SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GERARD HOGAN

vom 30. April 2020 ( 1 )

Rechtssache C‑255/19

Secretary of State for the Home Department

gegen

OA,

Beteiligter:

Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR)

(Vorabentscheidungsersuchen des Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber] [Gericht zweiter Instanz (Kammer für Einwanderung und Asyl), Vereinigtes Königreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/83/EG – Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen – Flüchtling – Art. 2 Buchst. c – Akteure, die Schutz bieten können – Art. 7 – Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft – Art. 11 – Veränderung der Umstände – Art. 11 Abs. 1 Buchst. e – Möglichkeit, den Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit der Antragsteller besitzt, in Anspruch zu nehmen – Prüfungskriterien“

I. Einleitung

1.

Das moderne Flüchtlingsrecht geht in seinen Ursprüngen im Wesentlichen auf das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 ( 2 ) zurück. Nach dessen Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 fällt unter den Begriff Flüchtling jede Person, die

„… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose … außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will …“

2.

Im Kontext der vom vorlegenden Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen konkret gestellten Fragen mag auffallen, dass die „Kriterien für die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der [Genfer Konvention] eindeutig auf einen Rahmen von Staat und Staatsangehörigkeit aufbauen“ ( 3 ). Diese Definition kann jedoch kaum überraschen, da der internationale Schutz ( 4 ) ein Aspekt der staatlichen Verpflichtungen nach dem Völkerrecht ist und im Jahr 1951 ausschließlich Nationalstaaten als relevante staatliche Akteure des Völkerrechts angesehen wurden.

3.

In mancher Hinsicht hat sich das moderne Denken in Bezug auf den Umfang des staatlichen Schutzes im Flüchtlingskontext jedoch weiterentwickelt, nicht zuletzt, was das Recht der Europäischen Union betrifft. Dies kommt in Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie ( 5 ) zum Ausdruck.

4.

Nach Art. 7 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie kann Schutz entweder vom Staat (Art. 7 Abs. 1 Buchst. a) oder von „Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen“ (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b), geboten werden.

5.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft u. a. die korrekte Auslegung von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie und insbesondere die Frage, ob es zur Erfüllung der Voraussetzungen dieser Bestimmung ausreichen könnte, dass private Akteure wie ein Netzwerk von Clans und Familien vorhanden sind, die Schutz bieten. Das Ersuchen gibt dem Gerichtshof somit Gelegenheit, zu einem wichtigen Aspekt der Anerkennungsrichtlinie Stellung zu nehmen, mit dem er sich in nur einer früheren Rechtssache, und auch dort nur beiläufig, zu befassen hatte ( 6 ).

6.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen selbst ergeht in einem Rechtsstreit vor dem Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Gericht zweiter Instanz [Kammer für Einwanderung und Asyl], Vereinigtes Königreich) (im Folgenden: Upper Tribunal) zwischen OA und der Secretary of State for the Home Department (Innenministerin) über das Erlöschen seiner Flüchtlingseigenschaft.

7.

Im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht geht es im Wesentlichen um das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft und insbesondere um die Reichweite der Wendung „Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt“ im Sinne u. a. von Art. 2 Buchst. c und Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie, die Bestimmung der Akteure, die im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie Schutz bieten können, und das Niveau des nach ihrem Art. 7 Abs. 2 zu gewährleistenden Schutzes.

8.

Das vorlegende Gericht hat ferner darauf hingewiesen, dass in diesem Kontext von Bedeutung sein könnte, ob einer Person, die möglicherweise in ihr Herkunftsland zurückkehren soll, finanzielle Unterstützung zur Verfügung steht. Diese Frage ist daher im Kontext des Erlöschens der Flüchtlingseigenschaft zu prüfen.

9.

Vor der Prüfung dieser Fragen sind jedoch zunächst das Verfahren vor dem Gerichtshof und sodann die einschlägigen Rechtsvorschriften darzustellen.

II. Verfahren vor dem Gerichtshof

10.

Schriftliche Erklärungen zu den vom Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) vorgelegten Fragen sind von der französischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der ungarischen Regierung sowie von der Europäischen Kommission eingereicht worden.

11.

Das Vereinigte Königreich ist am 31. Januar 2020 um 24.00 Uhr (MEZ) aus der Europäischen Union ausgetreten. Nach Art. 86 Abs. 2 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (im Folgenden: Austrittsabkommen) ( 7 ) bleibt der Gerichtshof für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs, die vor dem Ende des in Art. 126 dieses Abkommens definierten Übergangszeitraums, also grundsätzlich vor dem 31. Dezember 2020, vorgelegt werden, weiterhin zuständig.

12.

Ferner ist nach Art. 89 des Austrittsabkommens das zu einem künftigen Zeitpunkt ergehende Urteil des Gerichtshofs in seiner Gesamtheit für das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich verbindlich.

13.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist am 26. März 2019 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen. Der Gerichtshof ist somit weiterhin für die Entscheidung über dieses Ersuchen zuständig, und das im vorliegenden Verfahren ergehende Urteil des Gerichtshofs ist für das Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) verbindlich.

14.

Am 27. Februar 2020 hat eine mündliche Verhandlung vor dem Gerichtshof stattgefunden, an der die Regierung des Vereinigten Königreichs, die französische Regierung und die Kommission teilgenommen haben.

III. Rechtlicher Rahmen

A.   Völkerrecht

15.

Art. 1 Abschnitt C Ziff. 5 der Genfer Konvention bestimmt:

„Eine Person, auf die die Bestimmungen des Abschnitts A zutreffen, fällt nicht mehr unter dieses Abkommen,

5.

wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.

Hierbei wird jedoch unterstellt, dass die Bestimmung dieser Ziffer auf keinen Flüchtling im Sinne der Ziffer 1 des Abschnitts A dieses Artikels Anwendung findet, der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.“

B.   Unionsrecht

16.

Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bestimmt:

„Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union … gewährleistet.“

17.

Art. 78 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union bestimmt:

„(1)   Die Union entwickelt eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll. Diese Politik muss mit dem Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951 und dem Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie den anderen einschlägigen Verträgen im Einklang stehen.

…“

1. Anerkennungsrichtlinie

18.

Im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie heißt es:

„Schutz kann nicht nur vom Staat, sondern auch von Parteien oder Organisationen, einschließlich internationaler Organisationen, geboten werden, die die Voraussetzungen dieser Richtlinie erfüllen und eine Region oder ein größeres Gebiet innerhalb des Staatsgebiets beherrschen.“

19.

Art. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Das Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung von Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, sowie des Inhalts des zu gewährenden Schutzes.“

20.

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

c)

‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

d)

‚Flüchtlingseigenschaft‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder eines Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat;

…“

21.

Art. 4 („Prüfung der Ereignisse und Umstände“) der Richtlinie bestimmt in den Abs. 3 und 4:

„(3)   Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a)

alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden;

c)

die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

(4)   Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.“

22.

Art. 6 („Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann“) der Richtlinie bestimmt:

„Die Verfolgung bzw. der ernsthafte Schaden kann ausgehen von

a)

dem Staat;

b)

Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen;

c)

nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Artikels 7 zu bieten.“

23.

In Art. 7 („Akteure, die Schutz bieten können“) der Richtlinie heißt es:

„(1)   Schutz kann geboten werden

a)

vom Staat oder

b)

von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.

(2)   Generell ist Schutz gewährleistet, wenn die unter Absatz 1 Buchstaben a) und b) genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat.

…“

24.

Art. 11 der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist nicht mehr Flüchtling, wenn er

e)

nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt;

(2)   Bei der Prüfung von [Abs. 1 Buchstabe e] haben die Mitgliedstaaten zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann.“

C.   Nationales Recht

25.

Die Anerkennungsrichtlinie wurde durch die Immigration Rules (Einwanderungsbestimmungen, im Folgenden: Immigration Rules) ( 8 ) und die Refugee or Person in Need of International Protection (Qualification) Regulations 2006 (Verordnung von 2006 über die Anerkennung von Flüchtlingen oder Personen, die internationalen Schutz benötigen) ( 9 ) in das Recht des Vereinigten Königreichs umgesetzt.

26.

In den einschlägigen Bestimmungen der Immigration Rules heißt es:

„Widerruf oder Ablehnung einer Verlängerung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

338A. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Paragraph 334 wird widerrufen oder nicht verlängert, wenn einer der Paragraphen 339A bis 339AB Anwendung findet. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Paragraph 334 kann widerrufen oder nicht verlängert werden, wenn Paragraph 339AC Anwendung findet.

Beendigung der Anwendung der Flüchtlingskonvention (Erlöschen)

339A. Dieser Paragraph findet Anwendung, wenn der Secretary of State davon überzeugt ist, dass eine oder mehrere der folgenden Bestimmungen Anwendung finden:

v) wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden sind, es nicht mehr ablehnen können, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen;

Bei der Prüfung der Ziffern. v und vi berücksichtigt der Secretary of State, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann.“

27.

In Regulation 4 der Refugee or Person in Need of International Protection (Qualification) Regulations 2006 werden die „Akteure, die Schutz bieten können“, wie folgt definiert:

„(1)   Im Hinblick auf die Entscheidung darüber, ob eine Person ein Flüchtling oder jemand ist, der Anspruch auf humanitären Schutz hat, kann Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden geboten werden

a)

vom Staat oder

b)

von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.

(2)   Der Schutz gilt generell als gewährleistet, wenn die in Abs. 1 Buchst. a und b genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, zu verhindern, und wenn die in Abs. 1 genannte Person Zugang zu diesem Schutz hat.

(3)   Im Hinblick auf die Entscheidung darüber, ob eine Person Flüchtling oder jemand ist, der Anspruch auf humanitären Schutz hat, kann der Secretary of State darüber befinden, ob eine internationale Organisation einen Staat oder einen wesentlichen Teil seines Hoheitsgebiets beherrscht und den in Abs. 2 genannten Schutz bietet.“

IV. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorabentscheidungsersuchen

28.

OA ist ein somalischer Staatsangehöriger; er reiste im Jahr 2003 mit einem Mehrfachvisum als Ehegatte seiner damaligen Ehefrau, der die Flüchtlingseigenschaft im Oktober 2001 zuerkannt worden war, in das Vereinigte Königreich ein. OA wurde später als Familienangehöriger seiner damaligen Ehefrau als Flüchtling anerkannt. Das Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) stellte fest, dass er einem Clan einer besonderen Minderheit angehöre und ursprünglich in der Hauptstadt Mogadischu ansässig gewesen sei. Sowohl er als auch seine damalige Ehefrau seien Anfang der 1990er Jahre von einer bestimmten Miliz verfolgt und in den 1990er Jahren mehrfach körperlich angegriffen und verletzt worden. OA hätte bei einer Rückkehr nach Mogadischu Beschäftigungschancen, die allerdings auf Arbeitsstellen beschränkt wären, in denen auf seine eingeschränkte Mobilität Rücksicht genommen werden könnte. Außerdem habe OA in Mogadischu einige enge Verwandte, die ihm finanzielle Unterstützung leisten könnten. Er könnte ferner die Hilfe seiner Schwester (die sich offenbar zuletzt in Dubai [Vereinigte Arabische Emirate] aufgehalten habe) und weiterer Angehöriger seines Clans im Vereinigten Königreich in Anspruch nehmen ( 10 ).

29.

Am 8. Juli 2014 teilte die Secretary of State for the Home Department (im Folgenden: SSHD) OA mit, dass sie beabsichtige, ihm die Flüchtlingseigenschaft wegen einer Veränderung der Umstände in seinem Herkunftsland abzuerkennen.

30.

Am 27. April 2016 erließ die SSHD eine Abschiebungsanordnung gegen OA. Außerdem erkannte sie ihm am 27. September 2016 die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 Abschnitt C Ziff. 5 der Genfer Konvention ab und schloss ihn nach Paragraph 339D der Immigration Rules vom humanitären Schutz aus. In einem Schreiben an OA vom 27. September 2016 führte sie aus: „Sie werden in Mogadischu weiterhin durch den Clan unterstützt, und nach der Country-Guidance-Rechtsprechung [(Rechtsprechung zu Länderinformationen)] ist davon auszugehen, dass Ihre Sicherheit nicht davon abhängig sein würde, dass Unterstützung durch einen Mehrheiten-Clan zur Verfügung stünde.“ Die SSHD stellte ferner fest, dass die Rückkehr von OA nach Somalia nicht gegen die Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs aus Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verstoßen würde.

31.

Dagegen erhob OA Klage. Seine Klage wurde am 20. Juli 2017 vom First-tier Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (erstinstanzliches Gericht [Kammer für Einwanderung und Asyl], Vereinigtes Königreich) (im Folgenden: First-tier Tribunal) abgewiesen. Diese Entscheidung wurde vom Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) wegen eines materiellen Rechtsfehlers aufgehoben; das Gericht verwies die Rechtssache an einen anderen Richter desselben First-tier Tribunal (erstinstanzliches Gericht) zurück. Mit Urteil vom 30. Januar 2018 stellte das First-tier Tribunal (erstinstanzliches Gericht) fest, dass die Abschiebung von OA nach Somalia gegen Art. 3 der EMRK verstoßen würde. Die von OA angeführten Asylgründe wurden jedoch zurückgewiesen.

32.

Im Anschluss an ein zugelassenes Rechtsmittel der SSHD hob das Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) das Urteil des First-tier Tribunal (erstinstanzliches Gericht) mit Entscheidung vom 13. November 2018 auf.

33.

Die Rechtssache wird jetzt insgesamt vor dem Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) erneut verhandelt.

34.

Die SSHD trägt vor, sie sei nach den Immigration Rules und nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie sowie in Anwendung der in den Urteilen des Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) in der Rechtssache MOJ u. a. (Rückkehr nach Mogadischu) Somalia CG [2014] UKUT 00442 (IAC) (im Folgenden: Rechtssache MOJ) wiedergegebenen Länderinformationen zu dem Schluss berechtigt gewesen, dass in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit OA besitze, eine dauerhafte Veränderung der Umstände eingetreten sei, da es in seiner Heimatregion Mogadischu keine Verfolgung von Minderheiten-Clans durch Mehrheiten-Clans mehr gebe und ein wirksamer staatlicher Schutz bestehe.

35.

OA macht geltend, da die vorliegende Rechtssache einen Fall des Erlöschens betreffe, sei bedeutsam, dass der Standpunkt der SSHD im Widerspruch zur Beurteilung durch den Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (im Folgenden: UNHCR) vom Juni 2014 stehe, wonach im Hinblick auf die Frage der Verfügbarkeit staatlichen Schutzes die Sicherheitslage in Mogadischu Anlass zu ernsthafter Besorgnis gebe und Minderheiten-Clans in Mogadischu, Süd- und Zentralsomalia weiterhin besonders benachteiligt seien. OA trägt vor, er habe begründete Furcht vor Verfolgung in Mogadischu, und die dortigen staatlichen Stellen seien nicht in der Lage, ihn vor solchen ernsthaften Schäden zu schützen. Außerdem beruhe die Würdigung des Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) in der Rechtssache MOJ auf einem Fehlverständnis des staatlichen Schutzes. Nach den UNHCR-Richtlinien zum Erlöschen ( 11 ) müsse der staatliche Schutz durch staatliche Strukturen und staatliches Handeln geleistet werden. Die Beurteilung in der Rechtssache MOJ, wonach in Mogadischu im Allgemeinen staatlicher Schutz zur Verfügung stehe, stütze sich indes zum Teil auf die Verfügbarkeit von Hilfe und Schutz seitens der Familie und/oder anderer Angehöriger des gleichen Clans. Dabei handele es sich aber um private, nicht staatliche Akteure. Bei der Beurteilung, ob sich die Umstände in Mogadischu, die (im Jahr 2003) dazu geführt hätten, dass er als Flüchtling anerkannt worden sei, erheblich und dauerhaft geändert hätten, so dass er „es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt“, sei es rechtlich unzulässig, Schutzfunktionen nicht staatlicher Akteure zu berücksichtigen.

36.

Das Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) hält für die Entscheidung über den Rechtsstreit eine Auslegung nationaler Vorschriften zur Umsetzung des Unionsrechts über die Anerkennung von Flüchtlingen, d. h. der Anerkennungsrichtlinie, für erforderlich.

37.

Mit Beschluss vom 22. März 2019 hat das Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz, London, Vereinigtes Königreich) dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist die Formulierung „Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt“ im Sinne von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und Art. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie dahin zu verstehen, dass es sich um staatlichen Schutz handeln muss?

2.

Sind bei der Entscheidung darüber, ob es eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie gibt, und darüber, ob im Einklang mit Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie Schutz vor einer solchen Verfolgung geboten wird, die „Prüfung der Schutzgewährung“ oder die „Ermittlungen zur Schutzgewährung“ in beiden Fällen durchzuführen, und, wenn ja, gelten für beide Fälle dieselben Kriterien?

3.

Unbeschadet der Anwendbarkeit des Schutzes durch nicht staatliche Akteure im Rahmen von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie und unterstellt, die erste Vorlagefrage sei zu bejahen, ist die Wirksamkeit oder die Verfügbarkeit des Schutzes dann allein anhand der Schutzmaßnahmen/‑funktionen staatlicher Akteure zu beurteilen, oder können Schutzmaßnahmen/‑funktionen privater zivilgesellschaftlicher Akteure wie Familien und/oder Clans berücksichtigt werden?

4.

Stimmen (wie in der zweiten und der dritten Frage unterstellt) die Kriterien für die „Ermittlungen zur Schutzgewährung“ bei der Erlöschensprüfung im Kontext von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie mit den im Kontext von Art. 7 anzuwendenden Kriterien überein ( 12 )?

V. Vorbemerkungen

38.

Nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen betrifft die beim vorlegenden Gericht anhängige Rechtssache offenbar das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft von OA, seinen Ausschluss vom humanitären Schutz nach Paragraph 339D der Immigration Rules und die Frage, ob seine Rückkehr nach Somalia gegen Art. 3 der EMRK ( 13 ) und damit gegen Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßen würde ( 14 ).

39.

Bei den vom Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) vorgelegten Fragen geht es jedoch nur um das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft und nicht um die davon zu trennende Frage, ob OA bei einer Rückkehr nach Somalia großer Armut ausgesetzt sein könnte, wodurch potenziell die in Art. 3 der EMRK und damit in Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta enthaltenen Garantien verletzt würden.

40.

Das Vorabentscheidungsersuchen scheint mithin eine Reihe tatsächlicher Feststellungen zu enthalten, die für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft und die konkret gestellten Fragen nicht unmittelbar relevant sind. Diese anderen Tatsachenfeststellungen beziehen sich offenbar auf andere Gesichtspunkte, mit denen das vorlegende Gericht befasst ist ( 15 ). Meines Erachtens sollte daher ermittelt werden, welche Tatsachen für die dem Gerichtshof gestellten Fragen relevant sind und welche nicht.

41.

Vor einer Prüfung der konkreten Fragen zum Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft sind noch einige weitere Vorbemerkungen angezeigt. Zum einen geht nämlich, wie sowohl Generalanwalt Mazák ( 16 ) als auch der Gerichtshof in seinem Urteil vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105, Rn. 52), ausgeführt haben, aus den Erwägungsgründen 3, 16 und 17 der Richtlinie 2004/83 hervor, dass die Genfer Konvention „einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt“. Außerdem wurde die Anerkennungsrichtlinie erlassen, um „die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten“ bei der Anwendung der Genfer Konvention „auf der Grundlage gemeinsamer Konzepte und Kriterien zu leiten“ ( 17 ).

42.

Zum anderen ist, auch wenn der Wortlaut der Anerkennungsrichtlinie von demjenigen der Genfer Konvention abweicht, die Auslegung dieser Bestimmungen der Richtlinie gleichwohl so eng wie möglich an den der Genfer Konvention zugrunde liegenden Zielen auszurichten. Nach Art. 78 Abs. 1 AEUV muss nämlich die gemeinsame Politik der Union im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz mit der Genfer Konvention im Einklang stehen, und nach Art. 18 der Charta muss das Recht auf Asyl „nach Maßgabe des Genfer Abkommens … gewährleistet“ werden. Daraus folgt wiederum, dass die Intention des Unionsgesetzgebers darin bestand, dass alle Rechtsetzungsmaßnahmen wie die Anerkennungsrichtlinie so weit wie möglich mit dem Wortlaut und dem Geist der Genfer Konvention im Einklang stehen sollen.

43.

Drittens ist, wie sich aus dem zehnten Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie ergibt, die Richtlinie selbst in einer Weise auszulegen, die die in der Charta anerkannten Grundsätze achtet ( 18 ), einschließlich der Verpflichtungen zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde (Art. 1 der Charta) ( 19 ).

VI. Analyse der Vorlagefragen

A.   Erste Frage: Bedeutung der Wendung „Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit [der Antragsteller] besitzt“ in Art. 2 Buchst. c und Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie

44.

Die erste Frage bezieht sich auf die Bedeutung der Wendung „Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit [der Antragsteller] besitzt“ in Art. 2 Buchst. c und Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie ( 20 ). Sie geht im Wesentlichen dahin, ob dies so zu verstehen ist, dass es sich um staatlichen Schutz handeln muss ( 21 ).

45.

Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Kontext dieser Bestimmungen ergibt sich eindeutig, dass, mit einer wichtigen Ausnahme, mit dem „Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit [der Antragsteller] besitzt“, ein staatlicher Schutz ( 22 ) seitens des Landes, dessen Staatsangehörigkeit der Antragsteller besitzt, in der vorliegenden Rechtssache Somalias, gemeint ist.

46.

Aus dem Urteil vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105), folgt jedenfalls eindeutig, dass diese Bestimmungen so zu verstehen sind. So hat der Gerichtshof z. B. in den Rn. 57 bis 59 dieses Urteils festgestellt, dass ein Flüchtling ein Drittstaatsangehöriger ist, der „aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände eine begründete Furcht vor einer Verfolgung [hat], die sich aus zumindest einem der fünf in der Richtlinie und der Genfer Konvention genannten Gründe gegen seine Person richtet. Diese Umstände belegen nämlich, dass das Drittland seinen Staatsangehörigen nicht vor Verfolgungshandlungen schützt. Sie sind die Ursache dafür, dass es dem Betreffenden unmöglich ist oder er sich in begründeter Weise weigert, den ‚Schutz‘ seines Herkunftslands im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie, d. h. im Sinne der Fähigkeit dieses Landes zur Verhinderung oder Ahndung von Verfolgungshandlungen, in Anspruch zu nehmen.“ ( 23 )

47.

Der Vollständigkeit halber möchte ich jedoch hinzufügen, dass aus Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 7 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie zwangsläufig folgt, dass in bestimmten Fällen andere Akteure als der Staat, z. B. Parteien oder Organisationen, anstelle des Staates einen als dem staatlichen Schutz gleichwertig anzusehenden Schutz bieten können, soweit strenge Kriterien beachtet werden. Ich werde auf diesen Punkt bei der Prüfung der dritten Frage näher eingehen.

B.   Zweite Frage: Prüfung der Schutzgewährung – Wechselwirkung zwischen Art. 2 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie (Definition des „Flüchtlings“ – Begründete Furcht vor Verfolgung) und ihrem Art. 7 (Verfügbarkeit von Schutz)

48.

Die zweite Frage des Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. c und Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie im Kontext des Erlöschens der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e dieser Richtlinie. Diese Frage ist im Licht dessen zu beantworten, dass sich OA, dem das Erlöschen seiner Flüchtlingseigenschaft im Vereinigten Königreich droht, auf Furcht vor Verfolgung durch nicht staatliche Akteure ( 24 ) und das Fehlen eines wirksamen staatlichen Schutzes in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, beruft.

49.

Das nationale Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob die Frage, ob Schutz vor Verfolgung im Sinne von Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie verfügbar ist, nur im Zusammenhang mit der Prüfung des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie zu prüfen ist oder ob solche „Ermittlungen zur Schutzgewährung“ auch dann durchzuführen sind, wenn geprüft wird, ob Schutz vor einer solchen Verfolgung zur Verfügung steht. Das vorlegende Gericht fragt ferner danach, ob die Kriterien für das Vorliegen dieses Schutzes in beiden Fällen dieselben sind.

50.

Dem Vorabentscheidungsersuchen ist zu entnehmen, dass diese Frage aufgrund voneinander abweichender Entscheidungen der Gerichte des Vereinigten Königreichs zum Begriff „Schutz“ in Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Konvention und damit in Art. 2 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie gestellt wird ( 25 ).

51.

Nach dem einen Ansatz, der auf dem Urteil des Court of Appeal (England & Wales) (Berufungsgericht [England & Wales]) in der Rechtssache AG u. a./Secretary of State for the Home Department ([2006] EWCA Civ 1342) beruht, erfolgt die Prüfung der „Schutzgewährung“ nur „im Stadium der Beurteilung, ob die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens besteht“.

52.

Nach dem zweiten Ansatz, der von Lord Hope of Craighead in der Rechtssache Horvath/Secretary of State for the Home Department ([2000] UKHL 37, [2001] 1 Appeal Cases 489) dargestellt wurde, findet die Prüfung der Schutzgewährung an zwei verschiedenen Stellen statt. Dazu führte er in der Rechtssache Horvath ([2000] UKHL 37, [2001] 1 Appeal Cases 489) aus, dass, „soweit eine Verfolgung durch nichtstaatliche Kräfte behauptet wird, die Frage, ob der staatliche Schutz ausreicht, für beide Prüfungen – diejenige der ‚Furcht‘ und diejenige des ‚Schutzes‘ – von Bedeutung ist. Der richtige Ausgangspunkt, sobald zur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass der Antragsteller eine tatsächliche und begründete Furcht vor schwerer Gewaltanwendung oder Misshandlung aus einem unter die Konvention fallenden Grund hat, ist die Prüfung, ob das, was er befürchtet, eine ‚Verfolgung‘ im Sinne der Konvention darstellt. In diesem Stadium wird die Frage, ob der Staat Schutz gewähren kann und will, durch eine ganzheitliche Betrachtung der auf dem Grundsatz der ersatzweisen Gewährung von Schutz beruhenden Definition unmittelbar relevant …“ ( 26 )

53.

Das vorlegende Gericht hat darauf hingewiesen, dass das House of Lords in der Rechtssache Horvath/Secretary of State for the Home Department ([2000] UKHL 37) ausgeführt habe, sofern der Schutz nicht als eigenständiger Bestandteil des Begriffs der Verfolgung aufgefasst werde, könnten Personen eine Anerkennung als Flüchtling erwirken, indem sie lediglich eine berechtigte Furcht vor ernsthaftem Schaden darlegten, selbst wenn sie davor vollständig geschützt seien. Dies würde gegen den Grundsatz der ersatzweisen Gewährung von Schutz verstoßen ( 27 ).

54.

Man kann, so meine ich, das Verständnis eines letztlich einheitlichen Konzepts, mit dem infolgedessen identische Kriterien im Kontext der Anwendung sowohl von Art. 2 Buchst. c als auch von Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie und desgleichen ihres Art. 11 Abs. 1 Buchst. e angewendet werden ( 28 ), auch übermäßig verkomplizieren.

55.

Bei der Prüfung jedes Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft muss stets die Frage gestellt werden, ob der Antragsteller eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie dargetan hat. Die Verwendung des Begriffs „begründete“ Furcht bei der Definition des „Flüchtlings“ in Art. 2 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie macht u. a. eine Prüfung erforderlich, ob die Bedingungen in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Antragsteller besitzt oder aus dem er stammt, seine Furcht vor Verfolgung objektiv rechtfertigen können.

56.

Diese Prüfung erfordert meines Erachtens zwangsläufig eine objektive Untersuchung der Frage, ob in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Antragsteller besitzt, durch Akteure, die Schutz bieten können, im Sinne von Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie ein Schutz vor Verfolgung ( 29 ) gegeben ist und ob der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat ( 30 ).

57.

Ich pflichte daher im Wesentlichen der Kommission ( 31 ) bei, dass im Rahmen einer Prüfung der Flüchtlingseigenschaft eine einzige Prüfung der Schutzgewährung erforderlich ist, die den Anforderungen von Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie entspricht. Ich möchte jedoch betonen, dass der Schutz in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Antragsteller besitzt, gegenüber allen Akteuren zur Verfügung stehen muss, von denen im Sinne von Art. 6 der Anerkennungsrichtlinie die Verfolgung ausgehen kann ( 32 ).

58.

Auch wenn es genau genommen keine formale Definition des „Schutzes“ in Art. 2 der Anerkennungsrichtlinie gibt, wird der Schutz de facto in Art. 7 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie umschrieben. Er liegt vor, wenn die in Art. 7 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie genannten Akteure, die Schutz bieten können, „geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung … zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung … darstellen …“ ( 33 ), und wenn der Antragsteller „Zugang zu diesem Schutz hat“ ( 34 ).

59.

Somit bestimmt sich die fortbestehende Notwendigkeit internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft) in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens u. a. danach, ob ein Akteur, der Schutz bieten kann, geeignete Schritte einleiten kann, um die Verfolgung des Antragstellers durch nicht staatliche Akteure zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung solcher Handlungen etwa seitens nicht staatlicher Akteure ( 35 ).

60.

Leiten Akteure, die Schutz bieten können, solche zur Verhinderung der Verfolgung des Antragstellers geeigneten Schritte aus irgendeinem Grund nicht ein oder sind sie hierzu anderweitig nicht in der Lage, hat der Antragsteller grundsätzlich Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ( 36 ).

61.

Meines Erachtens ist daher bei der Prüfung, ob eine Person begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie durch nicht staatliche Akteure hat, zu berücksichtigen, ob „Schutz“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie durch Akteure, die Schutz bieten können, verfügbar ist. Dies gilt gleichermaßen für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie.

C.   Dritte Frage: Auslegung des Konzepts eines Schutzes durch den „Staat“ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Anerkennungsrichtlinie – Einbeziehung von Schutzmaßnahmen durch Clans/Familien

62.

Mit der dritten Frage wird das Kernproblem des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens aufgeworfen. Sie lautet: Wenn der „Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit [der Antragsteller] besitzt“ im Sinne von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und Art. 2 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie sich auf den staatlichen Schutz nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Anerkennungsrichtlinie bezieht, kann dieser Schutz dann auch Schutzmaßnahmen oder ‑funktionen einschließen, die von rein privaten Akteuren wie Familien und/oder Clans, die dem Antragsteller Schutz bieten könnten, erbracht werden?

63.

Den Tatsachenfeststellungen des Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) kommt in diesem Zusammenhang eine gewisse Relevanz zu. Das Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) hat festgestellt, dass im Hinblick auf „die Länderbedingungen in Mogadischu beide Parteien sich darauf beschränkt haben, auf die Feststellungen des Upper Tribunal im Urteil MOJ zu verweisen“ ( 37 ). In diesem Urteil wurden u. a. folgende einschlägige Feststellungen getroffen:

„ii)

Im Allgemeinen droht einem ‚normalen Bürger‘ (d. h. einer Person ohne Verbindung zu den Sicherheitskräften, zu irgendeiner Regierungs- oder offiziellen Verwaltungsstelle oder zu einer Nichtregierungsorganisation oder einer internationalen Organisation) bei der Rückkehr nach Mogadischu nach einem Zeitraum der Abwesenheit keine tatsächliche Gefahr einer Verfolgung oder einer Schädigung, die einen Schutz nach Art. 3 der EMRK oder Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie erfordern würde …

vii)

Eine Person, die nach einem Zeitraum der Abwesenheit nach Mogadischu zurückkehrt, wird ihre Kernfamilie – sofern sie in der Stadt lebt – um Unterstützung beim Aufbau einer neuen Existenz ersuchen. Ein Rückkehrer kann zwar auch Angehörige seines Clans, die keine engen Verwandten sind, um Unterstützung bitten, doch werden dazu wahrscheinlich nur Angehörige großer Clans in der Lage sein, da Clans von Minderheiten wenig zu bieten haben.

viii)

Die Bedeutung der Clanzugehörigkeit in Mogadischu hat sich verändert. Clans fungieren nunmehr – potenziell – als soziale Stütze und helfen beim Aufbau einer Lebensgrundlage, während sie eine geringere Schutzfunktion erfüllen als früher. In Mogadischu gibt es keine Clan-Milizen, keine Clan-Gewalt und keine diskriminierende Behandlung aufgrund der Clanzugehörigkeit, auch nicht für Angehörige von Minderheiten-Clans.

xi)

Daher laufen nur Personen, die weder von ihrem Clan noch von ihrer Familie unterstützt werden, keine Überweisungen aus dem Ausland erhalten und keine reale Aussicht auf die Sicherung des Zugangs zu einer Existenzgrundlage haben, Gefahr, dass ihre Lebensumstände das nach den Maßstäben des humanitären Schutzes akzeptable Niveau unterschreiten.

xii)

Die Beweise zeigen eindeutig, dass nicht nur aus Mogadischu stammende Personen jetzt im Allgemeinen in die Stadt zurückkehren können, um dort zu leben, ohne einer Gefahr im Sinne von Art. 15 Buchst. c oder einer echten Gefahr großer Armut ausgesetzt zu sein. Andererseits ist es wenig realistisch, dass sich ein Angehöriger eines Minderheiten-Clans ohne frühere Verbindungen in die Stadt, ohne Zugang zu Mitteln und ohne irgendeine andere Form von Clan‑, Familien- oder sozialer Unterstützung in Mogadischu niederlassen könnte, da ohne Mittel zur Etablierung eines Heims und irgendeine Form einer dauerhaften finanziellen Unterstützung eine echte Gefahr bestehen wird, keine andere Wahl zu haben, als in einer Notunterkunft in einem Binnenvertriebenenlager zu leben, wo eine reale Möglichkeit besteht, unter Bedingungen leben zu müssen, die unter den humanitären Mindeststandards liegen.“ ( 38 )

64.

In seinem Vorabentscheidungsersuchen hat das Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) ausgeführt, in der früheren Entscheidung in der Rechtssache MOJ sei davon ausgegangen worden, dass „es sich bei dem einschlägigen Schutz zwar um staatlichen Schutz handeln muss, die Wirksamkeit dieses Schutzes aber auch unter Berücksichtigung von Schutzfunktionen in einem weiten Sinn unter Einbeziehung von Schutzfunktionen durch Familien und Clans beurteilt werden muss. Einem ähnlichen Ansatz folgt offenbar auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) in Bezug auf den Begriff des Schutzes vor einer Misshandlung im Sinne von Art. 3 der EMRK im Urteil vom 10. September 2015, RH/Schweden (Beschwerde Nr. 4601/01, Rn. 73)[ ( 39 )]. Demnach besteht erhebliche Unklarheit im Hinblick auf die Bedeutung des Begriffs ‚Schutz‘ im Sinne von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und Art. 2 [Buchst. c] der Anerkennungsrichtlinie.“ ( 40 )

65.

Um auf den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache zurückzukommen: Wie bereits ausgeführt, hat das Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) außerdem festgestellt, dass einige enge Verwandte von OA in Mogadischu leben und er deren finanzielle Hilfe in Anspruch nehmen könnte. Er könnte ferner die Hilfe seiner Schwester (die offenbar in den Vereinigten Arabischen Emiraten lebt) und anderer Angehöriger seines Clans im Vereinigten Königreich in Anspruch nehmen.

66.

Nach den Ausführungen im Vorabentscheidungsersuchen sieht das Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) offenbar – auch wenn dies nicht ausdrücklich festgestellt wird – in der Verfügbarkeit der Clan- und Familien-Unterstützungsstruktur eine alternative Form des Schutzes für OA, wenngleich sie wohl hauptsächlich in finanzieller und sonstiger praktischer Unterstützung und nicht in einer auf den Schutz seiner eigenen persönlichen Sicherheit abzielenden Unterstützung bestehen würde.

67.

Vor diesem Hintergrund beschränkt sich die Frage in Wirklichkeit darauf, ob die angebliche Verfügbarkeit einer solchen finanziellen und sonstigen praktischen Unterstützung durch private Akteure zumindest teilweise den Anforderungen von Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie an die Prüfung der Schutzgewährung genügen kann. Meines Erachtens ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem allgemeinen Kontext von Art. 7 eindeutig, dass dies nicht der Fall ist.

68.

Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie kann Schutz entweder vom Staat oder von „Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen“, geboten werden.

69.

Aus dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie geht somit klar hervor, dass die betreffenden Parteien oder Organisationen den Staat oder einen wesentlichen Teil desselben beherrschen müssen. Nach Art. 7 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie müssen diese Parteien oder Organisationen außerdem geeignete Schritte einleiten, um „durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen“, Schutz vor einer Verfolgung oder ernsthaftem Schaden zu bieten.

70.

All dies bedeutet, dass solche Parteien oder Organisationen bestrebt sein müssen, im Herkunftsland des Antragstellers staatliche Souveränität (oder eine ähnliche Funktion) auszuüben oder parallel wahrzunehmen, denn das ist mit der Formulierung „den Staat … beherrschen“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie notwendigerweise gemeint. Insbesondere müssen diese Parteien oder Organisationen bestrebt sein, ein auf der Achtung von Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit beruhendes Polizei- und Justizwesen zu schaffen, wenn der Tatbestand dieser Bestimmung erfüllt sein soll. Wie Generalanwalt Mazák in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2009:551) festgestellt hat, setzen diese gesetzlichen Anforderungen voraus, „dass ein Schutz bietender Akteur vorhanden sein muss, der u. a. über die Autorität, die Organisationsstruktur und die Mittel verfügt, um ein Mindestmaß an Recht und Ordnung in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Flüchtling besitzt, aufrechtzuerhalten“ ( 41 ).

71.

Die französische Regierung hat in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung vom 27. Februar 2020 auf ein Grundsatzurteil der Cour nationale du droit d’asile (Nationales Gericht für Asylsachen, im Folgenden: CNDA) vom 3. Mai 2016 (Nr. 15033525) verwiesen. Die CNDA hat dort in Rn. 4 entschieden, dass, „wenn feststeht, dass es keinen staatlichen Schutz gibt, der Schutz, den dieser Staat in seinem eigenen Hoheitsgebiet nicht bieten kann, möglicherweise von bestimmten anderen, in Art. L. 713‑2 [des Gesetzbuchs über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und das Recht auf Asyl ( 42 )] abschließend genannten Stellen geboten werden kann. Unter den hierzu gehörenden Organisationen, die einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sind solche zu verstehen, die über stabile institutionelle Strukturen verfügen, die es ihnen ermöglichen, eine ausschließliche und dauerhafte zivile und bewaffnete Kontrolle über ein begrenztes Gebiet auszuüben, in dem der Staat die Pflichten nicht mehr erfüllt oder seine Hoheitsgewalt nicht mehr ausübt. Sobald diese konstitutiven Merkmale erfüllt sind und sofern diese Organisation nicht selbst der Akteur ist, von dem die angebliche Verfolgung ausgeht, ist zu prüfen, ob der ersatzweise bestehende Schutz durch diese Organisation für den Betroffenen zugänglich, wirksam und nicht lediglich vorübergehend ist.“ ( 43 )

72.

Meines Erachtens ist dieser Passage des Urteils der CNDA, die den Inhalt von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b auf den Punkt bringt, kaum etwas hinzuzufügen. Sie gibt den in Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie zum Ausdruck kommenden Standpunkt des Unionsgesetzgebers und auch die vom Gerichtshof bereits im Urteil vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105), vorgenommene Auslegung dieser Bestimmung zutreffend wieder.

73.

Für die vorliegende Rechtssache bedarf dies meiner Ansicht nach keiner weiteren Konkretisierung, weil dem Vorabentscheidungsersuchen absolut nichts dafür zu entnehmen ist, dass die familiäre Unterstützungsstruktur oder das Clan-System in Somalia und insbesondere in Mogadischu diesem Erfordernis auch nur im Entferntesten genügen könnte, wenngleich es letztlich Sache des nationalen Gerichts ist, dies zu überprüfen.

74.

Selbst wenn man den früheren allgemeinen Feststellungen des Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) in der Rechtssache MOJ (die vom Upper Tribunal für die vorliegende Rechtssache übernommen wurden) und den konkreten Feststellungen zu OA in der vorliegenden Rechtssache voll und ganz folgen würde, zeigt dies lediglich, dass das Clan-System in Mogadischu eine informelle – wenngleich zweifellos wichtige – Struktur sozialer Unterstützung bietet. Wie das Gericht festgestellt hat, könnte OA vermutlich auch von Familienangehörigen (und vielleicht auch von seinem Clan) gewisse finanzielle Unterstützung in Anspruch nehmen, wenn er dorthin abgeschoben würde. Auf diese Feststellungen ist wie folgt zu antworten.

75.

Erstens ist die Verfügbarkeit solcher finanzieller Unterstützung im Kontext des Erlöschens der Flüchtlingseigenschaft nicht unmittelbar relevant. Wie bereits ausgeführt, wäre sie allerdings für die davon ganz unabhängige Frage relevant, ob die Abschiebung eines ehemaligen Flüchtlings nach Somalia diese Person der tatsächlichen Gefahr extremer und schwerer materieller Armut aussetzen und damit gegen die Garantien in Bezug auf unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Art. 3 der EMRK und damit in Art. 4 der Charta verstoßen würde. Dies scheint mir der eigentliche Hintergrund von Entscheidungen wie dem Urteil RH/Schweden ( 44 ) zu sein, auf das das Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) verwiesen hat und auf das ich sogleich näher eingehen werde.

76.

Zweitens spricht im Rahmen dieser Tatsachenfeststellungen vorliegend überhaupt nichts dafür, dass dieses System der Clan- und Familienunterstützung im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b Somalia oder einen Teil seines Hoheitsgebiets beherrscht. Es wird auch nicht behauptet, dass diese privaten Akteure bestrebt seien, ein auf der Achtung von Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit beruhendes halbamtliches Polizei- und Justizwesen zu unterhalten, oder auch nur versuchten, ein solches Polizei- und Justizsystem zur Verfügung zu stellen.

77.

Eine weitere Erwägung geht dahin, dass Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie insofern vom Wortlaut der Genfer Konvention abweicht, als er vorsieht, dass Schutz auch von nicht staatlichen Akteuren, einschließlich internationaler Organisationen, gewährt werden kann. Zwar ist nachdrücklich vorgebracht worden, dass Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie insoweit mit dem Wortlaut der Genfer Konvention unvereinbar sei ( 45 ), doch genügt vorliegend vielleicht der Hinweis darauf, dass der Unionsgesetzgeber damit vermutlich den tatsächlichen Erfahrungen seit dem viele Jahrzehnte zurückliegenden Inkrafttreten dieses Abkommens am 22. April 1954 Rechnung tragen wollte. Hierzu gehören humanitäre Interventionen der Vereinten Nationen, Interventionen multinationaler Streitkräfte in bestimmten Staaten und das Phänomen der „failed states“ (gescheiterter Staaten), in denen der allgemeine Apparat des herkömmlichen Staates im eigentlichen Sinne schlicht nicht mehr existiert. Diese Entwicklungen dürften von den Verfassern der Genfer Konvention, die in Bezug auf das Bestehen von Schutz von einem funktionierenden Staatsapparat ausgingen, nicht vorhergesehen worden sein.

78.

Aus allen bereits genannten Gründen ist meines Erachtens davon auszugehen, dass der Unionsgesetzgeber, auch wenn er in dieser Weise vom Wortlaut der Genfer Konvention abwich, gleichwohl an der Wahrung der grundlegenden Ziele der Genfer Konvention festhalten wollte. Daraus folgt somit, dass Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie in Anbetracht dessen auszulegen ist. Der in der Genfer Konvention vorgesehene Schutz ist grundsätzlich im Wesentlichen der herkömmliche, von einem Staat gewährte Schutz in Form eines auf Rechtsstaatlichkeit beruhenden funktionierenden Rechts- und Polizeiwesens.

79.

All dies untermauert die Schlussfolgerung, dass mit dem nicht staatlichen Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie nicht lediglich ein Schutz gemeint ist, der möglicherweise von rein privaten Parteien – wie beispielsweise einem privaten Sicherheitsunternehmen, das eine geschlossene Wohnanlage bewacht ( 46 ) – geboten werden kann, sondern ein Schutz durch nicht staatliche Akteure, die das gesamte Gebiet eines Staates oder einen wesentlichen Teil davon beherrschen und zudem bestrebt waren, herkömmliche staatliche Funktionen zu übernehmen, indem sie ein auf Rechtsstaatlichkeit beruhendes funktionierendes Rechts- und Polizeiwesen einrichten oder fördern. Mit anderen Worten sollte in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie somit im Wesentlichen eine ergänzende Ausnahmebestimmung gesehen werden, die den von mir bereits angesprochenen aktuellen Erfahrungen in dem Ausnahmefall Rechnung trägt, dass das Land, dessen Staatsangehörigkeit der Antragsteller besitzt, ganz oder teilweise von nicht staatlichen Akteuren beherrscht wird, die im Wesentlichen bestrebt sind, das Justiz- und Polizeisystem des herkömmlichen Staatsapparats zu übernehmen.

1. Entscheidung des EGMR in der Rechtssache R.H./Schweden

80.

Als ich zu diesem Ergebnis gelangt bin, habe ich das Urteil des EGMR in der Rechtssache R.H./Schweden ( 47 ), auf das das Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) und auch die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung verwiesen haben, nicht außer Acht gelassen. Wie in diesem Urteil selbst anerkannt wird, ist es in hohem Maß eine Einzelfallentscheidung. Darin prüfte der EGMR das Vorbringen einer Beschwerdeführerin, die geltend machte, dass ihre Rechte aus Art. 3 der EMRK verletzt würden, wenn sie nach Mogadischu abgeschoben würde. Der EGMR entschied, dass die Abschiebung von Frau R. H., deren Asylantrag bereits abgelehnt worden war, nach Somalia (konkret nach Mogadischu) nicht gegen das in Art. 3 der EMRK enthaltene Verbot der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung verstoßen würde ( 48 ).

81.

Die Beschwerdeführerin machte insoweit geltend, dass sie im Fall der Vollstreckung der gegen sie ergangenen Ausweisungsanordnung der tatsächlichen Gefahr ausgesetzt sei, entweder von ihren Onkeln getötet zu werden, weil sie sich vor der Flucht aus Somalia geweigert habe, einer Zwangsverheiratung zuzustimmen, oder bei ihrer Rückkehr erneut gegen ihren Willen zu einer Heirat gezwungen zu werden. Sie trug ferner vor, dass die allgemeine Situation in Somalia für Frauen sehr schwierig sei, insbesondere wenn sie nicht über ein männliches Netzwerk verfügten. Infolgedessen liefe sie Gefahr, allein in einem Flüchtlingslager leben zu müssen, was sie einer ernsthaften Gefahr aussetzen würde ( 49 ). Der EGMR stellte zunächst fest, dass nichts dafür spreche, dass aufgrund der Situation in Mogadischu für jeden, der sich in der Stadt aufhalte, die tatsächliche Gefahr einer gegen Art. 3 der EMRK verstoßenden Behandlung bestehe. Er prüfte sodann die persönlichen Umstände der Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr. Ihre Klage wurde aus tatsächlichen Gründen mit folgenden Erwägungen abgewiesen:

„(73)   Im Ergebnis ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin erhebliche Unstimmigkeiten aufweist. Die Ausführungen zu ihren persönlichen Erfahrungen und zu den Gefahren, denen sie bei ihrer Rückkehr ausgesetzt sei, sind nicht plausibel. Daher gibt es keine Grundlage für die Annahme, dass sie als alleinstehende Frau mit den damit verbundenen Gefahren nach Mogadischu zurückkehren würde. Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführerin über den Tod ihres Vaters im Jahr 2010 und ihrer Mutter im Jahr 2011 unterrichtet wurde, was zeigt, dass sie weiterhin über Kontakte in Mogadischu verfügte. Außerdem leben Familienangehörige von ihr in der Stadt, einschließlich eines Bruders und mehrerer Onkel. Daher ist davon auszugehen, dass sie sowohl Zugang zu einer Unterstützung seitens der Familie hat als auch über ein männliches Schutznetzwerk verfügt. Im Übrigen ist nicht nachgewiesen worden, dass die Beschwerdeführerin in einem Flüchtlings- oder Binnenvertriebenenlager leben müsste.

(74)   Demzufolge kann der Gerichtshof, ohne die schwierige Situation von Frauen in Somalia, einschließlich Mogadischu, außer Acht zu lassen, in diesem konkreten Fall nicht feststellen, dass die Beschwerdeführerin bei einer Abschiebung nach Mogadischu der tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 3 der [EMRK] verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre. Ihre Abschiebung nach Mogadischu würde daher nicht zu einem Verstoß gegen diese Bestimmung führen.“

82.

Auch wenn das Bestehen einer familiären Unterstützungsstruktur ein Gesichtspunkt war, der gewissen Einfluss auf die Entscheidung des Gerichtshofs hatte, dass die Beschwerdeführerin, wenn sie nach Mogadischu abgeschoben würde, nicht der Gefahr einer gegen Art. 3 der EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre, kann keine Rede davon sein, dass in der Entscheidung R.H./Schweden in dieser konkreten Hinsicht ein allgemeinerer Grundsatz aufgestellt worden wäre. Dies ergibt sich auch daraus, dass der Gerichtshof ihre Angaben für nicht verlässlich hielt ( 50 ). Mit den Belegen für familiäre Verbindungen und praktische Unterstützung in Mogadischu und andernorts, die der EGMR anführte, sollte offenbar im Wesentlichen in Frage gestellt werden, ob die Angaben der Beschwerdeführerin zutrafen.

83.

Selbst wenn dem nicht so wäre, ist darauf hinzuweisen, dass die Prüfung der Schutzgewährung im Rahmen von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie etwas ganz anderes ist als die Prüfung, ob die Rückführung einer Person in einen Staat untersagt ist, in dem eine ernsthafte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 3 der EMRK oder auch von Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta besteht. Demnach ist die Entscheidung meiner Meinung nach in Bezug auf die konkreten Fragen des vorlegenden Gerichts zur Auslegung der Anerkennungsrichtlinie nicht von großem Nutzen.

84.

Daher kann meines Erachtens der „Schutz“ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie vom Staat oder, alternativ, von nicht staatlichen Akteuren geboten werden, die den gesamten Staat oder einen wesentlichen Teil davon beherrschen und zudem bestrebt sind, herkömmliche staatliche Funktionen zu übernehmen, indem sie ein auf Rechtsstaatlichkeit beruhendes funktionierendes Rechts- und Polizeiwesen zur Verfügung stellen oder fördern. Eine bloße finanzielle und/oder materielle Unterstützung durch nicht staatliche Akteure bleibt unter der in Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie vorgesehenen Schwelle des Schutzes.

D.   Vierte Frage: Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie

85.

Die letzte Frage betrifft die Auslegung von Art. 11 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie, der das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft und insbesondere die Frage regelt, ob der in Art. 11 Abs. 1 Buchst. e genannte „Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit [der Antragsteller] besitzt“ bedeutet, dass die Prüfung, welche Art von Schutz in diesem Land zur Verfügung steht, im Kontext einer Entscheidung über das Erlöschen im Wesentlichen dieselbe ist wie in Art. 7 bei der Zuerkennung dieses Status.

86.

Art. 11 Abs. 1 regelt die Umstände, bei deren Vorliegen ein Drittstaatsangehöriger kein Flüchtling mehr ist. Im maßgeblichen Teil dieser Vorschrift heißt es:

„Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist nicht mehr Flüchtling, wenn er

e)

nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt“.

87.

Insoweit übernimmt Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie nahezu wörtlich die Bestimmungen von Art. 1 Abschnitt C Ziff. 5 der Genfer Konvention. Die letztgenannte Bestimmung regelt auch die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Flüchtlingseigenschaft endet oder erlischt.

„Eine Person, auf die die Bestimmungen des Abschnitts A zutreffen, fällt nicht mehr unter dieses Abkommen,

5.   wenn sie nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt.

…“

88.

Dem Wortlaut der Genfer Konvention und – worauf es hier ankommt – der Anerkennungsrichtlinie ist eindeutig zu entnehmen, dass sowohl für die Zuerkennung als auch für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft die Frage der Notwendigkeit maßgebend ist. Ebenso wie ein Antragsteller, der sich auf eine begründete Furcht vor Verfolgung berufen kann, Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat, gilt auch das Umgekehrte. Haben sich die Umstände, die die Notwendigkeit internationalen Schutzes und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben entstehen lassen, hinreichend geändert, so dass internationaler Schutz nicht mehr notwendig ist, kann die Flüchtlingseigenschaft grundsätzlich erlöschen ( 51 ).

89.

Wie in Art. 11 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie vorgesehen, muss die Veränderung der Umstände selbstverständlich „erheblich und nicht nur vorübergehend“ sein; dies wiederum ist, wie der Gerichtshof in Rn. 73 des Urteils vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105), festgestellt hat, nur dann der Fall, „wenn die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können“. All dies bedeutet, dass die Mitgliedstaaten mit der Frage des Erlöschens der Flüchtlingseigenschaft vorsichtig umgehen und gegebenenfalls verbleibende Zweifel zugunsten der Person, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, berücksichtigen sollten. Kann die Verfolgungsgefahr jedoch, wie der Gerichtshof es ausgedrückt hat, als „dauerhaft beseitigt“ angesehen werden, kann die Flüchtlingseigenschaft aberkannt werden.

90.

Als grundlegender Punkt bleibt jedoch festzuhalten, dass sowohl die Zuerkennung als auch das Erlöschen des internationalen Schutzes im Wesentlichen in einem symmetrischen Verhältnis zueinander stehen. Genau dies geht klar aus den Rn. 65 bis 70 des Urteils des Gerichtshofs vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105), hervor; dort heißt es:

„Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie sieht ebenso wie Art. 1 Abschnitt C Ziff. 5 der Genfer Konvention vor, dass die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn die Umstände, aufgrund deren sie zuerkannt wurde, weggefallen sind, wenn also die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht mehr vorliegen.

Mit der Bestimmung, dass es der Staatsangehörige ‚nach Wegfall‘ der genannten Umstände ‚nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt‘, stellt er schon durch seinen Wortlaut einen Kausalzusammenhang zwischen der Änderung der Umstände und der Unmöglichkeit für den Betroffenen her, seine Weigerung aufrechtzuerhalten und somit seinen Flüchtlingsstatus zu behalten, da seine ursprüngliche Furcht vor Verfolgung nicht mehr begründet erscheint.

Soweit es in der Bestimmung heißt, dass es der Staatsangehörige ‚nicht mehr ablehnen kann‘, den Schutz seines Herkunftslands in Anspruch zu nehmen, impliziert sie, dass der fragliche ‚Schutz‘ derjenige ist, der bis dahin fehlte, d. h. der Schutz vor den in der Richtlinie aufgeführten Verfolgungshandlungen.

Mithin bilden die Umstände, die die Unfähigkeit oder umgekehrt die Fähigkeit des Herkunftslands belegen, Schutz vor Verfolgungshandlungen sicherzustellen, einen entscheidenden Gesichtspunkt für die Beurteilung, die zur Zuerkennung oder gegebenenfalls, in symmetrischer Weise, zum Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft führt.

Folglich erlischt die Flüchtlingseigenschaft, wenn der betreffende Staatsangehörige in seinem Herkunftsland nicht mehr Umständen ausgesetzt erscheint, die die Unfähigkeit dieses Landes belegen, seinen Schutz vor Verfolgungshandlungen sicherzustellen, die aus einem der fünf in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie genannten Gründe gegen seine Person gerichtet würden. Ein solches Erlöschen impliziert somit, dass durch die Änderung der Umstände die Ursachen, die zu der Anerkennung als Flüchtling führten, beseitigt worden sind.

Um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht mehr begründet ist, müssen sich die zuständigen Behörden im Licht des Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie im Hinblick auf die individuelle Lage des Flüchtlings vergewissern, dass der oder die Akteure des Drittlands, die Schutz bieten können, geeignete Schritte eingeleitet haben, um die Verfolgung zu verhindern, dass diese Akteure demgemäß insbesondere über wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, verfügen und dass der betreffende Staatsangehörige im Fall des Erlöschens seiner Flüchtlingseigenschaft Zugang zu diesem Schutz haben wird.“ ( 52 )

91.

Daraus folgt wiederum, dass die Prüfung der Schutzgewährung ihrer Art nach in beiden Fällen ( 53 ) im Wesentlichen dieselbe ist. Die Flüchtlingseigenschaft wird zuerkannt, wenn dieser Schutz fehlt; dementsprechend erlischt die Notwendigkeit für die Flüchtlingseigenschaft, wenn sich die Umstände in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Antragsteller besitzt, dauerhaft verändert haben ( 54 ), so dass dort jetzt angemessene Schutzniveaus zur Verfügung stehen, zu denen er Zugang hat.

VII. Ergebnis

92.

Ich schlage daher vor, die Fragen des Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) London (Gericht zweiter Instanz [Kammer für Einwanderung und Asyl] London, Vereinigtes Königreich) wie folgt zu beantworten:

Mit dem „Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit [der Antragsteller] besitzt“, in Art. 2 Buchst. c und Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist in erster Linie ein staatlicher Schutz seitens des Landes, dessen Staatsangehörigkeit ein Antragsteller besitzt, gemeint. Aus Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 ergibt sich gleichwohl zwangsläufig, dass in bestimmten Fällen andere Akteure als der Staat, z. B. Parteien oder Organisationen, anstelle des Staates einen als dem staatlichen Schutz gleichwertig anzusehenden Schutz bieten können, wenn diese nicht staatlichen Akteure den gesamten Staat oder einen wesentlichen Teil davon beherrschen und zudem bestrebt sind, herkömmliche staatliche Funktionen zu übernehmen, indem sie ein auf Rechtsstaatlichkeit beruhendes funktionierendes Rechts- und Polizeiwesen zur Verfügung stellen oder fördern. Eine bloße finanzielle und/oder materielle Unterstützung durch nicht staatliche Akteure bleibt unter der in Art. 7 der Richtlinie 2004/83 vorgesehenen Schwelle des Schutzes.

Bei der Prüfung, ob eine Person begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 durch nicht staatliche Akteure hat, ist die Verfügbarkeit von „Schutz“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie durch Akteure, die Schutz bieten können, zu berücksichtigen. Dies gilt gleichermaßen für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83.

Der „Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit [der Antragsteller] besitzt“, in Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 impliziert, dass die Prüfung, welche Art von Schutz in diesem Land zur Verfügung steht, im Kontext einer Entscheidung über das Erlöschen dieselbe ist wie in Art. 7 dieser Richtlinie. Um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Furcht eines Flüchtlings vor Verfolgung nicht mehr begründet ist, müssen sich die zuständigen Behörden im Licht des Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 anhand der individuellen Lage des Flüchtlings vergewissern, dass die Akteure des fraglichen Drittlands, die Schutz bieten können, geeignete Schritte eingeleitet haben, um die Verfolgung zu verhindern, dass diesen Akteuren demgemäß u. a. wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, zur Verfügung stehen und dass der betreffende Staatsangehörige im Fall des Erlöschens seiner Flüchtlingseigenschaft Zugang zu diesem Schutz haben wird.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnetes und am 22. April 1954 in Kraft getretenes Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Vol. 189, S. 150, Nr. 2545, 1954). Es wurde ergänzt durch das am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (im Folgenden: Genfer Konvention oder Genfer Abkommen).

( 3 ) O’Sullivan, M, „Acting the Part: Can Non-State entities Provide Protection in International Refugee Law?“, International Journal of Refugee Law, Vol. 24, Oxford University Press, 2012, S. 89.

( 4 ) Nach Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Folgenden: Anerkennungsrichtlinie) bezeichnet der Ausdruck „internationaler Schutz“ die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus im Sinne dieser Richtlinie. Die Genfer Konvention bezieht sich nur auf Flüchtlinge und deren Rechtsstellung.

( 5 ) Insoweit bedarf es einer gewissen Klarstellung. Die Anerkennungsrichtlinie wurde nämlich mit Wirkung vom 21. Dezember 2013 durch die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) aufgehoben. Im 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 heißt es: „Nach den Artikeln 1 und 2 und Artikel 4a Absatz 1 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beteiligen sich das Vereinigte Königreich und Irland unbeschadet des Artikels 4 dieses Protokolls nicht an der Annahme dieser Richtlinie und sind weder durch diese Richtlinie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.“ Dagegen hat nach dem 38. Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie „[e]ntsprechend Artikel 3 des Protokolls über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands, das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügt ist, … das Vereinigte Königreich mit Schreiben vom 28. Januar 2002 mitgeteilt, dass es sich an der Annahme und Anwendung dieser Richtlinie beteiligen möchte“. Aus alledem folgt, dass die Anerkennungsrichtlinie auf das Vereinigte Königreich weiterhin Anwendung fand, obwohl sie für die meisten Mitgliedstaaten durch die Richtlinie 2011/95 aufgehoben und ersetzt wurde.

( 6 ) Urteil vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105). Es handelte sich um einen Fall des Erlöschens der Flüchtlingseigenschaft, die den Klägern zuvor von Deutschland zuerkannt worden war, weil sie im Irak während des Regimes von Saddam Hussein verfolgt worden waren. Nach dem Fall dieses Regimes infolge der US-geführten Invasion wollten die deutschen Behörden ihnen die Flüchtlingseigenschaft aberkennen. Auch wenn es in der Rechtssache daher hauptsächlich um die Auslegung des das Erlöschen regelnden Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie ging, stellte der Gerichtshof gleichwohl beiläufig (in Rn. 75) fest, dass Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie es zulässt, dass „der Schutz durch internationale Organisationen, auch mittels der Präsenz multinationaler Truppen im Staatsgebiet des Drittlands, sichergestellt wird“.

( 7 ) ABl. 2020, L 29, S. 1.

( 8 ) Abrufbar unter https://www.gov.uk/guidance/immigration-rules/immigration-rules-part-11-asylum.

( 9 ) S.I. 2006/2525.

( 10 ) Vgl. Rn. 29 des Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof vom 22. März 2019, in dem das Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) seine Würdigung des streitigen Sachverhalts dargelegt hat.

( 11 ) Vgl. Richtlinien zum internationalen Schutz: Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 Abschnitt C Ziff. 5 und 6 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 [Guidelines on International Protection: Cessation of Refugee Status under Article 1C(5) and (6) of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees], HCR/GIP/03/03 vom 10. Februar 2003, Paragraph 15, S. 5.

( 12 ) Die französische Regierung ist der Ansicht, die erste und die zweite Frage des vorlegenden Gerichts enthielten einen redaktionellen Fehler, denn statt Art. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie, der den Begriff „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz“ definiere, hätte ihr Art. 2 Buchst. c angeführt werden müssen, der den Begriff „Flüchtling“ definiere. Ich stimme dem zu. Art. 11 der Anerkennungsrichtlinie, der Gegenstand der ersten Frage ist, und das Bestehen einer „begründeten Furcht vor Verfolgung“, auf die sich die zweite Frage bezieht, betreffen nur Flüchtlinge. Überdies wurde OA im Vereinigten Königreich im Jahr 2003 die Flüchtlingseigenschaft und nicht subsidiärer Schutz zuerkannt. Die Ausgangsrechtssache betrifft somit das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 der Anerkennungsrichtlinie und nicht das Erlöschen des subsidiären Schutzes nach ihrem Art. 16. Meines Erachtens beziehen sich die erste und die zweite Frage des Upper Tribunal (Gericht zweiter Instanz) daher in der Tat auf Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie. Ich werde deshalb in meinen Schlussanträgen ausschließlich die Auslegung der Unionsvorschriften für Flüchtlinge und nicht derjenigen über subsidiären Schutz behandeln.

( 13 ) Nach Art. 52 Abs. 3 der Charta haben die durch ihren Art. 4 garantierten Rechte, soweit sie den durch Art. 3 der EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in Art. 3 der EMRK verliehen wird. Vgl. Urteil vom 24. April 2018, MP (Subsidiärer Schutz einer Person, die zuvor Opfer einer Folterhandlung geworden ist) (C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 37).

( 14 ) Nach Art. 19 Abs. 2 der Charta darf niemand in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht.

( 15 ) Das vorlegende Gericht hat nicht erwähnt, dass OA im Fall des Erlöschens seiner Flüchtlingseigenschaft Anspruch auf subsidiären Schutz haben könnte. Hierzu hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105, Rn. 80), ausgeführt: „Nach der Systematik der Richtlinie tritt das etwaige Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft unbeschadet des Rechts der betroffenen Person ein, um die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus zu ersuchen, wenn alle in Art. 4 der Richtlinie aufgeführten erforderlichen Anhaltspunkte für die Feststellung vorliegen, dass die in Art. 15 der Richtlinie normierten Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes vorliegen.“ Nach Art. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie hat der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz, wenn er die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland „tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden zu erleiden“, und wenn er „den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will“. Die „tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden“, ist in Art. 15 dieser Richtlinie definiert als a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Wie die Bezeichnung nahelegt, erfasst der Begriff des subsidiären Schutzes die Fälle von Antragstellern, die zwar keiner Verfolgung als solcher ausgesetzt sind, aber trotz des fehlenden Anspruchs auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gleichwohl im Fall einer Rückkehr in ihr Herkunftsland einer erheblichen Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt sind und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen können. Vgl. z. B. Urteil vom 8. Mai 2014, N. (C‑604/12, EU:C:2014:302, Rn. 29 und 30). Nach Art. 16 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger „nicht mehr subsidiär Schutzberechtigter, wenn die Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt haben, nicht mehr bestehen oder sich in einem Maße verändert haben, dass ein solcher Schutz nicht mehr erforderlich ist“. Ein Antragsteller kann nach Art. 17 der Anerkennungsrichtlinie vom subsidiären Schutz ausgeschlossen werden, wenn „schwerwiegende Gründe“ u. a. die Annahme rechtfertigen, dass er eine schwere Straftat begangen hat oder dass er „eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit des Landes darstellt, in dem er sich aufhält“.

( 16 ) Schlussanträge des Generalanwalts Mazák in der Rechtssache Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2009:551, Nr. 43).

( 17 ) Vgl. Rn. 52 des Urteils vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105).

( 18 ) Vgl. Urteil vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105, Rn. 54).

( 19 ) Art. 1 der Charta lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

( 20 ) Während Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie in der Tat die Wendung „Schutz des Landes …, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt“ enthält, ergibt sich aus der Definition des Flüchtlings in Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie, dass es dort um eine Person geht, die unter näher bestimmten Umständen den „Schutz des Landes …, dessen Staatsangehörigkeit [sie] besitzt“, nicht in Anspruch nehmen kann oder will.

( 21 ) Insoweit wird zwar das „Herkunftsland“ in Art. 2 Buchst. k der Anerkennungsrichtlinie definiert; Art. 2 enthält aber keine Begriffsbestimmungen für „Staat“ oder „staatlichen Schutz“. In Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie wird jedoch das vom Staat und anderen Akteuren, die Schutz bieten können, verlangte einheitliche Schutzniveau klar beschrieben. Darauf werde ich in den vorliegenden Schlussanträgen näher eingehen.

( 22 ) Dies geht aus Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie klar hervor. Nach dieser Ausnahme können nämlich zwar andere Akteure, die Schutz bieten können, anstelle des Staates in Betracht kommen; diese müssen indes das gleiche Schutzniveau bieten wie der Staat. Dies ergibt sich eindeutig aus dem in Art. 7 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie beschriebenen einheitlichen Schutzstandard. Die einzige „Konzession“, die insoweit den in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie genannten nicht staatlichen Akteuren gemacht wird, ist der räumliche Umfang des Schutzes. Er kann auf einen „wesentlichen Teil des Staatsgebiets“ begrenzt sein.

( 23 ) Hervorhebung nur hier.

( 24 ) Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ist nicht ersichtlich, dass vorgetragen würde, dass OA vom somalischen Staat verfolgt worden sei oder ihm eine solche Verfolgung drohen könnte.

( 25 ) Nach Ansicht der Regierung des Vereinigten Königreichs ist die zweite Frage zu bejahen. Sie führt aus, die Notwendigkeit, den Umfang des verfügbaren Schutzes zu prüfen, bestehe gleichermaßen auf drei Stufen. Erstens bei der Prüfung, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung bestehe und ob auf dieser Stufe Schutz von nicht staatlichen Akteuren tatsächlich zur Verfügung stehe, und zwar im Rahmen der gesamten Umstände des Falles des Antragstellers. Stehe ein solcher Schutz zur Verfügung, führe dies dazu, dass der Antragsteller eine begründete Furcht vor Verfolgung nicht dartun könne. Zweitens sei, soweit die Furcht vor Verfolgung gegenüber nicht staatlichen Akteuren bestehe, zu prüfen, ob entweder der Staat oder nicht staatliche Akteure wirksamen Schutz bieten könnten. Drittens sei zu prüfen, ob der Antragsteller den „Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt“, nicht in Anspruch nehmen wolle oder könne. Die vorgenannten Stufen 2 und 3 stellten zwei Teile derselben Prüfung dar. Die drei genannten Stufen müssten in ganzheitlicher Weise geprüft werden. Entscheidend sei, dass die Vorgehensweise bei der Prüfung eines Schutzes durch einen nicht staatlichen Akteur auf jeder Stufe dieselbe sei. Die französische Regierung hat darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof in Rn. 70 des Urteils vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105), festgestellt habe, dass sich die zuständigen Behörden, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht mehr begründet sei, im Licht des Art. 7 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie anhand der individuellen Lage des Flüchtlings vergewissern müssten, dass der oder die Akteure des Drittlands, die Schutz bieten könnten, geeignete Schritte eingeleitet hätten, um die Verfolgung zu verhindern, dass diese Akteure demgemäß insbesondere über wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellten, verfügten und dass der betreffende Staatsangehörige im Fall des Erlöschens seiner Flüchtlingseigenschaft Zugang zu diesem Schutz haben werde. Eine solche Prüfung sei erst recht erforderlich, soweit zu ermitteln sei, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie gegeben sei. Nach Ansicht der ungarischen Regierung kommt es im Rahmen der Prüfung der Voraussetzung einer begründeten Furcht nicht nur auf einen Schutz durch staatliche Akteure oder eine Organisation, die einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrscht, an. Die für Entscheidungen im Asylbereich zuständigen Stellen der Verwaltung und der Justiz müssten im Hinblick auf die Voraussetzung der begründeten Furcht prüfen, ob der zur Verfügung stehende Schutz hinreichend wirksam sei, ohne dass es darauf ankomme, ob er von staatlichen oder nicht staatlichen Akteuren geboten werde.

( 26 ) Lord Hope of Craighead stellte in der Rechtssache Horvath/Secretary of State for the Home Department ([2000] UKHL 37) fest, dass „der Zweck der Konvention, der für die Entscheidung über die durch die vorliegende Rechtssache aufgeworfenen Probleme von überragender Bedeutung ist, meines Erachtens derjenige des Grundsatzes der ersatzweisen Bereitstellung sein dürfte. Der allgemeine Zweck der Konvention besteht darin, es der Person, die in ihrem eigenen Land keinen Schutz vor Verfolgung aus einem unter die Konvention fallenden Grund mehr genießt, zu ermöglichen, sich mit ihrem Schutzersuchen an die internationale Gemeinschaft zu wenden.“ Wie Lord Keith of Kinkel in der Rechtssache Reg./Secretary of State for the Home Department, ex parte Sivakumaran ([1988] Appeal Cases 958, 992H‑993A), ausgeführt hat, besteht ihr allgemeiner Zweck darin, „denjenigen Schutz und eine angemessene Behandlung zu gewähren, denen beides in ihren eigenen Ländern nicht zur Verfügung steht“.

( 27 ) Außerdem hat das vorlegende Gericht ausgeführt, falls die Würdigung des Court of Appeal (Berufungsgericht) im Urteil AG u. a./Secretary of State for the Home Department ([2006] EWCA Civ 1342) zutreffen würde, „wären beide Prüfungen der Schutzgewährung, die für den in der ‚begründeten Furcht vor Verfolgung‘ bestehenden Teil der Flüchtlingsdefinition vorgenommen werden müssten, nicht zwei Aspekte einer ‚ganzheitlichen‘ Prüfung, sondern mit ihnen würden zwei verschiedene Gruppen von Kriterien angewendet, wobei es sich bei der einen um eine rein tatsächliche oder funktionale Prüfung handeln würde und die andere (die Behandlung des Schutzes als Fachterminus, der ausschließlich den Staatsapparat betrifft) sich ausschließlich auf die Handlungen staatlicher Akteure konzentrieren würde. Auch wenn es mit einem ganzheitlichen Ansatz im Einklang steht, dass das Maß des staatlichen Schutzes mittelbar ein Faktor bei der Beurteilung sein kann, ob eine Person begründete Furcht hat …, ist schwer ersichtlich, warum sich die Natur dieser Prüfung – unabhängig davon, ob es sich um eine tatsächliche oder funktionale oder um eine formalistische Prüfung oder eine Mischung aus beiden handelt – unterscheiden sollte, insbesondere in Anbetracht dessen, dass sie miteinander verknüpft sind. In beiden Anwendungsfällen muss der Schutz sicherlich dieselben Merkmale in Bezug auf Wirksamkeit und (wohl auch) Zugänglichkeit und zeitliche Unbegrenztheit aufweisen“ (vgl. Rn. 48 des Vorabentscheidungsersuchens vom 22. März 2019).

( 28 ) Vgl. Rn. 67 des Urteils vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105), wo der Gerichtshof ausgeführt hat: „Soweit es in der Bestimmung heißt, dass es der Staatsangehörige ‚nicht mehr ablehnen kann‘, den Schutz seines Herkunftslands in Anspruch zu nehmen, impliziert [Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie], dass der fragliche ‚Schutz‘ derjenige ist, der bis dahin fehlte, d. h. der Schutz vor den in der Richtlinie aufgeführten Verfolgungshandlungen.“

( 29 ) Durch „Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann“, im Sinne von Art. 6 der Anerkennungsrichtlinie.

( 30 ) Vgl. entsprechend Rn. 56 bis 59 des Urteils vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105), wo der Gerichtshof ausgeführt hat, dass „nach dem Wortlaut des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie ein Flüchtling insbesondere ein Drittstaatsangehöriger ist, der sich ‚aus der begründeten Furcht vor Verfolgung‘ … außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und der den ‚Schutz‘ dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder ‚wegen dieser Furcht‘ nicht in Anspruch nehmen will. Der betreffende Staatsangehörige muss somit aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände eine begründete Furcht vor einer Verfolgung haben, die sich aus zumindest einem der fünf in der Richtlinie und der Genfer Konvention genannten Gründe gegen seine Person richtet. Diese Umstände belegen nämlich, dass das Drittland seinen Staatsangehörigen nicht vor Verfolgungshandlungen schützt. Sie sind die Ursache dafür, dass es dem Betreffenden unmöglich ist oder er sich in begründeter Weise weigert, den ‚Schutz‘ seines Herkunftslands im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie, d. h. im Sinne der Fähigkeit dieses Landes zur Verhinderung oder Ahndung von Verfolgungshandlungen, in Anspruch zu nehmen.“ Hervorhebung nur hier.

( 31 ) Die Kommission hat vorgetragen, dass „die Ansicht vertreten wird, dass es für die Folge einer Aufspaltung der Definition des ‚Flüchtlings‘ nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie in zwei Elemente und die Anwendung einer von der Prüfung der Schutzgewährung nach Art. 7 gesonderten – und engeren – Prüfung der Schutzgewährung auf das erste Element weder im Wortlaut noch in der Systematik der Richtlinie eine Grundlage gibt. Die Entwicklung der Prüfung in der Rechtsprechung des Vereinigten Königreichs fand nämlich vor dem Erlass der Anerkennungsrichtlinie statt. Ein solcher Ansatz stellt im Übrigen im Wesentlichen eine Umgehung der Anwendung von Art. 7 der Richtlinie dar. Würde ein Mitgliedstaat eine engere Prüfung der Schutzgewährung der Entscheidung ‚aufpfropfen‘, ob die Furcht eines Antragstellers begründet ist, und sodann auf der Grundlage dieser Prüfung eine weitere, den Anforderungen von Art. 7 der Richtlinie entsprechende Prüfung der Schutzgewährung ablehnen, würde er diese Bestimmung im Wesentlichen praktisch wirkungslos machen.“

( 32 ) Nach Art. 6 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie gehören zu den Akteuren, von denen die Verfolgung ausgehen kann, „nichtstaatliche Akteure, sofern [der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen] einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Artikels 7 zu bieten“. Hervorhebung nur hier.

( 33 ) Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat in der mündlichen Verhandlung vom 27. Februar 2020 vorgebracht, mit der Formulierung „im Allgemeinen“ in Art. 7 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie solle darauf hingewiesen werden, dass die in dieser Bestimmung genannten Kriterien nicht abschließend seien oder auch nur Hinweischarakter hätten, sondern lediglich konkret aufgezählte Beispiele dafür darstellten, was mit dem Begriff „Schutz“ gemeint sei. Dieser Ansicht bin ich nicht. Meines Erachtens stellen die in Art. 7 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie genannten Kriterien Mindestnormen dar, die für das Bestehen des erforderlichen Schutzniveaus erforderlich sind. Dies ergibt sich im Übrigen ganz eindeutig aus den Rn. 70 und 71 des Urteils vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105).

( 34 ) Vgl. Art. 7 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie.

( 35 ) Meines Erachtens müssen nicht nur „geeignete Schritte“ eingeleitet werden, sondern diese müssen in ihrer Zielsetzung auch in geeigneter Weise wirksam sein.

( 36 ) Vgl. Art. 2 Buchst. d der Anerkennungsrichtlinie. Droht dem Antragsteller dagegen keine Verfolgung, aber gleichwohl die Gefahr eines „ernsthaften Schadens“ im Sinne von Art. 15, hat er grundsätzlich Anspruch auf subsidiären Schutz.

( 37 ) Vgl. Rn. 21 des Vorabentscheidungsersuchens vom 22. März 2019. Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, die vom vorlegenden Gericht angeführten und im Übrigen von den Parteien des bei ihm anhängigen Verfahrens gebilligten Tatsachenfeststellungen in Frage zu stellen. Wenn jedoch die Tatsachenfeststellungen zur Situation in Mogadischu ausschließlich auf dem Urteil MOJ beruhen, dann ist dazu zu sagen, dass dieses Urteil Passagen beinhaltet, die für sich genommen nahelegen könnten, dass ein Antragsteller wie OA keine begründete Furcht vor einer möglichen Rückkehr nach Somalia hat und dass die vorliegende Rechtssache, soweit sie Fragen der finanziellen Unterstützung usw. aufwirft, in Wirklichkeit Fragen einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Zusammenhang damit betrifft, dass der Antragsteller mit extremer und schwerer materieller Armut konfrontiert sein könnte, nicht aber mit dem Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft als solcher. Ich möchte jedoch nochmals betonen, dass es nicht Aufgabe des Gerichtshofs ist, die Tatsachenfeststellungen des vorlegenden Gerichts oder auch die von ihm gestellten konkreten Fragen zu hinterfragen. Hervorgehoben werden könnte auch, dass das Urteil MOJ im Jahr 2014 erging, so dass die Frage berechtigt sein könnte, ob seine Feststellungen heute, sechs Jahre später, immer noch in vollem Umfang relevant sind. Ich möchte ferner darauf hinweisen, dass die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung vom 27. Februar 2020 vorgetragen hat, dass ihre Beurteilung der Situation in Somalia eine ganz andere sei. Die Entscheidung darüber ist jedoch letztlich Sache des vorlegenden Gerichts.

( 38 ) Vgl. Rn. 38 des Vorabentscheidungsersuchens vom 22. März 2019.

( 39 ) EGMR, 10. September 2015, RH/Schweden (CE:ECHR:2015:0910JUD000460114, § 73).

( 40 ) Vgl. Rn. 49 des Vorabentscheidungsersuchens vom 22. März 2019.

( 41 ) Schlussanträge des Generalanwalts Mazák in der Rechtssache Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2009:551, Nr. 54).

( 42 ) Mit den Abs. 2 und 3 dieses Artikels wird Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie umgesetzt.

( 43 ) Hervorhebung nur hier.

( 44 ) EGMR, 10. September 2015, RH/Schweden (CE:ECHR:2015:0910JUD00460114).

( 45 ) O’Sullivan, M, „Acting the Part: Can Non-State Entities Provide Protection Under International Refugee Law?“, International Journal of Refugee Law, Vol. 24, Oxford University Press, 2012, S. 98 bis 108.

( 46 ) Der Verweis der Regierung des Vereinigten Königreichs auf Rn. 249 des Urteils des EGMR vom 28. November 2011, Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2011:0628JUD000831907), erscheint mir hier nicht unmittelbar einschlägig. Dort führte der EGMR aus, es komme wahrscheinlich selten vor, dass bestimmte Personen, die außergewöhnlich gute Verbindungen zu „mächtigen Akteuren“ in Mogadischu haben, Schutz erhalten und gefahrlos im Stadtgebiet leben könnten, da nur diejenigen, die über Verbindungen auf höchstem Niveau verfügen, einen solchen Schutz bieten könnten. Er stellte ferner fest, dass ein Antragsteller, der sich einige Zeit nicht in Somalia aufgehalten habe, wohl kaum über die Kontakte verfügen würde, die notwendig wären, um ihm bei seiner Rückkehr Schutz zu bieten. Er kam daher zu dem Ergebnis, dass in Mogadischu in einem solchen Ausmaß Gewalt herrsche, dass in der Stadt jeder, vielleicht mit Ausnahme derjenigen, die über außergewöhnlich gute Verbindungen zu „mächtigen Akteuren“ verfügten, der tatsächlichen Gefahr einer nach Art. 3 der EMRK verbotenen Behandlung ausgesetzt wäre. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat in der mündlichen Verhandlung vom 27. Februar 2020 selbst eingeräumt, dass OA 25 Jahre lang nicht in Somalia gewesen sei und nichts dafür spreche, dass er zu dieser privilegierten Personengruppe gehöre. Jedenfalls ist, wie bereits ausgeführt, die nach Art. 3 der EMRK vorzunehmende Prüfung von der Frage des Anspruchs auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach dem Wortlaut von Art. 7 der Richtlinie zu trennen.

( 47 ) EGMR, 10. September 2015, RH/Schweden (CE:ECHR:2015:0910JUD00460114).

( 48 ) In § 56 des Urteils vom 10. September 2015, RH/Schweden (CE:ECHR:2015:0910JUD00460114), stellte der EGMR fest, dass „die Ausweisung durch einen Vertragsstaat Art. 3 widersprechen und somit die Haftung dieses Staates nach der [EMRK] auslösen [kann], wenn stichhaltige Gründe für die Annahme dargetan worden sind, dass für die betroffene Person im Fall einer Abschiebung die tatsächliche Gefahr bestünde, im Aufnahmeland einer gegen Art. 3 verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu werden. In diesem Fall folgt aus Art. 3 die Pflicht, von einer Abschiebung der betreffenden Person in dieses Land abzusehen (Urteil Tarakhel/Schweiz [Große Kammer], Nr. 29217/12, § 93, ECHR 2014, mit weiteren Nachweisen)“. In § 57 stellte der EGMR fest, dass „angesichts des Umstands, dass es sich bei dem garantierten Recht um ein absolutes Recht handelt, Art. 3 der [EMRK] auch Anwendung finden kann, wenn die Gefahr von Personen oder Personengruppen ausgeht, die keine öffentlichen Funktionen ausüben. Es muss jedoch dargetan werden, dass es sich um eine tatsächliche Gefahr handelt und die öffentlichen Stellen des Aufnahmestaats die Gefahr nicht durch Gewährung angemessenen Schutzes abwenden können.“

( 49 ) Der EGMR prüfte zunächst die Situation in Mogadischu und stellte fest, dass aufgrund der Situation nichts dafür sprach, dass für jeden, der sich in der Stadt aufhält, die tatsächliche Gefahr einer gegen Art. 3 der EMRK verstoßenden Behandlung besteht. Sodann ging er auf die persönliche Situation der Beschwerdeführerin ein.

( 50 ) Vgl. § 72, wo der EGMR ernsthafte Bedenken im Hinblick auf die Richtigkeit der Angaben der Beschwerdeführerin äußerte.

( 51 ) Wie der Court of Appeal for England and Wales (Berufungsgericht für England und wales) prägnant formuliert hat, „muss es schlicht ein Erfordernis der Symmetrie zwischen Zuerkennung und Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft geben“. Vgl. Secretary of State for the Home Department/MA (Somalia) ([2018] EWCA, Civ 994, [2019] 1, Weekly Law Reports 241, § 47, Arden L.J.).

( 52 ) In den Rn. 65 bis 70 des Urteils. Hervorhebung nur hier.

( 53 ) Nach Art. 7 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie.

( 54 ) In Rn. 73 des Urteils vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105), hat der Gerichtshof ausgeführt: „Die Veränderung der Umstände ist im Sinne von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie ‚erheblich und nicht nur vorübergehend‘, wenn die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können.“