URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)
15. April 2021 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 273 – In der Steuererklärung zu hoch angesetzter Betrag der Mehrwertsteuererstattung – Beurteilungsfehler des Steuerpflichtigen bezüglich der Steuerbarkeit des Umsatzes – Berichtigung der Steuererklärung im Anschluss an eine Prüfung – Sanktion in Höhe von 20 % des Betrags, um den der Betrag der Mehrwertsteuererstattung zu hoch angesetzt wurde – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑935/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Breslau, Polen) mit Entscheidung vom 3. Oktober 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Dezember 2019, in dem Verfahren
Grupa Warzywna Sp. z o.o.
gegen
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie des Richters S. Rodin und der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin),
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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der Grupa Warzywna sp. z o.o., vertreten durch M. Pacyna und K. Kocowski, adwokaci, im Beistand von S. Ząbczyk, doradca podatkowy, |
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der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, |
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der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und M. Siekierzyńska als Bevollmächtigte, |
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
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Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 AEUV, der Art. 2, 250 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Grupa Warzywna sp. z o.o. und dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu (Direktor der Finanzverwaltungskammer Breslau, Polen) wegen Verhängung einer Verwaltungssanktion gegen diese Gesellschaft im Anschluss an eine Steuerprüfung. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
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Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor: „Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
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In Art. 12 Abs. 1 und 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es: „(1) Die Mitgliedstaaten können Personen als Steuerpflichtige betrachten, die gelegentlich eine der in Artikel 9 Absatz 1 Unterabsatz 2 genannten Tätigkeiten ausüben und insbesondere einen der folgenden Umsätze bewirken:
… (2) Als ‚Gebäude‘ im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe a gilt jedes mit dem Boden fest verbundene Bauwerk. … Die Mitgliedstaaten können andere Kriterien als das des Erstbezugs bestimmen, wie etwa den Zeitraum zwischen der Fertigstellung des Gebäudes und dem Zeitpunkt seiner ersten Lieferung, oder den Zeitraum zwischen dem Erstbezug und der späteren Lieferung, sofern diese Zeiträume fünf bzw. zwei Jahre nicht überschreiten.“ |
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Art. 135 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt: „Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer: …
…“ |
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In Art. 137 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es: „(1) Die Mitgliedstaaten können ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, sich bei folgenden Umsätzen für eine Besteuerung zu entscheiden: …
… (2) Die Mitgliedstaaten legen die Einzelheiten für die Inanspruchnahme des Wahlrechts nach Absatz 1 fest. …“ |
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Art. 250 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt: „(1) Jeder Steuerpflichtige hat eine Mehrwertsteuererklärung abzugeben, die alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthält, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der für diese Steuer und Abzüge maßgeblichen Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Feststellung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich ist. (2) Die Mitgliedstaaten legen fest, unter welchen Bedingungen der Steuerpflichtige die in Absatz 1 genannte Erklärung elektronisch abgeben darf, und können die elektronische Abgabe auch vorschreiben.“ |
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In Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es: „Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen. Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“ |
Polnisches Recht
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Art. 43 Abs. 1 Nr. 10 der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (Dz. U. 2017, Pos. 1221) (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt: „Von der Steuer befreit sind … die Lieferung von Gebäuden, Bauwerken oder Teilen davon, außer wenn:
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Art. 43 Abs. 10 des Mehrwertsteuergesetzes sieht vor: „Ein Steuerpflichtiger kann auf die in Abs. 1 Nr. 10 genannte Befreiung von der Steuer verzichten und die Besteuerung der Lieferung von Gebäuden, Bauwerken oder von Teilen davon wählen, vorausgesetzt, dass Lieferant und Erwerber des Gebäudes, des Bauwerks oder von Teilen davon
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Art. 112b Abs. 1 und 2 des Mehrwertsteuergesetzes lautet: „(1) Wird festgestellt, dass der Steuerpflichtige
(2) Wenn nach Abschluss der Steuer- oder Zollprüfung bzw. im Verlauf der Zollprüfung in dem
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Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
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Grupa Warzywna erwarb eine Immobilie, die mehr als zwei Jahre lang bewohnt war. In der Erklärung in der notariellen Urkunde über den Erwerb dieses Gegenstands wurde dessen Preis als Bruttobetrag, also einschließlich Mehrwertsteuer, angegeben. Der Verkäufer der Immobilie stellte außerdem eine Rechnung aus, in der der auf den betreffenden Umsatz entfallende Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen war. Grupa Warzywna entrichtete diesen Betrag und ging davon aus, dass es sich um einen Vorsteuerbetrag handele, der daher abzugsfähig sei. Grupa Warzywna reichte daraufhin beim Naczelnik Urzędu Skarbowego w Trzebnicy (Leiter des Finanzamts Trzebnica, Polen) eine Mehrwertsteuererklärung ein, in der sie einen Mehrwertsteuerüberschuss auswies, dessen Erstattung sie beantragte. |
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Im Rahmen einer Prüfung stellte das Finanzamt Trzebnica fest, dass die Lieferung der betreffenden Immobilie gemäß Art. 43 Abs. 10 des Mehrwertsteuergesetzes grundsätzlich vollständig von der Mehrwertsteuer befreit sei und dass die an dem Umsatz beteiligten Parteien keine Erklärung über den Verzicht auf diese Befreiung vorgelegt hätten. Grupa Warzywna sei daher nicht zum Abzug der auf die Lieferung dieses Gegenstands entfallenden Vorsteuer berechtigt gewesen. |
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Daraufhin berichtigte Grupa Warzywna ihre Steuererklärung unter Berücksichtigung der von der Steuerbehörde festgestellten Unregelmäßigkeiten. Sie gab demnach in dieser Erklärung einen erheblich niedrigeren als den ursprünglich angemeldeten Mehrwertsteuerüberschuss an. |
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Trotz dieser Berichtigung erließ der Leiter des Finanzamts Trzebnica einen Bescheid, mit dem ein Mehrwertsteuerüberschussbetrag in der Höhe festgesetzt wurde, die sich aus der berichtigten Erklärung ergab, und verhängte gegen Grupa Warzywna eine Sanktion in Höhe von 20 % des Betrags, um den der zu Unrecht geforderte Betrag der Mehrwertsteuererstattung zu hoch angesetzt wurde. Der Bescheid wurde in Bezug auf die Sanktion durch die von Grupa Warzywna damit befasste Steuerbehörde zweiter Instanz bestätigt. |
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Grupa Warzywna erhob gegen die Entscheidung der Steuerbehörde zweiter Instanz Klage beim vorlegenden Gericht. Dieses Gericht hält es für erforderlich, festzustellen, ob die Verhängung einer solchen Sanktion in einer Situation, in der der Fehler der Gesellschaft zu keinem Verlust von Steuereinnahmen geführt habe, mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer vereinbar sei und im Hinblick auf die Ziele, eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden, gerechtfertigt sei. |
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Mit der Einführung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion sollen Steuerpflichtige – so das vorlegende Gericht – dazu veranlasst werden, ihre Steuererklärungen korrekt und sorgfältig abzugeben. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sanktion habe repressiven und nicht präventiven Charakter. Nach Art. 112b Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes könne nämlich nicht berücksichtigt werden, dass sich die fehlerhafte Festsetzung der Mehrwertsteuer aus einem Beurteilungsfehler beider an dem Umsatz beteiligten Parteien bezüglich der Steuerbarkeit der Lieferung ergebe. Diese Sanktion sei kein adäquates Mittel zur Erreichung des Ziels der Bekämpfung von Steuervergehen und gehe jedenfalls über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinaus, da sie nicht geeignet sei, die erforderliche Präventivfunktion gegenüber potenziellen Steuerhinterziehern zu erfüllen, und weder Art und Schwere des Verstoßes noch den Umstand berücksichtige, dass dem Fiskus keine Steuereinnahmen entgangen seien und keine Anhaltspunkte für Steuerhinterziehung vorlägen. |
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Unter diesen Umständen hat der Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Breslau, Polen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist eine zusätzliche Steuerschuld, wie sie in Art. 112b Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehen ist, mit den Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie (insbesondere mit Art. 2, Art. 250 und Art. 273), Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 AEUV sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar? |
Zur Vorlagefrage
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Vorab ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof ersucht, die Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmungen mit Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 AEUV, den Art. 2, 250 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer zu beurteilen. |
20 |
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es zwar nicht Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu beurteilen, dass der Gerichtshof jedoch befugt ist, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2010, Pannon Gép Centrum,C‑368/09, EU:C:2010:441, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Der Gerichtshof hat daher in der vorliegenden Rechtssache seine Prüfung auf die Bestimmungen des Unionsrechts zu beschränken und dieses in einer für das vorlegende Gericht sachdienlichen Weise auszulegen; diesem obliegt es, im Hinblick auf die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits die Vereinbarkeit der in Rede stehenden Bestimmungen des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2010, Pannon Gép Centrum,C‑368/09, EU:C:2010:441, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
22 |
Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass sich die Fragen des vorlegenden Gerichts weder speziell auf den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit noch auf die Betrugsbekämpfung zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union beziehen, auf die sich Art. 325 AEUV bezieht. Auch die Auslegung der Art. 2 und 250 der Mehrwertsteuerrichtlinie erscheint angesichts der in der Vorlageentscheidung enthaltenen Angaben für eine sachdienliche Beantwortung der Vorlagefrage nicht erforderlich, da es in diesen Artikeln um mehrwertsteuerpflichtige Umsätze bzw. Mehrwertsteuererklärungen geht. |
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Was hingegen Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die vom nationalen Recht geforderte automatische Anwendung der in Rede stehenden Verwaltungssanktion in allen Fällen, in denen die Mehrwertsteuer zu niedrig angesetzt worden sei oder der Betrag der Mehrwertsteuererstattung zu hoch angesetzt worden sei, kein adäquates Mittel zur Erreichung des in Art. 273 genannten Ziels der Bekämpfung von Steuervergehen sei und über das hinausgehe, was hierzu erforderlich sei. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass sich die Vorlagefrage auf die Auslegung von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer bezieht. |
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Das vorlegende Gericht möchte demnach mit seiner Frage wissen, ob Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Steuerpflichtigen, der einen mehrwertsteuerbefreiten Umsatz zu Unrecht als einen dieser Steuer unterliegenden Umsatz eingestuft hat, eine Sanktion in Höhe von 20 % des Betrags auferlegt wird, um den der zu Unrecht geforderte Betrag der Mehrwertsteuererstattung zu hoch angesetzt wurde, ohne Art und Schwere der die Steuererklärung betreffenden Unregelmäßigkeit und den Umstand zu berücksichtigen, dass keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es sich bei diesem Fehler um eine Steuerhinterziehung handelt, und dass dem Fiskus keine Einnahmen entgangen sind. |
25 |
Nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, Maßnahmen zu erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden. Insbesondere können die Mitgliedstaaten mangels einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften bei Nichtbeachtung der in der Unionsrechtsordnung für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts vorgesehenen Voraussetzungen die Sanktionen wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen (Urteil vom 8. Mai 2019, EN.SA.,C‑712/17, EU:C:2019:374, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
26 |
Die Mitgliedstaaten sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten (Urteil vom 26. April 2017, Farkas,C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
27 |
Derartige Sanktionen dürfen also nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der Ziele erforderlich ist, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, sind u. a. die Art und die Schwere des Verstoßes, der mit dieser Sanktion geahndet werden soll, sowie die Methoden für die Bestimmung der Höhe dieser Sanktion zu berücksichtigen (Urteil vom 26. April 2017, Farkas,C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 60). |
28 |
Auch wenn es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu beurteilen, ob die Höhe der Sanktion nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der in der vorstehenden Randnummer genannten Ziele erforderlich ist, ist es angezeigt, dieses Gericht auf einige Gesichtspunkte des Ausgangsverfahrens hinzuweisen, anhand deren es beurteilen kann, ob die verhängte Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2017, Farkas,C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 61). |
29 |
Hierzu ist festzustellen, dass Art. 112b Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes eine verwaltungsrechtliche Sanktion in Höhe von 30 % des Betrags vorsieht, um den der Betrag der Mehrwertsteuererstattung zu hoch angesetzt wurde, die auf 20 % des erstgenannten Betrags herabgesetzt wird, wenn der Steuerpflichtige nach einer Steuerprüfung eine Berichtigung seiner Steuererklärung unter Berücksichtigung der durch diese Prüfung festgestellten Unregelmäßigkeiten abgegeben und den geschuldeten Steuerbetrag entrichtet oder den zu Unrecht erstatteten Betrag zurückgezahlt hat. |
30 |
Nach der Vorlageentscheidung soll mit dieser Sanktion die Einziehung der Mehrwertsteuer dadurch verbessert werden, dass Fehler bei der Festsetzung dieser Steuer geahndet werden, die darin bestehen, dass der geschuldete Steuerbetrag zu niedrig angesetzt wurde oder der Betrag des zu erstattenden oder auf den folgenden Zeitraum zu übertragenden Mehrwertsteuerüberschusses zu hoch angesetzt wurde. Die Sanktion soll Steuerpflichtige demnach dazu veranlassen, ihre Steuererklärungen korrekt und sorgfältig abzugeben und sie bei Unregelmäßigkeiten zu berichtigen, um das Ziel zu erreichen, gemäß Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen. |
31 |
Dabei ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Verwaltungssanktion, die Steuerpflichtige zur möglichst raschen Begleichung von Steuerrückständen veranlassen und somit das Ziel erreichen soll, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen, deren Regelsatz 50 % des Betrags der Mehrwertsteuer beträgt, die der Steuerpflichtige an die Steuerverwaltung zu zahlen hat, die aber nach den Umständen des Falles herabgesetzt werden kann, grundsätzlich geeignet, zu gewährleisten, dass diese Sanktion nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist, gemäß Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2017, Farkas,C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 62 bis 64). |
32 |
Was die Modalitäten der Festsetzung des Betrags der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sanktion anbelangt, kann dieser jedoch, wenn er auf 20 % des Betrags festgesetzt wird, um den der Betrag des Mehrwertsteuerüberschusses zu hoch angesetzt wurde, nicht nach den konkreten Umständen des Einzelfalls herabgesetzt werden, außer wenn sich die Unregelmäßigkeit aus geringfügigen Fehlern ergibt. |
33 |
Dabei ergibt sich die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehende Unregelmäßigkeit nach den Erläuterungen, die das vorlegende Gericht dem Gerichtshof gegeben hat, aus einem Beurteilungsfehler der an dem Umsatz beteiligten Parteien bezüglich seiner Steuerbarkeit, da die Parteien davon ausgingen, dass die Lieferung des betreffenden Gebäudes mehrwertsteuerpflichtig war, obwohl sie die nach den nationalen Rechtsvorschriften erforderliche einvernehmliche Erklärung zur Wahl einer Besteuerung dieser Lieferung nicht abgegeben hatten. Außerdem gilt die vorgesehene Sanktion nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts gleichermaßen für eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, in der sich der zu hoch angesetzte Betrag des Mehrwertsteuerüberschusses aus einem Beurteilungsfehler der an dem Umsatz beteiligten Parteien bezüglich seiner Steuerbarkeit ergibt, der keinen Anhaltspunkt für eine Steuerhinterziehung bietet und der darüber hinaus dem vorlegenden Gericht zufolge zu keinem Verlust von Steuereinnahmen geführt hat, und für eine Situation, in der solche besonderen Umstände, die nach Auffassung dieses Gerichts berücksichtigt werden sollten, fehlen. |
34 |
Aufgrund dieser Modalitäten der Festsetzung konnten die Steuerbehörden somit die Höhe der Sanktion nicht den konkreten Umständen des Einzelfalls anpassen. |
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Folglich können die Steuerbehörden aufgrund der Modalitäten der Festsetzung dieser automatisch geltenden Sanktion die verhängte Sanktion nicht individualisieren, um sicherzugehen, dass Letztere nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der Ziele, eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden, erforderlich ist. |
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Unter diesen Umständen erübrigt sich eine Prüfung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften im Hinblick auf den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer. |
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Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Steuerpflichtigen, der einen mehrwertsteuerbefreiten Umsatz zu Unrecht als einen dieser Steuer unterliegenden Umsatz eingestuft hat, eine Sanktion in Höhe von 20 % des Betrags auferlegt wird, um den der zu Unrecht geforderte Betrag der Mehrwertsteuererstattung zu hoch angesetzt wurde, sofern diese Sanktion gleichermaßen für eine Situation gilt, in der sich die Unregelmäßigkeit aus einem Beurteilungsfehler der an dem Umsatz beteiligten Parteien bezüglich seiner Steuerbarkeit ergibt, die weder Anhaltspunkte für Steuerhinterziehung bietet noch zum Verlust von Steuereinnahmen geführt hat, und für eine Situation, in der solche besonderen Umstände fehlen. |
Kosten
38 |
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt: |
Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Steuerpflichtigen, der einen mehrwertsteuerbefreiten Umsatz zu Unrecht als einen dieser Steuer unterliegenden Umsatz eingestuft hat, eine Sanktion in Höhe von 20 % des Betrags auferlegt wird, um den der zu Unrecht geforderte Betrag der Mehrwertsteuererstattung zu hoch angesetzt wurde, sofern diese Sanktion gleichermaßen für eine Situation gilt, in der sich die Unregelmäßigkeit aus einem Beurteilungsfehler der an dem Umsatz beteiligten Parteien bezüglich seiner Steuerbarkeit ergibt, die weder Anhaltspunkte für Steuerhinterziehung bietet noch zum Verlust von Steuereinnahmen geführt hat, und für eine Situation, in der solche besonderen Umstände fehlen. |
Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.