SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 13. Februar 2020 ( 1 )

Rechtssache C‑88/19

Asociaţia „Alianța pentru combaterea abuzurilor“

gegen

TM,

UN,

Asociaţia DMPA

(Vorabentscheidungsersuchen des Judecătoria Zărnești [Amtsgericht Zărnești, Rumänien])

„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 92/43/EWG – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchst. a genannten Tierarten – Natürliches Verbreitungsgebiet – Fang von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten – Wolf (Canis lupus) –Exemplare, die ihren natürlichen Lebensraum verlassen – Ausnahmen – Öffentliche Sicherheit – Sanktionen“

I. Einleitung

1.

Die Habitatrichtlinie ( 2 ) verlangt die Einführung eines strengen Schutzsystems für Arten wie den Wolf (Canis lupus), die in ihrem Anhang IV Buchst. a aufgeführt sind. Doch muss dieses Schutzsystem auch angewandt werden, wenn ein Wolf innerhalb eines Dorfs mit Hunden spielt? Diese Frage wird dem Gerichtshof im vorliegenden Verfahren gestellt.

2.

Selbst in ihrer konkreten Form mag diese Frage von größerer praktischer Bedeutung sein, als man denken könnte. ( 3 ) Sie ist aber vor allem entscheidend dafür, ob der inhaltlich weitreichende Artenschutz der Habitatrichtlinie primär für natürliche und naturnahe Bereiche von Bedeutung ist, also insbesondere für Aktivitäten wie die Land- und Forstwirtschaft sowie die Jagd, oder uneingeschränkt bei allen menschlichen Aktivitäten zu berücksichtigen ist, etwa beim Betrieb von Straßen.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Völkerrecht

1. Übereinkommen zur Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten

3.

Art. I Abs. 1 des Übereinkommens zur Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten ( 4 ) definiert die Begriffe „Verbreitungsgebiet“ und „der Natur entnehmen“:

„Im Sinne dieses Übereinkommens …

f)

[bedeutet] ‚Verbreitungsgebiet‘ (Areal) … das gesamte Land- oder Wassergebiet, in dem eine wandernde Art zu irgendeiner Zeit auf ihrem normalen Wanderweg lebt, sich vorübergehend aufhält, es durchquert oder überfliegt; …

i)

[bedeutet] ‚der Natur entnehmen‘ … entnehmen, jagen, fischen, fangen, absichtlich beunruhigen, vorsätzlich töten oder jeden derartigen Versuch;

…“

2. Übereinkommen von Bern

4.

Art. 6 des Übereinkommens von Bern ( 5 ) enthält ebenfalls Artenschutzbestimmungen:

„Jede Vertragspartei ergreift die geeigneten und erforderlichen gesetzgeberischen und Verwaltungsmaßnahmen, um den besonderen Schutz der in Anhang II aufgeführten wildlebenden Tierarten sicherzustellen. In Bezug auf diese Arten ist insbesondere zu verbieten:

a.

jede Form des absichtlichen Fangens, des Haltens und des absichtlichen Tötens;

…“

5.

Der Wolf (Canis lupus) wird in Anhang II des Übereinkommens von Bern als eine streng geschützte Tierart genannt.

B.   Unionsrecht

1. Habitatrichtlinie

6.

Der erste Satz des 15. Erwägungsgrundes der Habitatrichtlinie betrifft den Artenschutz:

„Ergänzend zur [Vogelschutzrichtlinie ( 6 )] ist ein allgemeines Schutzsystem für bestimmte Tier- und Pflanzenarten vorzusehen.“

7.

Art. 1 Buchst b, f und i der Habitatrichtlinie definiert verschiedene Begriffe:

„…

b)

‚Natürlicher Lebensraum‘: durch geographische, abiotische und biotische Merkmale gekennzeichnete völlig natürliche oder naturnahe terrestrische oder aquatische Gebiete.

f)

‚Habitat einer Art‘: durch spezifische abiotische und biotische Faktoren bestimmter Lebensraum, in dem diese Art in einem der Stadien ihres Lebenskreislaufs vorkommt.

i)

‚Erhaltungszustand einer Art‘: die Gesamtheit der Einflüsse, die sich langfristig auf die Verbreitung und die Größe der Populationen der betreffenden Arten in dem in Art. 2 bezeichneten Gebiet auswirken können.

Der Erhaltungszustand wird als ‚günstig‘ betrachtet, wenn

aufgrund der Daten über die Populationsdynamik der Art anzunehmen ist, dass diese Art ein lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraumes, dem sie angehört, bildet und langfristig weiterhin bilden wird, und

das natürliche Verbreitungsgebiet dieser Art weder abnimmt noch in absehbarer Zeit vermutlich abnehmen wird und

ein genügend großer Lebensraum vorhanden ist und wahrscheinlich weiterhin vorhanden sein wird, um langfristig ein Überleben der Populationen dieser Art zu sichern.

…“

8.

Art. 2 Abs. 1 der Habitatrichtlinie beschreibt ihre Zielsetzung:

„Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat, beizutragen.“

9.

Art. 4 Abs. 1 der Habitatrichtlinie regelt, wie die Mitgliedstaaten die Gebiete auswählen, die sie für den Gebietsschutz vorschlagen:

„Anhand der in Anhang III (Phase 1) festgelegten Kriterien und einschlägiger wissenschaftlicher Informationen legt jeder Mitgliedstaat eine Liste von Gebieten vor, in der die in diesen Gebieten vorkommenden natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und einheimischen Arten des Anhangs II aufgeführt sind. Bei Tierarten, die große Lebensräume beanspruchen, entsprechen diese Gebiete den Orten im natürlichen Verbreitungsgebiet dieser Arten, welche die für ihr Leben und ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden physischen und biologischen Elemente aufweisen. …“

10.

Art. 12 der Habitatrichtlinie enthält die grundlegenden Verpflichtungen des Artenschutzes:

„(1)   Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchst. a) genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen; dieses verbietet:

a)

alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten;

b)

jede absichtliche Störung dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs‑, Aufzucht‑, Überwinterungs- und Wanderungszeiten;

c)

jede absichtliche Zerstörung oder Entnahme von Eiern aus der Natur;

d)

jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten.

(2)   Für diese Arten verbieten die Mitgliedstaaten Besitz, Transport, Handel oder Austausch und Angebot zum Verkauf oder Austausch von aus der Natur entnommenen Exemplaren; vor Beginn der Anwendbarkeit dieser Richtlinie rechtmäßig entnommene Exemplare sind hiervon ausgenommen.

…“

11.

Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie enthält Ausnahmen zu Art. 12:

„Sofern es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und unter der Bedingung, dass die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen, können die Mitgliedstaaten von den Bestimmungen der Art. 12, 13 und 14 sowie des Art. 15 Buchst. a) und b) im folgenden Sinne abweichen:

a)

zum Schutz der wildlebenden Tiere und Pflanzen und zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume;

b)

zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen und in der Tierhaltung sowie an Wäldern, Fischgründen und Gewässern sowie an sonstigen Formen von Eigentum;

c)

im Interesse der Volksgesundheit und der öffentlichen Sicherheit oder aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art oder positiver Folgen für die Umwelt;

d)

zu Zwecken der Forschung und des Unterrichts, der Bestandsauffüllung und Wiederansiedlung und der für diese Zwecke erforderlichen Aufzucht, einschließlich der künstlichen Vermehrung von Pflanzen;

e)

um unter strenger Kontrolle, selektiv und in beschränktem Ausmaß die Entnahme oder Haltung einer begrenzten und von den zuständigen einzelstaatlichen Behörden spezifizierten Anzahl von Exemplaren bestimmter Tier- und Pflanzenarten des Anhangs IV zu erlauben.“

12.

Anhang IV Buchst. a der Habitatrichtlinie nennt u. a. den Wolf:

Canis lupus (ausgenommen die griechischen Populationen nördlich des 39. Breitengrades; die estnischen Populationen, die spanischen Populationen nördlich des Duero; die bulgarischen, lettischen, litauischen, polnischen, slowakischen Populationen und die finnischen Populationen innerhalb des Rentierhaltungsareals im Sinne von Paragraf 2 des finnischen Gesetzes Nr. 848/90 vom 14. September 1990 über die Rentierhaltung)“.

2. Vogelschutzrichtlinie

13.

Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie enthält das allgemeine Schutzsystem für Vögel:

„Unbeschadet der Art. 7 und 9 erlassen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zur Schaffung einer allgemeinen Regelung zum Schutz aller unter Art. 1 fallenden Vogelarten, insbesondere das Verbot

a)

des absichtlichen Tötens oder Fangens, ungeachtet der angewandten Methode;

b)

der absichtlichen Zerstörung oder Beschädigung von Nestern und Eiern und der Entfernung von Nestern;

c)

des Sammelns der Eier in der Natur und des Besitzes dieser Eier, auch in leerem Zustand;

d)

ihres absichtlichen Störens, insbesondere während der Brut- und Aufzuchtzeit, sofern sich diese Störung auf die Zielsetzung dieser Richtlinie erheblich auswirkt;

e)

des Haltens von Vögeln der Arten, die nicht bejagt oder gefangen werden dürfen.“

C.   Innerstaatliches Recht

14.

Art. 4 Nr. 14 der Ordonanța de urgență nr. 57/2007 privind regimul ariilor naturale protejate, conservarea habitatelor naturale, a florei și faunei sălbatice (Dringlichkeitsverordnung Nr. 57/2007 zur Regelung der Naturschutzgebiete sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume und der wildlebenden Tiere und Pflanzen, im Folgenden: Dringlichkeitsverordnung Nr. 57/2007) definiert den Begriff „natürlicher Lebensraum“ wie folgt:

„die Gesamtheit der natürlichen physisch-geografischen, biologischen und biogenetischen Bestandteile, Strukturen und Prozesse zu Wasser und auf dem Land, die das Leben erhalten und die notwendigen Ressourcen schaffen“.

15.

Art. 33 Abs. 1 der Dringlichkeitsverordnung Nr. 57/2007 setzt Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie um:

„In Bezug auf die in den Anhängen Nrn. 4 A und 4 B genannten wildlebenden Pflanzen- und Tierarten auf dem Land, zu Wasser und unter der Erde mit Ausnahme der innerhalb oder außerhalb der Naturschutzgebiete lebenden Vogelarten sind verboten:

a)

alle Formen des Einsammelns, des Fangs, der Tötung, des Zerstörens oder der Verletzung von in ihrem natürlichen Lebensraum befindlichen Exemplaren in jeder Phase ihres Lebenszyklus;

b)

die absichtliche Störung während der Fortpflanzungs‑, Aufzucht‑, Überwinterungs- und Wanderungszeiten;

c)

die absichtliche Beschädigung, Vernichtung und/oder das Einsammeln der Nester und/oder der Eier in der Natur;

d)

die Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten;

e)

das Pflücken von Blumen und Früchten sowie das Einsammeln, Abschneiden, Ausreißen oder die absichtliche Zerstörung solcher Pflanzen in ihrem natürlichen Lebensraum in jeder Phase ihres biologischen Zyklus;

f)

der Besitz, Transport, Verkauf oder Tausch zu jedwedem Zweck sowie das Anbieten zum Tausch oder Verkauf der aus ihrem natürlichen Lebensraum entnommenen Exemplare in jeder Phase ihres biologischen Zyklus.“

16.

Art. 38 der Dringlichkeitsverordnung Nr. 57/2007 regelt Ausnahmen von den Verboten des Art. 33 Abs. 1. Sie werden nach Art. 38 Abs. 2 mit Bescheid des Leiters der zentralen Umwelt- und Forstschutzbehörde nach Stellungnahme der Academia Română (Rumänische Akademie) erlassen.

17.

Nach Art. 52 Buchst. d der Dringlichkeitsverordnung Nr. 57/2007 stellt ein Verstoß gegen die Bestimmung des Art. 33 Abs. 1 eine Straftat dar, die mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft wird.

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

18.

Das rumänische Dorf Șimon in der Gemeinde Bran, Kreis Brașov, liegt etwa einen Kilometer östlich von der Grenze des Gebiets „Bucegi“, das die Kommission auf Vorschlag Rumäniens unter dem Code ROSCI0013 auf die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung gesetzt hat. ( 7 ) Ein weiteres solches Gebiet, „Munţii Făgăraş“, ROSCI0122, befindet sich in etwa acht Kilometer Entfernung westlich des Dorfes. ( 8 ) Für beide Gebiete ist in den Standarddatenbögen ( 9 ) das Vorkommen von Wölfen verzeichnet.

19.

Am 6. November 2016 gegen 19 Uhr begaben sich Mitarbeiter der Vereinigung „Direcția pentru Monitorizarea și Protecția Animalelor“ (Direktion für die Beobachtung und den Schutz der Tiere, im Folgenden: DMPA) gemeinsam mit der Tierärztin UN unter der Leitung von TM nach Șimon. Sie beabsichtigten, einen Wolf einzufangen und umzusiedeln, der sich seit einigen Tagen auf dem Grundstück eines dortigen Bewohners aufgehalten habe, wo er mit den Hunden der Familie gespielt und gefressen habe.

20.

Der Wolf wurde mittels eines Projektils mit veterinärmedizinischen narkotisierenden und psychotropen Substanzen betäubt sowie daraufhin verfolgt und vom Boden aufgehoben. Er wurde am Schwanz und am Nacken zu einem Fahrzeug getragen und sediert in einen Hundetransportkäfig gelegt.

21.

Daraufhin veranlassten die Mitarbeiter der DMPA seinen Transport in das Bärenreservat Libearty der Stadt Zărnești (Rumänien) in der Provinz Brașov, das über ein eingezäuntes Gehege verfügt, in dem aus nicht artgerechten Tiergärten gerettete Wölfe leben. Allerdings konnte der Wolf während des Transports entkommen und sich in den umliegenden Wäldern verstecken.

22.

Am 9. Mai 2017 erstattete die Vereinigung „Alianța pentru combaterea abuzurilor“ (Bündnis zur Bekämpfung von Missbrauch) Anzeige gegen:

den Beschuldigten TM, tätig in der DMPA;

die beschuldigte Tierärztin UN;

die juristische Person DMPA samt weiterer für sie tätiger Personen.

23.

Aus der Strafanzeige geht hervor, dass keine Genehmigung für den Fang und den Transport des Wolfs eingeholt worden ist.

24.

Aus diesem Verfahren heraus richtet das Judecătoria Zărnești (Amtsgericht Zărnești, Rumänien) die folgende Frage an den Gerichtshof:

Ist Art. 16 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten zur Schaffung von Ausnahmen von den Art. 12, 13, 14 und 15 Buchst. a und b auch in Fällen verpflichtet, in denen die zu den bedrohten Arten gehörenden Tiere ihren natürlichen Lebensraum verlassen und sich entweder in dessen unmittelbarer Nähe oder völlig außerhalb davon aufhalten?

25.

Die Vereinigung „Alianța pentru combaterea abuzurilor“ (im Folgenden APCA), Rumänien und die Europäische Kommission haben sich schriftlich geäußert.

IV. Rechtliche Würdigung

26.

Die Vorlagefrage zielt nach dem Vorabentscheidungsersuchen darauf ab, ob der vorsätzliche Fang von wildlebenden Wölfen ohne eine Ausnahme nach Art. 16 der Habitatrichtlinie erfolgen kann, wenn das Tier am Rand einer Ortschaft angetroffen wird oder das Territorium einer Gebietskörperschaft betritt. Eine solche Ausnahme wäre nur nötig, wenn die Schutzbestimmungen in diesen Fällen grundsätzlich anwendbar sind.

27.

Die konkrete Frage des Judecătoria Zărnești (Amtsgericht Zărnești) beruht zwar auf einem durch die rumänische Umsetzung der Habitatrichtlinie beförderten Missverständnis. Sie bringt allerdings eine berechtigte Fragestellung zum Ausdruck, die eine vertiefte Betrachtung verdient.

28.

Das Missverständnis liegt darin, dass der Artenschutz nur anwendbar sein soll, wenn sich die geschützten Arten in ihrem natürlichen Lebensraum aufhalten. Dies entspricht dem Text von Art. 33 Abs. 1 Buchst. a der rumänischen Dringlichkeitsverordnung Nr. 57/2007. Dafür gibt es jedoch weder im Text der Habitatrichtlinie – einschließlich ihrer rumänischen Fassung – eine Grundlage noch in ihrer Zielsetzung.

29.

Natürliche Lebensräume werden in Art. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie definiert. Sie sind nach den Art. 3 bis 6 als solche im Rahmen der Schutzgebiete des Netzwerks Natura 2000 zu schützen. Zugleich umfasst dieses Netzwerk aber die in Art. 1 Buchst. f getrennt definierten Habitate der Arten des Anhangs II. Da der Wolf in diesem Anhang aufgeführt ist, soll es besondere Schutzgebiete für diese Art geben. So spielte sich der Sachverhalt, der zum vorliegenden Verfahren geführt hat, in einem Dorf ab, das zwischen zwei großen Schutzgebieten liegt, in denen auch der Wolf geschützt wird.

30.

Vorliegend geht es jedoch nicht um den Schutz des Wolfs im Rahmen des Gebietsschutzes, sondern um den Artenschutz nach Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie. Danach treffen die Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchst. a genannten Tierarten, also auch für den Wolf, in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen. Nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a verbietet dieses System alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten.

31.

Um dem Judecătoria Zărnești (Amtsgericht Zărnești) eine nützliche Antwort zu geben, ist daher zu untersuchen, ob menschliche Siedlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie Teil des natürlichen Verbreitungsgebiets des Wolfs sind. Darüber hinaus ist angesichts des Ausgangsfalls auch zu erörtern, ob die Betäubung eines Wolfs auf einem Hausgrundstück und sein Transport in einem Käfig als Fang eines aus der Natur entnommenen Exemplars im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a anzusehen ist. Und außerdem ist es sinnvoll, kurz auf die Möglichkeit einer Ausnahme nach Art. 16 einzugehen sowie auf die unionsrechtlichen Grenzen einer eventuellen Sanktion wegen Verletzung des strengen Schutzsystems des Art. 12.

A.   Zum natürlichen Verbreitungsgebiet im Sinne des Art. 12 der Habitatrichtlinie

32.

Der in Art. 12 der Habitatrichtlinie verwendete biologische Fachbegriff des natürlichen Verbreitungsgebiets, in der englischen Fassung „natural range“, in der französischen Fassung „aire de répartition naturelle“, ist in der Richtlinie nicht definiert.

33.

Aus der Verwendung des Begriffs „natürlich“ könnte man ableiten, dass der Wolf des Ausgangsfalls sich außerhalb seines natürlichen Verbreitungsgebiets aufgehalten habe. Denn eine menschliche Siedlung ist prima facie kein natürliches Gebiet. Außerdem sind menschliche Siedlungen zumindest nach allgemeiner Erfahrung nicht der natürliche Aufenthaltsort wildlebender Wölfe.

34.

Diese allgemeine Erfahrung bedürfte allerdings wissenschaftlicher Absicherung, bevor sie die Anwendung der Artenschutzbestimmungen determinieren könnte. ( 10 ) Da solche wissenschaftliche Erkenntnisse tatsächlicher Natur sind, müssten sie im Kooperationsverhältnis eines Vorabentscheidungsverfahrens vom innerstaatlichen Gericht ermittelt werden. Gleichwohl sei angemerkt, dass einige unionsrechtlich geschützte Arten wie bestimmte Fledermäuse, Juchtenkäfer (Osmoderma eremita) oder Rötelfalken (Falco naumanni) ( 11 ) zweifelsohne Lebensräume innerhalb menschlicher Siedlungen nutzen. Und aus wissenschaftlicher Sicht bestehen Anhaltspunkte, dass auch Wölfe sich zwar selten, aber doch regelmäßig im Bereich menschlicher Siedlungen aufhalten. ( 12 )

35.

Unabhängig von dieser wissenschaftlichen Frage wäre es mit dem Zweck der Artenschutzbestimmungen, aber auch mit ihrem Wortlaut und ihrem Regelungszusammenhang unvereinbar, menschliche Siedlungen von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen.

36.

Was zunächst die Zielsetzung der Schutzregelung des Art. 12 der Habitatrichtlinie angeht, so ist hervorzuheben, dass danach ein strenges Schutzsystem geschaffen werden soll. Ein solches Schutzsystem muss also imstande sein, tatsächlich die in Art. 12 Abs. 1 aufgeführten Beeinträchtigungen der genannten Tierarten zu verhindern. ( 13 ) Damit wäre es nicht vereinbar, Exemplaren der geschützten Arten (automatisch ( 14 )) den Schutz zu entziehen, wenn ihre Lebensräume sich innerhalb von menschlichen Siedlungen befinden oder sie sich zufällig in Siedlungen verirren.

37.

Bei genauerer Betrachtung steht auch die Wortbedeutung des Begriffs „natürliches Verbreitungsgebiet“ einer Einbeziehung menschlicher Siedlungen nicht entgegen. Der Begriff bezieht sich nämlich auf das Gebiet, in dem sich die betreffende Art im Rahmen ihres natürlichen Verhaltens aufhält bzw. ausbreitet. Wenn er nur „natürliche“ Lebensräume erfassen sollte, in denen sich die Arten aufhalten, wäre die Qualifikation durch das Adjektiv „natürlich“ an anderer Stelle platziert worden, etwa in der Form, dass die Verbote nur in den natürlichen Gebieten gelten, in denen die Art verbreitet ist.

38.

Eine ähnliche Bedeutung ergibt sich aus der Definition des Art. I Abs. 1 Buchst. f des Übereinkommens zur Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten, die die Kommission anführt. Danach umfasst das Verbreitungsgebiet das gesamte Land- oder Wassergebiet, in dem eine wandernde Art zu irgendeiner Zeit auf ihrem normalen Wanderweg lebt, sich vorübergehend aufhält, es durchquert oder überfliegt. Eine Beschränkung auf natürliche Gebiete fehlt. Vielmehr wird die Durchquerung von Gebieten jeder Art ausdrücklich in das Verbreitungsgebiet der Art einbezogen.

39.

Diese Definition ist zwar nicht unmittelbar für den vorliegenden Fall entscheidend, da es nicht um die Anwendung des Übereinkommens geht, doch sie illustriert das wissenschaftliche Verständnis des maßgeblichen biologischen Fachbegriffs. Daher ist sie bei seiner Auslegung zu berücksichtigen, was auch in einem Dokument der Kommission zum Ausdruck kommt, das diese zur Koordinierung der Anwendung der Habitatrichtlinie im Rahmen einer Arbeitsgruppe mit Vertretern der Mitgliedstaaten erarbeitet hat ( 15 ), sowie später in ihrem mit den Mitgliedstaaten erörterten Leitfaden zum Artenschutz. ( 16 )

40.

Rechtlich von größerer Bedeutung ist ein anderes Übereinkommen, das Übereinkommen von Bern, dessen Art. 6 Buchst. a in Verbindung mit Anhang II durch Art. 12 der Habitatrichtlinie umgesetzt wird. ( 17 ) Danach ist insbesondere jede Form des absichtlichen Fangens von Wölfen zu untersagen. Räumliche Einschränkungen fehlen. Im Gegenteil spricht die Erstreckung auf jede Form des absichtlichen Fangens für eine weitreichende Anwendung des Verbots.

41.

In die gleiche Richtung weist der 15. Erwägungsgrund der Habitatrichtlinie, wonach der Artenschutz der Habitatrichtlinie die Vogelschutzrichtlinie ergänzen soll. Der Hinweis auf die Vogelschutzrichtlinie bezieht sich auf die mit Art. 12 der Habitatrichtlinie weitgehend übereinstimmenden Verbote des Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie. Diese Verbote sind ebenfalls nicht räumlich beschränkt. Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof beanstandet, dass ein Mitgliedstaat Graureiher (Ardea cinerea) und Kormorane (Phalacrocorax carbo) im Bereich von Fischteichen vollständig aus dem Schutz des Art. 5 ausnahm. ( 18 )

42.

Die Regelungen der Habitatrichtlinie zum Gebietsschutz zeigen darüber hinaus, dass der Artenschutz nicht auf die Schutzgebiete beschränkt werden kann. Denn diese Schutzgebiete sind nicht mit dem Ziel abgegrenzt worden, den Lebensraum der Wölfe vollständig abzudecken. Wölfe sind Tierarten, die große Lebensräume beanspruchen. ( 19 ) Bei solchen Arten sieht Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Habitatrichtlinie vor, die Schutzgebiete auf die Orte im natürlichen Verbreitungsgebiet dieser Arten zu beschränken, welche die für ihr Leben und ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden physischen und biologischen Elemente aufweisen. Diese Regelung erkennt somit an, dass das natürliche Verbreitungsgebiet dieser Arten auch Gebiete umfasst, die sich außerhalb der Schutzgebiete befinden. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass das Dorf Șimon zwischen zwei großen Schutzgebieten liegt, die auch Wolfsvorkommen einschließen, so dass Wanderungen von Wölfen zwischen den Gebieten zu erwarten sind.

43.

Für eine geografische Abgrenzung des Schutzes verwendet die Habitatrichtlinie im Übrigen eine andere Regelungstechnik: Wie der Eintrag für den Wolf in Anhang IV Buchst. a zeigt, würden die vom Schutz ausgenommenen Gebiete, wie bestimmte Mitgliedstaaten, Griechenland nördlich des 39. Breitengrads, Spanien nördlich des Duero und das Rentierhaltungsareal in Finnland, klar benannt.

44.

Die Beteiligten lehnen es daher zu Recht ab, Siedlungsbereiche vom Schutz des Art. 12 der Habitatrichtlinie auszunehmen.

45.

Somit ist festzuhalten, dass das natürliche Verbreitungsgebiet des Wolfs und damit der räumliche Anwendungsbereich von Art. 12 der Habitatrichtlinie in Bezug auf diese Art menschliche Siedlungen einschließen kann.

B.   Zu Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie: „aus der Natur entnommen“

46.

Weiterhin ist zu untersuchen, ob der Fang eines Wolfs im Bereich menschlicher Siedlungen unter das Verbot des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie fällt. Danach sollen die Mitgliedstaaten insbesondere alle absichtlichen Formen des Fangs von aus der Natur entnommenen Exemplaren der geschützten Arten, also auch des Wolfs, verbieten.

47.

Die Verwendung des Begriffs der Entnahme aus der Natur in der deutschen Fassung dürfte dabei ein Übersetzungsfehler sein. Einerseits ist es nicht sinnvoll, vom Fang von aus der Natur entnommenen Exemplaren zu sprechen, da eine Entnahme den Fang einschließt. ( 20 ) Und andererseits geht es in den meisten ( 21 ) ursprünglichen Sprachfassungen um den Fang in der Natur, so ausdrücklich im Französischen („dans la nature“), bzw. im Englischen in freier Wildbahn („in the wild“).

48.

Ungeachtet dieses Übersetzungsproblems könnte man die Auffassung vertreten, dass der Fang eines Wolfs im Bereich menschlicher Siedlungen nicht als Fang in der Natur bzw. in freier Wildbahn anzusehen ist.

49.

Dagegen sprechen allerdings die Überlegungen zum Regelungszusammenhang und zum Schutzzweck des Artenschutzes, die ich bereits im Zusammenhang mit der Auslegung des Begriffs des „natürlichen Verbreitungsgebiets“ berücksichtigt habe. ( 22 )

50.

Aufschlussreich ist vielmehr die niederländische Fassung der Bestimmung. Dort ist vom Fang von in freier Wildbahn lebenden, „in het wild levende“, Exemplaren die Rede. Zumindest in dieser Sprachfassung soll der Bezug auf die Natur bzw. die freie Wildbahn nicht den Ort des Fangs bezeichnen, sondern die Herkunft des Tiers.

51.

Dieses Verständnis ist geeignet, das Ziel des Verbots der Tötung oder des Fangs streng geschützter Arten nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie zu verwirklichen. Es geht nicht darum, diese Arten nur an bestimmten Orten zu schützen, sondern um den Schutz der Exemplare, die in der Natur bzw. freier Wildbahn leben und damit eine Funktion in natürlichen Ökosystemen haben.

52.

Die Parallele zu Art. 12 Abs. 2 der Habitatrichtlinie, wonach der Besitz, Transport, Handel oder Austausch und Angebot zum Verkauf oder Austausch von aus der Natur entnommenen Exemplaren verboten werden soll, bestätigt dies. Dieses Verbot gilt nicht für Exemplare, die vor Beginn der Anwendbarkeit dieser Richtlinie rechtmäßig aus der Natur entnommen wurden.

53.

Praktisch wäre ein solches Verbot kaum durchführbar, wenn zuvor geprüft werden müsste, an welchem Ort ein Tier „entnommen“ wurde. Es dürfte bereits schwer genug sein, den Zeitpunkt der Entnahme zu bestimmen. Darüber hinaus würde es dem Ziel des strengen Schutzsystems widersprechen, wenn man diese Handlungen mit Exemplaren der streng geschützten Arten vornehmen könnte, falls diese „entnommen“ wurden, während sie vorübergehend die Natur verlassen haben.

54.

Aber selbst wenn man die Verbote des Fangs und der Tötung nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie auf die Natur beschränken und damit Siedlungsbereiche ausnehmen würde, wäre dies beim Verbot der Störung nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. b nicht möglich, da danach jede absichtliche Störung der streng geschützten Arten ohne jede räumliche Einschränkung zu verbieten ist. Der Fang und erst recht die Tötung eines Exemplars dieser Arten wäre aber immer zumindest auch als Störung anzusehen.

55.

Wie auch die Kommission darlegt, ist daher die Bezugnahme auf die Natur in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie dahin gehend zu verstehen, dass sein Schutz nicht nur an bestimmten Orten anwendbar ist, sondern alle Exemplare der geschützten Arten erfasst, die in der Natur bzw. freier Wildbahn leben und damit eine Funktion in natürlichen Ökosystemen haben. Sie sollen nicht gefangen, getötet, besessen, transportiert, gehandelt oder getauscht werden. Für in Gefangenschaft gezüchtete Exemplare müssen diese Einschränkungen hingegen nicht gelten.

C.   Zu den Ausnahmen nach Art. 16 der Habitatrichtlinie

56.

Dieses Ergebnis bedeutet allerdings nicht, dass man es in jedem Fall hinnehmen müsste, wenn streng geschützte Arten Ortschaften aufsuchen und sich dort aufhalten. Insbesondere bei Tierarten, die ihrer Natur nach gefährlich sind oder mit bestimmten Risiken verbunden sind, eröffnet Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie vielmehr Handlungsspielräume für die Gefahrenabwehr.

57.

So erlaubt Art. 16 Abs. 1 Buchst. b und c der Habitatrichtlinie Maßnahmen zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen und in der Tierhaltung (Buchst. b) oder im Interesse der Volksgesundheit und der öffentlichen Sicherheit oder aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art (Buchst. c).

58.

Die Entscheidung über solche Ausnahmen muss auf der Grundlage streng wissenschaftlicher Erkenntnisse ( 23 ) bzw. der besten wissenschaftlichen Daten ( 24 ) getroffen werden.

59.

Beim Wolf dürfte ein solches Risiko prima facie nicht ausgeschlossen sein, und noch deutlicher erschiene es z. B. bei ebenfalls streng geschützten Bären (Ursus arctos), die sich in Rumänien anscheinend auch gelegentlich in Siedlungsbereiche verirren. ( 25 )

60.

APCA vertritt zwar die Auffassung, die Erteilung einer Ausnahme sei nicht gerechtfertigt, weil der fragliche Wolf keine Schäden verursacht habe. Es muss allerdings nicht abgewartet werden, dass ein Schaden eintritt, wenn auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse ein ausreichendes Risiko hinreichend gewichtiger Schäden anzunehmen ist.

61.

Ein solches Risiko wäre von den zuständigen innerstaatlichen Stellen festzustellen und müsste im Streitfall von den innerstaatlichen Gerichten überprüft werden. Gleichwohl ist es nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen, wenn ein Wolf sich über mehrere Tage wiederholt näher als 30 Meter an Menschen annähert. ( 26 ) Da der streitgegenständliche Wolf sich über einige Tage auf dem Grundstück eines dortigen Bewohners aufgehalten und mit den Hunden der Familie gespielt und gefressen haben soll, kann eine solche Situation im Ausgangsfall nicht ausgeschlossen werden.

62.

Daher könnten Abweichungen von den Verboten nach Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie im Prinzip nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. b und c gerechtfertigt gewesen sein. Allerdings setzt diese Bestimmung neben den genannten Ausnahmegründen ausdrücklich voraus, dass es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen.

63.

Was eine anderweitige zufriedenstellende Lösung angeht, wäre vor allem daran zu denken, die Anreize für den Wolf zu entfernen, etwa Futter oder freilaufende Hunde, ( 27 ) was keiner Ausnahme nach Art. 16 der Habitatrichtlinie bedürfte und daher vorzuziehen ist. ( 28 ) Nur wenn der Wolf dennoch weiter die Nähe des Menschen sucht, kommt die sogenannte „Vergrämung“ in Betracht, ein Verscheuchen, z. B. durch Beschuss mit Gummigeschossen. Die Wirksamkeit solcher Methoden ist allerdings zweifelhaft. ( 29 )

64.

Für eine Beseitigung von Anreizen liegen dem Gerichtshof keine Anhaltspunkte vor. Praktisch scheint der Fang mit der folgenden Flucht des Wolfs die Wirkung einer Vergrämung gehabt zu haben.

65.

Allerdings erscheint es zweifelhaft, dass die geplante Verbringung in ein Gehege als zufriedenstellende Lösung hätte anerkannt werden können. Auch ist nicht erkennbar, dass die Auswirkungen dieser Vorgehensweise auf den Erhaltungszustand der Wolfspopulation in Betracht gezogen wurden.

D.   Zur Verhältnismäßigkeit der Sanktion

66.

Im Ausgangsfall gibt es jedoch Anhaltspunkte dafür, dass das Judecătoria Zărnești (Amtsgericht Zărnești) die Voraussetzungen einer Ausnahme schon deshalb nicht prüfen muss, weil die zuständigen Stellen das Vorgehen nach den vorliegenden Informationen nicht genehmigt haben. Wie APCA darlegt, war dieser Umstand den im Ausgangsverfahren Beschuldigten auch bekannt. Daher ist nicht auszuschließen, dass die Voraussetzungen einer Sanktion gemäß der rumänischen Umsetzung der Habitatrichtlinie vorliegen.

67.

Dazu ist anzumerken, dass diese Sanktion nach Art. 49 Abs. 3 der Charta verhältnismäßig, d. h. insbesondere angemessen, sein muss. ( 30 ) Sie muss also der Schwere der Straftat entsprechen und die Umstände des Einzelfalls müssen umfassend berücksichtigt werden. ( 31 )

68.

Dabei wäre im vorliegenden Fall von Belang, dass der angerichtete Schaden anscheinend sehr gering war, falls der betroffene Wolf tatsächlich wieder freigekommen ist.

69.

Darüber hinaus ermöglicht das rumänische Recht nach den vorliegenden Informationen nicht, binnen kurzer Zeit angemessen auf das Verhalten des betreffenden Wolfs zu reagieren und die damit verbundenen Risiken frühzeitig zu minimieren. Es ist auch nicht ersichtlich, dass es in Rumänien wissenschaftlich fundierte Regelungen oder Leitlinien dazu gibt, wie eine solche Reaktion auszusehen hätte.

70.

Diese Umstände sprechen gegen eine strenge Sanktionierung. Allerdings gilt auch insofern, dass ihre Prüfung sowie die Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände Aufgabe des innerstaatlichen Gerichts ist.

V. Ergebnis

71.

Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, das Vorabentscheidungsersuchen wie folgt zu beantworten:

1)

Das natürliche Verbreitungsgebiet des Wolfs (Canis lupus) und damit der räumliche Anwendungsbereich von Art. 12 der Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen in Bezug auf diese Art kann menschliche Siedlungen einschließen.

2)

Die Bezugnahme auf die Natur in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/43 ist dahin gehend zu verstehen, dass sein Schutz nicht nur an bestimmten Orten anwendbar ist, sondern alle Exemplare der geschützten Arten erfasst, die in der Natur bzw. freier Wildbahn leben und damit eine Funktion in natürlichen Ökosystemen haben.


( 1 ) Originalsprache: Deutsch.

( 2 ) Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7) in der durch die Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. 2013, L 158, S. 193) geänderten Fassung.

( 3 ) Zu einem ähnlichen Fall Nick Jans, A Wolf Called Romeo, Mariner Books (2015), und Simon Worrall, „How a Wolf Named Romeo Won Hearts in an Alaska Suburb“, National Geographic vom 22. März 2015.

( 4 ) Beschluss 82/461/EWG des Rates vom 24. Juni 1982 über den Abschluss des Übereinkommens zur Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten (ABl. 1982, L 210, S. 10).

( 5 ) Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume, aufgelegt am 19. September 1979 in Bern (ABl. 1982, L 38, S. 3); im Namen der Gemeinschaft mit dem Beschluss 82/72/EWG des Rates vom 3. Dezember 1981 (ABl. 1982, L 38, S. 1) ratifiziert.

( 6 ) Zum Zeitpunkt des Ausgangsfalls galt die Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 2010, L 20, S. 7) in der Fassung der Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. 2013, L 158, S. 193).

( 7 ) Entscheidung 2009/91/EG der Kommission vom 12. Dezember 2008 gemäß der Richtlinie 92/43/EWG des Rates zur Verabschiedung einer zweiten aktualisierten Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der alpinen biogeografischen Region (ABl. 2009, L 43, S. 21).

( 8 ) Die Lage des Dorfs ergibt sich aus dem Natura 2000 Network Viewer, https://natura2000.eea.europa.eu/.

( 9 ) Bucegi: http://natura2000.eea.europa.eu/Natura2000/SDF.aspx?site=ROSCI0013; Munții Făgăraș: http://natura2000.eea.europa.eu/Natura2000/SDF.aspx?site=ROSCI0122.

( 10 ) Vgl. Urteile vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 45, 51, 66 und 71), und in diesem Sinne vom 8. Juni 2006, WWF Italia u. a. (C‑60/05, EU:C:2006:378, Rn. 27 und 28).

( 11 ) Urteil vom 28. Juni 2007, Kommission/Spanien (Vogelschutzgebiete) (C‑235/04, EU:C:2007:386).

( 12 ) Vgl. Boitani, Action Plan for the conservation of the wolves (Canis lupus) in Europe (Council of Europe, T‑PVS [2000] 23, S. 15 und 16), Large Carnivore Initiative for Europe (LCIE), Management of bold wolves (1. März 2019, S. 2), sowie Reinhardt u. a., Konzept zum Umgang mit Wölfen, die sich Menschen gegenüber auffällig verhalten, BfN-Skripten 502 (2018), S. 11 und 12.

( 13 ) In diesem Sinne Urteile vom 9. Juni 2011, Kommission/Frankreich (Cricetus cricetus) (C‑383/09, EU:C:2011:369, Rn. 21), vom 15. März 2012, Kommission/Zypern (Natrix n. cypriaca) (C‑340/10, EU:C:2012:143, Rn. 62), und vom 17. April 2018, Kommission/Polen (Wald von Białowieża) (C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 231).

( 14 ) Zu möglichen Ausnahmen siehe nachfolgend, Nrn. 56 ff.

( 15 ) Europäische Kommission, Note to the Habitats Committee vom 15. März 2005, Assessment, monitoring and reporting of conservation status – Preparing the 2001-2007 report under Article 17 of the Habitats Directive (DocHab-04-03/03 rev.3), Anhang F.

( 16 ) Europäische Kommission, Leitfaden zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse im Rahmen der FFH-Richtlinie 92/43/EWG, S. 11 und 12.

( 17 ) Bericht über das Übereinkommen zur Erhaltung der europäischen wild lebenden Pflanzen und Tiere (1997–1998) (Artikel 9 Absatz 2) (vorgelegt von der Europäischen Kommission), SEK(2001) 515 endg. Vgl. auch schon die Entschließung des Rates der Europäischen Gemeinschaften und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 19. Oktober 1987 zur Fortschreibung und Durchführung einer Umweltpolitik und eines Aktionsprogramms der [E]uropäischen Gemeinschaften für den Umweltschutz (1987–1992) (ABl. 1987, C 328, S. 1, Ziff. 5.1.6). Das Urteil vom 13. Februar 2003, Kommission/Luxemburg (C‑75/01, EU:C:2003:95, Rn. 57), steht einer Berücksichtigung dieses Übereinkommens nicht entgegen, da der Gerichtshof dort nur feststellte, dass eine Umsetzung dieses Übereinkommens nicht als Umsetzung der Habitatrichtlinie ausreicht, soweit das Übereinkommen hinter der Richtlinie zurückbleibt.

( 18 ) Urteil vom 26. Januar 2012, Kommission/Polen (C‑192/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:44, Rn. 63).

( 19 ) Boitani, Action Plan for the conservation of the wolves (Canis lupus) in Europe, (Council of Europe, T‑PVS [2000] 23, S. 16).

( 20 ) Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 32).

( 21 ) Nur die griechische und die portugiesische Fassung scheinen der deutschen Fassung zu ähneln.

( 22 ) Nrn. 36 ff. der vorliegenden Schlussanträge.

( 23 ) Urteile vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 45 und 71 [die deutsche Übersetzung ist hier uneinheitlich]), und in diesem Sinne vom 8. Juni 2006, WWF Italia u. a. (C‑60/05, EU:C:2006:378, Rn. 27 und 28).

( 24 ) Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 51 und 66).

( 25 ) Die DMPA beschäftigt sich wohl auch mit solchen Fällen: https://dpmpa-bv.com/home/english-home/blog-translated/shooting-the-bear-cub-in-sibiu/.

( 26 ) LCIE (Fn. 12, S. 2 und 3) sowie Reinhardt u. a. (Fn. 12, S. 18 ff. und 23).

( 27 ) Reinhardt u. a. (Fn. 12, insbesondere S. 13, 24 und 27) sowie LCIE (Fn. 12, S. 5).

( 28 ) Vgl. Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 48).

( 29 ) Reinhardt u. a. (Fn. 12, S. 29 ff.) sowie LCIE (Fn. 12, S. 1 und 5).

( 30 ) Urteil vom 4. Oktober 2018, Link Logistik N&N (C‑384/17, EU:C:2018:810, Rn. 41).

( 31 ) Urteil vom 4. Oktober 2018, Link Logistik N&N (C‑384/17, EU:C:2018:810, Rn. 42 und 45).