Rechtssache C603/19

Strafverfahren

gegen

TG
und
UF

(Vorabentscheidungsersuchen des Špecializovaný trestný súd)

 Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 1. Oktober 2020

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union – Art. 325 AEUV – Strafverfahren wegen Betrugsdelikten im Zusammenhang mit teilweise aus dem Haushalt der Union finanzierten Subventionen – Nationales Recht, das staatlichen Stellen im Rahmen eines Strafverfahrens nicht die Wiedereinziehung von Subventionen als Ersatz des durch die Straftaten verursachten Schadens ermöglicht“

1.        Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Mindestnormen für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz der Opfer von Straftaten – Richtlinie 2012/29 – Persönlicher Geltungsbereich – Juristische Personen und Staatsorgane – Ausschluss

(Richtlinie 2012/29 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1)

(vgl. Rn. 44-46, Tenor 1)

2.        Eigenmittel der Europäischen Union – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Bekämpfung von Betrug und sonstigen rechtswidrigen Handlungen – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame und abschreckende Sanktionen festzulegen – Straftat des Betrugs im Zusammenhang mit teilweise aus dem Haushalt der Union finanzierten Subventionen – Nationales Strafverfahren, das es dem Staat nicht ermöglicht, Ansprüche auf Ersatz des durch die Straftat verursachten Schadens geltend zu machen – Zulässigkeit im Hinblick auf Art. 325 AEUV – Voraussetzung – Wirksame Verfahren im nationalen Recht, die die Wiedereinziehung von zu Unrecht aus dem Unionshaushalt erhaltenen Zuschüssen ermöglichen

(Art. 325 AEUV)

(vgl. Rn. 54-56, 58-62, Tenor 2)

Zusammenfassung

Der Úrad špeciálnej prokuratúry Generálnej prokuratúry Slovenskej republiky (Behörde der besonderen Staatsanwaltschaft der Generalprokuratur der Slowakischen Republik) leitete gegen zwei natürliche Personen (im Folgenden: Angeklagte) ein Strafverfahren wegen Taten ein, die einen Betrug in Bezug auf teilweise aus dem Unionshaushalt finanzierte Subventionen darstellen konnten. Die Straftat soll im Zusammenhang mit zwei Ausschreibungen der slowakischen Verwaltung zur Einreichung von Anträgen auf Subventionen begangen worden sein, die u. a. auf die Unterstützung der Schaffung von Arbeitsplätzen für behinderte Personen abzielten.

Die Angeklagten gründeten mehrere Handelsgesellschaften, deren Gesellschafter und Geschäftsführer sie waren und die Subventionen in Höhe von 654 588,34 Euro erhielten, davon 279 272,18 Euro aus dem Unionshaushalt. Nach Auszahlung dieser Subventionen veräußerten die Angeklagten ihre Anteile an den betreffenden Gesellschaften an einen Dritten; danach stellten diese Gesellschaften jede Geschäftstätigkeit ein. Zum Zeitpunkt der Einleitung des Strafverfahrens sollen sich die Vermögensgegenstände der Gesellschaften nicht mehr in den Geschäftsräumen dieser Gesellschaften befunden haben, die von Amts wegen aus dem Handelsregister gestrichen worden sein sollen. Während des Zeitraums der Zahlung der Subventionen sollen die betreffenden Handelsgesellschaften behinderte Personen beschäftigt haben, deren Arbeitstätigkeit allerdings fiktiv und nicht auf die in den Subventionsanträgen dargestellten Ziele ausgerichtet gewesen sein soll.

Die Angeklagten wurden in ihrer Eigenschaft als Gesellschafter und Geschäftsführer dieser Gesellschaften vor dem vorlegenden Gericht, dem Špecializovaný trestný súd (Spezialisiertes Strafgericht, Slowakei), strafrechtlich verfolgt. Die Úrady práce, sociálnych vecí a rodiny (Bezirksbehörden für Arbeit, Soziales und Familie), die im Ausgangsverfahren als Geschädigte aufgetreten sind, haben im Ermittlungsverfahren Ansprüche auf Schadensersatz gegen die Angeklagten in Höhe der tatsächlich ausgezahlten Subvention geltend gemacht.

Das vorlegende Gericht ist jedoch der Ansicht, dass in Anbetracht der Rechtsprechung des Najvyšší súd Slovenskej republiky (Oberster Gerichtshof der Slowakischen Republik), die bereits in Strafverfahren wegen Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Union und des Subventionsbetrugs angewandt worden sei, die nationalen Vorschriften dem Staat im Rahmen eines Strafverfahrens keine Klage auf Ersatz des ihm entstandenen Schadens ermöglichten. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte die Anwendung dieser Rechtsprechung im Ausgangsverfahren zur Folge haben, dass der Staat daran gehindert wäre, auf Ersatz der durch Betrug verursachten Schäden zu klagen. Im Rahmen eines ebenfalls im slowakischen Recht vorgesehenen Verwaltungsverfahrens könne nämlich nur die Rückzahlung der zu Unrecht gezahlten Subvention von deren Empfänger verlangt werden. Da es sich im vorliegenden Fall um Handelsgesellschaften handele, die keine Vermögenswerte mehr besäßen und im Handelsregister gelöscht worden seien, könne ein solches Verfahren daher nicht die Wiedereinziehung der zu Unrecht gezahlten Subventionen ermöglichen.

Das vorlegende Gericht hat dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die u. a. Art. 325 AEUV betreffen, dessen Abs. 1 vorsieht, dass die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung rechtswidriger Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, abschreckende und wirksame Maßnahmen ergreifen müssen, die die gleichen sind, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten. Konkret fragt sich das vorlegende Gericht, ob nationale Strafverfahrensvorschriften, die es in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nicht ermöglichen, dem Staat als Geschädigtem im Rahmen des Strafverfahrens einen Entschädigungsanspruch zuzuerkennen, mit den Verpflichtungen aus Art. 325 AEUV vereinbar sind.

In seinem Urteil vom 1. Oktober 2020 hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass Art. 325 AEUV nationalen Rechtsvorschriften in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung, wonach der Staat im Rahmen eines Strafverfahrens nicht den Ersatz des Schadens geltend machen kann, der ihm durch ein betrügerisches, in einer Veruntreuung von Mitteln aus dem Unionshaushalt resultierendes Verhalten der beschuldigten Person entstanden ist, und er im Rahmen dieses Verfahrens über keinen anderen Rechtsbehelf verfügt, mit dem er einen Anspruch gegen die beschuldigte Person geltend machen kann, nicht entgegensteht, sofern die nationale Rechtsordnung wirksame Verfahren vorsieht, die eine Wiedereinziehung unberechtigt erhaltener Zuschüsse aus dem Unionshaushalt ermöglichen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Insoweit hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten zwar verpflichtet sind, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die dem Empfänger einer teilweise aus dem Unionshaushalt finanzierten Beihilfe gezahlten Beträge wiedereinzuziehen, dass Art. 325 AEUV ihnen jedoch hinsichtlich des Verfahrens, das zu einem solchen Ergebnis führen soll, keinen anderen Zwang als den der Wirksamkeit der Maßnahmen auferlegt. Daher beeinträchtigt das Nebeneinander unterschiedlicher Rechtsbehelfe, mit denen unterschiedliche Ziele verfolgt werden, die dem Verwaltungsrecht, dem Zivilrecht oder dem Strafrecht eigen sind, als solches nicht die Wirksamkeit der Bekämpfung des Betrugs zulasten der finanziellen Interessen der Union, sofern die nationalen Rechtsvorschriften in ihrer Gesamtheit die Wiedereinziehung zu Unrecht aus dem Unionshaushalt gezahlter Zuschüsse ermöglichen.

Die Nichtanerkennung eines Schadensersatzanspruchs des Staates als Geschädigtem im Rahmen des Strafverfahrens stellt somit für sich allein keinen Verstoß gegen die Verpflichtungen aus Art. 325 AEUV dar. Auch wenn strafrechtliche Sanktionen unerlässlich sein können, damit die Staaten bestimmte Fälle von schwerem Betrug wirksam und abschreckend bekämpfen können, haben sie nämlich nicht den Zweck, die Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge zu ermöglichen. Ist ein wirksamer Rechtsbehelf zur Wiedergutmachung von Beeinträchtigungen der finanziellen Interessen der Union in der nationalen Rechtsordnung gegeben, sei es im Rahmen eines Straf‑, Verwaltungs- oder Zivilverfahrens, so reicht dies aus, um dem in Art. 325 AEUV aufgestellten Wirksamkeitsgebot zu genügen, sofern dieser Rechtsbehelf die Wiedereinziehung von zu Unrecht erhaltenen Zuschüssen ermöglicht und sich mit strafrechtlichen Sanktionen schwere Betrugsfälle bekämpfen lassen. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass dies hier der Fall ist, sofern – was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist – der Staat nach dem anwendbaren nationalen Recht zum einen ein Verwaltungsverfahren, das es ihm ermöglicht, die Zuschüsse, die zu Unrecht an die juristische Person, die Empfängerin dieser Zuschüsse, gezahlt wurden, wieder einzuziehen, und zum anderen ein Zivilverfahren einleiten kann, das nicht nur darauf abzielt, die juristische Person, die Empfängerin der unberechtigt erhaltenen Zuschüsse ist, zivilrechtlich haftbar zu machen, sondern auch darauf, im Anschluss an eine strafrechtliche Verurteilung von der verurteilten natürlichen Person Ersatz für die entstandenen Schäden zu erlangen.