Verbundene Rechtssachen C‑496/18 und C‑497/18
Hungeod Közlekedésfejlesztési, Földmérési, Út- és Vasúttervezési Kft. u. a.
gegen
Közbeszerzési Hatóság Közbeszerzési Döntőbizottság
(Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék)
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 26. März 2020
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge – Richtlinie 89/665/EWG – Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor – Richtlinie 92/13/EWG – Vergabe öffentlicher Aufträge – Richtlinien 2014/24/EU und 2014/25/EU – Überwachung der Anwendung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge – Nationale Regelung, nach der bestimmte Stellen im Fall der rechtswidrigen Änderung eines Vertrags während dessen Ausführung ein Verfahren von Amts wegen veranlassen können – Ausschluss des Rechts, das Verfahren von Amts wegen zu veranlassen – Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit“
Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge – Richtlinien 89/665 und 92/13 – Richtlinien 2014/24 und 2014/25 – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ein Nachprüfungsverfahren vorzusehen – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, eine Überwachung der Anwendung der Vorschriften über die öffentliche Auftragsvergabe vorzusehen – Nationale Regelung, nach der bestimmte Stellen im Fall der rechtswidrigen Änderung eines Vertrags während der Ausführung ein Verfahren von Amts wegen veranlassen können – Zulässigkeit – Verfahren im Anwendungsbereich des Unionsrechts – Anwendbarkeit der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts – Allgemeiner Grundsatz der Rechtssicherheit – Einbeziehung
(Richtlinie 2014/24 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 121 und 122 sowie Art. 83 Abs. 1 und 2; Richtlinie 2014/25 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 127 und 128 sowie Art. 99 Abs. 1 und 2; Richtlinie des Rates 89/665 in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung, Art. 1 Abs. 1 und 3, Richtlinie des Rates 92/13 in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung, Art. 1 Abs. 1 und 3)
(vgl. Rn. 71-77, 81-87, 91, Tenor 1)
Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge – Klagefristen – Nationale Regelung, nach der bestimmte Stellen im Fall der rechtswidrigen Änderung eines Vertrags während dessen Ausführung ein Verfahren von Amts wegen veranlassen können – Neue nationale Regelung, die zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit dieser Änderung die Einleitung eines solchen Verfahrens innerhalb der festgelegten Ausschlussfrist gestattet, obwohl die in der älteren, zum Zeitpunkt dieser Änderung geltenden Regelung vorgesehene Ausschlussfrist abgelaufen ist – Unzulässigkeit – Verletzung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes
(Richtlinien 2014/24 und 2014/25 des Europäischen Parlaments und des Rates; Richtlinien 89/665 und 92/13 des Rates in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung)
(vgl. Rn. 93-97, 99, 100, 102, Tenor 2)
Zusammenfassung
In seinem am 26. März 2020 verkündeten Urteil Hungeod u. a. (verbundene Rechtssachen C‑496/18 und C‑497/18) hat der Gerichtshof entschieden, dass die Vergaberichtlinien ( 1 ) es den Mitgliedstaaten gestatten, eine nationale Regelung zu erlassen, auf deren Grundlage eine Überwachungsbehörde ein Nachprüfungsverfahren von Amts wegen aus Gründen des Schutzes der finanziellen Interessen der Union veranlassen kann, um Verstöße gegen das Vergaberecht zu kontrollieren. Der Gerichtshof hat hierzu ausgeführt, dass dann, wenn ein solches Verfahren vorgesehen ist, es in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, da öffentliche Aufträge, die Gegenstand eines solchen Nachprüfungsverfahrens sind, in den sachlichen Anwendungsbereich der Vergaberichtlinien fallen. Daher hat der Gerichtshof festgestellt, dass diese von Amts wegen eingeleiteten Nachprüfungsverfahren die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts und insbesondere den allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit beachten müssen.
Der Gerichtshof hat außerdem festgestellt, dass es dieser Grundsatz nicht zulässt, dass im Rahmen eines solchen Nachprüfungsverfahrens von Amts wegen eine neue nationale Regelung zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Vertragsänderungen eines öffentlichen Auftrags vorsieht, ein solches Verfahren innerhalb der in ihr festgelegten Ausschlussfrist zu veranlassen, obwohl die in der früheren Regelung zur Einleitung des Verfahrens vorgesehene Frist, die auf den Zeitpunkt dieser Änderungen anwendbar war, abgelaufen ist.
Im vorliegenden Fall veröffentlichte Budapesti Közlekedési, ein öffentliches Transportunternehmen, am 30. September 2005 und am 3. Januar 2009 im Amtsblatt der Europäischen Union zwei Ausschreibungen über die Vergabe zweier unterschiedlicher öffentlicher Aufträge im Zusammenhang mit dem Bau der Metro-Linie 4 in Budapest in Ungarn. Der geschätzte Wert dieser beiden öffentlichen Aufträge überstieg den gemeinschaftsrechtlichen Schwellenwert, und es wurden hierfür Zuschüsse der Europäischen Union gewährt. Der Auftrag für die erste Ausschreibung wurde den Unternehmen Hungeod und Sixense erteilt. Der Vertrag wurde am 1. März 2006 unterzeichnet. Am 5. Oktober 2009 beschlossen die Vertragsparteien, den Vertrag zu ändern, und führten unvorhersehbare Umstände an. Diese Änderung wurde am 18. November 2009 in einer Bekanntmachung im Közbeszerzési Értesítő (Blatt für öffentliche Auftragsvergabe) veröffentlicht.
Der Auftrag für die zweite Ausschreibung wurde dem Unternehmen Matrics Consults Ltd erteilt und der entsprechende Vertrag am 14. Mai 2009 unterzeichnet. Er wurde am 16. November 2011 von Budapesti Közlekedési mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 gekündigt. Im August 2017 verhängte die ungarische Schiedskommission bei der Behörde für das öffentliche Auftragswesen (im Folgenden: Schiedskommission) nach Befassung durch den Präsidenten der Behörde für das öffentliche Auftragswesen gegen Budapesti Közlekedési und die Auftragnehmer der beiden öffentlichen Aufträge wegen Verstoßes gegen die geltenden Rechtsvorschriften im Bereich der Vertragsänderungen öffentlicher Aufträge eine Geldbuße. Diese wurden in Anwendung des ungarischen Vergabegesetzes, das am 1. November 2015 in Kraft getreten war, ausgesprochen. Diese neue Regelung ermächtigt die Überwachungsbehörde, für einen vor ihrem Inkrafttreten geschlossenen Vertrag über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags unabhängig vom Ablauf der in der früheren nationalen Regelung vorgesehenen Ausschlussfristen von Amts wegen eine Untersuchung der vor ihrem Inkrafttreten begangenen Rechtsverletzungen im Bereich des öffentlichen Auftragswesens einzuleiten, um durch die Schiedskommission mögliche Rechtsverletzungen feststellen und eine Sanktion festzulegen zu lassen.
Das mit den Klagen von Budapesti Közlekedési und der Auftragnehmer der beiden öffentlichen Aufträge gegen die Entscheidung der Schiedskommission befasste Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) hat den Gerichtshof in zwei Vorabentscheidungsersuchen danach gefragt, ob mit dem Unionsrecht, insbesondere mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit, die vom Vergabegesetz 2015 vorgesehene Befugnis vereinbar ist, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes vorgenommenen Änderungen der Verträge über öffentliche Aufträge zu kontrollieren, obwohl die von der früheren nationalen Regelung für die Kontrolle dieser Änderungen vorgesehene Frist bereits abgelaufen war.
Erstens hat der Gerichtshof betont, dass dann, wenn die Richtlinien 89/665 und 92/13 für betroffene Unternehmen das Bestehen von Rechtsbehelfen verlangen, um die effektive Anwendung der Unionsvorschriften im Bereich der Vergabe öffentlicher Aufträge zu gewährleisten, nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Rechtsbehelfe alle möglichen Rechtsbehelfe auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge erfassen. Zu diesen beiden Richtlinien hat der Gerichtshof ferner festgestellt, dass die Bestimmungen ( 2 ), die vorsehen, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass ein Vertrag durch eine von dem öffentlichen Auftraggeber unabhängige Nachprüfungsstelle für unwirksam erklärt wird, die Wirkungen der Rechtsbehelfe lediglich verstärken, die die Mitgliedstaaten gemäß diesen Richtlinien zu erlassen haben, und daher dahin auszulegen sind, dass sie den Mitgliedstaaten weder vorschreiben noch verbieten, Rechtsbehelfe zugunsten nationaler Überwachungsbehörden vorzusehen.
Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Bestimmungen der Richtlinien 2014/24 und 2014/25 ( 3 ), die die Mitgliedstaaten verpflichten, sicherzustellen, dass die Anwendung der Vorschriften über die öffentliche Auftragsvergabe von einer oder mehreren Behörden, Stellen oder Strukturen überwacht wird, Mindestanforderungen enthalten. Der Gerichtshof ist deshalb zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Bestimmungen es den Mitgliedstaaten nicht verbieten, zugunsten nationaler Überwachungsbehörden Nachprüfungsverfahren von Amts wegen vorzusehen, die es diesen ermöglichen, Verstöße gegen das Vergaberecht feststellen zu lassen. Der Gerichtshof hat jedoch betont, dass ein solches Nachprüfungsverfahren, wenn es von Amts wegen vorgesehen ist, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, da öffentliche Aufträge, die Gegenstand eines solchen Nachprüfungsverfahrens sind, in den sachlichen Anwendungsbereich der Vergaberichtlinien fallen. Folglich muss dieses Verfahren das Unionsrecht einschließlich seiner allgemeinen Rechtsgrundsätze, zu denen der Grundsatz der Rechtssicherheit gehört, beachten.
Zweitens hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass es der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet, dass Rechtsvorschriften, vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können, klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen voraussehbar sein müssen. Zudem steht der Grundsatz der Rechtssicherheit einer rückwirkenden Anwendung einer Regelung, entgegen, unabhängig davon, ob sie sich für den Betroffenen günstig oder ungünstig auswirkt. Dieser Grundsatz verlangt nämlich, dass jeder Sachverhalt anhand der seinerzeit geltenden Rechtsvorschriften beurteilt wird, da die neue Regelung somit nur für die Zukunft gilt und, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch für die künftigen Wirkungen der unter dem alten Recht entstandenen Sachverhalte gilt. Was speziell die Frage der Ausschlussfristen anbelangt, weist der Gerichtshof ferner darauf hin, dass aus seiner Rechtsprechung hervorgeht, dass diese, um ihren Zweck, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, zu erfüllen, im Voraus festgelegt und hinreichend vorhersehbar sein müssen.
Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof festgestellt, dass die betreffende Bestimmung des Vergabegesetzes von 2015 dadurch, dass sie die Einleitung von Verfahren von Amts wegen in Bezug auf Änderungen von Verträgen öffentlicher Aufträge ermöglicht, die angesichts der für diese Änderungen geltenden einschlägigen Bestimmungen des Vergabegesetzes von 2003 nicht mehr möglich waren, nicht darauf abzielt, bestehende Rechtsverhältnisse zu erfassen, sondern eine rückwirkende Bestimmung darstellt. Zwar lässt es das Unionsrecht ausnahmsweise zu, dass einem Rechtsakt Rückwirkung verliehen werden kann, wenn das zu erreichende Ziel diese erfordert und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet wird Der Grundsatz des Vertrauensschutzes lässt es nach Auffassung des Gerichtshofs jedoch nicht zu, dass Änderungen einer nationalen Regelung es einer nationalen Überwachungsbehörde erlauben, ein Nachprüfungsverfahren zu veranlassen, auch wenn die in der früheren Regelung vorgesehene Ausschlussfrist, die zum Zeitpunkt dieser Änderungen galt, abgelaufen ist.
( 1 ) Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. 1989, L 395, S. 33), Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor (ABl. 1992, L 76, S. 14), Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 zur Änderung der Richtlinien 89/665/EWG und 92/13/EWG des Rates im Hinblick auf die Verbesserung der Wirksamkeit der Nachprüfungsverfahren bezüglich der Vergabe öffentlicher Aufträge (ABl. 2007, L 335, S. 31), Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65), Richtlinie 2014/25/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG (ABl. 2014, L 94, S. 243).
( 2 ) Art. 2d der Richtlinien 89/665 und 92/13, eingefügt durch die Richtlinie 2007/66.
( 3 ) Art. 83 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2014/25.