URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

26. März 2020 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken – Richtlinie 2008/95/EG – Art. 5 Abs. 1 Buchst. b – Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 – Art. 12 Abs. 1 – Verfall einer Marke wegen fehlender ernsthafter Benutzung – Recht für den Inhaber der Marke, eine Verletzung seiner ausschließlichen Rechte durch Benutzung eines identischen oder ähnlichen Zeichens durch einen Dritten während des Zeitraums vor Wirksamwerden des Verfalls geltend zu machen“

In der Rechtssache C‑622/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 26. September 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Oktober 2018, in dem Verfahren

AR

gegen

Cooper International Spirits LLC,

St Dalfour SAS,

Établissements Gabriel Boudier SA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter I. Jarukaitis, E. Juhász (Berichterstatter), M. Ilešič und C. Lycourgos,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Juni 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der AR, vertreten durch T. Kern, avocate,

der Cooper International Spirits LLC und der St Dalfour SAS, vertreten durch D. Régnier, avocat,

der Établissements Gabriel Boudier SA, vertreten durch S. Bénoliel-Claux, avocate,

der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und R. Coesme als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch É. Gippini Fournier und J. Samnadda als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. September 2019

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. b, Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 2008, L 299, S. 25).

2

Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen AR einerseits und der Cooper International Spirits LLC, der St Dalfour SAS und der Établissements Gabriel Boudier SA andererseits wegen einer von AR erhobenen Markenverletzungsklage.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2008/95

3

In den Erwägungsgründen 6 und 9 der Richtlinie 2008/95 heißt es:

„(6)

… Die Mitgliedstaaten sollen weiterhin festlegen können, welche Rechtswirkung dem Verfall oder der Ungültigerklärung einer Marke zukommt.

(9)

Um die Gesamtzahl der in der [Union] eingetragenen und geschützten Marken und damit die Anzahl der zwischen ihnen möglichen Konflikte zu verringern, muss verlangt werden, dass eingetragene Marken tatsächlich benutzt werden, um nicht zu verfallen. Außerdem ist vorzusehen, … dass eine Marke in einem Verletzungsverfahren nicht wirksam geltend gemacht werden kann, wenn im Wege der Einwendung Nachweise erbracht werden, dass die Marke für verfallen erklärt werden könnte. In [diesem Fall] sind die jeweiligen Verfahrensvorschriften von den Mitgliedstaaten festzulegen.“

4

Art. 5 („Rechte aus der Marke“) Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die eingetragene Marke gewährt ihrem Inhaber ein ausschließliches Recht. Dieses Recht gestattet es dem Inhaber, Dritten zu verbieten, ohne seine Zustimmung im geschäftlichen Verkehr:

a)

ein mit der Marke identisches Zeichen für Waren oder Dienstleistungen zu benutzen, die mit denjenigen identisch sind, für die sie eingetragen ist;

b)

ein Zeichen zu benutzen, wenn wegen der Identität oder der Ähnlichkeit des Zeichens mit der Marke und der Identität oder Ähnlichkeit der durch die Marke und das Zeichen erfassten Waren oder Dienstleistungen für das Publikum die Gefahr von Verwechslungen besteht, die die Gefahr einschließt, dass das Zeichen mit der Marke gedanklich in Verbindung gebracht wird.“

5

Art. 10 („Benutzung der Marke“) der Richtlinie sieht in Abs. 1 Unterabs. 1 vor:

„Hat der Inhaber der Marke diese für die Waren oder Dienstleistungen, für die sie eingetragen ist, innerhalb von fünf Jahren nach dem Tag des Abschlusses des Eintragungsverfahrens nicht ernsthaft in dem betreffenden Mitgliedstaat benutzt oder wurde eine solche Benutzung während eines ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren ausgesetzt, so unterliegt die Marke den in dieser Richtlinie vorgesehenen Sanktionen, es sei denn, dass berechtigte Gründe für die Nichtbenutzung vorliegen.“

6

Art. 11 („Sanktionen in Gerichts- oder Verwaltungsverfahren für die Nichtbenutzung einer Marke“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 3:

„Unbeschadet der Anwendung des Artikels 12 in den Fällen, in denen eine Widerklage auf Erklärung des Verfalls erhoben wird, können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Marke in einem Verletzungsverfahren nicht wirksam geltend gemacht werden kann, wenn im Wege der Einwendung Nachweise erbracht werden, dass die Marke gemäß Artikel 12 Absatz l für verfallen erklärt werden könnte.“

7

Art. 12 („Verfallsgründe“) der Richtlinie 2008/95 sieht in Abs. 1 vor:

„Eine Marke wird für verfallen erklärt, wenn sie innerhalb eines ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Waren oder Dienstleistungen, für die sie eingetragen ist, nicht ernsthaft benutzt worden ist und keine berechtigten Gründe für die Nichtbenutzung vorliegen.

Der Verfall einer Marke kann jedoch nicht geltend gemacht werden, wenn nach Ende dieses Zeitraums und vor Stellung des Antrags auf Verfallserklärung die Benutzung der Marke ernsthaft begonnen oder wieder aufgenommen worden ist.

Wird die Benutzung innerhalb eines nicht vor Ablauf des ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren der Nichtbenutzung beginnenden Zeitraums von drei Monaten vor Stellung des Antrags auf Verfallserklärung begonnen oder wieder aufgenommen, so bleibt sie unberücksichtigt, sofern die Vorbereitungen für die erstmalige oder die erneute Benutzung erst stattgefunden haben, nachdem der Inhaber Kenntnis davon erhalten hat, dass der Antrag auf Verfallserklärung gestellt werden könnte.“

Richtlinie 2004/48/EG

8

Art. 13 („Schadensersatz“) der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (ABl. 2004, L 157, S. 45) bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Gerichte auf Antrag der geschädigten Partei anordnen, dass der Verletzer, der wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass er eine Verletzungshandlung vornahm, dem Rechtsinhaber zum Ausgleich des von diesem wegen der Rechtsverletzung erlittenen tatsächlichen Schadens angemessenen Schadensersatz zu leisten hat.

Bei der Festsetzung des Schadensersatzes verfahren die Gerichte wie folgt:

a)

Sie berücksichtigen alle in Frage kommenden Aspekte, wie die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen, einschließlich der Gewinneinbußen für die geschädigte Partei und der zu Unrecht erzielten Gewinne des Verletzers, sowie in geeigneten Fällen auch andere als die rein wirtschaftlichen Faktoren, wie den immateriellen Schaden für den Rechtsinhaber,

oder

b)

sie können stattdessen in geeigneten Fällen den Schadensersatz als Pauschalbetrag festsetzen, und zwar auf der Grundlage von Faktoren wie mindestens dem Betrag der Vergütung oder Gebühr, die der Verletzer hätte entrichten müssen, wenn er die Erlaubnis zur Nutzung des betreffenden Rechts des geistigen Eigentums eingeholt hätte.

(2)   Für Fälle, in denen der Verletzer eine Verletzungshandlung vorgenommen hat, ohne dass er dies wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, können die Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, dass die Gerichte die Herausgabe der Gewinne oder die Zahlung von Schadensersatz anordnen, dessen Höhe im Voraus festgesetzt werden kann.“

Verordnung (EG) Nr. 207/2009

9

Die Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die [Unionsmarke] (ABl. 2009, L 78, S. 1) sieht in Art. 9 Abs. 1, in Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 1 sowie in Art. 51 Abs. 1 Buchst. a Bestimmungen vor, die im Wesentlichen denen in Art. 5 Abs. 1, in Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 sowie in Art. 12 der Richtlinie 2008/95 entsprechen.

10

Art. 55 („Wirkungen des Verfalls und der Nichtigkeit“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 bestimmt:

„Die in dieser Verordnung vorgesehenen Wirkungen der [Unionsmarke] gelten in dem Umfang, in dem die Marke für verfallen erklärt wird, als von dem Zeitpunkt der Antragstellung oder der Erhebung der Widerklage an nicht eingetreten. In der Entscheidung kann auf Antrag einer Partei ein früherer Zeitpunkt, zu dem einer der Verfallsgründe eingetreten ist, festgesetzt werden.“

Französisches Recht

11

Art. L. 713–1 des Code de la propriété intellectuelle (Gesetzbuch über das geistige Eigentum) bestimmt in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung:

„Die Eintragung der Marke verleiht ihrem Inhaber für die mit ihr gekennzeichneten Waren und Dienstleistungen ein Eigentumsrecht an dieser Marke.“

12

Art. L. 713–3 des Code de la propriété intellectuelle sieht vor:

„Wenn sich daraus für das Publikum die Gefahr von Verwechslungen ergeben kann, sind ohne Zustimmung des Inhabers verboten

b)

die Nachahmung einer Marke und die Benutzung einer nachgeahmten Marke für Waren oder Dienstleistungen, die mit den in der Eintragung bezeichneten identisch oder ihnen ähnlich sind.“

13

In Art. 714–5 des Code de la propriété intellectuelle heißt es:

„Eine Marke verfällt, wenn ihr Eigentümer sie ohne Vorliegen berechtigter Gründe während eines ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren für die in der Eintragung bezeichneten Waren und Dienstleistungen nicht ernsthaft benutzt hat.

Der Verfall wird am Tag des Ablaufs der in Unterabs. 1 dieses Artikels vorgesehenen Frist von fünf Jahren wirksam. Der Verfall hat absolute Wirkung.“

14

Art. 716–14 des Code de la propriété intellectuelle bestimmt:

„Bei der Festsetzung des Schadensersatzes berücksichtigt das Gericht individuell die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen, einschließlich der Gewinneinbußen für die geschädigte Partei und der erzielten Gewinne des Verletzers, sowie den immateriellen Schaden für den Rechtsinhaber.

Das Gericht kann jedoch stattdessen und auf Antrag der geschädigten Partei als Schadensersatz einen Pauschalbetrag zusprechen, der nicht niedriger sein darf als der Betrag der Vergütung oder Gebühr, die der Verletzer hätte entrichten müssen, wenn er die Erlaubnis zur Nutzung des von ihm verletzten Rechts eingeholt hätte.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

15

Der Kläger des Ausgangsverfahrens vertreibt Alkohol und Spirituosen.

16

Am 5. Dezember 2005 meldete er beim Institut national de la propriété industrielle (Nationales Institut für gewerbliches Eigentum, Frankreich) die Wort-/Bildmarke SAINT GERMAIN an.

17

Die Marke wurde am 12. Mai 2006 unter der Nr. 3395502 u. a. für folgende Waren und Dienstleistungen der Klassen 30, 32 und 33 des Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken vom 15. Juni 1957 in revidierter und geänderter Fassung angemeldet: alkoholische Getränke (ausgenommen Biere), Apfelweine, Digestive, Weine, Spirituosen und alkoholische Auszüge oder Essenzen.

18

Nachdem der Kläger des Ausgangsverfahrens erfahren hatte, dass die Cooper International Spirits unter der Bezeichnung „St‑Germain“ einen Likör vertrieb, der von St. Dalfour und Établissements Gabriel Boudier hergestellt worden war, verklagte er diese drei Gesellschaften am 8. Juni 2012 vor dem Tribunal de grande instance de Paris (Landgericht Paris, Frankreich) wegen Markenverletzung durch Wiedergabe, hilfsweise durch Nachahmung.

19

In einem Parallelverfahren erklärte das Tribunal de grande instance de Nanterre (Landgericht Nanterre, Frankreich) mit Urteil vom 28. Februar 2013 die Rechte des Klägers des Ausgangsverfahrens an der Marke SAINT GERMAIN mit Wirkung vom 13. Mai 2011 für verfallen. Dieses Urteil wurde durch ein rechtskräftig gewordenes Urteil der Cour d’appel de Versailles (Berufungsgericht Versailles, Frankreich) vom 11. Februar 2014 bestätigt.

20

Vor dem Tribunal de grande instance de Paris (Landgericht Paris) erhielt der Kläger des Ausgangsverfahrens seine Anträge wegen Markenverletzung für den vor dem Verfall liegenden und nicht unter die Verjährung fallenden Zeitraum, also die Zeit zwischen dem 8. Juni 2009 und dem 13. Mai 2011, aufrecht.

21

Diese Anträge wurden mit Urteil des Tribunal de grande instance de Paris (Landgericht Paris) vom 16. Januar 2015 in vollem Umfang zurückgewiesen, da die in Rede stehende Marke nach ihrer Eintragung in keiner Weise verwertet worden sei.

22

Dieses Urteil wurde durch ein Urteil der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) vom 13. September 2016 bestätigt.

23

Zur Begründung dieses Urteils stellte die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) insbesondere fest, dass die Beweise, auf die sich der Kläger des Ausgangsverfahrens berufe, für den Nachweis einer tatsächlichen Verwertung der Marke SAINT GERMAIN nicht ausreichend seien.

24

Die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) folgerte daraus, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens weder mit Erfolg geltend machen könne, dass die Herkunftsgarantiefunktion dieser Marke verletzt worden sei, noch sich darauf berufen könne, dass das durch seine Marke verliehene Verwertungsmonopol oder deren Investitionsfunktion beeinträchtigt worden seien, da die Benutzung eines mit der Marke identischen Zeichens durch einen Wettbewerber ihre Benutzung nicht erheblich erschweren könne, wenn die Marke überhaupt nicht verwertet worden sei.

25

Der Kläger des Ausgangsverfahrens legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde mit der Begründung ein, dass die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) gegen die Art. L. 713-3 und L. 714-5 des Code de la propriété intellectuelle verstoßen habe.

26

Er stützt sein Rechtsmittel darauf, dass alle seine Verletzungsklagen zu Unrecht mit der Begründung abgewiesen worden seien, dass er die tatsächliche Verwertung der Marke SAINT GERMAIN nicht nachgewiesen habe, obwohl weder im Unionsrecht noch im Code de la propriété intellectuelle vorgesehen sei, dass der Inhaber einer Marke innerhalb von fünf Jahren nach ihrer Eintragung die Verwertung der Marke nachweisen müsse, um den Schutz des Markenrechts zu genießen. Im Übrigen werde im Rahmen der Verletzung die Verwechslungsgefahr für das Publikum abstrakt unter Bezugnahme auf den Gegenstand der Eintragung und nicht in Bezug auf eine konkrete Marktsituation beurteilt.

27

Die Beklagten des Ausgangsverfahrens tragen hingegen vor, dass eine Marke ihre Hauptfunktion nur dann erfülle, wenn sie von ihrem Inhaber tatsächlich verwertet werde, um auf die betriebliche Herkunft der in ihrer Eintragung bezeichneten Waren oder Dienstleistungen hinzuweisen, und dass der Inhaber, wenn er die Marke nicht entsprechend ihrer Hauptfunktion verwerte, keine irgendwie geartete Beeinträchtigung oder Gefahr der Beeinträchtigung dieser Funktion geltend machen könne.

28

Die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) weist zunächst darauf hin, dass mit dem bei ihr anhängigen Rechtsmittel nicht beanstandet werde, dass die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) die Verletzung nicht im Hinblick auf die Wiedergabe der Marke, sondern deren Nachahmung geprüft habe, was voraussetze, dass für das Publikum eine Verwechslungsgefahr bestehe. Sie betont, dass nach dem nationalen Recht die Beurteilung, ob eine solche Gefahr bestehe, in die eigenverantwortliche Zuständigkeit der Tatsachengerichte falle, da die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) ihrerseits nur für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Urteils im Hinblick auf das anwendbare Recht zuständig sei.

29

Sie führt aus, der Gerichtshof habe in Bezug auf eine Verletzung durch Nachahmung entschieden, dass eine Benutzung des mit der Marke identischen oder ihr ähnlichen Zeichens, die beim Publikum eine Verwechslungsgefahr hervorrufe, die Hauptfunktion der Marke beeinträchtige oder geeignet sei, sie zu beeinträchtigen (Urteil vom 12. Juni 2008, O2 Holdings und O2 [UK], C–533/06, EU:C:2008:339, Rn. 59), und dass die herkunftshinweisende Funktion der Marke zwar nicht deren einzige Funktion sei, die gegenüber Beeinträchtigungen durch Dritte schutzwürdig sei (Urteil vom 22. September 2011, Interflora und Interflora British Unit, C–323/09, EU:C:2011:604, Rn. 39), der gegen eine Verletzung durch Wiedergabe gewährte Schutz aber weiter reiche als der gegen eine Verletzung durch Nachahmung, dessen Anwendung den Nachweis des Vorliegens einer Verwechslungsgefahr und demnach die Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Hauptfunktion der Marke voraussetze, da der gegen eine Verletzung durch Wiedergabe gewährte Schutz absolut und für Beeinträchtigungen nicht nur der Hauptfunktion der Marke, sondern auch der anderen Funktionen wie u. a. der Kommunikations-, Investitions- oder Werbefunktionen einschlägig sei (Urteil vom 18. Juni 2009, L’Oréal u. a., C‑487/07, EU:C:2009:378, Rn. 58 und 59).

30

Die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) weist ferner darauf hin, dass der Gerichtshof klargestellt habe, dass eine Marke stets ihre herkunftshinweisende Funktion erfüllen solle und ihre anderen Funktionen nur habe, soweit sie vom Markeninhaber dazu verwendet werde, insbesondere zu Zwecken der Werbung oder Investition (Urteil vom 22. September 2011, Interflora und Interflora British Unit, C–323/09, EU:C:2011:604, Rn. 40).

31

Da es im vorliegenden Fall darum gehe, die Verletzung durch Nachahmung zu beurteilen, ist nach Auffassung der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) angesichts dieser Rechtsprechung nur die angebliche Beeinträchtigung der Hauptfunktion der Marke aufgrund einer Verwechslungsgefahr zu prüfen.

32

In diesem Zusammenhang führt sie aus, dass der Gerichtshof im Urteil vom 21. Dezember 2016, Länsförsäkringar (C–654/15, EU:C:2016:998), für Recht erkannt habe, dass dem Markeninhaber mit Art. 15 Abs. 1 und Art. 51 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 207/2009 für den Beginn der ernsthaften Benutzung seiner Marke eine Schonfrist gewährt werde, während der er sein ausschließliches Recht aus der Marke gemäß Art. 9 Abs. 1 dieser Verordnung für alle Waren und Dienstleistungen geltend machen könne, ohne eine ernsthafte Benutzung belegen zu müssen. Dies führe dazu, dass während dieses Zeitraums der Umfang des dem Markeninhaber verliehenen ausschließlichen Rechts in Bezug auf die in der Markeneintragung bezeichneten Waren und Dienstleistungen zu beurteilen sei und nicht anhand der Benutzung der Marke, die der Inhaber während dieses Zeitraums habe vornehmen können.

33

Die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) betont jedoch, dass sich der Ausgangsrechtsstreit von dem dem Urteil vom 21. Dezember 2016, Länsförsäkringar (C‑654/15, EU:C:2016:998), zugrunde liegenden unterscheide, da die Marke im vorliegenden Fall für verfallen erklärt worden sei, weil ihr Inhaber sie während des Zeitraums von fünf Jahren nach ihrer Eintragung nicht benutzt habe.

34

Demnach stelle sich die Frage, ob der Inhaber einer Marke, die von ihm nie verwertet und bei Ablauf der in Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/95 vorgesehenen Frist von fünf Jahren für verfallen erklärt worden sei, eine Beeinträchtigung der Hauptfunktion seiner Marke geltend machen und dementsprechend Schadensersatz verlangen könne, weil ein Dritter während des Zeitraums von fünf Jahren nach der Eintragung der Marke ein identisches oder ähnliches Zeichen benutzt haben solle.

35

Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 5 Abs. 1 Buchst. b und die Art. 10 und 12 der Richtlinie 2008/95 dahin auszulegen, dass ein Inhaber, der seine Marke nie verwertet hat und dessen Rechte an dieser Marke bei Ablauf des Zeitraums von fünf Jahren nach der Veröffentlichung ihrer Eintragung für verfallen erklärt worden sind, Ersatz eines Schadens wegen Markenverletzung erlangen kann, indem er eine Beeinträchtigung der Hauptfunktion seiner Marke geltend macht, die dadurch verursacht worden sein soll, dass ein Dritter vor dem Tag des Wirksamwerdens des Verfalls ein der Marke ähnliches Zeichen für Waren oder Dienstleistungen benutzt hat, die mit denen, für die die Marke eingetragen wurde, identisch sind oder ihnen ähneln?

Zur Vorlagefrage

36

Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 1 Buchst. b, Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/95 dahin auszulegen sind, dass der Inhaber einer Marke, die bei Ablauf der Frist von fünf Jahren ab ihrer Eintragung für verfallen erklärt worden ist, da er sie in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Waren oder Dienstleistungen, für die sie eingetragen worden war, nicht ernsthaft benutzt hat, das Recht behält, Ersatz des Schadens zu verlangen, der entstanden ist, weil ein Dritter vor Wirksamwerden des Verfalls ein ähnliches Zeichen für identische oder mit seiner Marke verwechselbar ähnliche Waren oder Dienstleistungen benutzt hat.

37

Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dem Markeninhaber mit Art. 15 Abs. 1 und Art. 51 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 207/2009 für den Beginn der ernsthaften Benutzung dieser Marke eine Schonfrist gewährt wird, während der er sein ausschließliches Recht aus der Marke gemäß Art. 9 Abs. 1 dieser Verordnung für alle Waren und Dienstleistungen, für die die Marke eingetragen ist, geltend machen kann, ohne eine ernsthafte Benutzung belegen zu müssen (Urteil vom 21. Dezember 2016, Länsförsäkringar, C–654/15, EU:C:2016:998, Rn. 26).

38

Um gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 festzustellen, ob die Waren oder Dienstleistungen des angeblichen Rechtsverletzers mit den durch die fragliche Unionsmarke erfassten Waren oder Dienstleistungen identisch oder ihnen ähnlich sind, ist daher der Umfang des durch diese Bestimmung verliehenen ausschließlichen Rechts innerhalb des Zeitraums von fünf Jahren ab der Eintragung der Unionsmarke in Bezug auf die Waren und Dienstleistungen zu beurteilen, für die die Marke eingetragen ist, und nicht in Bezug auf die Benutzung der Marke, die der Inhaber während dieses Zeitraums vornehmen konnte (Urteil vom 21. Dezember 2016, Länsförsäkringar, C–654/15, EU:C:2016:998, Rn. 27).

39

Da Art. 9 Abs. 1, Art. 15 Abs. 1 und Art. 51 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 207/2009 im Wesentlichen mit Art. 5 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/95 übereinstimmen, lässt sich diese Rechtsprechung bei der Auslegung der letztgenannten Bestimmungen in vollem Umfang entsprechend übertragen.

40

Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass ab dem Moment des Ablaufs der Frist von fünf Jahren ab der Eintragung der Unionsmarke der Umfang dieses ausschließlichen Rechts dadurch beeinflusst werden kann, dass infolge einer Widerklage oder einer von dem Dritten im Rahmen eines Verletzungsverfahrens in der Sache vorgebrachten Verteidigung festgestellt wird, dass der Inhaber zu diesem Zeitpunkt für einen Teil oder die Gesamtheit der Waren und Dienstleistungen, für die seine Marke eingetragen ist, noch keine ernsthafte Benutzung dieser Marke begonnen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2016, Länsförsäkringar, C–654/15, EU:C:2016:998, Rn. 28).

41

Wie das vorlegende Gericht ausführt, unterscheidet sich der Ausgangsrechtsstreit jedoch von dem dem Urteil vom 21. Dezember 2016, Länsförsäkringar (C‑654/15, EU:C:2016:998), zugrunde liegenden, da er genau die Frage des Umfangs des ausschließlichen Rechts bei Ablauf der Schonfrist betrifft, während die Marke bereits für verfallen erklärt worden ist.

42

Zu prüfen ist demnach, ob sich im Rahmen der Richtlinie 2008/95 der Verfall der Rechte aus der betreffenden Marke auf die Möglichkeit für ihren Inhaber auswirken kann, nach Ablauf der Schonfrist während dieser Frist erfolgte Verletzungen des ausschließlichen Rechts aus der Marke geltend zu machen.

43

Zum einen wurde dem nationalen Gesetzgeber nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/95, wonach insbesondere „[d]ie Mitgliedstaaten … weiterhin festlegen können [sollen], welche Rechtswirkung dem Verfall oder der Ungültigerklärung einer Marke zukommt“, mit dieser Richtlinie jedwede Freiheit bei der Festlegung des Zeitpunkts, zu dem der Verfall einer Marke seine Wirkungen entfaltet, gelassen. Zum anderen ergibt sich aus Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2008/95, dass den Mitgliedstaaten weiterhin die Entscheidung freisteht, ob sie vorsehen möchten, dass in den Fällen, in denen eine Widerklage auf Erklärung des Verfalls erhoben wird, eine Marke in einem Verletzungsverfahren nicht wirksam geltend gemacht werden kann, wenn im Wege der Einwendung Nachweise erbracht werden, dass die Marke gemäß Art. 12 Abs. l der Richtlinie für verfallen erklärt werden könnte.

44

Im vorliegenden Fall hat sich der französische Gesetzgeber, wie der Generalanwalt in Nr. 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dafür entschieden, die Wirkungen des Verfalls einer Marke wegen Nichtbenutzung mit Ablauf einer Frist von fünf Jahren ab ihrer Eintragung eintreten zu lassen. Darüber hinaus enthält die Vorlageentscheidung keinen Anhaltspunkt dafür, dass der französische Gesetzgeber zu der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeit von der in Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2008/95 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hatte.

45

Demnach bleibt nach französischem Recht die Möglichkeit für den Inhaber der betreffenden Marke bestehen, nach Ablauf der Schonfrist während dieser Frist erfolgte Verletzungen des ausschließlichen Rechts aus der Marke geltend zu machen, auch wenn diese für verfallen erklärt worden ist.

46

Für die Festsetzung des Schadensersatzes ist auf die Richtlinie 2004/48, insbesondere ihren Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1, zu verweisen, wonach der Schadensersatz „dem [vom Inhaber der Marke] … erlittenen tatsächlichen [Schaden angemessen]“ sein muss.

47

Zwar steht die fehlende Benutzung einer Marke als solche einem mit der Begehung von Verletzungshandlungen verbundenen Schadensersatz nicht entgegen, dieser Umstand bleibt jedoch ein wichtiger Aspekt, der bei der Feststellung des Vorliegens und gegebenenfalls des Umfangs des vom Markeninhaber erlittenen Schadens und somit des Betrags des Schadensersatzes, den dieser möglicherweise verlangen kann, zu berücksichtigen ist.

48

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. b, Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/95 in Verbindung mit ihrem sechsten Erwägungsgrund dahin auszulegen sind, dass die Mitgliedstaaten danach zulassen können, dass der Inhaber einer Marke, die bei Ablauf der Frist von fünf Jahren ab ihrer Eintragung für verfallen erklärt worden ist, da er sie in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Waren oder Dienstleistungen, für die sie eingetragen worden war, nicht ernsthaft benutzt hat, das Recht behält, Ersatz des Schadens zu verlangen, der entstanden ist, weil ein Dritter vor Wirksamwerden des Verfalls ein ähnliches Zeichen für identische oder mit seiner Marke verwechselbar ähnliche Waren oder Dienstleistungen benutzt hat.

Kosten

49

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 5 Abs. 1 Buchst. b, Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken in Verbindung mit ihrem sechsten Erwägungsgrund sind dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten danach zulassen können, dass der Inhaber einer Marke, die bei Ablauf der Frist von fünf Jahren ab ihrer Eintragung für verfallen erklärt worden ist, da er sie in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Waren oder Dienstleistungen, für die sie eingetragen worden war, nicht ernsthaft benutzt hat, das Recht behält, Ersatz des Schadens zu verlangen, der entstanden ist, weil ein Dritter vor Wirksamwerden des Verfalls ein ähnliches Zeichen für identische oder mit seiner Marke verwechselbar ähnliche Waren oder Dienstleistungen benutzt hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.