulichen Charakter haben, stellt das Gericht fest, dass es in dieser Phase zu prüfen hat, ob sie für die Entscheidung über den Rechtsstreit erheblich sind.

Insoweit weist das Gericht auf den Wertungsspielraum hin, den ihm Art. 103 der Verfahrensordnung bei Vorliegen vertraulicher Auskünfte oder Unterlagen einräumt, um so weit wie möglich die Verfahrensrechte der Partei, der die Vertraulichkeit entgegengehalten wird, zu wahren. Wenn somit die durch die Vertraulichkeit geschützten Interessen die Offenlegung der betreffenden Informationen nicht zulassen, auch wenn sie mit angemessenen Verpflichtungen verbunden ist, muss die fehlende Offenlegung mit Klarstellungen zu den Modalitäten der Wahrung der Verfahrensgarantien der anderen Partei einhergehen.

In Anwendung der zuvor dargelegten Grundsätze nimmt das Gericht daher eine eingehende und individuelle Prüfung jeder einzelnen Angabe vor, die von der Kommission bei der Einreichung der Dokumente, die Gegenstand der am 26. Mai 2021 angeordneten Beweiserhebung sind, als gegenüber den Klägerinnen als vertraulich zu behandelnd bezeichnet wurden, um den genauen Inhalt der Auskünfte oder Unterlagen zu bestimmen, der den Klägerinnen in dem zur Wahrung ihrer Verfahrensrechte erforderlichen Umfang bekannt zu machen ist.

Das Gericht gibt der Kommission auf, von den Dokumenten, die nach dieser Prüfung für die Entscheidung über den Rechtsstreit erhebliche Angaben enthalten und damit für die Aufnahme in die Akten bestimmt sind, eine nicht vertrauliche Fassung vorzulegen, die den Klägerinnen später übermittelt werden soll, entsprechend den genauen und erschöpfenden Hinweisen zur Schwärzung der Daten, deren Vertraulichkeit im Hinblick auf die geschützten Interessen weiterhin gewahrt werden muss. In diesem Rahmen entscheidet das Gericht in dem Bestreben, die Einhaltung der dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz inhärenten Grundsätze des kontradiktorischen Verfahrens und der Waffengleichheit zu gewährleisten, insbesondere, den Klägerinnen vorbehaltlich der Schwärzung bestimmter Passagen den vertraulichen Informationsbericht zu übermitteln, den ihre Anwälte verfasst hatten, nachdem sie Zugang zu vertraulichen Daten in den ausführlichen Protokollen erhalten hatten, obwohl die Gewährung dieses Zugangs von der Verpflichtung der Anwälte abhängig gemacht worden war, diese Daten nicht den Klägerinnen offenzulegen. Hingegen entscheidet das Gericht, den Klägerinnen nicht den genauen Grund bekannt zu geben, aus dem Overgas darauf bestand, dass bestimmte Informationen nicht an sie weitergegeben würden, angesichts der schwerwiegenden Folgen, die eine solche Offenlegung im vorliegenden Fall für diese Partei haben könnte.


1      Beschluss C(2018) 8806 final der Kommission vom 17. Dezember 2018 in einem Verfahren nach Art. 102 AEUV (AT.39849 – BEH Gas) (im Folgenden: angefochtener Beschluss).