URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

25. Februar 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge – Bestimmungen von Kapitel II Abschnitt 5 – Anwendbarkeit – Vertrag, der in einem Mitgliedstaat für eine Beschäftigung bei einer in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Gesellschaft geschlossen wurde – Keine Arbeitsleistung während der gesamten Dauer des Arbeitsverhältnisses – Ausschluss der Anwendung nationaler Zuständigkeitsregeln – Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i – Begriff ‚Ort, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet‘ – Arbeitsvertrag – Erfüllungsort des Vertrags – Verpflichtungen des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber“

In der Rechtssache C‑804/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesgericht Salzburg (Österreich) mit Entscheidung vom 23. Oktober 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Oktober 2019, in dem Verfahren

BU

gegen

Markt24 GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und N. Jääskinen,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Markt24 GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt G. Herzog,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und I. Gavrilová als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und M. Heller als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. Oktober 2020

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Nr. 1 und Art. 21 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BU, einer natürlichen Person mit Wohnsitz in Österreich, und der Markt24 GmbH, einer Gesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in Unterschleißheim im Landkreis München (Deutschland) wegen ausständiger Lohnzahlungen, aliquoter Sonderzahlungen sowie Urlaubsersatzleistung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 14 und 18 der Verordnung Nr. 1215/2012 lauten:

„(14)

Allerdings sollten einige Zuständigkeitsvorschriften in dieser Verordnung unabhängig vom Wohnsitz des Beklagten gelten, um den Schutz … der Arbeitnehmer zu gewährleisten, um die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten in Fällen zu schützen, in denen sie ausschließlich zuständig sind, und um die Parteiautonomie zu achten.

(18)

Bei … Arbeitsverträgen sollte die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden, die für sie günstiger sind als die allgemeine Regelung.“

4

Kapitel II dieser Verordnung betrifft die gerichtliche Zuständigkeit. Abschnitt 1 („Allgemeine Bestimmungen“) dieses Kapitels umfasst die Art. 4 bis 6.

5

Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.“

6

Art. 5 dieser Verordnung sieht vor:

„(1)   Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 dieses Kapitels verklagt werden.

(2)   Gegen die in Absatz 1 genannten Personen können insbesondere nicht die innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften, welche die Mitgliedstaaten der Kommission gemäß Artikel 76 Absatz 1 Buchstabe a notifizieren, geltend gemacht werden.“

7

Kapitel II Abschnitt 2 („Besondere Zuständigkeiten“) der Verordnung Nr. 1215/2012 umfasst die Art. 7 bis 9.

8

Art. 7 der Verordnung lautet:

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:

1.

a)

wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;

b)

im Sinne dieser Vorschrift – und sofern nichts anderes vereinbart worden ist – ist der Erfüllungsort der Verpflichtung

für die Erbringung von Dienstleistungen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen;

c)

ist Buchstabe b nicht anwendbar, so gilt Buchstabe a;

5.

wenn es sich um Streitigkeiten aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung handelt, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich diese befindet;

…“

9

Kapitel II Abschnitt 5 („Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge“) der Verordnung Nr. 1215/2012 umfasst die Art. 20 bis 23.

10

In Art. 20 Abs. 1 dieser Verordnung heißt es:

„Bilden ein individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag den Gegenstand des Verfahrens, so bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 6, des Artikels 7 Nummer 5 und, wenn die Klage gegen den Arbeitgeber erhoben wurde, des Artikels 8 Nummer 1 nach diesem Abschnitt.“

11

Art. 21 Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Ein Arbeitgeber, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden:

a)

vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat, oder

b)

in einem anderen Mitgliedstaat

i)

vor dem Gericht des Ortes, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder zuletzt gewöhnlich verrichtet hat, oder

ii)

wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet oder verrichtet hat, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich die Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet oder befand.“

Österreichisches Recht

12

§ 4 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 7. März 1985 über die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit (Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, im Folgenden: ASGG) bestimmt:

„Für die im § 50 Abs. 1 genannten Rechtsstreitigkeiten ist nach Wahl des Klägers örtlich zuständig

1.

in den Fällen der Z 1 bis 3 auch das Gericht, in dessen Sprengel

a)

der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt während des Arbeitsverhältnisses hat oder wo er ihn im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses hatte,

d)

das Entgelt zu zahlen ist oder, sofern das Arbeitsverhältnis beendet ist, zuletzt zu zahlen war …

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13

BU, wohnhaft in Österreich, wurde in Salzburg (Österreich) von einem Mitarbeiter von Markt24, einer Gesellschaft mit Sitz in Unterschleißheim (Landkreis München), kontaktiert und unterzeichnete mit ihr über Vermittlung dieses Mitarbeiters einen Arbeitsvertrag als Reinigungskraft für den Zeitraum vom 6. September bis zum 15. Dezember 2017 (im Folgenden: in Rede stehender Vertrag).

14

Zu Beginn des durch diesen Vertrag begründeten Arbeitsverhältnisses verfügte Markt24 über ein Büro in Salzburg. Der Vertrag wurde jedoch nicht in diesem Büro, sondern in einer Bäckerei in Salzburg unterschrieben. Als Arbeitsbeginn wurde der 6. September 2017 vereinbart, und die Arbeit sollte in München erbracht werden. BU wurde aber von Markt24 keine Arbeit zugeteilt.

15

Obwohl BU telefonisch erreichbar und arbeitsbereit war, erbrachte sie faktisch keine Arbeitsleistung für Markt24. BU hatte keine Telefonnummer des Mitarbeiters von Markt24, mit dem sie für den Abschluss des in Rede stehenden Vertrags in Kontakt gewesen war. In diesem Vertrag waren eine österreichische Telefonnummer und eine deutsche Anschrift angeführt. BU war bis zum 15. Dezember 2017 beim österreichischen Sozialversicherungsträger als Arbeitnehmerin angemeldet. In der Folge kündigte ihr Markt24.

16

Am 27. April 2018 erhob BU gegen Markt24 beim Landesgericht Salzburg (Österreich), dem vorlegenden Gericht, Klage auf ausständige Lohnzahlungen, aliquote Sonderzahlungen und Urlaubsersatzleistung in Höhe von insgesamt 2962,80 Euro für die Zeit vom 6. September bis zum 15. Dezember 2017. BU legte drei Lohnabrechnungen für die Monate September bis November 2017 vor, in denen Markt24 als Arbeitgeberin ausgewiesen wurde.

17

Da die Klage trotz mehrerer Zustellungsversuche unter verschiedenen Anschriften durch die Post und über das Amtsgericht München (Deutschland) Markt24 nicht zugestellt werden konnte und die Vertreter dieser Gesellschaft unbekannten Aufenthalts waren, wurde für sie mit Beschluss vom 26. Dezember 2018 gemäß den österreichischen Bestimmungen ein Zustellkurator (prozessualer Abwesenheitskurator) bestellt. Dieser bestritt mit Schriftsatz vom 7. Januar 2019 sowohl die inländische Gerichtsbarkeit als auch die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts.

18

Vor diesem Hintergrund fragt sich das vorlegende Gericht, ob Art. 21 der Verordnung Nr. 1215/2012 auf Arbeitsverhältnisse anzuwenden ist, in denen eine Arbeitnehmerin zwar in Österreich einen Arbeitsvertrag geschlossen hat, aber keine Arbeitsleistung erbracht hat, obwohl sie arbeitsbereit war.

19

Das vorlegende Gericht sieht die Dauer und Beständigkeit des Arbeitsverhältnisses vom 6. September bis 15. Dezember 2017 als gegeben an. Zudem seien die Anbahnung und der Abschluss des in Rede stehenden Arbeitsvertrags in Österreich erfolgt und BU bei der österreichischen Sozialversicherung angemeldet worden.

20

Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass Arbeitnehmer wie Verbraucher schutzwürdige Personengruppen seien, welche durch europarechtliche Regelungen im Vergleich zur nationalen Regelung nicht schlechter gestellt werden sollten. Hierbei sei insbesondere auf die finanzielle Situation bei geringem Verdienst der Arbeitnehmerin zu verweisen, welche eine Geltendmachung in einem anderen Mitgliedstaat erschwere.

21

Unter diesen Umständen hat das Landesgericht Salzburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 21 der Verordnung Nr. 1215/2012 auf ein Arbeitsverhältnis anzuwenden, bei dem zwar ein Arbeitsvertrag in Österreich für Arbeitsleistungen in Deutschland geschlossen wurde, aber von der Arbeitnehmerin, welche sich über mehrere Monate in Österreich arbeitsbereit gehalten hat, keine Arbeitsleistungen erbracht worden sind?

Bei Bejahung der Frage 1:

2.

Ist Art. 21 der Verordnung Nr. 1215/2012 so auszulegen, dass eine nationale Vorschrift, welche einer Arbeitnehmerin die (erleichterte) Klageerhebung an ihrem Wohnort, den sie während des Arbeitsverhältnisses hat oder bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses hatte, wie § 4 Abs. 1 lit. a ASGG zur Anwendung kommen kann?

3.

Ist Art. 21 der Verordnung Nr. 1215/2012 so auszulegen, dass eine nationale Vorschrift, welche eine[r] Arbeitnehmer[in] die (erleichterte) Klageerhebung an dem Ort ermöglicht, wo das Entgelt zu zahlen ist oder bei Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses zu zahlen war, wie § 4 Abs. 1 lit. d ASGG zur Anwendung kommen kann?

Bei Verneinung der Fragen 2 und 3:

4.

Ist Art. 21 der Verordnung Nr. 1215/2012 so auszulegen, dass bei einem Arbeitsverhältnis, in dem die Arbeitnehmerin keine Arbeitsleistungen erbracht hat, die Klageerhebung in dem Mitgliedstaat zu erfolgen hat, in dem sich die Arbeitnehmerin arbeitsbereit gehalten hat?

Ist Art. 21 der Verordnung Nr. 1215/2012 so auszulegen, dass bei einem Arbeitsverhältnis, in dem die Arbeitnehmerin keine Arbeitsleistungen erbracht hat, die Klageerhebung in dem Mitgliedstaat zu erfolgen hat, in dem die Anbahnung und der Abschluss des Arbeitsvertrags erfolgte, auch wenn darin Arbeitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat vereinbart worden bzw. in Aussicht genommen waren?

Bei Verneinung der Frage 1:

5.

Ist Art. 7 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 auf ein Arbeitsverhältnis anzuwenden, bei dem zwar ein Arbeitsvertrag in Österreich für Arbeitsleistungen in Deutschland geschlossen wurde, aber von der Arbeitnehmerin, welche sich über mehrere Monate in Österreich arbeitsbereit gehalten hat, keine Arbeitsleistungen erbracht worden sind, wenn eine nationale Vorschrift, welche einer Arbeitnehmerin die (erleichterte) Klageerhebung an ihrem Wohnort, den sie während des Arbeitsverhältnisses hat oder bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses hatte, wie § 4 Abs. 1 lit. a ASGG zur Anwendung kommen kann, oder wenn eine nationale Vorschrift, welche einem Arbeitnehmer die (erleichterte) Klageerhebung an dem Ort ermöglicht, wo das Entgelt zu zahlen ist oder bei Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses zu zahlen war, wie § 4 Abs. 1 lit. d ASGG zur Anwendung kommen kann?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

22

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen in Kapitel II Abschnitt 5 („Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge“) der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen sind, dass sie auf eine Klage eines Arbeitnehmers mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat gegen einen Arbeitgeber mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat anzuwenden sind, wenn der Arbeitsvertrag in Wohnsitzmitgliedstaat des Arbeitnehmers ausgehandelt und geschlossen wurde und vorsah, dass sich der Ort für die Erbringung der Arbeitsleistung im Mitgliedstaat des Arbeitgebers befindet, auch wenn diese Arbeit aus einem dem Arbeitgeber zuzurechnenden Grund nicht verrichtet worden ist.

23

Nach Art. 20 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt sich bei individuellen Arbeitsverträgen die Zuständigkeit unbeschadet des Art. 6, des Art. 7 Nr. 5 und, wenn die Klage gegen den Arbeitgeber erhoben wurde, des Art. 8 Nr. 1 dieser Verordnung nach Kapitel II Abschnitt 5 („Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge“) der Verordnung, der die Art. 20 bis 23 umfasst.

24

Der Begriff „individueller Arbeitsvertrag“ in Art. 20 der Verordnung Nr. 1215/2012 ist autonom auszulegen, um die einheitliche Anwendung der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a., C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688, Rn. 47 und 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, setzt dieser Begriff ein Verhältnis der Unterordnung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber voraus, wobei das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin besteht, dass eine Person verpflichtet ist, während einer bestimmten Zeit für eine andere Person nach deren Weisung Leistungen zu erbringen, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. entsprechend Urteile vom 10. September 2015, Holterman Ferho Exploitatie u. a., C‑47/14, EU:C:2015:574, Rn. 40 und 41, und vom 11. April 2019, Bosworth und Hurley, C‑603/17, EU:C:2019:310, Rn. 25 und 26).

26

In einem solchen Fall ist davon auszugehen, dass die Parteien an einen „Arbeitsvertrag“ im Sinne von Art. 20 der Verordnung Nr. 1215/2012 unabhängig davon gebunden sind, ob die Arbeit, die Gegenstand dieses Vertrags ist, erbracht worden ist oder nicht.

27

Da aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vertrag ein Unterordnungsverhältnis zwischen einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer begründet hat und Rechte und Pflichten der jeweiligen Partei im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses entstehen ließ, fällt ein Rechtsstreit über diesen Vertrag ungeachtet des Umstands, dass der Vertrag nicht erfüllt worden ist, unter die Bestimmungen von Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 1215/2012.

28

Demnach ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Bestimmungen in Kapitel II Abschnitt 5 („Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge“) der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen sind, dass sie auf eine Klage eines Arbeitnehmers mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat gegen einen Arbeitgeber mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat anzuwenden sind, wenn der Arbeitsvertrag im Wohnsitzmitgliedstaat des Arbeitnehmers ausgehandelt und geschlossen wurde und vorsah, dass sich der Ort für die Erbringung der Arbeitsleistung im Mitgliedstaat des Arbeitgebers befindet, auch wenn diese Arbeit aus einem dem Arbeitgeber zuzurechnenden Grund nicht verrichtet worden ist.

Zur zweiten und zur dritten Frage

29

Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen in Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen sind, dass sie der Anwendung nationaler Zuständigkeitsvorschriften auf eine Klage wie die in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführte entgegenstehen, wenn sich diese Vorschriften als für den Arbeitnehmer vorteilhafter erweisen.

30

Nach ständiger Rechtsprechung haben sowohl das Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der aufeinanderfolgenden Übereinkommen über den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen als auch die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) und die Verordnung Nr. 1215/2012, die an die Stelle dieses Übereinkommens getreten sind, zum Ziel, einheitliche Regeln für die internationale gerichtliche Zuständigkeit zu schaffen (Urteile vom 3. Juli 1997, Benincasa, C‑269/95, EU:C:1997:337, Rn. 25, vom 17. November 2011, Hypoteční banka, C‑327/10, EU:C:2011:745, Rn. 33 und 45, sowie vom 7. Juli 2016, Hőszig, C‑222/15, EU:C:2016:525, Rn. 31).

31

Zum einen sind nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 „Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, … ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen“. Zum anderen bestimmt Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung: „Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 [des Kapitels II dieser Verordnung] verklagt werden.“

32

Folglich müssen – wie der Generalanwalt in den Nrn. 41 und 42 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – die in der Verordnung Nr. 1215/2012 vorgesehenen einheitlichen Zuständigkeitsvorschriften Vorrang vor den innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften haben, wenn ein Rechtsstreit mit Auslandsbezug in den materiellen Anwendungsbereich der Verordnung fällt und der Beklagte seinen (Wohn‑)Sitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. November 2011, Hypoteční banka, C‑327/10, EU:C:2011:745, Rn. 33 und 45, und vom 19. Dezember 2013, Corman-Collins, C‑9/12, EU:C:2013:860, Rn. 22).

33

Dieser grundsätzliche Ausschluss der nationalen Zuständigkeitsvorschriften gilt auch in Bezug auf die Vorschriften in Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 1215/2012, zu denen der Gerichtshof festgestellt hat, dass es sich nicht nur um besondere, sondern auch um abschließende Bestimmungen handelt (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2018, Petronas Lubricants Italy, C‑1/17, EU:C:2018:478, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Daher können im Rahmen einer Klage, die in den Anwendungsbereich der Bestimmungen von Kapitel II Abschnitt 5 dieser Verordnung fällt, keine nationalen Vorschriften zur Bestimmung der Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge angewandt werden, die sich von den in diesen Bestimmungen vorgesehenen Regeln unterscheiden, und zwar unabhängig davon, ob diese nationalen Vorschriften für den Arbeitnehmer günstiger sind.

35

Somit ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass die Bestimmungen in Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen sind, dass sie der Anwendung nationaler Zuständigkeitsvorschriften auf eine Klage wie die in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführte unabhängig davon, ob sich diese Regeln als für den Arbeitnehmer vorteilhafter erweisen, entgegenstehen.

Zur vierten Frage

36

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 21 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Klage wie die in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführte Anwendung findet. Gegebenenfalls ersucht das vorlegende Gericht auch um Klarstellung, welches Gericht nach diesem Artikel zuständig ist.

37

Ein Arbeitgeber mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats kann entweder gemäß Art. 21 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat, verklagt werden oder nach Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i und ii der Verordnung vor dem Gericht des Ortes, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder zuletzt verrichtet hat, oder, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet oder verrichtet hat, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich die Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet oder befand.

38

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die von der Arbeitnehmerin angerufenen Gerichte nicht die Gerichte des Mitgliedstaats sind, in dem die Arbeitgeberin ihren Wohnsitz hat, wie es Art. 21 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 zulässt. Aus den Umständen des Ausgangsverfahrens ergibt sich auch nicht, dass die Klage der Arbeitnehmerin unter Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. ii dieser Verordnung fiele.

39

Daher ist zu prüfen, ob eine Klage wie die des Ausgangsverfahrens, auch wenn keine Arbeit erbracht wurde, unter Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i dieser Verordnung fällt, wonach ein Arbeitgeber mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat vor dem Gericht des Ortes verklagt werden kann, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder zuletzt verrichtet hat.

40

Der Begriff „Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet“ in Art. 19 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001, der Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1215/2012 entspricht, ist dahin auszulegen, dass es sich dabei um den Ort handelt, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber tatsächlich erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a., C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688, Rn. 59).

41

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 61 und 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist, wenn der Arbeitsvertrag nicht erfüllt worden ist, die von den Vertragsparteien in Bezug auf den Ort der Erfüllung zum Ausdruck gebrachte Absicht grundsätzlich der einzige Umstand, der es erlaubt, einen gewöhnlichen Arbeitsort im Sinne von Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1215/2012 festzustellen. Diese Auslegung ermöglicht es nämlich, ein hohes Maß an Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften zu gewährleisten, da der von den Parteien im Arbeitsvertrag vorgesehene Arbeitsort grundsätzlich leicht zu ermitteln ist.

42

Daher ist Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass eine Klage, die sich auf ein Arbeitsverhältnis wie das in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführte bezieht, bei einem Gericht des Mitgliedstaats erhoben werden kann, in dem der Arbeitnehmer gemäß dem Arbeitsvertrag den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber zu erfüllen hatte.

43

Wie aus der Vorlageentscheidung in der vorliegenden Rechtssache hervorgeht, befand sich der Ort, an dem die Arbeitnehmerin gemäß dem in Rede stehenden Vertrag den wesentlichen Teil ihrer Verpflichtungen gegenüber ihrer Arbeitgeberin zu erfüllen hatte, in München.

44

Nach Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt sich die Zuständigkeit „unbeschadet des Artikels 6, des Artikels 7 Nummer 5 und, wenn die Klage gegen den Arbeitgeber erhoben wurde, des Artikels 8 Nummer 1“ dieser Verordnung nach deren Kapitel II Abschnitt 5.

45

Nach Art. 7 Nr. 5 kann eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden: „wenn es sich um Streitigkeiten aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung handelt, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich diese befindet“.

46

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob diese Bestimmung auch in der vorliegenden Rechtssache anwendbar ist, da, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, zum einen Markt24 zu Beginn des durch den in Rede stehenden Vertrag begründeten Arbeitsverhältnisses über ein Büro in Salzburg verfügte und zum anderen die Arbeitnehmerin nach diesem Vertrag den wesentlichen Teil ihrer Verpflichtungen gegenüber ihrer Arbeitgeberin in München zu erfüllen hatte.

47

Die Begriffe „Zweigniederlassung“, „Agentur“ und „sonstige Niederlassung“ in Art. 7 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 sind autonom dahin auszulegen, dass sie einen Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit voraussetzen, der auf Dauer als Außenstelle eines Stammhauses hervortritt. Dieser Mittelpunkt muss eine Geschäftsführung haben und sachlich so ausgestattet sein, dass er in der Weise Geschäfte mit Dritten betreiben kann, dass diese sich nicht unmittelbar an das Stammhaus zu wenden brauchen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. April 2019, Ryanair, C‑464/18, EU:C:2019:311, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Diese Bestimmung ist nur anzuwenden, wenn der Rechtsstreit entweder Handlungen betrifft, die sich auf den Betrieb dieser Einheiten beziehen, oder Verpflichtungen, die diese im Namen des Stammhauses eingegangen sind, wenn die Verpflichtungen in dem Staat zu erfüllen sind, in dem sich die Einheiten befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. April 2019, Ryanair, C‑464/18, EU:C:2019:311, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass eine Klage wie die in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführte unbeschadet von Art. 7 Nr. 5 dieser Verordnung bei dem Gericht des Ortes erhoben werden kann, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gemäß dem Arbeitsvertrag den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber zu erfüllen hatte.

Zur fünften Frage

50

Da die fünfte Frage nur für den Fall gestellt worden ist, dass die erste Frage verneint wird, ist sie angesichts der Bejahung der ersten Frage nicht zu beantworten.

Kosten

51

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Bestimmungen in Kapitel II Abschnitt 5 („Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge“) der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sind dahin auszulegen, dass sie auf eine Klage eines Arbeitnehmers mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat gegen einen Arbeitgeber mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat anzuwenden sind, wenn der Arbeitsvertrag im Wohnsitzmitgliedstaat des Arbeitnehmers ausgehandelt und geschlossen wurde und vorsah, dass sich der Ort für die Erbringung der Arbeitsleistung im Mitgliedstaat des Arbeitgebers befindet, auch wenn diese Arbeit aus einem dem Arbeitgeber zuzurechnenden Grund nicht verrichtet worden ist.

 

2.

Die Bestimmungen in Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 sind dahin auszulegen, dass sie der Anwendung nationaler Zuständigkeitsvorschriften auf eine Klage wie die in Nr. 1 des Tenors des vorliegenden Urteils angeführte unabhängig davon, ob sich diese Regeln als für den Arbeitnehmer vorteilhafter erweisen, entgegenstehen.

 

3.

Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1215/2012 ist dahin auszulegen, dass eine Klage wie die in Nr. 1 des Tenors des vorliegenden Urteils angeführte unbeschadet von Art. 7 Nr. 5 dieser Verordnung bei dem Gericht des Ortes erhoben werden kann, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gemäß dem Arbeitsvertrag den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber zu erfüllen hatte.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.