Verbundene Rechtssachen C‑885/19 P und C‑898/19 P

Fiat Chrysler Finance Europe

gegen

Europäische Kommission

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 8. November 2022

„Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Beihilfe des Großherzogtums Luxemburg – Beschluss, mit dem die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt unvereinbar und rechtswidrig erklärt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Steuervorbescheid (‚tax ruling‘) – Vorteil – Selektiver Charakter – Fremdvergleichsgrundsatz – Bezugsrahmen – Anwendbares nationales Recht – ‚Normale‘ Besteuerung“

  1. Rechtsmittel – Gründe – Erfordernis einer konkreten Kritik an einem Bestandteil der Argumentation des Gerichts

    (Art. 256 Abs. 1 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 168 Abs. 1 Buchst. d und Art. 169 Abs. 2)

    (vgl. Rn. 52-53)

  2. Staatliche Beihilfen – Begriff – Maßnahme des Staates in Bereichen, die in der Europäischen Union nicht harmonisiert sind – Direkte Besteuerung – Einbeziehung – Befugnisse der Mitgliedstaaten – Grenzen

    (Art. 107 Abs. 1 AEUV)

    (vgl. Rn. 65, 66, 119-121)

  3. Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Maßnahme, die einen Steuervorteil verschafft – Maßstab für die Feststellung der Selektivität der Maßnahme – Einführung einer durch die Natur und den Aufbau einer allgemeinen Steuerregelung nicht gerechtfertigten Unterscheidung zwischen Wirtschaftsteilnehmern, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden

    (Art. 107 Abs. 1 AEUV)

    (vgl. Rn. 67, 68, 70, 122)

  4. Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Maßnahme, die einen Steuervorteil verschafft – Steuervorbescheid zu den Verrechnungspreisen eines integrierten Unternehmens – Bezugssystem zur Bestimmung des Vorliegens eines Vorteils – Sachliche Abgrenzung – Kriterien – Ermittlung der allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung – Prüfung der steuerlichen Behandlung gruppeninterner Geschäfte anhand des Fremdvergleichsgrundsatzes – Bestimmung der konkreten Modalitäten der Anwendung dieses Grundsatzes unter Berücksichtigung allein des nationalen Rechts

    (Art. 107 Abs. 1 AEUV)

    (vgl. Rn. 69, 71-74, 92-105)

  5. Rechtsmittel – Gründe – Überprüfung der Tatsachenwürdigung des Gerichts durch den Gerichtshof – Ausschluss außer bei Verfälschung – Kontrolle der rechtlichen Qualifizierung des Sachverhalts – Einbeziehung

    (Art. 256 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1)

    (vgl. Rn. 82-85)

Zusammenfassung

Die Fiat Chrysler Finance Europe, vormals Fiat Finance and Trade Ltd (im Folgenden: FFT), gehört zur Fiat/Chrysler-Automobilgruppe und erbringt den in Europa niedergelassenen Unternehmen dieser Gruppe Treasury-Dienstleistungen und Finanzierungen. Da sie ihren Sitz im Großherzogtum Luxemburg hat, hatte sie bei den luxemburgischen Steuerbehörden die Genehmigung einer Vereinbarung über Verrechnungspreise beantragt. Auf diesen Antrag hin erließen die luxemburgischen Behörden einen Steuervorbescheid, in dem sie eine Methode zur Ermittlung der Vergütung von FFT für die an die anderen Unternehmen der Fiat/Chrysler-Gruppe erbrachten Dienstleistungen billigten, was es FFT ermöglichte, ihre an das Großherzogtum Luxemburg zu entrichtende Körperschaftsteuer auf Jahresbasis zu bestimmen.

Mit Beschluss vom 21. Oktober 2015 ( 1 ) (im Folgenden: streitiger Beschluss) stellte die Kommission fest, dass dieser Steuervorbescheid eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Betriebsbeihilfe im Sinne von Art. 107 AEUV darstelle. Ferner habe das Großherzogtum Luxemburg ihr nicht den Entwurf des Bescheids übermittelt und daher das Durchführungsverbot nach Art. 108 Abs. 3 AEUV missachtet. Die Kommission gab dem Großherzogtum Luxemburg deshalb auf, die rechtswidrige und mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe von FFT zurückzufordern.

Das Großherzogtum Luxemburg und FFT erhoben jeweils Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses. Mit der Abweisung dieser Klagen ( 2 ) bestätigte das Gericht insbesondere die Auffassung der Kommission, wonach bei einem Steuersystem, das zum Ziel habe, die Gewinne aller gebietsansässigen Unternehmen, ob integriert oder eigenständig, zu besteuern, die Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes für die Definition des Bezugssystems unabhängig von der Verankerung dieses Grundsatzes im nationalen Recht gerechtfertigt sei.

Der Gerichtshof, der mit zwei von FFT und Irland eingelegten Rechtsmitteln befasst ist, hebt das Urteil des Gerichts auf. Er entscheidet dann auch endgültig über den Rechtsstreit und erklärt den streitigen Beschluss für nichtig. In diesem Zusammenhang klärt er die Frage, ob von den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten erlassene Steuervorbescheide, mit denen Methoden zur Bestimmung von Verrechnungspreisen gebilligt werden, staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellen können.

Würdigung durch den Gerichtshof

Vorab weist der Gerichtshof darauf hin, dass im Rahmen der Prüfung steuerlicher Maßnahmen anhand des Beihilferechts der Europäischen Union die Prüfung der Voraussetzung des selektiven Vorteils erfordert, in einem ersten Schritt das Bezugssystem, d. h. die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende „normale“ Steuerregelung, zu ermitteln und dann in einem zweiten Schritt darzutun, dass die fragliche steuerliche Maßnahme von diesem Bezugssystem insoweit abweicht, als sie Unterscheidungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern einführt, die sich im Hinblick auf das mit dem Bezugssystem verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, und dass diese Unterscheidungen sich nicht damit rechtfertigen lassen, dass sie sich aus der Natur oder dem Aufbau des Bezugssystems ergeben.

Die Bestimmung des Bezugsrahmens, die nach einer kontradiktorischen Erörterung mit dem betreffenden Mitgliedstaat zu erfolgen hat, muss sich aus einer objektiven Prüfung des Inhalts, des Zusammenhangs und der konkreten Wirkungen der nach dem nationalen Recht dieses Staates anwendbaren Vorschriften ergeben. Außerhalb der Bereiche, in denen das Steuerrecht der Union harmonisiert wurde, also wie hier im Bereich der direkten Steuern, ist nur das im betreffenden Mitgliedstaat anwendbare nationale Recht zu berücksichtigen. Denn es ist dieser Mitgliedstaat, der in Wahrnehmung seiner eigenen Zuständigkeiten im Bereich der direkten Steuern aufgrund seiner Steuerautonomie die grundlegenden Merkmale der Steuer bestimmt, die grundsätzlich das „normale“ Bezugssystem oder die „normale“ Steuerregelung definieren, anhand deren die Voraussetzung der Selektivität grundsätzlich zu prüfen ist. Dies gilt insbesondere für die Festlegung der steuerlichen Bemessungsgrundlage und des Steuertatbestands.

Im Licht dieser Erwägungen prüft der Gerichtshof, ob das Gericht im vorliegenden Fall durch die Billigung der Methode der Kommission das Bezugssystem rechtsfehlerhaft bestimmt hat.

Erstens weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Frage, ob das Gericht das einschlägige Bezugssystem angemessen abgegrenzt und damit den Fremdvergleichsgrundsatz richtig angewandt hat, eine Frage der rechtlichen Qualifizierung des nationalen Rechts ist, die Gegenstand einer Überprüfung durch den Gerichtshof im Rechtsmittelverfahren sein kann.

Zweitens stellt der Gerichtshof fest, dass die Kommission bei der Bestimmung des Bezugssystems für die Feststellung, ob der fragliche Steuervorbescheid dem Begünstigten einen selektiven Vorteil verschafft, keinen Vergleich mit dem im betreffenden Mitgliedstaat normalerweise geltenden Steuersystem nach einer objektiven Prüfung des Inhalts, des Aufbaus und der konkreten Wirkungen der nach dem nationalen Recht dieses Staates anwendbaren Vorschriften vorgenommen hat. Sie hat nämlich einen anderen Fremdvergleichsgrundsatz angewandt als den im luxemburgischen Recht festgelegten, indem sie sich darauf beschränkt hat, in der Zielsetzung des allgemeinen luxemburgischen Körperschaftsteuersystems den abstrakten Ausdruck dieses Grundsatzes zu identifizieren und den fraglichen Steuervorbescheid zu prüfen, ohne die Art und Weise zu berücksichtigen, in der dieser Grundsatz insbesondere in Bezug auf integrierte Unternehmen im nationalen Recht konkret verankert ist.

Folglich hat das Gericht zum einen Art. 107 Abs. 1 AEUV rechtsfehlerhaft angewandt, indem es diesen Ansatz bestätigt hat, und zum anderen die Vorschriften des AEU-Vertrags über den Erlass von Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern durch die Europäische Union, insbesondere Art. 114 Abs. 2 und Art. 115 AEUV, verkannt, indem es anerkannt hat, dass sich die Kommission auf Vorschriften berufen könne, die nicht zum luxemburgischen Recht gehörten.

Insoweit hebt der Gerichtshof zunächst hervor, dass mangels einer entsprechenden Harmonisierung im Unionsrecht die etwaige Festlegung der Methoden und Kriterien, anhand deren sich ein „fremdvergleichskonformes“ Ergebnis feststellen lässt, in das Ermessen der Mitgliedstaaten fällt. Daraus folgt, dass nur die nationalen Bestimmungen relevant sind, wenn zu prüfen ist, ob bestimmte Transaktionen anhand des Fremdvergleichsgrundsatzes zu untersuchen sind, und gegebenenfalls, ob Verrechnungspreise, die die Grundlage für die Bemessung des von einem Steuerpflichtigen zu versteuernden Einkommens und seiner Verteilung zwischen den betreffenden Staaten bilden, von einem fremdvergleichskonformen Ergebnis abweichen.

Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass das Großherzogtum Luxemburg spezifische Regeln zur Bestimmung einer fremdvergleichskonformen Vergütung bei Gruppenfinanzierungsgesellschaften wie FFT vorgesehen hat, die von der Kommission bei der Prüfung des Bezugssystems und damit des Vorliegens eines FFT gewährten selektiven Vorteils aber nicht berücksichtigt wurden.

Schließlich erläutert der Gerichtshof, dass das Urteil Belgien und Forum 187/Kommission ( 3 ) entgegen den vom Gericht in erster Instanz getroffenen Feststellungen nicht den Standpunkt bestätigt, dass der Fremdvergleichsgrundsatz unabhängig davon, ob und in welcher Weise er im nationalen Steuerrecht verankert ist, anwendbar ist, wenn dieses Recht darauf abzielt, integrierte und eigenständige Unternehmen gleich zu besteuern. In diesem Urteil hat der Gerichtshof nämlich im Hinblick auf die Besteuerungsregeln des einschlägigen nationalen Rechts, d. h. des belgischen Rechts, entschieden, dass auf den Fremdvergleichsgrundsatz zurückzugreifen ist.

Nach alledem hebt der Gerichtshof das angefochtene Urteil auf, stellt fest, dass der Rechtsstreit zur Entscheidung reif sei, und erklärt den streitigen Beschluss für nichtig, weil der Fehler, den die Kommission bei der Bestimmung der nach dem einschlägigen nationalen Recht tatsächlich anwendbaren Vorschriften und folglich bei der Ermittlung der „normalen“ Besteuerung, anhand deren der fragliche Steuervorbescheid zu beurteilen war, auf alle Erwägungen zum Vorliegen eines selektiven Vorteils durchschlägt. Dass die Kommission in den angefochtenen Beschluss hilfsweise auch eine auf Art. 164 Abs. 3 des luxemburgischen Einkommensteuergesetzes und das sich darauf beziehende Rundschreiben Nr. 164/2 gestützte Begründung aufgenommen hat, kann nach Auffassung des Gerichtshofs nichts daran ändern, dass das Urteil des Gerichts aufzuheben ist. Denn diese Erwägungen verweisen lediglich auf die Prüfung, die die Kommission im Zusammenhang mit ihrer in erster Linie vertretenen Auffassung zur korrekten Anwendung des Bezugssystems vorgenommen hat, so dass sie den Fehler der Kommission bei der Bestimmung des Bezugssystems, das die Grundlage ihrer Prüfung des Vorliegens eines selektiven Vorteils hätte bilden müssen, nur scheinbar berichtigen.


( 1 ) Beschluss (EU) 2016/2326 der Kommission vom 21. Oktober 2015 über die staatliche Beihilfe SA.38375 (2014/C ex 2014/NN) Luxemburgs zugunsten von Fiat (ABl. 2016, L 351, S. 1).

( 2 ) Urteil vom 24. September 2019, Luxembourg und Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission (T‑755/15 und T‑759/15, EU:T:2019:670).

( 3 ) Urteil vom 22. Juni 2006, Belgien und Forum 187/Kommission (C‑182/03 und C‑217/03, EU:C:2006:416).