Rechtssache C808/18

Europäische Kommission

gegen

Ungarn

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 17. Dezember 2020

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Richtlinien 2008/115/EG, 2013/32/EU und 2013/33/EU – Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes –Effektiver Zugang – Verfahren an der Grenze – Verfahrensgarantien – Zwangsweise Unterbringung in Transitzonen – Haft – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Klagen gegen behördliche Entscheidungen, mit denen der Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird – Recht, im Hoheitsgebiet zu bleiben“

1.        Vertragsverletzungsklage – Prüfung der Begründetheit durch den Gerichtshof – Maßgebende Lage – Lage bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist

(Art. 258 AEUV)

(vgl. Rn. 68, 156)

2.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32 – Zeitpunkt des Erwerbs der Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt – Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz – Keine administrative Formalität

(Richtlinie 2013/32 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1)

(vgl. Rn. 97-100)

3.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32 – Zugang zum Verfahren – Nationale Regelung, die den Antragstellern vorschreibt, ihren Antrag in einer der an der Grenze befindlichen Transitzonen zu stellen – Drastische Beschränkung der Zahl der Antragsteller, die pro Tag in diese Zonen gelangen dürfen, durch die nationalen Behörden – Gegen das Unionsrecht verstoßende Verwaltungspraxis – Nachweis der Existenz dieser Praxis durch die Kommission und unzureichende Widerlegung durch den betreffenden Mitgliedstaat – Vertragsverletzung

(Art. 258 AEUV; Richtlinie 2013/32 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 und 6)

(vgl. Rn. 93, 94, 102, 103, 106-108, 110, 114-128, 315 und Tenor 1)

4.        Vertragsverletzungsklage – Nachweis der Vertragsverletzung – Obliegenheit der Kommission – Vermutungen – Unzulässigkeit – Vertragsverletzung, die sich aus einer gegen das Unionsrecht verstoßenden Verwaltungspraxis ergibt – Besondere Beweiserfordernisse – Obliegenheit des betroffenen Mitgliedstaats zur Erbringung des Gegenbeweises

(Art. 258 AEUV)

(vgl. Rn. 111-113)

5.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33 – Begriff der Haft – Autonomer unionsrechtlicher Begriff – Pflicht des Antragstellers, in einer Transitzone zu bleiben – Einbeziehung – Voraussetzungen

(Richtlinie 2013/33 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Buchst. h)

(vgl. Rn. 159, 160, 162-166)

6.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33 – Inhaftierung – Begründung – Antragsteller, der während des Verfahrens zur Prüfung seines Antrags in einer Transitzone bleiben muss – Anderer als die in Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Gründe – Unzulässigkeit – Vertragsverletzung

(Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates 2013/32, Art. 43, und 2013/33, Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1)

(vgl. Rn. 168, 170-180, 185, 186, 209, 226, 315, Tenor 1)

7.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32 – Art. 43 – Besondere Verfahren, die von den Mitgliedstaaten an ihren Grenzen oder in ihren Transitzonen vorgesehen werden können – Inhaftierung eines Antragstellers in einer Transitzone im Rahmen eines solchen Verfahrens – Zulässigkeit – Grenzen – Höchstdauer und Ziel der Haft

(Richtlinie 2013/32 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 31 Abs. 8, Art. 33 und 43)

(vgl. Rn. 181-185)

8.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32 – Antragsteller, die besondere Verfahrensgarantien benötigen – Inhaftierung im Rahmen der Verfahren, die von den Mitgliedstaaten an ihren Grenzen oder in ihren Transitzonen vorgesehen werden können – Zulässigkeit – Grenze – Pflicht zur Prüfung der Vereinbarkeit dieser Inhaftierung mit den speziellen Bedürfnissen der genannten Antragsteller und der ihnen zu gewährenden angemessenen Unterstützung – Verstoß – Vertragsverletzung

(Richtlinie 2013/32 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 24 Abs. 3)

(vgl. Rn. 191-199, 209, 226, 315, Tenor 1)

9.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33 – Inhaftierung schutzbedürftiger Personen und von Antragstellern mit besonderen Bedürfnissen im Bereich der Aufnahme – Nationale Regelung, wonach minderjährige Antragsteller, mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger unter 14 Jahren, während des Verfahrens zur Prüfung ihres Antrags in einer Transitzone bleiben müssen – Unzulässigkeit – Vertragsverletzung

(Richtlinie 2013/33 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 11)

(vgl. Rn. 201, 203, 209, 226, 315, Tenor 1)

10.      Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33 – Garantien für in Haft befindliche Antragsteller – Pflicht, die Inhaftierung schriftlich anzuordnen und zu begründen – Verstoß – Vertragsverletzung

(Richtlinie 2013/33 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 9)

(vgl. Rn. 205, 208, 209, 226, 315, Tenor 1)

11.      Recht der Europäischen Union – Geltungsbereich – Nichtbestehen eines allgemeinen Vorbehalts, der im Interesse der öffentlichen Sicherheit getroffene Maßnahmen ausnähme – Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für Maßnahmen zum Schutz ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen – Den betreffenden Mitgliedstaat treffende Beweislast für die Notwendigkeit, darauf zurückzugreifen – Umfang – Asylpolitik – Geltendmachung einer Gefahr von Störungen der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit aufgrund eines massiven Zustroms von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Kein Nachweis für das Erfordernis, von einigen Bestimmungen der Richtlinie 2013/32 abzuweichen – Unzulässigkeit – In den Richtlinien 2013/32 und 2013/33 vorgesehene tatsächliche Möglichkeit von Abweichungen durch die Mitgliedstaaten – Voraussetzungen

(Art. 72 AEUV; Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates 2013/32, Art. 24 Abs. 3 und Art. 43, und 2013/33, Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e, Art. 10 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 9)

(vgl. Rn. 212, 214-225)

12.      Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Nationale Regelung, die es gestattet, solche Drittstaatsangehörige, die in den Anwendungsbereich der genannten Richtlinie fallen, ohne vorherige Beachtung der darin vorgesehenen Verfahren und Garantien abzuschieben – Unzulässigkeit – Vertragsverletzung

(Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1)

(vgl. Rn. 248-254, 266, 315, Tenor 1)

13.      Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Abschiebung – Begriff – Zwangsweise Rückführung eines solchen Drittstaatsangehörigen hinter eine Umzäunung, die sich an der Grenze des Hoheitsgebiets des betreffenden Mitgliedstaats auf einem schmalen Landstreifen ohne jede Infrastruktur befindet – Einbeziehung

(Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Nr. 5)

(vgl. Rn. 255-260)

14.      Recht der Europäischen Union – Geltungsbereich – Nichtbestehen eines allgemeinen Vorbehalts, der im Interesse der öffentlichen Sicherheit getroffene Maßnahmen ausnähme – Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für Maßnahmen zum Schutz ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen – Den betreffenden Mitgliedstaat treffende Beweislast für die Notwendigkeit, darauf zurückzugreifen – Umfang – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Geltendmachung einer Gefahr von Störungen der öffentlichen Ordnung und der nationalen Sicherheit – Kein Nachweis für das Erfordernis, von einigen Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 abzuweichen – Unzulässigkeit – In der genannten Richtlinie vorgesehene tatsächliche Möglichkeit von Abweichungen durch die Mitgliedstaaten – Voraussetzungen

(Art. 4 Abs. 2 AEUV; Art. 72 AEUV; Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 6 Abs. 2, Art. 7 Abs. 4, Art. 11 Abs. 2 und 3, Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 und Art. 18)

(vgl. Rn. 261-264)

15.      Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32 – Anspruch auf Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes – Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird – Recht, bis zum Ablauf der Frist für die Einlegung eines solchen Rechtsbehelfs oder bis zur Entscheidung über ihn im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verbleiben – Festlegung der Ausübungsmodalitäten durch diesen Mitgliedstaat – Voraussetzungen – Modalitäten, die mit den durch die Richtlinien 2013/32 und 2013/33 garantierten Rechten im Einklang stehen – Hinreichend klare und präzise Modalitäten – Fehlen – Vertragsverletzung

(Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates 2013/32, Art. 46 Abs. 5, und 2013/33)

(vgl. Rn. 286, 287, 289, 291-302, 314, 315, Tenor 1)

16.      Handlungen der Organe – Richtlinien – Umsetzung durch die Mitgliedstaaten – Notwendigkeit einer klaren und genauen Umsetzung

(Art. 288 Abs. 3 AEUV)

(vgl. Rn. 288)

Zusammenfassung

Ungarn hat gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht im Bereich der Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes und der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger verstoßen. Insbesondere stellen die Beschränkung des Zugangs zum Verfahren des internationalen Schutzes, die rechtswidrige Inhaftierung von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in Transitzonen sowie die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in ein an der Grenze befindliches Gebiet ohne Beachtung der für ein Rückkehrverfahren geltenden Garantien Verstöße gegen das Unionsrecht dar.

Als Reaktion auf die Migrationskrise und den damit verbundenen Zustrom zahlreicher Personen, die internationalen Schutz beantragten, passte Ungarn seine Regelung für das Recht auf Asyl und die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger an. Ein Gesetz von 2015(1) sah u. a. die Einrichtung von Transitzonen an der serbisch-ungarischen Grenze vor(2), in denen die Asylverfahren durchgeführt werden. In diesem Gesetz war auch erstmals von einer „durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation“ die Rede. Wenn die Regierung erklärt, dass eine solche Situation vorliegt, treten Sonderregeln an die Stelle der allgemeinen Regeln. Im Jahr 2017 wurden in einem weiteren Gesetz(3) zusätzliche Fälle vorgesehen, in denen eine solche Krisensituation festgestellt werden kann, und die Bestimmungen, die es gestatten, von den allgemeinen Bestimmungen abzuweichen, wurden geändert.

Die Europäische Kommission hatte Ungarn bereits im Jahr 2015 mitgeteilt, dass sie Zweifel an der Vereinbarkeit der ungarischen Regelung für den Asylbereich mit dem Unionsrecht habe. Das Gesetz von 2017 verstärkte diese Bedenken. Die Kommission wirft Ungarn insbesondere vor, unter Verletzung der in der Verfahrensrichtlinie(4), der Aufnahmerichtlinie(5) und der Rückführungsrichtlinie(6) vorgesehenen materiellen und prozessualen Garantien den Zugang zum Verfahren des internationalen Schutzes eingeschränkt, ein System der allgemeinen Inhaftierung von Personen, die diesen Schutz beantragen, geschaffen und illegal aufhältige Drittstaatsangehörige zwangsweise zu einem Landstreifen an der Grenze gebracht zu haben, ohne die in der Rückführungsrichtlinie enthaltenen Garantien zu beachten. In diesem Kontext hat sie vor dem Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage erhoben, die auf die Feststellung gerichtet ist, dass ein erheblicher Teil der einschlägigen ungarischen Regelung gegen Bestimmungen der genannten Richtlinien verstößt.

Die Große Kammer des Gerichtshofs hat der Vertragsverletzungsklage der Kommission im Wesentlichen stattgegeben.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof hebt zunächst hervor, dass er sich mit einigen der durch diese Klage aufgeworfenen Fragestellungen bereits in einem vor kurzem auf ein Vorabentscheidungsersuchen eines ungarischen Gerichts ergangenen Urteil(7) befasst hat. Um diesem Urteil nachzukommen, hat Ungarn inzwischen seine beiden Transitzonen geschlossen. Ihre Schließung hat jedoch keine Auswirkungen auf die vorliegende Klage, da auf die Lage zu dem Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem nach der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission die festgestellten Mängel hätten beseitigt worden sein müssen (8. Februar 2018).

Der Gerichtshof kommt erstens zu dem Ergebnis, dass Ungarn gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, einen effektiven Zugang zum Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes zu gewährleisten(8), da es Drittstaatsangehörigen, die von der serbisch-ungarischen Grenze aus Zugang zu diesem Verfahren erlangen wollen, de facto quasi unmöglich ist, ihren Antrag zu stellen. Dieser Verstoß ergibt sich aus der nationalen Regelung, wonach Anträge auf internationalen Schutz in der Regel nur in einer der beiden Transitzonen gestellt werden können, in Verbindung mit einer ständigen und allgemeinen Verwaltungspraxis der ungarischen Behörden, die darin besteht, die Zahl der Antragsteller, die pro Tag in diese Zonen gelangen dürfen, drastisch zu beschränken. Eine solche Praxis ist von der Kommission, gestützt auf mehrere internationale Berichte, hinreichend belegt worden. In diesem Kontext weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz, die seiner Registrierung, seiner förmlichen Stellung und seiner Prüfung vorausgeht, ein wesentlicher Schritt im Verfahren zur Zuerkennung dieses Schutzes ist, den die Mitgliedstaaten nicht in ungerechtfertigter Weise hinauszögern dürfen. Sie müssen vielmehr gewährleisten, dass die Betroffenen in die Lage versetzt werden, auch an den Grenzen einen Antrag zu stellen, sobald sie diesen Wunsch zum Ausdruck bringen.

Zweitens bestätigt der Gerichtshof die Feststellung in seinem vor kurzem ergangenen Urteil(9), dass die den Personen, die internationalen Schutz beantragen, auferlegte Pflicht, während des gesamten Verfahrens zur Prüfung ihres Antrags in einer der Transitzonen zu bleiben, eine Haft im Sinne der Aufnahmerichtlinie(10) darstellt. Nach dieser Klarstellung entscheidet der Gerichtshof, dass diese Regelung der Inhaftnahme über die im Unionsrecht vorgesehenen Fälle hinaus und ohne Beachtung der Garantien, mit denen sie im Regelfall verbunden sein muss, geschaffen wurde.

Zum einen weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Fallgruppen, in denen die Inhaftierung einer Person, die internationalen Schutz beantragt, zulässig ist, in der Aufnahmerichtlinie erschöpfend aufgezählt werden(11). Nach einer Analyse jeder dieser Fallgruppen kommt er zu dem Ergebnis, dass die ungarische Regelung zu keiner von ihnen gehört. Der Gerichtshof prüft insbesondere die Fallgruppe, nach der ein Mitgliedstaat eine Person, die internationalen Schutz beantragt, in Haft nehmen kann, um über ihr Recht auf Einreise in sein Hoheitsgebiet zu entscheiden. Diese Inhaftierung kann im Rahmen von Verfahren an der Grenze stattfinden, um vor der Gestattung der Einreise zu prüfen, ob der Antrag unzulässig ist oder aus bestimmten Gründen der Grundlage entbehrt(12). Im vorliegenden Fall sieht der Gerichtshof die Voraussetzungen, unter denen die Inhaftierung im Rahmen dieser Verfahren an der Grenze zulässig ist, aber nicht als erfüllt an.

Zum anderen hebt der Gerichtshof hervor, dass nach den Vorschriften der Verfahrensrichtlinie und der Aufnahmerichtlinie u. a. eine Inhaftierung schriftlich angeordnet und begründet werden muss(13), die speziellen Bedürfnisse schutzbedürftiger Antragsteller, die besondere Verfahrensgarantien benötigen, berücksichtigt werden müssen, damit sie „angemessene Unterstützung“ erhalten(14), und Minderjährige nur im äußersten Falle in Haft genommen werden dürfen(15). Die in den ungarischen Rechtsvorschriften vorgesehene Regelung für die Inhaftierung in den Transitzonen, die für alle Antragsteller mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger unter 14 Jahren gilt, ermöglicht es den Antragstellern aber insbesondere aufgrund ihres allgemeinen und automatischen Charakters nicht, in den Genuss dieser Garantien zu kommen.

Überdies weist der Gerichtshof das von Ungarn vorgebrachte Argument zurück, dass die Migrationskrise es gerechtfertigt habe, von einigen Vorschriften der Verfahrensrichtlinie und der Aufnahmerichtlinie abzuweichen, um im Einklang mit Art. 72 AEUV(16) die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und die innere Sicherheit zu schützen. Insoweit weist er darauf hin, dass dieser Artikel eng auszulegen ist, und stellt fest, dass Ungarn die Notwendigkeit des Rückgriffs auf ihn nicht hinreichend dargetan hat. Ferner hebt der Gerichtshof hervor, dass die Verfahrensrichtlinie und die Aufnahmerichtlinie der Situation, in der ein Mitgliedstaat mit einer ganz erheblichen Zunahme der Anträge auf internationalen Schutz konfrontiert wird, bereits Rechnung tragen, denn sie sehen in speziellen Bestimmungen die Möglichkeit vor, von einigen der im Normalfall geltenden Vorschriften abzuweichen.

Drittens kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Rückführungsrichtlinie verstoßen hat, dass die ungarischen Rechtsvorschriften es gestatten, Drittstaatsangehörige, die sich illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhalten, ohne vorherige Beachtung der in dieser Richtlinie vorgesehenen Verfahren und Garantien abzuschieben(17). Zu diesem Punkt führt der Gerichtshof aus, dass die Drittstaatsangehörigen von den Polizeibehörden unter Einsatz von Zwang hinter eine Umzäunung gebracht werden, die wenige Meter von der Grenze zu Serbien entfernt ist und sich auf einem Landstreifen ohne jede Infrastruktur befindet. Diese zwangsweise Rückführung ist einer Abschiebung im Sinne der Rückführungsrichtlinie gleichzusetzen, da die Betroffenen praktisch keine andere Wahl haben, als sodann das ungarische Hoheitsgebiet zu verlassen und sich nach Serbien zu begeben. In diesem Kontext weist der Gerichtshof darauf hin, dass bei einem illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, unter Beachtung der in der Richtlinie vorgesehenen materiellen und prozessualen Garantien ein Rückführungsverfahren durchgeführt werden muss, bevor er gegebenenfalls abgeschoben wird, wobei die zwangsweise Abschiebung nur als letztes Mittel in Betracht kommt. Aus Gründen, die den bereits dargelegten entsprechen, weist der Gerichtshof auch das Vorbringen zurück, dass Art. 72 AEUV es Ungarn gestattet habe, von den durch die Rückführungsrichtlinie geschaffenen materiellen und prozessualen Garantien abzuweichen.

Viertens stellt der Gerichtshof fest, dass Ungarn das nach der Verfahrensrichtlinie grundsätzlich jeder Person, die internationalen Schutz beantragt, zustehende Recht missachtet hat, nach der Ablehnung ihres Antrags bis zum Ablauf der Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Ablehnung bzw., wenn ein Rechtsbehelf eingelegt wurde, bis zur Entscheidung über ihn im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verbleiben(18). Nach den ungarischen Rechtsvorschriften ist nämlich die Ausübung dieses Rechts, wenn festgestellt wurde, dass eine „durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation“ vorliegt, an unionsrechtswidrige Modalitäten geknüpft, insbesondere an die Pflicht zum Verbleib in den Transitzonen, die einer gegen die Verfahrensrichtlinie und die Aufnahmerichtlinie verstoßenden Inhaftierung gleichkommt. Zudem hängt, wenn keine solche Krisensituation festgestellt wurde, die Ausübung dieses Rechts von Voraussetzungen ab, die zwar nicht zwingend gegen das Unionsrecht verstoßen, aber nicht hinreichend klar und präzise sind, um den Betroffenen Kenntnis vom genauen Umfang ihres Rechts zu verschaffen und es ihnen zu ermöglichen, die Vereinbarkeit dieser Voraussetzungen mit der Verfahrensrichtlinie und der Aufnahmerichtlinie zu beurteilen.


1      Egyes törvényeknek a tömeges bevándorlás kezelésével összefüggő módosításáról szóló 2015. évi CXL. törvény (Gesetz Nr. CXL von 2015 über die Änderung bestimmter Gesetze im Zusammenhang mit der Steuerung der Masseneinwanderung) (Magyar Közlöny 2015/124).


2      Die Transitzonen von Röszke und Tompa.


3      Határőrizeti területen lefolytatott eljárás szigorításával kapcsolatos egyes törvények módosításáról szóló 2017. évi XX. törvény (Gesetz Nr. XX von 2017 zur Änderung bestimmter Gesetze in Bezug auf die Verstärkung des in der überwachten Grenzzone angewandten Verfahrens) (Magyar Közlöny 2017/39).


4      Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie).


5      Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96) (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie).


6      Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie).


7      Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367).


8      Diese Verpflichtung ergibt sich aus Art. 6 der Verfahrensrichtlinie in Verbindung mit ihrem Art. 3.


9      Urteil vom 14. Mai 2020, op. cit.


10      Art. 2 Buchst. h dieser Richtlinie.


11      Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 dieser Richtlinie.


12      Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. c der Aufnahmerichtlinie und Art. 43 der Verfahrensrichtlinie.


13      Art. 9 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie.


14      Art. 24 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinie.


15      Art. 11 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie.


16      Nach diesem Artikel berühren die Bestimmungen in Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des AEU-Vertrags, zu denen die Vorschriften über den internationalen Schutz gehören, nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.


17      Diese Garantien sind insbesondere in den Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie vorgesehen.


18      Art. 46 Abs. 5 der Verfahrensrichtlinie.