URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

11. Juni 2020 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2004/757/JI – Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels – Art. 2 Abs. 1 Buchst. c – Art. 4 Abs. 2 Buchst. a – Begriff ‚große Mengen von Drogen‘ – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gleichbehandlung – Art. 20 und 21 – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Art. 49“

In der Rechtssache C‑634/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy w Słupsku (Bezirksgericht Słupsk, Polen) mit Entscheidung vom 20. Juni 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Oktober 2018, in dem Strafverfahren gegen

JI,

Beteiligte:

Prokuratura Rejonowa w Słupsku,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen sowie der Richterin C. Toader,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Oktober 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Prokuratura Rejonowa w Słupsku, vertreten durch P. Nierebiński, K. Nowicki und A. Klawitter,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, J. Sawicka und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Kasalická als Bevollmächtigte,

der spanischen Regierung, zunächst vertreten durch M. J. García-Valdecasas Dorrego, dann durch M. J. Ruiz Sánchez, als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

der schwedischen Regierung, vertreten durch H. Eklinder, A. Falk, C. Meyer-Seitz, H. Shev und J. Lundberg als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Szmytkowska und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 22. Januar 2020

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels (ABl. 2004, L 335, S. 8) in Verbindung mit dessen Art. 2 Abs. 1 Buchst. c sowie mit den Art. 20, 21 und 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen JI wegen illegalen Besitzes einer erheblichen Menge von Suchtmitteln und psychotropen Stoffen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2004/757 lauten:

„(3)

Es ist erforderlich, Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen im Bereich des illegalen Handels mit Drogen und Grundstoffen festzulegen, die einen gemeinsamen Ansatz auf der Ebene der Europäischen Union bei der Bekämpfung dieses illegalen Handels ermöglichen.

(4)

Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips sollten sich die Maßnahmen der Europäischen Union auf die schwersten Arten von Drogendelikten konzentrieren. Dass bestimmte Verhaltensweisen in Bezug auf den persönlichen Konsum aus dem Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses ausgenommen sind, stellt keine Leitlinie des Rates [der Europäischen Union] dafür dar, wie die Mitgliedstaaten diese anderen Fälle im Rahmen der nationalen Rechtsvorschriften regeln sollten.“

4

Art. 2 („Straftaten in Verbindung mit illegalem Handel mit Drogen und Grundstoffen“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

„(1)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass folgende vorsätzliche Handlungen unter Strafe gestellt werden, wenn sie ohne entsprechende Berechtigung vorgenommen wurden:

a)

das Gewinnen, Herstellen, Ausziehen, Zubereiten, Anbieten, Feilhalten, Verteilen, Verkaufen, Liefern – gleichviel zu welchen Bedingungen –, Vermitteln, Versenden – auch im Transit –, Befördern, Einführen oder Ausführen von Drogen;

c)

das Besitzen oder Kaufen von Drogen mit dem Ziel, eine der unter Buchstabe a) aufgeführten Handlungen vorzunehmen;

(2)   Die Handlungen nach Absatz 1 fallen nicht in den Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses, wenn die Täter sie ausschließlich für ihren persönlichen Konsum im Sinne des nationalen Rechts begangen haben.“

5

Art. 4 („Strafen“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 2 und 3 genannten Straftaten mit wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden strafrechtlichen Sanktionen bedroht sind.

Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 2 genannten Straftaten mit Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens einem bis drei Jahren bedroht sind.

(2)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben a), b) und c) genannten Straftaten mit Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens fünf bis zehn Jahren bedroht sind, wenn einer der folgenden Umstände vorliegt:

a)

[D]ie Straftat betrifft große Mengen von Drogen;

…“

Polnisches Recht

6

Gemäß Art. 62 Abs. 1 der Ustawy o przeciwdziałaniu narkomanii (Gesetz zur Bekämpfung der Drogensucht) vom 29. Juli 2005 (Dz. U. 2005, Nr. 179, Position 1485) wird der Besitz von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen mit Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft.

7

Nach Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht wird der Besitz einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8

Die Prokuratura Rejonowa w Słupsku (Bezirksstaatsanwaltschaft Słupsk, Polen) hat gegen JI beim vorlegenden Gericht, dem Sąd Rejonowy w Słupsku (Bezirksgericht Słupsk, Polen), am 7. November 2016 nach Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht ein Strafverfahren u. a. wegen der Straftat des Besitzes einer erheblichen Menge von Suchtmitteln und psychotropen Stoffen eingeleitet.

9

Nach der Vorlageentscheidung besaß JI diese Substanzen für seinen persönlichen Gebrauch.

10

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Rahmenbeschluss 2004/757 den Ausdruck „große Mengen von Drogen“ im Sinne seines Art. 4 Abs. 2 Buchst. a nicht definiere.

11

Der Rahmenbeschluss 2004/757 sei durch das Gesetz zur Bekämpfung der Drogensucht umgesetzt worden, insbesondere durch dessen Art. 62 Abs. 2, nach dem der Besitz einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft werde.

12

Allerdings definiere auch diese Bestimmung nicht den Begriff der „erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen“, der im innerstaatlichen Umsetzungsrecht jenem der „große[n] Mengen von Drogen“ nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 entspreche. Die nationale Rechtsprechung habe bestimmte Kriterien für die Beurteilung herausgearbeitet, ob die Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen im Besitz des Täters unter den Tatbestand des Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht falle. Dieser Begriff sei jedoch weiterhin unscharf und werde von den innerstaatlichen Gerichten im Einzelfall unterschiedlich ausgelegt.

13

Dies habe zur Folge, dass Personen, die vergleichbare Mengen von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen besäßen, je nach Auslegung dieses Begriffs durch das für den jeweiligen Fall zuständige Gericht unterschiedlich behandelt werden könnten, was dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz zuwiderlaufen könnte. Da der Rahmenbeschluss 2004/757 keine Definition des Begriffs „große Mengen von Drogen“ im Sinne seines Art. 4 Abs. 2 Buchst. a enthalte, behielten die Mitgliedstaaten ferner einen beträchtlichen Ermessensspielraum bei der Umsetzung dieses Begriffs, was zu einer Ungleichbehandlung von Unionsbürgern je nach Tatbegehungsmitgliedstaat führen könne.

14

Im Übrigen hegt das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit von Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht mit dem in Art. 7 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) festgeschriebenen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen.

15

Unter diesen Umständen hat der Sąd Rejonowy w Słupsku (Bezirksgericht Słupsk) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist die unionsrechtliche Norm in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 in Verbindung mit dessen Art. 2 Abs. 1 Buchst. c dahin auszulegen, dass diese Vorschrift dem nicht entgegensteht, dass der Begriff „erhebliche Menge von Drogen“ in jedem Einzelfall im Rahmen einer individuellen Bewertung durch das nationale Gericht ausgelegt wird und dass diese Bewertung nicht die Anwendung irgendeines objektiven Kriteriums erfordert, insbesondere nicht die Feststellung, dass der Täter die Drogen für die Vornahme von Handlungen im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a dieses Rahmenbeschlusses besitzt, d. h. für das Gewinnen, Anbieten, Feilhalten, Verteilen, Vermitteln, Liefern – gleichviel zu welchen Bedingungen?

2.

Sind die zur Gewährleistung der Wirksamkeit und der Effektivität der im Rahmenbeschluss 2004/757, insbesondere in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. c dieses Rahmenbeschlusses, enthaltenen unionsrechtlichen Normen erforderlichen Maßnahmen des gerichtlichen Rechtsschutzes, soweit das Gesetz zur Bekämpfung der Drogensucht keine genaue Formulierung bezüglich der erheblichen Menge von Drogen enthält und diese Frage im Rahmen des sogenannten richterlichen Ermessens der Auslegung durch die in den konkreten Sachen entscheidenden Spruchkörper überlässt, ausreichend, um polnischen Staatsbürgern einen aus den unionsrechtlichen Normen, die Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels festlegen, folgenden wirksamen Schutz zu garantieren?

3.

Ist die nationale Rechtsnorm in Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht mit dem Unionsrecht und insbesondere mit den Rechtsnormen in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 in Verbindung mit dessen Art. 2 Abs. 1 Buchst. c vereinbar, und, falls ja, steht der von polnischen nationalen Gerichten vorgenommenen Auslegung des Begriffs der erheblichen Menge von psychotropen Stoffen und Suchtmitteln nicht die unionsrechtliche Norm entgegen, wonach einer höheren Strafe unterliegt, wer eine strafbare Handlung des Besitzes großer Mengen von Drogen begeht, um in Art. 2 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2004/757 genannte Handlungen vorzunehmen?

4.

Stehen Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht, der für die Tat des Besitzes von psychotropen Stoffen und Suchtmitteln in einer erheblichen Menge im Sinne der Auslegung durch polnische nationale Gerichte eine höhere Strafe vorsieht, nicht der Gleichheitsgrundsatz und das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK sowie Art. 20 und 21 der Charta in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EUV) entgegen?

Zuständigkeit des Gerichtshofs

16

Als Erstes bestreitet die Bezirksstaatsanwaltschaft Słupsk die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen, weil das vorlegende Gericht mit seinen Fragen nicht auf die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof abziele, sondern zum einen auf die Auslegung einer Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, nämlich Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht, und zum anderen auf eine Entscheidung über die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Rahmenbeschluss 2004/757.

17

Dazu ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit einigen seiner Fragen den Gerichtshof ersucht, sich zur Vereinbarkeit von Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht mit dem Unionsrecht zu äußern.

18

Zwar ist es nicht Sache des Gerichtshofs, im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV die Vereinbarkeit innerstaatlicher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu beurteilen oder nationale Rechtsvorschriften auszulegen, jedoch ist er befugt, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (Urteil vom 18. September 2019, VIPA, C‑222/18, EU:C:2019:751, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19

Somit hat der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache seine Prüfung auf die Bestimmungen des Unionsrechts zu beschränken und diese Bestimmungen in einer für das vorlegende Gericht sachdienlichen Weise auszulegen; diesem obliegt es, im Hinblick auf die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu beurteilen (Urteil vom 26. Juli 2017, Europa Way und Persidera, C‑560/15, EU:C:2017:593, Rn. 36).

20

Somit sind die vorgelegten Fragen im Hinblick auf ihren Wortlaut und auf die Begründung der Vorlageentscheidung so zu verstehen, dass sie auf die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c und Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 sowie der Art. 20, 21 und 49 der Charta abzielen, so dass die von der Bezirksstaatsanwaltschaft Słupsk erhobene Unzuständigkeitseinrede zurückzuweisen ist.

21

Als Zweites sind die Bezirksstaatsanwaltschaft Słupsk, die polnische, die spanische und die schwedische Regierung sowie die Europäische Kommission der Auffassung, dass die vorgelegten Fragen nicht zu beantworten seien, weil der JI betreffende Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2004/757 falle. Sie machen geltend, dass JI nach der Vorlageentscheidung ausschließlich wegen des Besitzes von Drogen für den persönlichen Konsum verfolgt werde, was gemäß Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2004/757 eine Handlung darstelle, die nicht in dessen Anwendungsbereich falle.

22

Gemäß Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2004/757 ist in diesem Zusammenhang der Besitz von Drogen ausschließlich für den persönlichen Konsum im Sinne des nationalen Rechts vom Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses ausgenommen.

23

Im vorliegenden Fall wird JI nach der Vorlageentscheidung die Straftat des Besitzes einer erheblichen Menge von Suchtmitteln und psychotropen Stoffen gemäß Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht vorgeworfen, wobei er diese Substanzen für den persönlichen Konsum besessen haben soll. Dieser Sachverhalt fällt somit nicht in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2004/757.

24

Allerdings hat der Gerichtshof wiederholt seine Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen bejaht, die Unionsvorschriften in Fällen betrafen, in denen der betreffende Sachverhalt nicht unter das Unionsrecht und daher allein in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fiel, aber diese Unionsvorschriften aufgrund eines Verweises im nationalen Recht auf ihren Inhalt galten (Urteil vom 12. Juli 2012, SC Volksbank România, C‑602/10, EU:C:2012:443, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang insbesondere darauf hingewiesen, dass dann, wenn sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richten sollen, um beispielsweise zu verhindern, dass es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder zu Wettbewerbsverzerrungen kommt, oder um sicherzustellen, dass in vergleichbaren Fällen ein einheitliches Verfahren angewandt wird, ein klares Interesse daran besteht, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern (Urteil vom 12. Juli 2012, SC Volksbank România, C‑602/10, EU:C:2012:443, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Somit rechtfertigt sich eine Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts durch den Gerichtshof in Sachverhalten, die nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen, wenn diese Vorschriften vom nationalen Recht unmittelbar und unbedingt für auf diese Sachverhalte anwendbar erklärt worden sind, um zu gewährleisten, dass diese Sachverhalte und die durch das Unionsrecht geregelten Sachverhalte gleich behandelt werden (Urteil vom 18. Oktober 2012, Nolan, C‑583/10, EU:C:2012:638, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Im vorliegenden Fall lässt sich der Vorlageentscheidung entnehmen, dass der Rahmenbeschluss 2004/757 durch das Gesetz zur Bekämpfung der Drogensucht in polnisches Recht umgesetzt wurde. Konkret geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts sowie aus den Ausführungen der polnischen Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof hervor, dass Art. 62 Abs. 2 dieses Gesetzes Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses sowie den Begriff „große Mengen von Drogen“ in dessen Art. 4 Abs. 2 Buchst. a in innerstaatliches Recht umgesetzt hat.

28

Wie die Bezirksstaatsanwaltschaft Słupsk und die polnische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof dargelegt haben, sanktioniert Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht jeden Besitz einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen, sei es für den persönlichen Konsum oder zu anderen Zwecken, d. h. insbesondere im Hinblick auf die Vornahme einer der in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 aufgezählten Handlungen.

29

Da der Erschwerungsgrund des Besitzes von „große[n] Mengen von Drogen“ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 im Wege des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht auf vom Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses ausgenommene Handlungen, nämlich den Drogenbesitz ausschließlich für den persönlichen Konsum, Anwendung findet, besteht ein klares Interesse an einer einheitlichen Auslegung dieser unionsrechtlichen Bestimmung.

30

Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof für die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zuständig.

Zu den Vorlagefragen

31

Mit seinen Fragen, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 in Verbindung mit dessen Art. 2 Abs. 1 Buchst. c sowie mit den Art. 20, 21 und 49 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Qualifizierung des Besitzes einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen sowohl für den persönlichen Konsum als auch zum Zweck des illegalen Drogenhandels als strafbare Handlung durch einen Mitgliedstaat entgegensteht, wenn die Auslegung des Begriffs der „erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen“ der Einzelfallbeurteilung der innerstaatlichen Gerichte überlassen wird.

32

Dazu ist festzuhalten, dass der Rahmenbeschluss 2004/757 insbesondere auf der Grundlage von Art. 31 Abs. 1 Buchst. e EU erlassen wurde, nach dem das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen die schrittweise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels einschloss.

33

Darüber hinaus geht aus dem dritten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2004/757 hervor, dass dieser Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Handels mit Drogen und Grundstoffen festlegt, die auf die Schaffung eines gemeinsamen Ansatzes auf der Ebene der Union bei der Bekämpfung dieses illegalen Handels abzielen.

34

Im Besonderen ist gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c sowie Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2004/757 das Besitzen von Drogen mit dem Ziel, das Gewinnen, Herstellen, Ausziehen, Zubereiten, Anbieten, Feilhalten, Verteilen, Verkaufen, Liefern – gleichviel zu welchen Bedingungen –, Vermitteln, Versenden – auch im Transit –, Befördern, Einführen oder Ausführen vorzunehmen, als strafbare Handlung zu qualifizieren, die mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens einem bis drei Jahren bedroht ist.

35

Im Übrigen sieht Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses vor, dass die Mitgliedstaaten diese Straftat mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens fünf bis zehn Jahren ahnden müssen, wenn sie „große Mengen von Drogen“ betrifft.

36

Allerdings schließt zum einen, wie Rn. 22 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2004/757 u. a. den Besitz von Drogen ausschließlich für den persönlichen Konsum im Sinne des nationalen Rechts vom Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses aus. Zum anderen heißt es im vierten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2004/757, dass der Ausschluss bestimmter Verhaltensweisen in Bezug auf den persönlichen Konsum aus dem Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses keine Leitlinie des Rates dafür darstellt, wie die Mitgliedstaaten diese anderen Fälle im Rahmen der nationalen Rechtsvorschriften regeln sollten.

37

Daraus folgt, wie die Generalanwältin in Nr. 47 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, den Besitz großer Mengen von Drogen für den Eigenbedarf als schwere Straftat zu behandeln.

38

Für das vorlegende Gericht stellt sich jedoch, wie in den Rn. 12 bis 14 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Frage, ob die in den Art. 20, 21 und 49 der Charta niedergelegten Grundsätze der Gleichheit vor dem Gesetz, der Nichtdiskriminierung sowie der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass der nationale Gesetzgeber die nähere Bestimmung des Begriffs der „erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen“ in Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht – der den Begriff „große Mengen von Drogen“ in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 in innerstaatliches Recht umsetzt – der Einzelfallauslegung durch die nationalen Gerichte überlässt.

39

Dazu ist darauf hinzuweisen, dass die Rahmenbeschlüsse für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sind, den innerstaatlichen Stellen jedoch die Wahl der Form und der Mittel überlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 69).

40

In diesem Zusammenhang verpflichten Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c sowie Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 die Mitgliedstaaten nur dann zur Ahndung von mit dem illegalen Handel verbundenem Drogenbesitz mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens fünf bis zehn Jahren, wenn „große Mengen von Drogen“ involviert sind.

41

Dieser Rahmenbeschluss enthält aber zum einen keine Definition des Begriffs „große Mengen von Drogen“ im Sinne seines Art. 4 Abs. 2 Buchst. a. Zum anderen stellt der Rahmenbeschluss, wie aus den Rn. 32 und 33 des vorliegenden Urteils hervorgeht, nur ein Mindestharmonisierungsinstrument dar. Folglich verfügen die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Umsetzung dieses Tatbestands in ihr innerstaatliches Recht über einen großen Ermessensspielraum.

42

Bei der Durchführung des Unionsrechts sind die Mitgliedstaaten gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta zur Einhaltung der von dieser gewährleisteten Grundrechte verpflichtet, darunter insbesondere jener nach den Art. 20, 21 und 49 der Charta (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 17 und 18).

43

In diesem Zusammenhang ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass die Grundsätze der Gleichheit vor dem Gesetz und der Nichtdiskriminierung nach den Art. 20 und 21 der Charta verlangen, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld, C‑303/05, EU:C:2007:261, Rn. 56).

44

Im vorliegenden Fall ist festzuhalten, dass erstens Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht keine Ungleichbehandlung zwischen möglichen Tätern normiert, wenn er vorsieht, dass der Besitz einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft wird.

45

Zweitens stellt, wie die Generalanwältin in Nr. 62 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, der Umstand, dass die nationalen Gerichte bei der Auslegung und Anwendung einer Bestimmung des nationalen Rechts über ein gewisses Ermessen verfügen, als solcher keinen Verstoß gegen die Art. 20 und 21 der Charta dar.

46

Drittens schließlich legt der Rahmenbeschluss 2004/757, wie aus den Rn. 32 und 33 des vorliegenden Urteils hervorgeht, nur Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Handels mit Drogen und Grundstoffen fest. Folglich kann das Bestehen von Unterschieden zwischen den Maßnahmen zur Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses in den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsordnungen nicht als Verstoß gegen den Nichtdiskriminierungsgrundsatz angesehen werden (vgl. entsprechend Urteil vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld, C‑303/05, EU:C:2007:261, Rn. 59 und 60).

47

Als Zweites ist festzustellen, dass der in Art. 49 Abs. 1 der Charta niedergelegte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen u. a. in Art. 7 Abs. 1 EMRK festgeschrieben worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 53). Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta hat das in ihrem Art. 49 gewährleistete Recht die gleiche Bedeutung und Tragweite wie jenes nach der EMRK.

48

Nach diesem Grundsatz müssen Strafvorschriften hinsichtlich der Definition sowohl des Straftatbestands als auch des Strafmaßes bestimmten Anforderungen an die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit genügen (Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Daraus folgt, dass die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen im Gesetz klar definiert sein müssen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a., C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 71, sowie vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 56).

50

Im Übrigen darf der Bestimmtheitsgrundsatz nicht so verstanden werden, dass er die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch Auslegung seitens der Gerichte untersagt, sofern sie hinreichend vorhersehbar ist (Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 167 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51

Somit ist der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen dahin auszulegen, dass er dem nicht entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat verschärfte strafrechtliche Sanktionen für die Straftat des Besitzes einer „erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen“ vorsieht und die Auslegung dieses Begriffs den innerstaatlichen Gerichten im Einzelfall überlässt, sofern diese Beurteilung den in den Rn. 48 bis 50 des vorliegenden Urteils dargelegten Anforderungen an die Vorhersehbarkeit entspricht.

52

In Anbetracht der gesamten vorstehenden Erwägungen ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 in Verbindung mit dessen Art. 2 Abs. 1 Buchst. c sowie mit den Art. 20, 21 und 49 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Qualifizierung des Besitzes einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen sowohl für den persönlichen Konsum als auch zum Zweck des illegalen Drogenhandels als strafbare Handlung durch einen Mitgliedstaat nicht entgegensteht, wenn die Auslegung des Begriffs der „erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen“ der Einzelfallbeurteilung der innerstaatlichen Gerichte überlassen wird, sofern diese Beurteilung hinreichend vorhersehbar ist.

Kosten

53

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels in Verbindung mit dessen Art. 2 Abs. 1 Buchst. c sowie mit den Art. 20, 21 und 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er der Qualifizierung des Besitzes einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen sowohl für den persönlichen Konsum als auch zum Zweck des illegalen Drogenhandels als strafbare Handlung durch einen Mitgliedstaat nicht entgegensteht, wenn die Auslegung des Begriffs der „erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen“ der Einzelfallbeurteilung der innerstaatlichen Gerichte überlassen wird, sofern diese Beurteilung hinreichend vorhersehbar ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.