URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

4. März 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Schengener Durchführungsübereinkommen – Abfrage des Schengener Informationssystems (SIS) bei der Bearbeitung eines Antrags auf einen Aufenthaltstitel, der von einem im SIS zur Einreiseverweigerung ausgeschriebenen Drittstaatsangehörigen gestellt wird – Art. 25 Abs. 1 – Schengener Grenzkodex – Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige – Art. 6 Abs. 1 und 5 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 – Verweigerung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung mit der Begründung, die Identität des Antragstellers sei nicht mit Sicherheit nachgewiesen“

In der Rechtssache C‑193/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Förvaltningsrätt i Malmö – Migrationsdomstolen (Verwaltungsgericht Malmö – Migrationsgericht, Schweden) mit Entscheidung vom 15. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Februar 2019, in dem Verfahren

A

gegen

Migrationsverket

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter N. Piçarra (Berichterstatter), D. Šváby und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von A, vertreten durch T. Bodin, advokat,

des Migrationsverk, vertreten durch C. Bexelius und H. Forssell als Bevollmächtigte,

der schwedischen Regierung, zunächst vertreten durch J. Lundberg, A. Falk, H. Eklinder, C. Meyer-Seitz und H. Shev, dann durch H. Eklinder, C. Meyer-Seitz und H. Shev als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. de Ree als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils, K. Simonsson und G. Tolstoy als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Juli 2020

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 265/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. März 2010 (ABl. 2010, L 85, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: SDÜ) sowie der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1, im Folgenden: Schengener Grenzkodex).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen A, einem gambischen Staatsangehörigen, und dem Migrationsverk (Einwanderungsbehörde, Schweden) über dessen Entscheidung, den Antrag von A auf Verlängerung des Aufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung mit der Begründung abzulehnen, seine Identität habe nicht mit Sicherheit festgestellt werden können.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Das SDÜ

3

Art. 25 Abs. 1 SDÜ bestimmt:

„Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, einen Aufenthaltstitel zu erteilen, so ruft er systematisch die Daten im Schengener Informationssystem [(SIS)] ab. Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, einem zur Einreiseverweigerung ausgeschriebenen Drittausländer einen Aufenthaltstitel zu erteilen, so konsultiert er vorab den ausschreibenden Mitgliedstaat und berücksichtigt dessen Interessen; der Aufenthaltstitel wird nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe erteilt, insbesondere aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen.

Wird der Aufenthaltstitel erteilt, so zieht der ausschreibende Mitgliedstaat die Ausschreibung zurück, wobei es ihm unbenommen bleibt, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.“

Der Schengener Grenzkodex

4

Nach seinem Art. 1 Abs. 2 legt der Schengener Grenzkodex „Regeln für die Grenzkontrollen in Bezug auf Personen fest, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Union überschreiten“.

5

Art. 6 („Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige“) des Schengener Grenzkodex bestimmt:

„(1)   Für einen geplanten Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen, wobei der Zeitraum von 180 Tagen, der jedem Tag des Aufenthalts vorangeht, berücksichtigt wird, gelten für einen Drittstaatsangehörigen folgende Einreisevoraussetzungen:

a)

Er muss im Besitz eines gültigen Reisedokuments sein, das seinen Inhaber zum Überschreiten der Grenze berechtigt …

d)

Er darf nicht im SIS zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein.

e)

Er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen und darf insbesondere nicht in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden sein.

(5)   Abweichend von Absatz 1 gilt Folgendes:

c)

Ein Mitgliedstaat kann Drittstaatsangehörigen, die eine oder mehrere Voraussetzungen des Absatzes 1 nicht erfüllen, die Einreise in sein Hoheitsgebiet aus humanitären Gründen oder Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen gestatten. Liegt zu dem betreffenden Drittstaatsangehörigen eine Ausschreibung gemäß Absatz 1 Buchstabe d vor, so unterrichtet der Mitgliedstaat, der dessen Einreise in sein Hoheitsgebiet gestattet, die anderen Mitgliedstaaten darüber.“

Schwedisches Recht

6

Kapitel 2 § 1 des Utlänningslag (Ausländergesetz) (SFS 2005, Nr. 716) sieht vor:

„Ein Ausländer, der nach Schweden einreist oder sich dort aufhält, muss im Besitz eines Reisepasses sein.“

7

Kapitel 5 § 3 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:

„Ein Aufenthaltstitel wird vorbehaltlich der §§ 17 bis 17 b erteilt:

1.

jedem Ausländer, dessen Ehegatte oder mit ihm zusammenlebender Partner seinen Wohnsitz in Schweden hat oder eine Erlaubnis für den Aufenthalt in Schweden erhalten hat,

…“

8

Kapitel 5 § 8 dieses Gesetzes sieht vor:

„Ein einem Ausländer nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 … erteilter Aufenthaltstitel ist zum Zeitpunkt der ersten Entscheidung zeitlich begrenzt, es sei denn,

1.

der Ausländer lebt seit Langem mit seinem Ehegatten oder Lebenspartner im Ausland zusammen oder

2.

wenn auf andere Weise klar ersichtlich ist, dass die Beziehung fest ist.

…“

9

Kapitel 5 § 16 Abs. 1 des Ausländergesetzes lautet:

„Ein Ausländer, dem nach § 8 eine befristete Aufenthaltserlaubnis aufgrund familiärer Bindungen erteilt wurde, kann eine neue befristete oder unbefristete Aufenthaltserlaubnis aus diesem Grund nur erhalten, wenn die betreffenden Bindungen fortbestehen.“

10

Kapitel 5 § 17 a Abs. 1 und 2 dieses Gesetzes bestimmt:

„In den in § 3 genannten Fällen kann die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verweigert werden, wenn

1.

wissentlich unrichtige Angaben gemacht oder wissentlich Umstände verschwiegen wurden, die für die Erlangung der Aufenthaltserlaubnis von Bedeutung sind, [oder]

2.

ein Ausländer zu dem alleinigen Zweck, ihm das Recht auf einen Aufenthaltstitel zu verschaffen, adoptiert wurde oder eine Ehe geschlossen hat oder eine Lebensgemeinschaft eingegangen ist oder

3.

der Ausländer eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt.

In den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 … genannten Fällen kann die Erteilung eines Aufenthaltstitels auch verweigert werden, wenn

1.

die Ehegatten oder Lebensgefährten nicht zusammenleben oder zusammenzuleben beabsichtigen,

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11

Am 9. Dezember 2013 erhielt A, ein gambischer Staatsangehöriger, von den schwedischen Behörden einen befristeten Aufenthaltstitel, um zu seiner schwedischen Ehefrau zu ziehen.

12

A hatte vor seiner Einreise ins schwedische Hoheitsgebiet einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt und den Nachweis seiner Identität durch Vorlage eines Reisepasses seines Herkunftslands erbracht.

13

Am 9. November 2015 stellte A bei der Einwanderungsbehörde einen Antrag auf Verlängerung dieses befristeten Aufenthaltstitels.

14

Bei der Prüfung dieses Antrags erhielt die Einwanderungsbehörde Informationen von den norwegischen Behörden, wonach der Betroffene in Norwegen in Haft genommen worden sei und dort mehrere Aliasnamen verwendet habe. Außerdem sei der Betroffene unter einem dieser Namen in Norwegen wegen Besitzes und Verkaufs von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, mit einem endgültigen Aufenthaltsverbot ausgewiesen und im SIS zur Verweigerung der Einreise in den Schengen-Raum ausgeschrieben worden. Im Übrigen sei ein weiterer in Dakar (Senegal) gestellter Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in Schweden unter diesem Namen registriert und mit der Begründung abgelehnt worden, dass er auf einer Scheinehe beruhe.

15

Außerdem geht aus den Antworten des vorlegenden Gerichts auf die Klarstellungsersuchen des Gerichtshofs hervor, dass A und seine Ehefrau schwedischer Staatsangehörigkeit seit dem 13. Februar 2018 geschieden sind und keine gemeinsamen Kinder haben. Es weist darauf hin, dass A nunmehr in Lebensgemeinschaft mit einer norwegischen Staatsangehörigen lebe, mit der er zwei minderjährige Kinder habe, die ebenfalls die norwegische Staatsangehörigkeit hätten.

16

Das vorlegende Gericht führt in seinen Antworten auf die Klarstellungsersuchen weiter aus, dass norwegische Staatsangehörige in Schweden „praktisch dieselben Aufenthaltsrechte wie die schwedischen Bürger“ besäßen, und zwar aufgrund der Nordischen Passunion, zu der u. a. das Königreich Schweden und das Königreich Norwegen gehörten, und dass zu dem Zeitpunkt, zu dem der Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels geprüft worden sei, die einzige von A geltend gemachte Bindung jene sei, die zu den genannten norwegischen Staatsangehörigen bestehe. Das vorlegende Gericht fügt hinzu, auch wenn in den nationalen Bevölkerungsregistern angegeben sei, dass diese keinen Wohnsitz in Schweden hätten, könne „diese Information … jederzeit geändert werden und ist daher nicht unbedingt zutreffend“, da „man sich aus mehreren Gründen als ausgewandert registrieren lassen kann“. Dagegen sei A noch immer in Malmö (Schweden) wohnhaft gemeldet.

17

Mit Bescheid vom 2. Juni 2017 lehnte die Einwanderungsbehörde den Antrag von A auf Verlängerung des befristeten Aufenthaltstitels u. a. mit der Begründung ab, dass seine Identität nicht nachgewiesen worden sei.

18

A erhob gegen diesen Bescheid Klage beim Förvaltningsrätt i Malmö – Migrationsdomstolen (Verwaltungsgericht Malmö – Migrationsgericht, Schweden).

19

Das vorlegende Gericht stellt sich Fragen zu den Anforderungen, die sich aus dem Unionsrecht für die Feststellung der Identität eines Drittstaatsangehörigen ergeben, dessen bereits im nationalen Hoheitsgebiet gestellter Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels weder auf Gründe des internationalen Schutzes noch auf humanitäre Gründe gestützt wird, sondern zum Zweck der Familienzusammenführung des Antragstellers erfolgt. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob das Unionsrecht verlangt, dass die Identität des Drittstaatsangehörigen, der den Antrag stellt, mit Sicherheit nachgewiesen wird, damit ihm ein solcher Titel ausgestellt wird, auch wenn er bereits im Inland ansässig ist.

20

Nach schwedischem Recht hänge die Erteilung eines Aufenthaltstitels, der weder auf Gründen des internationalen Schutzes noch auf humanitären Gründen beruhe, von dem Nachweis ab, dass die Identität des Antragstellers mittels eines für die Dauer der beantragten Aufenthaltserlaubnis gültigen Reisepasses mit Sicherheit festgestellt sei. Ausnahmen von dieser Regel seien jedoch in Fällen zulässig, die nicht dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fall entsprächen.

21

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Migrationsöverdomstol (Migrationsberufungsgericht, Schweden) zum einen im Urteil MIG 2011:11 vom 12. Mai 2011 entschieden habe, dass einem Drittstaatsangehörigen nur dann ein befristeter Aufenthaltstitel auf der Grundlage einer Bindung an das Königreich Schweden, insbesondere einer Ehe, erteilt werden könne, wenn die Identität des Antragstellers mit Sicherheit nachgewiesen worden sei, da diese Voraussetzung für die Erfüllung der Verpflichtungen aus dem SDÜ und dem Schengener Grenzkodex erforderlich sei. Zum anderen habe dieses Berufungsgericht ein Urteil des Förvaltningsrätt i Stockholm – Migrationsdomstolen (Verwaltungsgericht Stockholm – Migrationsgericht, Schweden) aufgehoben und entschieden, dass das SDÜ und der Schengener Grenzkodex niedrigen Anforderungen an den Nachweis der Identität entgegenstünden, wie sie nach § 16f des Lag om tillfälliga begränsningar av möjligheten att få uppehållstillstånd i Sverige (Gesetz über vorübergehende Beschränkungen der Möglichkeit, einen Aufenthaltstitel in Schweden zu erlangen) (SFS 2016, Nr. 752), der konkret die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck des Besuchs einer Sekundarschule betreffe, zulässig seien. Der Migrationsöverdomstol (Migrationsberufungsgericht) habe auch ausgeführt, dass die in seinem Urteil MIG 2011:11 vom 12. Mai 2011 aufgestellte Verpflichtung, die Identität mit Sicherheit nachzuweisen, nur für Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gelte, die von Drittstaatsangehörigen gestellt würden, die sich noch nicht im schwedischen Hoheitsgebiet befänden.

22

Vor diesem Hintergrund hat das Förvaltningsrätt i Malmö – Migrationsdomstolen (Verwaltungsgericht Malmö – Migrationsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Stehen die Bestimmungen des SDÜ, insbesondere die Vorschriften zu systematischen Abfragen im SIS, und des Schengener Grenzkodex, insbesondere das dort aufgestellte Erfordernis des Besitzes eines gültigen Passes, der Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegen, wenn der Antrag in Schweden gestellt wurde, nicht auf Schutzbedürftigkeit oder humanitäre Gründe gestützt wird und die Identität des Antragstellers nicht geklärt ist?

2.

Falls dies der Fall sein sollte: Kann das nationale Recht oder die nationale Rechtsprechung in Bezug auf die Feststellung der Identität Ausnahmen zulassen?

3.

Falls die zweite Frage verneint wird: Welche Ausnahmen lässt das Unionsrecht gegebenenfalls zu?

Verfahren vor dem Gerichtshof

23

Nachdem der Gerichtshof beschlossen hat, wegen der gesundheitlichen Risiken im Zusammenhang mit der Coronaviruspandemie ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, hat er den Parteien und den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Beteiligten mehrere Fragen zur schriftlichen Beantwortung gestellt, die A, die Einwanderungsbehörde, die schwedische Regierung und die Europäische Kommission beantwortet haben.

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

24

Die schwedische Regierung macht geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, weil die Vorlageentscheidung zum einen keine hinreichende Darstellung des tatsächlichen und rechtlichen Rahmens des Ausgangsrechtsstreits enthalte, die es dem Gerichtshof ermöglichen würde, die ihm vorgelegten Fragen zweckdienlich zu beantworten. Zum anderen gehe aus dieser Entscheidung nicht der Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung des Unionsrechts und den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits hervor, zumal in diesem Rechtsstreit die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften verlangten, dass derjenige, der den Aufenthaltstitel beantrage, den sicheren Nachweis seiner Identität erbringe, und die Voraussetzungen, unter denen eine nicht sichere Identität zugelassen werde, nicht erfüllt seien. Schließlich sei der Vorlageentscheidung auch nicht klar zu entnehmen, welcher Zusammenhang zwischen den unionsrechtlichen Bestimmungen, um deren Auslegung ersucht werde, und den auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Bestimmungen des nationalen Rechts bestehe, so dass die Erheblichkeit der Vorlagefragen für dessen Entscheidung schwer nachvollziehbar sei.

25

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Ausgangsrechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. u. a. Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 97, sowie vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies, C‑502/19, EU:C:2019:1115, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Folglich besteht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteile vom 19. Dezember 2019, Airbnb Ireland, C‑390/18, EU:C:2019:1112, Rn. 29, sowie vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht die Gründe dargelegt, aus denen es der Ansicht ist, dass die Auslegung der Bestimmungen sowohl des SDÜ über Abfragen im SIS als auch des Schengener Grenzkodex, wonach jeder Drittstaatsangehörige während der gesamten Dauer des beantragten Aufenthalts im Besitz eines gültigen Reisedokuments sein muss, für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits erforderlich ist. Es hat dem Gerichtshof auch hinreichende tatsächliche und rechtliche Angaben gemacht, damit dieser die vorgelegten Fragen zweckdienlich beantworten kann. Somit ist nicht ersichtlich, dass die Fragen nach der Auslegung dieser Bestimmungen in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stehen oder dass sie ein hypothetisches Problem betreffen. Im Übrigen ist der Zusammenhang zwischen den unionsrechtlichen Bestimmungen, um deren Auslegung ersucht wird, und den auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Bestimmungen in Bezug auf die Anforderungen an den Nachweis der Identität desjenigen, der einen Aufenthaltstitel beantragt, im Licht der in Rn. 21 des vorliegenden Urteils angeführten nationalen Rechtsprechung zu diesen Anforderungen klar, wobei der Zweck dieser Anforderungen, wie das vorlegende Gericht selbst ausführt, darin besteht, den Verpflichtungen aus dem SDÜ und dem Schengener Grenzkodex nachzukommen.

28

Daher ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

29

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen des SDÜ, insbesondere dessen Art. 25 Abs. 1, und/oder des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die die Erteilung, Verlängerung oder Erneuerung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung gestattet, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats von einem Drittstaatsangehörigen beantragt wird, der im SIS zur Verweigerung der Einreise in den Schengen-Raum ausgeschrieben ist und dessen Identität nicht mittels eines gültigen Reisedokuments festgestellt werden konnte.

30

Erstens muss ein Mitgliedstaat gemäß Art. 25 Abs. 1 Unterabs. 1 SDÜ, wenn er beabsichtigt, einen Aufenthaltstitel zu erteilen, systematisch die Daten im SIS abrufen und kann dem Antragsteller, falls er zur Verweigerung der Einreise in den Schengen-Raum ausgeschrieben ist, nur „bei Vorliegen gewichtiger Gründe …, insbesondere aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen“, einen Aufenthaltstitel erteilen, nachdem er den ausschreibenden Mitgliedstaat konsultiert und dessen Interessen berücksichtigt hat. Art. 25 Abs. 1 Unterabs. 2 SDÜ ist zu entnehmen, dass der ausschreibende Mitgliedstaat im Fall der Erteilung des Aufenthaltstitels die Ausschreibung im SIS zurückzuziehen hat, wobei es ihm unbenommen bleibt, den Antragsteller in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.

31

Diese Bestimmungen sollen somit verhindern, dass ein Aufenthaltstitel einem Drittstaatsangehörigen erteilt wird, der gleichzeitig im SIS zur Verweigerung der Einreise in den Schengen-Raum ausgeschrieben ist (vgl. u. a. Urteil vom 16. Januar 2018, E, C‑240/17, EU:C:2018:8, Rn. 38).

32

Dagegen legt Art. 25 Abs. 1 SDÜ nicht fest, welche rechtlichen Voraussetzungen ein solcher Staatsangehöriger erfüllen muss, um in den Schengen-Raum einzureisen und sich dort aufzuhalten, auch nicht in Bezug auf den Nachweis seiner Identität.

33

Im Übrigen führt der Mechanismus der Vorabkonsultation gemäß Art. 25 Abs. 1 SDÜ, wie der Generalanwalt in Nr. 62 seiner Schlussanträge dargelegt hat, nicht zu einer systematischen Ablehnung des Antrags eines im SIS zur Verweigerung der Einreise in den Schengen-Raum ausgeschriebenen Drittstaatsangehörigen auf einen Aufenthaltstitel. Der Mitgliedstaat, in dem der Drittstaatsangehörige einen solchen Antrag gestellt hat, behält nämlich, nachdem er die Interessen des ausschreibenden Mitgliedstaats berücksichtigt hat, die Möglichkeit, diesem Drittstaatsangehörigen den Aufenthaltstitel – nur bei Vorliegen „gewichtiger Gründe“ – zu erteilen.

34

Insoweit ergibt sich zwar schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass sie die Gründe, aus denen ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, der im SIS zur Verweigerung der Einreise in den Schengen-Raum ausgeschrieben ist, einen Aufenthaltstitel erteilen kann, auf ausschließlich „gewichtige Gründe“ beschränken soll und dass hierzu ausdrücklich „humanitäre Gründe oder internationale Verpflichtungen“ zählen, doch folgt daraus nicht, dass diese beiden Gründe abschließend sind. Da diese Gründe nämlich mit dem Adverb „insbesondere“ eingeleitet werden, können sie keinen erschöpfenden Charakter haben.

35

So können vom Begriff „gewichtige Gründe“ im Sinne dieser Bestimmung, wie der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, Gründe in Bezug auf die Achtung der Grundrechte des betreffenden Drittstaatsangehörigen erfasst sein, insbesondere des Rechts auf Achtung des Familienlebens und der Rechte des Kindes, wie sie in den Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind, deren Einhaltung den Mitgliedstaaten bei der Durchführung des SDÜ obliegt, das nach dem den Verträgen beigefügten Protokoll Nr. 19 über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (ABl. 2010, C 83, S. 290) integraler Bestandteil des Unionsrechts ist.

36

Daher kann Art. 25 Abs. 1 SDÜ nicht dahin ausgelegt werden, dass er den Mitgliedstaaten allein aufgrund der Tatsache, dass die Identität des betreffenden Drittstaatsangehörigen nicht mit Sicherheit mittels eines gültigen Reisedokuments festgestellt werden kann, die Möglichkeit nimmt, einen Aufenthaltstitel aus Gründen der Familienzusammenführung zu erteilen.

37

Außerdem ist, wie der Generalanwalt in Nr. 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Art. 25 Abs. 1 SDÜ dahin auszulegen, dass er nicht nur auf einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels anwendbar ist, sondern auch auf einen Antrag auf Verlängerung oder Erneuerung eines solchen Aufenthaltstitels, der von einem Drittstaatsangehörigen gestellt wird, der sich bereits im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhält.

38

Daher hat die zuständige nationale Behörde vor der Verlängerung oder Erneuerung eines Aufenthaltstitels die Daten des SIS abzufragen und, falls der Antragsteller dort zur Verweigerung der Einreise in den Schengen-Raum ausgeschrieben ist, den ausschreibenden Mitgliedstaat zu konsultieren und dessen Interessen zu berücksichtigen, wobei ein solcher Aufenthaltstitel nur aus „gewichtigen Gründen“ im Sinne von Art. 25 Abs. 1 SDÜ, wie er in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgelegt wird, verlängert oder erneuert werden kann.

39

Die zuständige Behörde des ausschreibenden Mitgliedstaats ist ihrerseits gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet, zur Erteilung, Verlängerung oder Erneuerung des Aufenthaltstitels des betreffenden Drittstaatsangehörigen innerhalb einer angemessenen Frist Stellung zu nehmen; diese Frist muss an den Einzelfall angepasst sein, damit der Behörde des ausschreibenden Mitgliedstaats die für die Sammlung der relevanten Informationen nötige Zeit zur Verfügung steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2018, E, C‑240/17, EU:C:2018:8, Rn. 53).

40

Was zweitens den Schengener Grenzkodex betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach dessen Art. 6 Abs. 1 Buchst. a Drittstaatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten für einen Aufenthalt im Schengen-Raum „von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen“ im Besitz eines gültigen Reisedokuments sein müssen, das seinen Inhaber zum Überschreiten der Grenze berechtigt.

41

Daraus folgt, dass der Schengener Grenzkodex nicht die Situation von Drittstaatsangehörigen regelt, die sich – wie der Kläger des Ausgangsverfahrens – bereits im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und dort einen Aufenthaltstitel zum Zweck der Familienzusammenführung besitzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Oktober 2009, Zurita García und Choque Cabrera, C‑261/08 und C‑348/08, EU:C:2009:648, Rn. 45).

42

Nach alledem ist auf die erste Frage folgendermaßen zu antworten:

Art. 25 Abs. 1 SDÜ ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats, die die Erteilung, Verlängerung oder Erneuerung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung gestattet, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats von einem Drittstaatsangehörigen beantragt wird, der im SIS zur Verweigerung der Einreise in den Schengen-Raum ausgeschrieben ist und dessen Identität nicht mittels eines gültigen Reisedokuments festgestellt werden konnte, nicht entgegensteht, wenn die Interessen des vorab konsultierten ausschreibenden Mitgliedstaats berücksichtigt wurden und der Aufenthaltstitel nur bei Vorliegen „gewichtiger Gründe“ im Sinne dieser Bestimmung erteilt, verlängert oder erneuert wird.

Der Schengener Grenzkodex, insbesondere sein Art. 6 Abs. 1 Buchst. a, ist dahin auszulegen, dass er auf einen Drittstaatsangehörigen in einer solchen Situation keine Anwendung findet.

Zur zweiten und zur dritten Frage

43

Angesichts der Antwort auf die erste Frage sind die zweite und die dritte Frage nicht zu beantworten.

Kosten

44

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 25 Abs. 1 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen in der durch die Verordnung (EU) Nr. 265/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. März 2010 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats, die die Erteilung, Verlängerung oder Erneuerung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung gestattet, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats von einem Drittstaatsangehörigen beantragt wird, der im Schengener Informationssystem zur Verweigerung der Einreise in den Schengen-Raum ausgeschrieben ist und dessen Identität nicht mittels eines gültigen Reisedokuments festgestellt werden konnte, nicht entgegensteht, wenn die Interessen des vorab konsultierten ausschreibenden Mitgliedstaats berücksichtigt wurden und der Aufenthaltstitel nur bei Vorliegen „gewichtiger Gründe“ im Sinne dieser Bestimmung erteilt, verlängert oder erneuert wird.

 

Die Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), insbesondere sein Art. 6 Abs. 1 Buchst. a, ist dahin auszulegen, dass er auf einen Drittstaatsangehörigen in einer solchen Situation keine Anwendung findet.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Schwedisch.