URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

26. März 2020 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rahmenbeschluss 2008/947/JI – Gegenseitige Anerkennung von Urteilen und Bewährungsentscheidungen – Anwendungsbereich – Urteil, mit dem eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe verhängt wird – Bewährungsmaßnahme – Verpflichtung, keine neue Straftat zu begehen – Gesetzlich begründete Verpflichtung“

In der Rechtssache C‑2/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland) mit Entscheidung vom 11. Dezember 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Januar 2019, in dem Strafverfahren gegen

A. P.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie des Richters N. Jääskinen,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. November 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von A. P., vertreten durch M. Lentsius und G. Sile, vandeadvokaadid,

der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,

der lettischen Regierung, vertreten durch V. Soņeca, L. Juškeviča und I. Kucina als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, M. M. Tátrai und V. Kiss als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und J. Sawicka als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und K. Toomus als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Februar 2020

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen (ABl. 2008, L 337, S. 102).

2

Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens über die Anerkennung eines Urteils des Rīgas pilsētas Latgales priekšpilsētas tiesa (Gericht der Stadt Riga, Bezirk Latgale, Lettland) in Estland, mit dem A. P. zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt wurde, deren Vollstreckung ausgesetzt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 8 und 24 des Rahmenbeschlusses 2008/947 heißt es:

„(8)

Die gegenseitige Anerkennung und Überwachung von Bewährungsstrafen, bedingten Verurteilungen, alternativen Sanktionen und Entscheidungen über bedingte Entlassungen soll die Aussichten auf Resozialisierung der verurteilten Person erhöhen, indem ihr die Möglichkeit verschafft wird, die familiären, sprachlichen, kulturellen und sonstigen Beziehungen aufrechtzuerhalten; es soll aber auch die Kontrolle der Einhaltung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen verbessert werden mit dem Ziel, neue Straftaten zu unterbinden und damit dem Gedanken des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit Rech[n]ung zu tragen.

(24)

Da die Ziele dieses Rahmenbeschlusses, nämlich die Erleichterung der Resozialisierung einer verurteilten Person, die Verbesserung des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit sowie die Erleichterung der Anwendung angemessener Bewährungsmaßnahmen und alternativer Sanktionen auf Straftäter, die nicht im Urteilsmitgliedstaat leben, wegen des grenzüberschreitenden Charakters der damit verbundenen Situationen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können und daher wegen des Umfangs der Maßnahme besser auf Unionsebene zu verwirklichen sind, kann die Union im Einklang mit dem … Subsidiaritätsprinzip … tätig werden …“

4

Art. 1 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses lautet:

„(1)   Ziel dieses Rahmenbeschlusses ist die Erleichterung der Resozialisierung einer verurteilten Person, die Verbesserung des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit sowie die Erleichterung der Anwendung angemessener Bewährungsmaßnahmen und alternativer Sanktionen auf Straftäter, die nicht im Urteilsstaat leben. Um diese Ziele zu erreichen, werden in diesem Rahmenbeschluss Regeln festgelegt, nach denen ein anderer Mitgliedstaat als der Mitgliedstaat, in dem die betreffende Person verurteilt wurde, die Urteile und gegebenenfalls die Bewährungsentscheidungen anerkennt und die auf der Grundlage eines Urteils verhängten Bewährungsmaßnahmen oder die in einem solchen Urteil enthaltenen alternativen Sanktionen überwacht und alle Folgeentscheidungen im Zusammenhang mit diesem Urteil trifft, soweit in dem vorliegenden Rahmenbeschluss nichts anderes vorgesehen ist.

(2)   Der Rahmenbeschluss gilt nur für:

a)

die Anerkennung von Urteilen und gegebenenfalls Bewährungsentscheidungen;

b)

die Übernahme der Zuständigkeit für die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen;

c)

alle Folgeentscheidungen, die mit den in den Buchstaben a und b genannten Entscheidungen zusammenhängen;

im Sinne dieses Rahmenbeschlusses.“

5

Art. 2 Nrn. 1 bis 4 und 7 des Rahmenbeschlusses lautet:

„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

1.

‚Urteil‘ die rechtskräftige Entscheidung oder Anordnung eines Gerichts des Ausstellungsstaats, durch die festgestellt wird, dass eine natürliche Person eine Straftat begangen hat, und gegen sie

a)

eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme, sofern eine bedingte Entlassung auf der Grundlage dieses Urteils oder aufgrund einer nachfolgenden Bewährungsentscheidung gewährt wurde;

b)

eine Bewährungsstrafe;

c)

eine bedingte Verurteilung;

d)

eine alternative Sanktion verhängt wird.

2.

‚Bewährungsstrafe‘ eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme, deren Vollstreckung mit der Verurteilung unter Auferlegung einer oder mehrerer Bewährungsmaßnahmen ganz oder teilweise bedingt ausgesetzt wird. Diese Bewährungsmaßnahmen können entweder im Urteil selbst oder in einer eigenständigen Bewährungsentscheidung einer zuständigen Behörde auferlegt werden;

3.

‚bedingte Verurteilung‘ ein Urteil, bei dem die Straffestsetzung dadurch bedingt zurückgestellt wird, dass eine oder mehrere Bewährungsmaßnahmen auferlegt werden, oder bei dem eine oder mehrere Bewährungsmaßnahmen statt einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme auferlegt werden. Diese Bewährungsmaßnahmen können entweder im Urteil selbst oder in einer eigenständigen Bewährungsentscheidung einer zuständigen Behörde auferlegt werden;

4.

‚alternative Sanktion‘ eine Sanktion, die keine Freiheitsstrafe, freiheitsentziehende Maßnahme oder Geldstrafe ist und mit der eine Auflage oder Weisung ergeht;

7.

‚Bewährungsmaßnahmen‘ Auflagen und Weisungen, die einer natürlichen Person nach Maßgabe des nationalen Rechts des Ausstellungsstaats im Zusammenhang mit einer Bewährungsstrafe, einer bedingten Verurteilung oder einer bedingten Entlassung von einer zuständigen Behörde auferlegt werden“.

6

In Art. 4 des Rahmenbeschlusses heißt es:

„(1)   Dieser Rahmenbeschluss gilt für folgende Bewährungsmaßnahmen und alternative Sanktionen:

a)

Verpflichtung der verurteilten Person, einer bestimmten Behörde jeden Wohnsitzwechsel oder Arbeitsplatzwechsel mitzuteilen;

b)

Verpflichtung, bestimmte Orte, Plätze oder festgelegte Gebiete im Ausstellungs- oder Vollstreckungsstaat nicht zu betreten;

d)

Weisungen, die das Verhalten, den Aufenthalt, die Ausbildung und Schulung oder die Freizeitgestaltung betreffen oder die Beschränkungen oder Modalitäten der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit beinhalten;

f)

Verpflichtung, den Kontakt mit bestimmten Personen zu meiden;

g)

Verpflichtung, den Kontakt mit bestimmten Gegenständen, die von der verurteilten Person für die Begehung einer Straftat verwendet wurden oder verwendet werden könnten, zu meiden;

(2)   Jeder Mitgliedstaat teilt dem Generalsekretariat des Rates bei der Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses mit, welche Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen neben den in Absatz 1 genannten er zu überwachen bereit ist. Das Generalsekretariat des Rates macht die erhaltenen Angaben allen Mitgliedstaaten und der Kommission zugänglich.“

7

Art. 6 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschluss 2008/947 lautet:

„(1)   Übermittelt die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats in Anwendung von Artikel 5 Absätze 1 oder 2 ein Urteil und gegebenenfalls eine Bewährungsentscheidung an einen anderen Mitgliedstaat, so sorgt sie dafür, dass eine Bescheinigung beigefügt wird, für die das in Anhang I wiedergegebene Formblatt zu verwenden ist.

(2)   Das Urteil und gegebenenfalls die Bewährungsentscheidung wird zusammen mit der in Absatz 1 genannten Bescheinigung von der zuständigen Behörde des Ausstellungsstaats unmittelbar an die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats in einer Form übermittelt, die einen schriftlichen Nachweis unter Bedingungen ermöglicht, die dem Vollstreckungsstaat die Feststellung der Echtheit gestatten. Das Original des Urteils und gegebenenfalls der Bewährungsentscheidung oder beglaubigte Abschriften davon sowie das Original der Bescheinigung werden der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaats auf Verlangen übermittelt. Sämtliche offiziellen Mitteilungen erfolgen ebenfalls unmittelbar zwischen den genannten zuständigen Behörden.“

8

Art. 8 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats kann die Entscheidung über die Anerkennung des Urteils und gegebenenfalls der Bewährungsentscheidung aufschieben, wenn die in Artikel 6 Absatz 1 genannte Bescheinigung unvollständig ist oder offensichtlich nicht dem Urteil oder gegebenenfalls der Bewährungsentscheidung entspricht, und zwar bis zum Ablauf einer gesetzten angemessenen Frist für die Ergänzung oder Berichtigung der Bescheinigung.“

9

Art. 11 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 des Rahmenbeschlusses lautet:

„(1)   Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats kann die Anerkennung des Urteils oder gegebenenfalls der Bewährungsentscheidung und die Übernahme der Zuständigkeit für die Überwachung der Bewährungsmaßnahmen oder alternativen Sanktionen versagen, wenn

a)

die Bescheinigung nach Artikel 6 Absatz 1 unvollständig ist oder dem Urteil oder der Bewährungsentscheidung offensichtlich nicht entspricht und nicht innerhalb einer von der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaats gesetzten angemessenen Frist vervollständigt oder berichtigt wurde;

(3)   Bevor die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats in den Fällen des Absatzes 1 Buchstaben a, b, c, h, i, j und k beschließt, die Anerkennung des Urteils oder gegebenenfalls der Bewährungsentscheidung und die Übernahme der Zuständigkeit für die Überwachung der Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen zu versagen, konsultiert sie auf geeignete Art und Weise die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats und bittet diese soweit erforderlich um die unverzügliche Übermittlung aller erforderlichen zusätzlichen Informationen.“

10

Art. 14 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats ist für alle Folgeentscheidungen im Zusammenhang mit einer Bewährungsstrafe, einer bedingten Entlassung, einer bedingten Verurteilung und einer alternativen Sanktion zuständig, insbesondere wenn die verurteilte Person eine Bewährungsmaßnahme oder alternative Sanktion nicht einhält oder eine neue Straftat begeht.

Zu solchen Folgeentscheidungen gehören insbesondere

a)

die Änderung der mit der Bewährungsmaßnahme oder alternativen Sanktion verbundenen Auflagen oder Weisungen oder die Änderung der Dauer der Bewährungszeit;

b)

der Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung des Urteils oder der Widerruf der Entscheidung über eine bedingte Entlassung; und

c)

die Verhängung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßnahme im Falle einer alternativen Sanktion oder bedingten Verurteilung.“

11

Art. 20 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/947 bestimmt:

„Ist im Ausstellungsstaat ein neues Strafverfahren gegen die betreffende Person anhängig, so kann die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats ersuchen, der zuständigen Behörde des Ausstellungsstaats wieder die Zuständigkeit für die Überwachung der Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen sowie für alle weiteren mit dem Urteil in Zusammenhang stehenden Entscheidungen zu übertragen. In diesem Fall kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats der zuständigen Behörde des Ausstellungsstaats diese Zuständigkeit zurückübertragen.“

Estnisches Recht

12

§ 73 Abs. 1 des Karistusseadustik (Strafgesetzbuch) lautet:

„Wenn ein Gericht in Erwägung der Umstände im Zusammenhang mit der begangenen Straftat und der Person des Straftäters befindet, dass die Verbüßung der auf bestimmte Zeit verhängten Freiheitsstrafe oder die Bezahlung der Geldstrafe durch den Straftäter nicht zweckmäßig ist, kann es anordnen, dass die verhängte Strafe ganz oder zum Teil zur Bewährung ausgesetzt wird. Die Strafe kann ganz zur Bewährung ausgesetzt werden, sofern sich aus dem Besonderen Teil des vorliegenden Gesetzbuchs nichts anderes ergibt. Bei der Strafaussetzung zur Bewährung wird die verhängte Strafe ganz oder zum Teil nicht vollstreckt, wenn der Straftäter während der vom Gericht festgesetzten Bewährungszeit keine neue vorsätzliche Straftat begeht …“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

13

Das Rīgas pilsētas Latgales priekšpilsētas tiesa (Gericht der Stadt Riga, Bezirk Latgale) hat mit Urteil vom 24. Januar 2017 gegen A. P. eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt, deren Vollstreckung ausgesetzt wurde.

14

Am 22. Mai 2017 übermittelte das Justiitsministeerium (Justizministerium, Estland) dem Harju Maakohus (Erstinstanzliches Gericht Harju, Estland) einen Antrag der zuständigen lettischen Behörden, das Urteil in Estland anzuerkennen und zu vollstrecken.

15

Mit Beschluss vom 16. Februar 2018 gab das Harju Maakohus (Erstinstanzliches Gericht Harju) dem Antrag statt.

16

Mit Beschluss vom 21. März 2018 erhielt das Tallinna Ringkonnakohus (Berufungsgericht Tallinn, Estland) den Beschluss aufrecht, nachdem A. P. ihn mit einem Rechtsmittel angefochten hatte.

17

A. P. legte gegen den Beschluss des Berufungsgerichts Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.

18

Dieses ist mit Blick auf das Urteil des Rīgas pilsētas Latgales priekšpilsētas tiesa (Gericht der Stadt Riga, Bezirk Latgale) vom 24. Januar 2017 der Ansicht, dass die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe, zu der A. P. verurteilt wurde, nur von der Verpflichtung nach § 73 Abs. 1 des estnischen Strafgesetzbuchs abhänge, keine neue vorsätzliche Straftat zu begehen.

19

Des Weiteren entspreche eine solche Verpflichtung keiner der Bewährungsmaßnahmen oder alternativen Sanktionen gemäß Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/947.

20

Das estnische Recht lasse die Anerkennung eines Urteils nach dem Rahmenbeschluss nur zu, soweit es zumindest eine dieser Bewährungsmaßnahmen oder alternativen Sanktionen verhänge, so dass sich das vorlegende Gericht fragt, ob der Rahmenbeschluss dahin auszulegen sei, dass ein Urteil wie das des Rīgas pilsētas Latgales priekšpilsētas tiesa (Gericht der Stadt Riga, Bezirk Latgale) vom 24. Januar 2017 anzuerkennen sei.

21

Unter diesen Umständen hat das Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Steht die Anerkennung eines Urteils eines Mitgliedstaats und die Überwachung seiner Vollstreckung auch dann im Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2008/947, wenn mit diesem Urteil die Freiheitsstrafe einer verurteilten Person ohne zusätzliche Auflagen zur Bewährung ausgesetzt wird, so dass ihre einzige Verpflichtung darin besteht, während der Bewährungszeit keine neue vorsätzliche Straftat zu begehen (es geht um eine Strafaussetzung zur Bewährung im Sinne von § 73 des estnischen Strafgesetzbuchs)?

Zur Vorlagefrage

Zulässigkeit

22

Die lettische Regierung macht geltend, die Vorlagefrage sei unzulässig, da die Vorlageentscheidung auf einer fehlerhaften Auslegung des lettischen Rechts beruhe, so dass kein echter Rechtsstreit vor dem vorlegenden Gericht vorliege.

23

Erstens gehe das vorlegende Gericht zu Unrecht davon aus, dass A. P. lediglich verpflichtet sei, während der Bewährungszeit keine neue vorsätzliche Straftat zu begehen, da das lettische Recht den Widerruf der Strafaussetzung auch im Fall einer nicht vorsätzlichen Straftat erlaube und Personen, deren Freiheitsstrafe ausgesetzt wurde, automatisch bestimmte Bewährungsmaßnahmen auferlege.

24

Zweitens hätten die estnischen Gerichte nach Art. 8 Abs. 2 sowie Art. 11 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/947 die Gerichte des Ausstellungsstaats auffordern müssen, ihnen alle Informationen zu übermitteln, die zur Vervollständigung der Bescheinigung erforderlich seien, die nach Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses dem von der zuständigen lettischen Behörde übermittelten Urteil beigefügt sei. Wäre das vorlegende Gericht dieser Verpflichtung nachgekommen, hätte es festgestellt, dass im Ausgangsverfahren kein Rechtsstreit anhängig sei.

25

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 27 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Des Weiteren hat der Gerichtshof im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten den tatsächlichen und rechtlichen Kontext der Vorlagefragen, wie er in der Vorlageentscheidung festgelegt ist, zu berücksichtigen. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist daher auf der Grundlage der in ihm enthaltenen Würdigung der Wirkungen des Urteils zu prüfen, mit dem A. P. zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt wurde, und zwar unabhängig davon, welche Kritik die lettische Regierung an dieser Würdigung übt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2019, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal [Familienzusammenführung – Schwester des Flüchtlings], C‑519/18, EU:C:2019:1070, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28

In diesem Kontext greift das Vorbringen der lettischen Regierung, die estnischen Gerichte seien verpflichtet, bei den lettischen Gerichten Informationen einzuholen, nicht durch. Es ist nämlich Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob es über alle Informationen verfügt, die nach dem Rahmenbeschluss 2008/947 zu übermitteln sind, und insbesondere, ob die in dessen Art. 6 angeführte Bescheinigung zu ergänzen ist. Da das vorlegende Gericht davon ausgegangen ist, dass es über ausreichende Angaben verfügte, um nach den maßgeblichen nationalen Rechtsvorschriften die Wirkungen des Urteils zu bestimmen, mit dem A. P. zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung ausgesetzt wurde, verurteilt wurde, steht es dem Gerichtshof nicht zu, diese Beurteilung in Frage zu stellen.

29

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das Vorbringen der lettischen Regierung nicht ausreicht, um zu belegen, dass die Vorlagefrage offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, so dass es nicht geeignet ist, die für diese Frage geltende Vermutung der Entscheidungserheblichkeit zu widerlegen.

Zur Beantwortung der Frage

30

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/947 dahin auszulegen ist, dass die Anerkennung eines Urteils, mit dem eine Freiheitsstrafe verhängt wurde, deren Vollstreckung allein unter der Voraussetzung ausgesetzt wurde, dass eine rechtliche Verpflichtung eingehalten wird, während einer Bewährungszeit keine neue Straftat zu begehen, in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses fällt.

31

Nach seinem Art. 1 Abs. 2 gilt der Rahmenbeschluss 2008/947 nur für die Anerkennung von Urteilen und gegebenenfalls von Bewährungsentscheidungen, für die Übernahme der Zuständigkeit für die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen sowie für alle Folgeentscheidungen, die mit den Entscheidungen über die Anerkennung oder Überwachung zusammenhängen.

32

Nach Art. 2 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck „Urteil“ im Sinne des Rahmenbeschlusses die rechtskräftige Entscheidung oder Anordnung eines Gerichts des Ausstellungsmitgliedstaats, durch die festgestellt wird, dass eine natürliche Person eine Straftat begangen hat, und durch die gegen diese Person eine der in Art. 2 Nr. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses aufgeführten Maßnahmen verhängt wird.

33

Da die Vorlagefrage die Anerkennung einer Gerichtsentscheidung betrifft, mit der eine Freiheitsstrafe verhängt wurde, deren Vollstreckung ausgesetzt wurde, ist auf der Grundlage von Art. 2 Nr. 1 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2008/947, der Gerichtsentscheidungen betrifft, durch die eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe verhängt wird, zu prüfen, ob eine solche Gerichtsentscheidung ein Urteil im Sinne von Art. 2 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/947 darstellt.

34

Der Begriff „Bewährungsstrafe“ wird in Art. 2 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses als Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme definiert, deren Vollstreckung mit der Verurteilung unter Auferlegung einer oder mehrerer Bewährungsmaßnahmen ganz oder teilweise bedingt ausgesetzt wird.

35

Folglich ist zu prüfen, ob die Verpflichtung, während einer Bewährungszeit keine neue Straftat zu begehen, eine Bewährungsmaßnahme im Sinne des Rahmenbeschlusses 2008/947 darstellt.

36

Insoweit geht aus Art. 2 Nr. 7 des Rahmenbeschlusses hervor, dass „Bewährungsmaßnahmen“ im Sinne des Rahmenbeschlusses Auflagen und Weisungen sind, die einer natürlichen Person nach Maßgabe des nationalen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats im Zusammenhang mit einer Bewährungsstrafe, einer bedingten Verurteilung oder einer bedingten Entlassung von einer zuständigen Behörde auferlegt werden.

37

Da diese Bestimmung die Einstufung als „Bewährungsmaßnahmen“ im Sinne des Rahmenbeschlusses nicht auf bestimmte Arten von Verpflichtungen beschränkt, kann die Verpflichtung, während der Bewährungszeit keine weitere Straftat zu begehen, daher als eine solche Bewährungsmaßnahme angesehen werden, wenn sie die Voraussetzung für die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe darstellt.

38

Nach seinem Art. 4 Abs. 1 gilt der Rahmenbeschlusses 2008/947 allerdings für die dort aufgeführten Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen und beschränkt dessen Anwendungsbereich somit grundsätzlich auf eben diese.

39

Diese Beschränkung kann zwar in bestimmten Situationen außer Acht gelassen werden, da jeder Mitgliedstaat nach Art. 4 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses andere Bewährungsmaßnahmen oder alternative Sanktionen mitteilen kann, die er zu überwachen bereit ist.

40

Der Vorlageentscheidung zufolge hat die Republik Estland von dieser Möglichkeit jedoch keinen Gebrauch gemacht und sieht das estnische Recht nur die Überwachung der Bewährungsmaßnahmen oder alternativen Sanktionen gemäß Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/947 vor.

41

In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass die Verpflichtung, während einer Bewährungszeit keine neue Straftat zu begehen, unter den in dieser Bestimmung aufgeführten Kategorien von Verpflichtungen und Anordnungen nicht erwähnt wird.

42

Art. 4 Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses bezieht sich jedoch auf die weiter gefasste Kategorie der „Weisungen, die das Verhalten … betreffen“.

43

Der letztgenannte Ausdruck wird im Rahmenbeschluss nicht definiert, so dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs seine Bedeutung und Tragweite entsprechend seinem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem er verwendet wird, und der mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgten Ziele zu bestimmen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2012, Ketelä, C‑592/11, EU:C:2012:673, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Hierzu ist erstens festzustellen, dass die einer verurteilten Person auferlegte Verpflichtung, während einer Bewährungszeit keine neue Straftat zu begehen, da sie eine Anweisung darstellt, mit der das Verhalten dieser Person bestimmt werden soll, als eine „Weisung, die das Verhalten betrifft“ anzusehen ist, und zwar in dem üblichen Sinn, den dieser Ausdruck im allgemeinen Sprachgebrauch hat.

45

Zweitens deutet auch der Kontext, in den sich Art. 4 Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2008/947 einfügt, darauf hin, dass diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass sie u. a. eine solche Verpflichtung umfasst.

46

Als Erstes ist, sofern das vorlegende Gericht wissen möchte, ob der Rahmenbeschluss auf die genannte Verpflichtung angewandt werden kann, obwohl diese seiner Auffassung nach nicht die Durchführung aktiver Überwachungsmaßnahmen durch den Vollstreckungsmitgliedstaat bedeutet, festzustellen, dass mehrere in Art. 4 des Rahmenbeschlusses genannte Bewährungsmaßnahmen nicht notwendigerweise die Durchführung solcher Überwachungsmaßnahmen erfordern. Dies gilt insbesondere für die in Art. 4 Abs. 1 Buchst. b, f und g des Rahmenbeschlusses genannten Verpflichtungen, bestimmte Orte, Plätze oder festgelegte Gebiete nicht zu betreten oder den Kontakt mit bestimmten Personen oder auch mit bestimmten Gegenständen zu meiden.

47

Als Zweites bestimmt Art. 14 Abs. 1 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/947, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats u. a. für alle Folgeentscheidungen im Zusammenhang mit einer Bewährungsstrafe zuständig ist, insbesondere wenn die verurteilte Person eine neue Straftat begeht.

48

Nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und b des Rahmenbeschlusses können die insoweit ergangenen Entscheidungen die Änderung einer Bewährungsmaßnahme, die Änderung der Dauer der Bewährungszeit oder den Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung bestimmen.

49

Daraus folgt, dass eine der Wirkungen der Anerkennung eines Urteils, mit dem eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe verhängt wird, darin besteht, der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats die Befugnis zu verleihen, Maßnahmen in Bezug auf die ursprünglich bewilligte Aussetzung zu erlassen, die erforderlich erscheinen, wenn die verurteilte Person eine neue Straftat begeht.

50

Unter diesen Umständen würde eine Auslegung der in Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/947 enthaltenen Aufzählung dahin, dass sie nicht die Verpflichtung umfasst, keine neue Straftat zu begehen, zu einem widersinnigen Ergebnis führen.

51

Eine solche Auslegung hieße nämlich, der zuständigen Behörde des Wohnsitzmitgliedstaats notwendigerweise die Befugnis zu verweigern, weitere Maßnahmen zu erlassen, falls die verurteilte Person eine neue Straftat begeht, sofern das Urteil, mit dem eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe verhängt wird, die Beibehaltung der Strafaussetzung ausschließlich an die Einhaltung dieser Verpflichtung knüpft. Diese Befugnis würde der Behörde aber zuerkannt, wenn die Aussetzung von einer anderen Verpflichtung gemäß Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/947 abhängt, die nicht unmittelbar mit der etwaigen Begehung einer neuen Straftat verbunden ist. Die letztgenannte Lösung käme insbesondere dann zur Anwendung, wenn diese andere Verpflichtung einen sehr begrenzten Umfang hat, wie die Verpflichtung nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses, einer bestimmten Behörde jeden Wohnsitz- oder Arbeitsplatzwechsel mitzuteilen, oder wenn diese andere Verpflichtung keine Verbindung zum Vollstreckungsmitgliedstaat aufweist, wie die Verpflichtung nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. b des Rahmenbeschlusses, bestimmte festgelegte Gebiete im Ausstellungsmitgliedstaat nicht zu betreten.

52

Wird drittens zugelassen, dass nach dem Rahmenbeschluss 2008/947 ein Urteil, mit dem eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe verhängt wurde, anerkannt werden kann, wenn die Vollstreckung der Strafe allein unter der Voraussetzung ausgesetzt wurde, dass keine neue Straftat begangen wird, ist dies geeignet, zur Verwirklichung der mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziele beizutragen. Mit dem Rahmenbeschluss werden, wie sich aus seinem Art. 1 Abs. 1 sowie aus seinen Erwägungsgründen 8 und 24 ergibt, drei einander ergänzende Ziele verfolgt, nämlich die Erleichterung der Resozialisierung verurteilter Personen, die Verbesserung des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit bei Unterbindung neuer Straftaten sowie die Erleichterung der Anwendung angemessener Bewährungsmaßnahmen und alternativer Sanktionen auf Straftäter, die nicht im Urteilsmitgliedstaat leben.

53

Insbesondere sind die Behörden des Mitgliedstaats, in dem die verurteilte Person wohnt, im Allgemeinen besser geeignet, die Einhaltung dieser Verpflichtung zu überwachen und die Konsequenzen aus einem etwaigen Verstoß zu ziehen, da sie grundsätzlich eher in der Lage sind, die Art des Verstoßes, die Situation des Verstoßenden und seine Aussichten auf eine Resozialisierung zu beurteilen.

54

Außerdem ist festzustellen, dass der Zusammenhang, der zwischen der Aussetzung der Strafvollstreckung und der Verpflichtung, keine neue Straftat zu begehen, hergestellt wird, einem Rückfall entgegenwirken soll. Der zuständigen Behörde des Wohnsitzmitgliedstaats zu gestatten, die Konsequenzen aus einem etwaigen Verstoß gegen diese Verpflichtung zu ziehen, ist daher geeignet, zur Erreichung des Ziels des Opferschutzes und des Schutzes der Allgemeinheit beizutragen.

55

Vor diesem Hintergrund kann die Verpflichtung, während einer Bewährungszeit keine neue Straftat zu begehen, grundsätzlich eine Bewährungsmaßnahme im Sinne von Art. 2 Nr. 7 des Rahmenbeschlusses 2008/947 darstellen, wenn sie eine Voraussetzung für die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist.

56

Jedoch stellt Art. 2 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses klar, dass Bewährungsmaßnahmen im Zusammenhang mit einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe im Urteil selbst oder in einer eigenständigen Bewährungsentscheidung einer zuständigen Behörde auferlegt werden können.

57

Außerdem werden nach Art. 2 Nr. 7 des Rahmenbeschlusses die dort genannten Bewährungsmaßnahmen definitionsgemäß „von einer zuständigen Behörde auferlegt“.

58

Daraus folgt, dass es Sache der zuständigen Behörde des Ausstellungsmitgliedstaats ist, die Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßnahme so zu bestimmen, dass die Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats auf der Grundlage des Urteils oder der Bewährungsentscheidung feststellen können, welche Bewährungsmaßnahmen der verurteilten Person auferlegt wurden. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies unter Berücksichtigung der Angaben in dem übermittelten Urteil im Ausgangsverfahren der Fall ist.

59

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/947 in Verbindung mit dessen Art. 4 Abs. 1 Buchst. d dahin auszulegen ist, dass die Anerkennung eines Urteils, mit dem eine Freiheitsstrafe verhängt wurde, deren Vollstreckung allein unter der Voraussetzung ausgesetzt wurde, dass eine rechtliche Verpflichtung eingehalten wird, während einer Bewährungszeit keine neue Straftat zu begehen, in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses fällt, sofern sich diese rechtliche Verpflichtung aus dem Urteil oder aus einer auf dessen Grundlage ergangenen Bewährungsentscheidung ergibt, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Kosten

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Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. d dieses Rahmenbeschlusses ist dahin auszulegen, dass die Anerkennung eines Urteils, mit dem eine Freiheitsstrafe verhängt wurde, deren Vollstreckung allein unter der Voraussetzung ausgesetzt wurde, dass eine rechtliche Verpflichtung eingehalten wird, während einer Bewährungszeit keine neue Straftat zu begehen, in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses fällt, sofern sich diese rechtliche Verpflichtung aus dem Urteil oder aus einer auf dessen Grundlage ergangenen Bewährungsentscheidung ergibt, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Estnisch.