SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 11. Februar 2021 ( 1 )

Rechtssache C‑910/19

Bankia SA

gegen

Unión Mutua Asistencial de Seguros (UMAS)

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo [Oberster Gerichtshof, Spanien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/71/EG – Gesellschaften – Pflicht zur Veröffentlichung eines Prospekts beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel – Qualifizierte und nicht qualifizierte Anleger – Zivilrechtliche Haftung gegenüber qualifizierten Anlegern im Fall eines fehlerhaften oder unvollständigen Prospekts“

I. Einleitung

1.

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG ( 2 ).

2.

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bankia SA und der Unión Mutua Asistencial de Seguros (UMAS), einer Versicherungseinrichtung auf Gegenseitigkeit, die bei Vorliegen eines Prospekts mit gravierenden Unrichtigkeiten Aktien der erstgenannten Gesellschaft erworben hat.

3.

Diese Rechtssache bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, die Bestimmungen der Richtlinie 2003/71 auszulegen, mit der ein Prospekt eingeführt wurde, der wie eine Einmalzulassung für alle Notierungsorte für von einem Emittenten ausgegebene Wertpapiere im Gebiet der Union verwendet werden kann. Mit dieser Richtlinie wurde zwar der Inhalt dieses Prospekts weitgehend harmonisiert, sie hat jedoch einerseits den Mitgliedstaaten bei der Wahl des Systems und der Modalitäten, nach denen insbesondere Emittenten oder Anbieter in Bezug auf den Inhalt der in den Prospekten enthaltenen Angaben zivilrechtlich haftbar gemacht werden können, und andererseits den Emittenten, die zwar in bestimmten Fällen, insbesondere wenn sich das Zeichnungsangebot nur an qualifizierte Anleger richtet, keinen solchen Prospekt veröffentlichen müssen, dies aber dennoch freiwillig tun können, einen Spielraum gelassen.

4.

So geht es bei den Fragen des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) erstens darum, ob ein fehlerhafter Prospekt als Grundlage für eine zivilrechtliche Haftungsklage eines qualifizierten Anlegers dienen kann, und zweitens darum, ob sich der Nachweis der Kenntnis der tatsächlichen Situation des Emittenten durch den qualifizierten Anleger aus dem Bestehen geschäftlicher oder rechtlicher Beziehungen zwischen ihnen (Zugehörigkeit zur Anteilseignerschaft, Beteiligung an Leitungsorganen usw.) ableiten lässt.

5.

Ich werde dem Gerichtshof vorschlagen, auf die erste Frage zu antworten, dass ein Prospekt, dessen Inhalt unrichtig ist, immer als Grundlage für eine zivilrechtliche Haftungsklage eines qualifizierten Anlegers dienen kann, und auf die zweite Frage, dass die Beurteilung des Umfangs der Kenntnis der qualifizierten Anleger von der wirtschaftlichen Situation des Emittenten oder des Anbieters für die Zwecke der Geltendmachung zivilrechtlicher Haftungsansprüche ihnen gegenüber dem nationalen Recht unterliegt, sofern die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz beachtet werden.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Richtlinie 2003/71

6.

In den Erwägungsgründen 10, 16, 18, 19 und 27 der Richtlinie 2003/71 heißt es:

„(10)

Ziel dieser Richtlinie und der in ihr vorgesehenen Durchführungsmaßnahmen ist es, in Übereinstimmung mit den strengen Aufsichtsbestimmungen, die in den einschlägigen internationalen Foren festgelegt wurden, den Anlegerschutz und die Markteffizienz sicherzustellen.

(16)

Ein Ziel dieser Richtlinie ist der Anlegerschutz. Deshalb ist es angebracht, den unterschiedlichen Schutzanforderungen für die verschiedenen Anlegerkategorien und ihrem jeweiligen Sachverstand Rechnung zu tragen. Die Angaben gemäß dem Prospekt werden für Angebote, die sich ausschließlich an qualifizierte Anleger richten, nicht gefordert. Dagegen ist bei Weiterveräußerung an das Publikum oder öffentlichem Handel mittels der Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt die Veröffentlichung eines Prospekts erforderlich.

(18)

Vollständige Informationen über Wertpapiere und deren Emittenten kommen – zusammen mit den Wohlverhaltensregeln – dem Anlegerschutz zugute. Darüber hinaus stellen diese Informationen ein wirksames Mittel dar, um das Vertrauen in die Wertpapiere zu erhöhen und so zur reibungslosen Funktionsweise und zur Entwicklung der Wertpapiermärkte beizutragen. Die geeignete Form zur Bereitstellung dieser Informationen ist die Veröffentlichung eines Prospekts.

(19)

Anlagen in Wertpapieren sind – wie alle anderen Anlageformen – mit Risiken behaftet. Deshalb sind in allen Mitgliedstaaten Schutzmaßnahmen zur Absicherung der Interessen der derzeitigen und potenziellen Anleger erforderlich, um sie in die Lage zu versetzen, eine fundierte Bewertung der Anlagerisiken vornehmen und somit Anlageentscheidungen in voller Kenntnis der Sachlage treffen zu können.

(27)

Anleger sollten durch die Veröffentlichung verlässlicher Informationen geschützt werden. Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel an einem geregelten Markt zugelassen werden, unterliegen einer laufenden Offenlegungspflicht, nicht aber der Pflicht zur regelmäßigen Veröffentlichung aktualisierter Informationen. Neben dieser Verpflichtung sollten die Emittenten zumindest einmal jährlich alle wichtigen Informationen, die sie in den vorausgegangenen zwölf Monaten veröffentlicht oder dem Publikum zur Verfügung gestellt haben, auflisten, einschließlich der Informationen, die gemäß den verschiedenen Rechnungslegungspflichten anderer [Union]svorschriften gefordert werden. Auf diese Weise sollte gewährleistet werden, dass kohärente und leicht verständliche Informationen regelmäßig veröffentlicht werden. Um bestimmte Emittenten nicht übermäßig zu belasten, sollten Emittenten von Nichtdividendenwerten mit hoher Mindeststückelung von dieser Verpflichtung ausgenommen sein.“

7.

Art. 2 der Richtlinie 2003/71 bestimmt:

„(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

d)

‚öffentliches Angebot von Wertpapieren‘ eine Mitteilung an das Publikum in jedweder Form und auf jedwede Art und Weise, die ausreichende Informationen über die Angebotsbedingungen und die anzubietenden Wertpapiere enthält, um einen Anleger in die Lage zu versetzen, sich für den Kauf oder die Zeichnung dieser Wertpapiere zu entscheiden. Diese Definition gilt auch für die Platzierung von Wertpapieren durch Finanzintermediäre;

e)

‚qualifizierte Anleger‘

i)

juristische Personen, die in Bezug auf ihre Tätigkeit auf den Finanzmärkten zugelassen sind bzw. beaufsichtigt werden. Dazu zählen: Kreditinstitute, Wertpapierfirmen, sonstige zugelassene oder beaufsichtigte Finanzinstitute, Versicherungsgesellschaften, Organismen für gemeinsame Anlagen und ihre Verwaltungsgesellschaften, Pensionsfonds und ihre Verwaltungsgesellschaften, Warenhändler sowie Einrichtungen, die weder zugelassen sind noch beaufsichtigt werden und deren einziger Geschäftszweck in der Wertpapieranlage besteht;

ii)

nationale und regionale Regierungen, Zentralbanken, internationale und supranationale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds, die Europäische Zentralbank, die Europäische Investitionsbank und andere vergleichbare internationale Organisationen;

iii)

andere juristische Personen, die zwei der drei Kriterien nach Buchstabe f) nicht erfüllen;

iv)

bestimmte natürliche Personen: [V]orbehaltlich der gegenseitigen Anerkennung kann ein Mitgliedstaat natürliche Personen zulassen, die in dem Mitgliedstaat wohnhaft sind und ausdrücklich als qualifizierte Anleger angesehen werden möchten, sofern sie zumindest zwei der in Absatz 2 genannten Kriterien erfüllen;

v)

bestimmte KMU: [V]orbehaltlich der gegenseitigen Anerkennung kann ein Mitgliedstaat KMU zulassen, die ihren Sitz in diesem Mitgliedstaat haben und ausdrücklich als qualifizierte Anleger angesehen werden möchten;

f)

‚kleine und mittlere Unternehmen‘ Gesellschaften, die laut ihrem letzten Jahresabschluss bzw. konsolidierten Abschluss zumindest zwei der nachfolgenden drei Kriterien erfüllen: eine durchschnittliche Beschäftigtenzahl im letzten Geschäftsjahr von weniger als 250, eine Gesamtbilanzsumme von höchstens 43000000 EUR und ein Jahresnettoumsatz von höchstens 50000000 EUR;

g)

‚Kreditinstitute‘ Unternehmen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a) der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute[ ( 3 )];

h)

‚Emittent‘ eine Rechtspersönlichkeit, die Wertpapiere begibt oder zu begeben beabsichtigt;

i)

‚Person, die ein Angebot unterbreitet‘ (‚Anbieter‘) eine juristische oder natürliche Person, die Wertpapiere öffentlich anbietet;

(2)   Für die Zwecke von Absatz 1 Buchstabe e) Ziffer iv) gelten die folgenden Kriterien:

a)

Der Anleger hat an Wertpapiermärkten Geschäfte in großem Umfang getätigt und in den letzten vier Quartalen durchschnittlich mindestens zehn Transaktionen pro Quartal abgeschlossen;

b)

der Wert des Wertpapierportfolios des Anlegers übersteigt 0,5 Mio. EUR;

c)

der Anleger ist oder war mindestens ein Jahr lang im Finanzsektor in einer beruflichen Position tätig, die Kenntnisse auf dem Gebiet der Wertpapieranlage voraussetzt.

…“

8.

Art. 3 der Richtlinie 2003/71 sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten gestatten in ihrem Hoheitsgebiet kein öffentliches Angebot von Wertpapieren ohne vorherige Veröffentlichung eines Prospekts.

(2)   Die Verpflichtung zur Veröffentlichung eines Prospekts gilt nicht für folgende Angebotsformen:

a)

ein Wertpapierangebot, das sich ausschließlich an qualifizierte Anleger richtet;

(3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jede Zulassung von Wertpapieren zum Handel an einem geregelten Markt, der in ihrem Hoheitsgebiet gelegen ist oder dort funktioniert, an die Veröffentlichung eines Prospekts gebunden ist.“

9.

Art. 4 dieser Richtlinie sieht für bestimmte Kategorien von Wertpapieren Ausnahmen von der Pflicht zur Veröffentlichung eines Prospekts vor.

10.

Art. 5 der Richtlinie lautet:

„(1)   Der Prospekt enthält unbeschadet der Bestimmungen des Artikels 8 Absatz 2 sämtliche Angaben, die entsprechend den Merkmalen des Emittenten und der öffentlich angebotenen bzw. zum Handel an dem geregelten Markt zugelassenen Wertpapiere erforderlich sind, damit die Anleger sich ein fundiertes Urteil über die Vermögenswerte und Verbindlichkeiten, die Finanzlage, die Gewinne und Verluste, die Zukunftsaussichten des Emittenten und jedes Garantiegebers sowie über die mit diesen Wertpapieren verbundenen Rechte bilden können. Diese Informationen sind in leicht zu analysierender und verständlicher Form darzulegen.

(2)   Der Prospekt enthält Angaben zum Emittenten und zu den Wertpapieren, die öffentlich angeboten oder zum Handel an einem geregelten Markt zugelassen werden sollen. Er enthält ferner eine Zusammenfassung. Die Zusammenfassung nennt kurz und in allgemein verständlicher Sprache die wesentlichen Merkmale und Risiken, die auf den Emittenten, jeden Garantiegeber und die Wertpapiere zutreffen, und ist in der Sprache abzufassen, in der der Prospekt ursprünglich erstellt wurde. Die Zusammenfassung muss zudem Warnhinweise enthalten, dass

a)

sie als Einleitung zum Prospekt verstanden werden sollte und

b)

der Anleger jede Entscheidung zur Anlage in die betreffenden Wertpapiere auf die Prüfung des gesamten Prospekts stützen sollte und

c)

für den Fall, dass vor einem Gericht Ansprüche aufgrund der in einem Prospekt enthaltenen Informationen geltend gemacht werden, der als Kläger auftretende Anleger in Anwendung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten die Kosten für die Übersetzung des Prospekts vor Prozessbeginn zu tragen haben könnte und

d)

diejenigen Personen, die die Zusammenfassung einschließlich einer Übersetzung davon vorgelegt und deren Meldung beantragt haben, haftbar gemacht werden können, jedoch nur für den Fall, dass die Zusammenfassung irreführend, unrichtig oder widersprüchlich ist, wenn sie zusammen mit den anderen Teilen des Prospekts gelesen wird.

…“

11.

Art. 6 der Richtlinie 2003/71 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass je nach Fall zumindest der Emittent oder dessen Verwaltungs‑, Management- bzw. Aufsichtsstellen, der Anbieter, die Person, die die Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt beantragt, oder der Garantiegeber für die in einem Prospekt enthaltenen Angaben haftet. Die verantwortlichen Personen sind im Prospekt eindeutig unter Angabe ihres Namens und ihrer Stellung – bei juristischen Personen ihres Namens und ihres Sitzes – zu nennen; der Prospekt muss zudem eine Erklärung dieser Personen enthalten, dass ihres Wissens die Angaben in dem Prospekt richtig sind und darin keine Tatsachen verschwiegen werden, die die Aussage des Prospekts verändern können.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Bereich der Haftung für die Personen gelten, die für die in einem Prospekt enthaltenen Angaben verantwortlich sind.

…“

B.   Spanisches Recht

12.

Art. 28 der Ley 24/1988 del Mercado de Valores (Gesetz 24/1988 über den Wertpapierhandel) vom 28. Juli 1988 ( 4 ) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht vor:

„(1)   Für die im Prospekt enthaltenen Angaben haften zumindest der Emittent, der Anbieter oder die Person, die die Zulassung zum Handel an einem geregelten Sekundärmarkt beantragt, sowie die Mitglieder von deren Leitungs- bzw. Verwaltungsorganen, nach den im Verordnungswege festgelegten Bedingungen.

Ebenso trifft die Haftung nach dem vorstehenden Absatz den Garantiegeber für die Wertpapiere in Bezug auf die zu erstellenden Informationen. Auch die den Vorgang leitende Einrichtung haftet für die durchzuführenden Überprüfungsaufgaben nach den im Verordnungswege festgelegten Bestimmungen.

Ferner haften unter den im Verordnungswege festgelegten Bedingungen diejenigen weiteren Personen, die eine Verantwortlichkeit für den Prospekt übernehmen, sofern dies aus diesem Dokument hervorgeht, sowie diejenigen nicht zu den vorstehend genannten Personen gehörenden weiteren Personen, die den Inhalt des Prospekts genehmigt haben.

(2)   Die für die im Prospekt enthaltenen Angaben verantwortlichen Personen sind dort eindeutig unter Angabe ihres Namens und ihrer Stellung bzw. bei juristischen Personen ihrer Bezeichnung und ihres Sitzes zu nennen. Des Weiteren haben sie zu erklären, dass ihres Wissens die Angaben in dem Prospekt richtig sind und darin keine Tatsachen verschwiegen werden, die die Aussage des Prospekts verändern können.

(3)   Sämtliche in den vorstehenden Absätzen genannten Personen haften gemäß den im Verordnungswege festgelegten Bedingungen gegebenenfalls für alle Schäden, die sie bei den Inhabern der Wertpapiere verursacht haben, die infolge der unrichtigen Informationen oder der Auslassung relevanter Angaben im Prospekt oder im vom Garantiegeber gegebenenfalls zu erstellenden Dokument erworben wurden.

Die Verjährungsfrist für die Klage zur Geltendmachung der Haftung beträgt drei Jahre ab dem Zeitpunkt, in dem der Kläger Kenntnis von der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit des Prospektinhalts erlangen konnte.

(4)   Auf der Grundlage der Zusammenfassung oder ihrer Übersetzung kann keine Haftung der in den vorstehenden Absätzen genannten Personen geltend gemacht werden, es sei denn, diese ist irreführend unrichtig oder widersprüchlich, wenn sie zusammen mit den anderen Teilen des Prospekts gelesen wird, oder sie vermittelt, wenn sie zusammen mit den anderen Teilen des Prospekts gelesen wird, nicht alle Schlüsselinformationen, um den Anlegern bei der Prüfung der Frage, ob sie in diese Wertpapiere investieren sollten, behilflich zu sein.“

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

13.

Im Jahr 2011 nahm Bankia ein öffentliches Aktienzeichnungsangebot für ihren Börsengang vor, das zwei Teile umfasste: Der erste richtete sich an Kleinanleger, Mitarbeiter und Mitglieder der Leitungs- bzw. Verwaltungsorgane, der zweite für die sogenannte „institutionelle Kategorie“ an qualifizierte Anleger.

14.

Ab dem 29. Juni 2011, dem Tag der Registrierung des Prospekts bei der Comisión Nacional del Mercado de Valores (Nationale Wertpapiermarktkommission, Spanien), wurden den Anlegern beide Teile angeboten. Von diesem Zeitpunkt bis zum 18. Juli 2011 lief die sogenannte „Orderzeichnungsfrist“, in der potenzielle qualifizierte Anleger Zeichnungsgebote abgeben konnten.

15.

Am 18. Juli 2011 wurde der Preis der Aktien für beide Teile des öffentlichen Angebots auf 3,75 Euro festgesetzt.

16.

Im Rahmen des Zeichnungsangebots wandte sich Bankia an UMAS, eine Einrichtung, die im Bereich der Versicherung auf Gegenseitigkeit tätig ist und daher als qualifizierter Anleger anzusehen ist. Am 5. Juli 2011 unterbreitete UMAS ein Kaufangebot in Höhe von 600000 Euro für 160000 Aktien zu je 3,75 Euro.

17.

Nach einer Neufassung des Jahresabschlusses von Bankia verloren die Aktien auf dem Sekundärmarkt fast ihren gesamten Wert, und ihre Notierung wurde ausgesetzt.

18.

Im Rahmen früherer, von Kleinanlegern angestrengter Verfahren hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) festgestellt, dass der von Bankia erstellte Prospekt schwerwiegende Unrichtigkeiten in Bezug auf die tatsächliche finanzielle Situation der Emittentin aufweise.

19.

UMAS erhob Klage gegen Bankia, mit der sie in erster Linie die Feststellung der Nichtigkeit der Aktienkauforder wegen eines Irrtums bei der Einigung und hilfsweise die Inhaftungnahme von Bankia wegen des irreführenden Charakters des Prospekts begehrte. Das erstinstanzliche Gericht stellte die Nichtigkeit der Aktienkauforder wegen eines Irrtums, der zu einem Einigungsmangel führt, fest und ordnete die Rückerstattung der gezahlten Beträge an.

20.

Bankia legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Audiencia Provincial (Provinzgericht, Spanien) ein. Diese wies die Nichtigkeitsklage ab, gab aber der gegen Bankia wegen des fehlerhaften Prospekts erhobenen Haftungsklage statt.

21.

Bankia legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein. Sie war der Ansicht, dass weder die Richtlinie 2003/71 noch das spanische Recht ausdrücklich die Möglichkeit für qualifizierte Anleger vorsähen, den Emittenten wegen eines fehlerhaften Prospekts haftbar zu machen, wenn das öffentliche Zeichnungsangebot gemischt sei, d. h., sich sowohl an Kleinanleger als auch an qualifizierte Anleger richte. Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie ausschließlich an qualifizierte Anleger gerichtete Angebote von der Erstellung eines Prospekts ausnehme, da diese über die Fähigkeiten und Informationsmittel verfügten, die ihnen eine Entscheidung in Kenntnis der Sachlage ermöglichten. Nach dem 27. Erwägungsgrund der Richtlinie sollten jedoch Anleger durch die Veröffentlichung verlässlicher Informationen geschützt werden, ohne dass zwischen den verschiedenen Anlegerkategorien unterschieden wird.

22.

Unter diesen Umständen hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen nach der Auslegung von Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 der Richtlinie 2003/71 zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Wenn ein öffentliches Angebot zur Zeichnung von Aktien sowohl an Kleinanleger als auch an qualifizierte Anleger gerichtet ist und ein Prospekt für die Kleinanleger herausgegeben wird, steht dann die Prospekthaftungsklage beiden Anlegerkategorien oder nur den Kleinanlegern offen?

2.

Für den Fall, dass die erste Frage dahin beantwortet wird, dass die Klage auch den qualifizierten Anlegern zur Verfügung steht: Ist es möglich, den Grad ihrer über die Prospektangaben hinausgehenden Kenntnis über die wirtschaftliche Lage des Emittenten des öffentlichen Zeichnungsangebots aufgrund ihrer Rechts- oder Geschäftsbeziehungen mit diesem (als Aktionär, Mitglied seiner Verwaltungsorgane etc.) zu berücksichtigen?

23.

Bankia, UMAS, die spanische und die tschechische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV. Würdigung

24.

Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 der Richtlinie 2003/71 in Verbindung mit deren Art. 3 Abs. 2 Buchst. a dahin auszulegen ist, dass in dem Fall, dass sich ein öffentliches Angebot zur Zeichnung von Wertpapieren sowohl an Kleinanleger als auch an qualifizierte Anleger richtet und ein Prospekt erstellt wird, eine Prospekthaftungsklage von qualifizierten Anlegern erhoben werden kann, obwohl es nicht erforderlich ist, ein solches Dokument zu veröffentlichen, wenn sich das Angebot ausschließlich an diese Anleger richtet. Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht für den Fall der Bejahung der ersten Frage wissen, ob Art. 6 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass im Fall einer Klage eines qualifizierten Anlegers bei der Feststellung, ob die Haftung der emittierenden Einrichtung ausgelöst wird, berücksichtigt werden kann, dass dieser Anleger Zugang zu Informationen über die wirtschaftliche Situation der Gesellschaft, die das öffentliche Angebot abgegeben hat, haben konnte, die nicht im Prospekt enthalten sind.

25.

Zur Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts sind im Fall eines fehlerhaften Prospekts, der im Rahmen eines gemischten Angebots erstellt wurde, d. h. eines Angebots, das aus zwei Teilen besteht, von denen der eine für qualifizierte Anleger und der andere für Kleinanleger bestimmt ist, erstens das Bestehen eines Grundsatzes der zivilrechtlichen Haftung gegenüber qualifizierten Anlegern und gegebenenfalls zweitens die Modalitäten der Begründung dieser Haftung zu prüfen.

26.

Vorab ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die von UMAS erhobene Einrede der Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs zurückzuweisen ist ( 5 ).

27.

Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht nämlich den Zusammenhang zwischen dem Gegenstand des Rechtsstreits und der erbetenen Auslegung des Unionsrechts, das tatsächliche Bestehen des zu lösenden Problems und die tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, deren Angabe für eine zweckdienliche Beantwortung der Vorlagefragen erforderlich ist, hinreichend dargelegt.

A.   Kann ein fehlerhafter Prospekt als Grundlage für eine zivilrechtliche Haftungsklage eines qualifizierten Anlegers gegen den Emittenten der Wertpapiere dienen?

28.

Diese Frage stellt sich in dem Fall, der im Ausgangsverfahren zu prüfen ist, nämlich dem eines gemischten Angebots, das im Rahmen eines öffentlichen Angebots (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/71) oder bei der Emission von Wertpapieren zur Notierung an einem geregelten Markt erfolgen kann, da in diesem Fall die Veröffentlichung eines Prospekts vorgeschrieben ist und qualifizierte Anleger wie auch Kleinanleger solche Wertpapiere erwerben können (Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie).

29.

Art. 6 der Richtlinie stellt einen Haftungsgrundsatz für den Fall der Erstellung eines fehlerhaften oder unvollständigen Prospekts auf, der die Verpflichtung der Mitgliedstaaten umfasst, dafür zu sorgen, dass zum einen die für den Inhalt des Prospekts verantwortlichen Personen identifiziert und im Prospekt genannt werden (Abs. 1) und zum anderen in Bezug auf diese Personen eine zivilrechtliche Haftungsregelung besteht (Abs. 2).

30.

Art. 6 der Richtlinie 2003/71 sieht gleichwohl keine Ausnahme von diesem Haftungsgrundsatz vor, der auf der Natur des gemischten Angebots beruht, unabhängig davon, ob die Wertpapiere nur öffentlich angeboten werden oder zur Notierung an einem geregelten Markt bestimmt sind, während andere Bestimmungen dieser Richtlinie Ausnahmen von der Pflicht zur Veröffentlichung eines Prospekts vorsehen, anknüpfend entweder an die Adressaten des Angebots, den Wert der Wertpapiere oder des gesamten ausgegebenen Angebots (Art. 3 Abs. 2) oder die Art der ausgegebenen Wertpapiere (Art. 4). Diese Ausnahmen von der Veröffentlichungspflicht verbieten jedoch nicht die freiwillige Veröffentlichung eines Prospekts durch einen Emittenten, der dann in den Genuss der „Einmalzulassung“ kommt, wenn die Emission auf einem geregelten Markt stattfindet ( 6 ).

31.

Das vorlegende Gericht fragt sich aufgrund der in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/71 vorgesehenen Ausnahme von der Pflicht zur Veröffentlichung eines Prospekts, wenn das Angebot qualifizierten Anlegern vorbehalten ist, ob diese eine zivilrechtliche Haftungsklage wegen Unrichtigkeit des Prospekts erheben können. Damit scheint das vorlegende Gericht von der Prämisse auszugehen, dass qualifizierte Anleger, da der Prospekt ausschließlich dazu bestimmt sei, nicht qualifizierte Anleger zu schützen und zu informieren, nicht geltend machen könnten, dass dieser Prospekt fehlerhaft sei, um eine zivilrechtliche Haftungsklage zu erheben.

32.

In Wirklichkeit schaffen die genannten Ausnahmen, in ihrer Gesamtheit betrachtet, allerdings faktisch Situationen, in denen entweder nicht qualifizierte Anleger nicht in den Genuss eines Prospekts kommen ( 7 ) oder qualifizierte Anleger in den Genuss eines Prospekts kommen, während sie, wenn sie die alleinigen Adressaten des Angebots, außerhalb eines geregelten Marktes, gewesen wären, nicht in den Genuss eines Prospekts gekommen wären. Abgesehen vom gemischten Angebot außerhalb eines geregelten Marktes, das in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/71 geregelt ist, kommen qualifizierte Anleger nämlich im Fall eines Angebots, das auf Zulassung zu einem geregelten Markt abzielt, gemäß Abs. 3 dieses Artikels in den Genuss eines Prospekts, vorbehaltlich der Ausnahmen in Bezug auf die Art der ausgegebenen Wertpapiere gemäß Art. 4 Abs. 2 der genannten Richtlinie, die auch für nicht qualifizierte Anleger gelten. Qualifizierte Anleger können ferner in den Genuss einer freiwilligen Veröffentlichung eines Prospekts durch den Emittenten kommen.

33.

Sowohl die wörtliche als auch die systematische Auslegung der Richtlinie 2003/71 sprechen somit gegen den Gedanken, dass der Prospekt nur zum Schutz nicht qualifizierter Anleger erstellt wird.

34.

Außerdem geht die teleologische Auslegung dieser Richtlinie in die gleiche Richtung. Hauptziel dieser Richtlinie ist es nämlich, durch die Entwicklung des Zugangs zu den Finanzmärkten (18. Erwägungsgrund), insbesondere für KMU (vierter Erwägungsgrund), die Vollendung des Binnenmarkts für Wertpapiere (45. Erwägungsgrund) zu ermöglichen:

zum einen, indem durch die Einführung einer Einmalzulassung die administrativen Aufgaben für die Emittenten erleichtert werden (erster Erwägungsgrund) und dank der Möglichkeit der Aufnahme von Informationen in den Prospekt durch einfachen Verweis auf bereits vorhandene und validierte Informationen die Kosten gesenkt werden (29. Erwägungsgrund), und

zum anderen dadurch, dass grenzüberschreitende Angebote erleichtert werden, indem u. a. die mit der Übersetzung in alle Amtssprachen verbundenen Mehrkosten vermieden werden (35. Erwägungsgrund).

35.

Eines der anderen Ziele der Richtlinie 2003/71, das in ihrem 16. Erwägungsgrund genannt wird, ist der „Anlegerschutz“, wobei den unterschiedlichen „Schutzanforderungen für die verschiedenen Anlegerkategorien und ihrem jeweiligen Sachverstand“ Rechnung zu tragen ist. Dieser Schutz erfolgt über die Veröffentlichung vollständiger (Erwägungsgründe 18 und 20), verlässlicher (27. Erwägungsgrund) und zugänglicher (21. Erwägungsgrund) Informationen, die die Anleger in die Lage versetzen sollen, „eine fundierte Bewertung der Anlagerisiken vornehmen und somit Anlageentscheidungen in voller Kenntnis der Sachlage treffen zu können“, wie es im 19. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt.

36.

Die Richtlinie kombiniert somit diese beiden Ziele miteinander. Der Gerichtshof hatte bereits Gelegenheit, diese Kombination zu beurteilen, indem er für Recht erkannt hat, dass ein Prospekt im Fall eines Verkaufs von Wertpapieren im Rahmen eines Zwangsvollstreckungsverfahrens nicht erforderlich ist ( 8 ).

37.

Folglich muss bei der Auslegung von Art. 6 der Richtlinie 2003/71 in Verbindung mit deren Art. 3 Abs. 2 Buchst. a das angestrebte Gleichgewicht zwischen den beiden genannten Zielen gewahrt werden.

38.

Es scheint mir daher klar zu sein, dass der Umstand, dass die Art. 3 und 4 dieser Richtlinie detailliert zahlreiche Ausnahmen von der Pflicht zur Veröffentlichung eines Prospekts vorsehen, während Art. 6 der Richtlinie einen Grundsatz, ohne Ausnahme, der zivilrechtlichen Haftung für fehlerhafte Prospekte aufstellt, zu einer Auslegung führen muss, wonach bei Vorliegen eines Prospekts eine zivilrechtliche Haftungsklage auf der Grundlage der Fehlerhaftigkeit dieses Prospekts erhoben werden können muss, und zwar unabhängig vom Status des Anlegers, der sich für geschädigt hält.

39.

Würde davon ausgegangen, dass jeder Mitgliedstaat selbst festlegen kann, ob qualifizierte Anleger im Fall eines fehlerhaften Prospekts eine Haftung geltend machen können, liefe dies außerdem auf die Einführung möglicher Verzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten hinaus, die das Ziel der Vollendung des Binnenmarkts für Wertpapiere unverhältnismäßig beeinträchtigen würden. Dieses Ziel macht eine einheitliche Auslegung des Anwendungsbereichs von Art. 6 der Richtlinie 2003/71 in Bezug auf die Personen erforderlich, die gerichtlich gegen den Emittenten des Angebots vorgehen können.

40.

Ebenso muss es im Fall der freiwilligen Veröffentlichung eines unrichtigen Prospekts bei einem qualifizierten Anlegern vorbehaltenen Angebot einem solchen Anleger möglich sein, auf der Grundlage von Art. 6 der Richtlinie eine zivilrechtliche Haftungsklage gegen den Emittenten zu erheben.

41.

Nach alledem ist Art. 6 der Richtlinie 2003/71 in Verbindung mit deren Art. 3 Abs. 2 Buchst. a dahin auszulegen, dass in dem Fall, dass sich ein öffentliches Angebot zur Zeichnung von Wertpapieren sowohl an Kleinanleger als auch an qualifizierte Anleger richtet und ein Prospekt erstellt wird, eine Prospekthaftungsklage von qualifizierten Anlegern erhoben werden kann, obwohl es nicht erforderlich ist, ein solches Dokument zu veröffentlichen, wenn sich das Angebot ausschließlich an diese Anleger richtet.

B.   Kann sich der Nachweis der Kenntnis der tatsächlichen Situation des Emittenten durch den qualifizierten Anleger aus dem Bestehen geschäftlicher oder rechtlicher Beziehungen zwischen ihnen (Zugehörigkeit zu Anteilseignerschaft, Leitungsorganen usw.) ergeben?

42.

Mit seiner zweiten Vorlagefrage fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof konkret nach dem Ermessensspielraum, den Art. 6 der Richtlinie 2003/71 den Mitgliedstaaten lässt.

43.

Dieser Art. 6 stellt nämlich zwei Grundsätze auf:

Zum einen müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass zumindest eine für die Prospektangaben verantwortliche Person vorhanden ist, die in dem Prospekt genannt wird und erklärt, dass „die Angaben in dem Prospekt richtig sind und darin keine Tatsachen verschwiegen werden, die die Aussage des Prospekts verändern können“ (Abs. 1);

zum anderen müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass ihre Vorschriften im Bereich der zivilrechtlichen Haftung für die Personen gelten, die für die in einem Prospekt enthaltenen Angaben verantwortlich sind (Abs. 2 Unterabs. 1).

44.

Da Art. 6 der Richtlinie 2003/71 zu den Modalitäten der Erhebung der Haftungsklage nichts vorsieht, ist es Sache der Mitgliedstaaten, diese Modalitäten nach ihrem nationalen Recht zu regeln.

45.

Wie in jedem Fall, in dem den Mitgliedstaaten ein Ermessensspielraum eingeräumt wird, müssen deren Entscheidungen, um die praktische Wirksamkeit der in Rede stehenden Richtlinienbestimmungen zu wahren, die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz beachten. Der Gerichtshof hat unlängst noch darauf hingewiesen, dass die vorgesehenen Modalitäten nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als die entsprechender innerstaatlicher Rechtsbehelfe (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) ( 9 ).

46.

Der Gerichtshof hat diese Grundsätze im Urteil vom 19. Dezember 2013, Hirmann, auch in Bezug auf den Spielraum bekräftigt, den Art. 6 der Richtlinie 2003/71 den Mitgliedstaaten lässt ( 10 ).

47.

Somit können die Mitgliedstaaten unter Beachtung dieser Grundsätze eine deliktische, eine vertragliche oder eine quasivertragliche Grundlage für diese Haftungsklage wählen.

48.

Zwar hat der Gerichtshof im Urteil vom 19. Dezember 2013, Hirmann ( 11 ), entschieden, dass die zivilrechtliche Haftung eines Emittenten wegen Unregelmäßigkeiten des Prospekts aus dem Aktienankaufsvertrag resultiert ( 12 ), doch handelte es sich um eine Rechtssache, in der die Verpflichtungen aus dem Gesellschaftsvertrag geltend gemacht wurden, um der Begründung einer auf den Aktienankaufvertrag gestützten Haftung entgegenzutreten. Somit hat der Gerichtshof eine Haftung bejaht, die aus dem letztgenannten Vertrag „resultiert“ und nicht aus dem Gesellschaftsvertrag, ohne dass dies meines Erachtens eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten impliziert, für die Haftung wegen Unrichtigkeit des Prospekts eine vertragliche Grundlage zu wählen.

49.

Ebenso fallen, was den Umfang der Haftung selbst betrifft, die Frage, ob das Verschulden des Geschädigten zu berücksichtigen ist oder nicht, sowie die Art und Weise, in der der Kausalzusammenhang erfasst wird ( 13 ), in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, wobei die unionsrechtlichen Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz zu beachten sind.

50.

Der Gerichtshof hat zwar in der Rechtssache, in der das Urteil vom 19. Dezember 2013, Hirmann ( 14 ), ergangen ist, anerkannt, dass ein Mitgliedstaat die zivilrechtliche Haftung des Emittenten beschränken kann, indem er die Höhe der Entschädigung unter Zugrundelegung des Zeitpunkts begrenzt, zu dem der Aktienpreis für die Entschädigung festgelegt wird, doch muss der Mitgliedstaat die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachten.

51.

Daher lässt sich im Wege der Analogie feststellen, dass ein Mitgliedstaat in seiner Regelung vorsehen kann, dass die Kenntnis der tatsächlichen Situation des Emittenten durch einen qualifizierten Anleger berücksichtigt wird, sofern die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz beachtet werden.

52.

Folglich können die Mitgliedstaaten eine Regelung erlassen, nach der im Fall einer Haftungsklage eines qualifizierten Anlegers wegen Unrichtigkeit des Prospekts die Kenntnis des qualifizierten Anlegers von der tatsächlichen Situation des Emittenten berücksichtigt wird, über die dieser unabhängig von den fehlerhaften oder unvollständigen Bestimmungen des Prospekts verfügt, sofern diese Kenntnis auch bei ähnlichen Haftungsklagen berücksichtigt werden kann und diese Berücksichtigung in der Praxis nicht dazu führt, dass die Erhebung dieser Klage unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird.

53.

Die Kontrolle der Beachtung der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz kann jedoch nur auf der Grundlage einer konkreten Anwendung dieser Berücksichtigung der Kenntnisse des Anlegers auf eine bestimmte Situation erfolgen. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, das rechtliche Konsequenzen aus der Kenntnis der wirtschaftlichen Situation eines Emittenten durch einen qualifizierten Anleger, der den Emittenten auf der Grundlage eines fehlerhaften Prospekts in Haftung nimmt, ziehen möchte, diese Grundsätze bei der Würdigung der Beweise für diese Kenntnis und bei der Berücksichtigung dieser Kenntnis zu beachten.

54.

Aus alledem ergibt sich, dass Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2003/71 dahin auszulegen ist, dass er es nicht ausschließt, dass im Fall einer zivilrechtlichen Haftungsklage eines qualifizierten Anlegers wegen Unrichtigkeit des Prospekts die Kenntnis dieses Anlegers von der tatsächlichen Situation des Emittenten berücksichtigt wird, über die dieser unabhängig von den fehlerhaften oder unvollständigen Bestimmungen des Prospekts verfügt, sofern diese Kenntnis auch bei ähnlichen Haftungsklagen berücksichtigt werden kann und diese Berücksichtigung in der Praxis nicht dazu führt, dass die Erhebung dieser Klage unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.

V. Ergebnis

55.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) wie folgt zu beantworten:

1.

Art. 6 der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG in Verbindung mit deren Art. 3 Abs. 2 Buchst. a ist dahin auszulegen, dass in dem Fall, dass sich ein öffentliches Angebot zur Zeichnung von Wertpapieren sowohl an Kleinanleger als auch an qualifizierte Anleger richtet und ein Prospekt erstellt wird, eine Prospekthaftungsklage von qualifizierten Anlegern erhoben werden kann, obwohl es nicht erforderlich ist, ein solches Dokument zu veröffentlichen, wenn sich das Angebot ausschließlich an diese Anleger richtet.

2.

Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2003/71 ist dahin auszulegen, dass er es nicht ausschließt, dass im Fall einer zivilrechtlichen Haftungsklage eines qualifizierten Anlegers wegen Unrichtigkeit des Prospekts die Kenntnis dieses Anlegers von der tatsächlichen Situation des Emittenten berücksichtigt wird, über die dieser unabhängig von den fehlerhaften oder unvollständigen Bestimmungen des Prospekts verfügt, sofern diese Kenntnis auch bei ähnlichen Haftungsklagen berücksichtigt werden kann und diese Berücksichtigung in der Praxis nicht dazu führt, dass die Erhebung dieser Klage unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. 2003, L 345, S. 64.

( 3 ) ABl. 2000, L 126, S. 1.

( 4 ) BOE Nr. 181 vom 29. Juli 1988, S. 23405.

( 5 ) Vgl. u. a. Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie (Urkundenfälschung) (C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 25 bis 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 6 ) Vgl. 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/71.

( 7 ) Vgl. Art. 3 Abs. 2 Buchst. b bis e der Richtlinie 2003/71.

( 8 ) Vgl. Urteil vom 17. September 2014, Almer Beheer und Daedalus Holding (C‑441/12, EU:C:2014:2226, Rn. 31 bis 33 und Tenor).

( 9 ) Urteil vom 26. Juni 2019, Craeynest u. a. (C‑723/17, EU:C:2019:533, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 10 ) C‑174/12, EU:C:2013:856, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 11 ) C‑174/12, EU:C:2013:856.

( 12 ) Urteil vom 19. Dezember 2013, Hirmann (C‑174/12, EU:C:2013:856, Rn. 29).

( 13 ) Die Lehre hat drei Theorien zum Kausalzusammenhang entwickelt: die Theorie der causa proxima, die der Äquivalenz der Bedingungen und die des adäquaten Kausalzusammenhangs.

( 14 ) C‑174/12, EU:C:2013:856.