Rechtssache T‑701/18

Liam Campbell

gegen

Europäische Kommission

Urteil des Gerichts (Dritte erweiterte Kammer) vom 28. Mai 2020

„Zugang zu Dokumenten – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Dokumente betreffend die Einhaltung oder Nichteinhaltung der Rahmenbeschlüsse 2008/909/JI, 2008/947/JI und 2009/829/JI durch Irland – Verweigerung des Zugangs – Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahme zum Schutz von Inspektions‑, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit“

  1. Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Enge Auslegung und Anwendung – Verpflichtung des Organs zu einer konkreten und individuellen Prüfung der Dokumente – Umfang – Ausschluss der Verpflichtung – Möglichkeit, sich auf allgemeine Vermutungen zu stützen, die für bestimmte Kategorien von Dokumenten gelten – Grenzen

    (Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2)

    (vgl. Rn. 25, 26, 28-31, 39-42, 44, 45)

  2. Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Zwecks von Inspektions‑, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Anwendung auf Dokumente zu einem EU-Pilotverfahren – Für die Ausnahme vom Recht auf Zugang sprechende allgemeine Vermutung – Grenzen – Widerlegbarkeit

    (Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich)

    (vgl. Rn. 27, 32-37, 43, 46, 53)

  3. Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Verweigerung des Zugangs – Möglichkeit, sich auf allgemeine Vermutungen zu stützen, die für bestimmte Kategorien von Dokumenten gelten – Pflicht, alle von einem allgemeinen Zugangsantrag erfassten Dokumente individuell zu prüfen – Fehlen

    (Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4)

    (vgl. Rn. 38)

  4. Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Zwecks von Inspektions‑, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Anwendung auf Dokumente zu einem EU-Pilotverfahren – Für die Ausnahme vom Recht auf Zugang sprechende allgemeine Vermutung – Anwendungsmodalitäten – Verpflichtung, die vom Zugangsantrag erfassten Dokumente vor Anwendung der allgemeinen Vermutung der Vertraulichkeit zu identifizieren

    (Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich)

    (vgl. Rn. 54, 55, 63)

Zusammenfassung

Mit seinem am 28. Mai 2020 in der Rechtssache Campbell/Kommission (T‑701/18) ergangenen Urteil hat das Gericht (Erste erweiterte Kammer) den Beschluss der Europäischen Kommission, mit dem dem Kläger der Zugang zu den Dokumenten betreffend die Frage verweigert wurde, ob Irland seine Verpflichtungen aufgrund von drei Rahmenbeschlüssen des Rates betreffend den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ( 1 ) eingehalten hat oder nicht, mit der Begründung für nichtig erklärt, dass die Kommission dadurch, dass sie in dem angefochtenen Beschluss nicht die vom Antrag des Klägers auf Zugang erfassten Dokumente identifiziert habe, die allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit von Dokumenten eines EU-Pilotverfahrens falsch angewandt und damit einen Rechtsfehler bei der Anwendung der Ausnahme zum Schutz der Ziele von Inspektions‑, Untersuchungs- und Audittätigkeiten im Sinne von Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 ( 2 ) begangen habe.

Im vorliegenden Fall ist der Kläger ein irischer Staatsangehöriger, der nach seiner Festnahme in Irland im Dezember 2016 auf der Grundlage eines von den litauischen Behörden erlassenen Europäischen Haftbefehls das von diesen Behörden gestellte Übergabeersuchen vor den irischen Gerichten anfocht.

Im August 2018 hatte der Kläger bei der Kommission gemäß der Verordnung Nr. 1049/2001 einen Antrag auf Zugang zu allen im Besitz der Kommission befindlichen Dokumenten betreffend die Einhaltung oder Nichteinhaltung der drei genannten Rahmenbeschlüsse durch Irland gestellt. Nachdem die Kommission dem Kläger geantwortet hatte, dass sie kein Dokument besitze, das seinem Antrag entspreche, verweigerte sie ihm mit Beschluss vom 4. Oktober 2018 auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 den Zugang zu den angeforderten Dokumenten. Die Kommission betrachtete diese Dokumente als Teil der Akten im Zusammenhang mit drei „EU-Pilotverfahren“ zur Umsetzung der drei Rahmenbeschlüsse durch Irland. Da keine Entscheidung über den Ausgang dieser Verfahren ergangen war, vertrat die Kommission die Auffassung, dass eine Untersuchung wegen Vertragsverletzung gegen Irland bezüglich der Umsetzung dieser drei Rahmenbeschlüsse noch im Gange sei und dass der Zugang der Öffentlichkeit zu den angeforderten Dokumenten sich nachteilig auf die Fortsetzung dieser Verfahren auswirken würde. Sie schloss daraus, dass alle diese Dokumente unter die allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit fielen, die auf der in der Verordnung Nr. 1049/2001 vorgesehenen Ausnahme zum Schutz der Ziele von Inspektions‑, Untersuchungs- und Audittätigkeiten beruhe und deshalb eine konkrete und individuelle Prüfung des Inhalts jedes angeforderten Dokuments nicht erforderlich sei. In seiner Klage vor dem Gericht machte der Rechtsmittelführer u. a. geltend, dass die Anwendung dieser allgemeinen Vermutung der Vertraulichkeit rechtswidrig sei.

Das Gericht hat zunächst auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anerkennung allgemeiner Vermutungen der Vertraulichkeit für bestimmte Kategorien von Dokumenten hingewiesen, insbesondere zu den Modalitäten der Anwendung einer allgemeinen Vermutung der Vertraulichkeit auf Dokumente zu einem EU-Pilotverfahren.

Insoweit hat das Gericht ausgeführt, dass die Anwendung einer allgemeinen Vermutung der Vertraulichkeit das Organ zwar generell von der Verpflichtung befreie, jedes Dokument individuell zu prüfen, es aber nicht von der Pflicht befreien könne, dem Antragsteller anzugeben, welche Dokumente es als zu einer von der Anwendung einer Vermutung erfassten Akte gehörend identifiziert hat, und ihm ein Verzeichnis dieser Dokumente zu übermitteln. Ohne eine solche Identifizierung sei der Antragsteller nicht in der Lage geltend zu machen, dass die allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit für ein Dokument nicht gelte, und könne sie daher nicht widerlegen. Erst wenn das Organ festgestellt habe, auf welche Dokumente sich der Zugangsantrag beziehe, könne es sie aufgrund ihrer gemeinsamen Merkmale, ihrer Art oder ihrer Zugehörigkeit zu derselben Akte kategorisieren und dann eine allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit auf sie anwenden.

Anschließend hat das Gericht diese Erwägungen auf den vorliegenden Fall angewandt und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kommission, um die Vermutung betreffend die Zugehörigkeit der angeforderten Dokumente zu einem EU-Pilotverfahren anwenden zu können, im angefochtenen Beschluss zunächst die vom Zugangsantrag erfassten Dokumente identifizieren, sodann sie nach Kategorien oder als Dokumente einer bestimmten Verwaltungsakte einordnen und schließlich feststellen musste, dass sie zu einem EU-Pilotverfahren gehörten, so dass sie eine allgemeine Vermutung anwenden konnte.

Im vorliegenden Fall hat das Gericht festgestellt, dass die von der Kommission im angefochtenen Beschluss verwendete Formulierung nicht ausreicht, um die vom Zugangsantrag des Klägers erfassten Dokumente zu identifizieren, und dass der angefochtene Beschluss lediglich eine Verweigerung des Zugangs zu drei EU-Pilotverfahren, aber keine Rechtfertigung in Bezug auf die vom Kläger angeforderten Dokumente enthält. Da der Kläger somit nicht wusste, welche Dokumente die Kommission als seinem Zugangsantrag entsprechend identifiziert hatte, war er nicht in der Lage, die allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit zu widerlegen.

Schließlich hat das Gericht hervorgehoben, dass die Identifizierung der vom Antrag auf Zugang betroffenen Dokumente in dem angefochtenen Beschluss auch erforderlich war, damit es seine Kontrolle ausüben und prüfen kann, ob die Kommission zu Recht davon ausgehen konnte, dass die beantragten Dokumente unter ein EU-Pilotverfahren fielen.


( 1 ) Beschluss C(2018) 6642 final der Kommission vom 4. Oktober 2018 über die Verweigerung des Zugangs zu Dokumenten betreffend die Frage, ob Irland seine Verpflichtungen aufgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27), des Rahmenbeschlusses 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen (ABl. 2008, L 337, S. 102) und des Rahmenbeschlusses 2009/829/JI des Rates vom 23. Oktober 2009 über die Anwendung – zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft (ABl. 2009, L 294, S. 20) eingehalten hat oder nicht.

( 2 ) Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43).