1.10.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 352/20


Vorabentscheidungsersuchen des Rayonen sad Lukovit (Bulgarien), eingereicht am 17. Juli 2018 — Strafverfahren gegen EP

(Rechtssache C-467/18)

(2018/C 352/26)

Verfahrenssprache: Bulgarisch

Vorlegendes Gericht

Rayonen sad Lukovit

Beteiligter des Ausgangsverfahrens

EP

Vorlagefragen

1.

Fällt das vorliegende Verfahren zur Anordnung von medizinischen Zwangsmaßnahmen, die eine Art staatlichen Zwangs gegenüber Personen darstellen, die nach den Feststellungen der Staatsanwaltschaft eine für die Allgemeinheit gefährliche Tat begangen haben, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2012/13/EU (1) über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren und der Richtlinie 2013/48/EU (2) über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren?

2.

Stellen die bulgarischen Verfahrensvorschriften, die das besondere Verfahren zur Anordnung medizinischer Zwangsmaßnahmen nach Art. 427 ff. NPK (Nakazatelno-protsesualen kodeks, bulgarische Strafprozessordnung) regeln und wonach das Gericht nicht befugt ist, das Verfahren an die Staatsanwaltschaft zurückzuverweisen und ihr aufzugeben, die im Rahmen des vorgerichtlichen Verfahrens begangenen wesentlichen Verfahrensfehler zu beheben, sondern entweder dem Antrag auf Anordnung von medizinischen Zwangsmaßnahmen stattgeben oder aber ihn zurückweisen kann, einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 12 der Richtlinie 2013/48/EU und Art. 8 der Richtlinie 2012/13/EU in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dar, der der Person das Recht gewährleistet, etwaige im Rahmen des vorgerichtlichen Verfahrens begangene Verstöße gegen ihre Rechte vor Gericht anzufechten?

3.

Sind die Richtlinie 2012/13/EU und die Richtlinie 2013/48/EU auf strafrechtliche (vorgerichtliche) Verfahren anwendbar, wenn das nationale Recht, nämlich der Nakazatelno-protsesualen kodeks, die Rechtsfigur des „Verdächtigen“ nicht kennt und die Staatsanwaltschaft die Person im Rahmen des vorgerichtlichen Verfahrens nicht förmlich als Beschuldigten ansieht, da sie davon ausgeht, dass der Totschlag, der Gegenstand der Ermittlungen ist, von der Person im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen wurde und sie daher das Strafverfahren einstellt, ohne die Person davon in Kenntnis zu setzen, und beim Gericht die Anordnung von medizinischen Zwangsmaßnahmen gegenüber der Person beantragt?

4.

Gilt die Person, in Bezug auf die eine Zwangsbehandlung beantragt wurde, als „verdächtig“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU und Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2013/48/EU, wenn bei der erstmaligen Besichtigung des Tatorts und den anfänglichen Ermittlungsmaßnahmen in der Wohnung des Opfers und ihres Sohnes ein Polizeibeamter, nachdem er Blutspuren am Körper des Letzteren feststellte, diesen zu den Gründen für die Tötung seiner Mutter und das Verbringen ihrer Leiche auf die Straße befragte und ihm nach Beantwortung dieser Fragen Handschellen anlegte? Falls dies bejaht wird, ist die Person bereits zu diesem Zeitpunkt nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 der Richtlinie 2012/13/EU zu belehren und wie sind die besonderen Bedürfnisse der Person nach Abs. 2 bei der Belehrung in einem solchen Fall zu berücksichtigen, wenn dem Polizeibeamten bekannt war, dass die Person an einer psychischen Störung leidet?

5.

Sind nationale Regelungen wie die vorliegenden, die faktisch eine Freiheitsentziehung durch eine Zwangsunterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in einem Verfahren nach dem Zakon za zdraveto (Gesundheitsgesetz) (vorbeugende Zwangsmaßnahme, die angeordnet wird, wenn bewiesen ist, dass die Person an einer psychischen Erkrankung leidet und die Gefahr einer Straftatbegehung durch die Person vorliegt, jedoch nicht wegen einer bereits begangenen Tat) zulassen, mit Art. 3 der Richtlinie (EU) 2016/343 (3) über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung vereinbar, wenn der tatsächliche Grund für die Einleitung des Verfahrens die Tat ist, derentwegen ein Strafverfahren gegen die zur Behandlung untergebrachte Person eingeleitet wurde, und wird auf diese Weise das Recht auf ein faires Verfahren bei einer Festnahme umgangen, das den Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 4 EMRK entsprechen muss, d. h. ein Verfahren sein soll, in dessen Rahmen das Gericht befugt ist, sowohl die Einhaltung der Verfahrensregeln als auch den die Festnahme begründenden Verdacht sowie die Rechtmäßigkeit des mit dieser Maßnahme verfolgten Ziels zu überprüfen, wozu das Gericht verpflichtet ist, wenn die Person nach dem im Nakazatelno-protsesualen kodeks vorgesehenen Verfahren festgenommen wurde?

6.

Umfasst der Begriff der Unschuldsvermutung nach Art. 3 der Richtlinie (EU) 2016/343 auch die Vermutung, dass schuldunfähige Personen die Tat, die eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und die ihnen von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird, nicht begangen haben, solange nicht das Gegenteil nach den Verfahrensregeln (im Strafverfahren unter Wahrung der Verteidigungsrechte) nachgewiesen wurde?

7.

Gewährleisten nationale Regelungen, die verschiedene Befugnisse des erkennenden Gerichts in Bezug auf die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Rechtmäßigkeit des vorgerichtlichen Verfahrens vorsehen, abhängig davon ob:

1)

das Gericht eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft prüft, in der behauptet wird, dass eine bestimmte, psychisch gesunde Person einen Totschlag begangen hat (Art. 249 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 NPK), oder

2)

das Gericht einen Antrag der Staatsanwaltschaft prüft, in dem behauptet wird, dass die Person einen Totschlag begangen hat, die Tat jedoch wegen der psychischen Störung des Täters keine Straftat darstellt, und mit dem die gerichtliche Anordnung staatlichen Zwangs zu Behandlungszwecken begehrt wird,

den schutzbedürftigen Personen einen wirksamen Rechtsbehelf, wie in Art. 13 in Verbindung mit Art. 12 der Richtlinie 2013/48/EU und in Art. 8 Nr. 2 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13/EU festgelegt, und sind die verschiedenen Befugnisse des Gerichts, die von der Art des Verfahrens abhängig sind, die sich wiederum danach richtet, ob die als Täter bezeichnete Person psychisch gesund ist, um strafrechtlich verantwortlich zu sein, mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung nach Art. 21 Abs. 1 der Charta vereinbar?


(1)  Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1).

(2)  Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1).

(3)  Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1).