URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

19. September 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Art. 6 und 47 sowie Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 8 Abs. 2 – Richtlinie 2013/48/EU – Art. 12 – Richtlinie (EU) 2016/343 – Art. 3 – Nationale Regelung, die aus therapeutischen Gründen und Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht – Recht auf Rechtsbelehrung – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Unschuldsvermutung – Schutzbedürftige Person“

In der Rechtssache C‑467/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Rayonen sad Lukovit (Kreisgericht Lukovit, Bulgarien) mit Entscheidung vom 17. Juli 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juli 2018, in dem Strafverfahren gegen

EP,

Beteiligte:

Rayonna prokuratura Lom,

KM,

HO,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, J. Malenovský und C. G. Fernlund (Berichterstatter) sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von EP, vertreten durch M. Ekimdzhiev, K. Boncheva und T. Ekimdzhieva, advokati,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Kasalická als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und P. Huurnink als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und Y. G. Marinova als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Juli 2019

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1), von Art. 12 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1), von Art. 3 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) sowie von Art. 6, Art. 21 Abs. 1 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht in einem gerichtlichen Verfahren, in dem die psychiatrische Unterbringung von EP angeordnet werden soll.

Rechtlicher Rahmen

EMRK

3

Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sieht in Art. 5 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) vor:

„(1)   Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

e)

rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern;

(4)   Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.

…“

Unionsrecht

Richtlinie 2012/13

4

In den Erwägungsgründen 19, 22 und 26 der Richtlinie 2012/13 heißt es:

„(19)

Die zuständigen Behörden sollten Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mündlich oder schriftlich gemäß dieser Richtlinie über die nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahrensrechte, die für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind, belehren. Damit die betreffenden Rechte zweckmäßig und wirksam ausgeübt werden können, sollte diese Belehrung umgehend im Laufe des Verfahrens und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde erfolgen.

(22)

Verdächtige oder beschuldigte Personen sollten bei ihrer Festnahme oder Inhaftierung über die anwendbaren Verfahrensrechte im Wege einer schriftlichen Erklärung der Rechte belehrt werden, die so gut verständlich abgefasst ist, dass sie diesen Personen dabei hilft, ihre Rechte zu verstehen. Eine solche Erklärung der Rechte sollte jeder festgenommenen Person umgehend ausgehändigt werden, wenn ihr durch das Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden im Rahmen eines Strafverfahrens die Freiheit entzogen wird. …

(26)

Bei der Belehrung und Unterrichtung von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen gemäß dieser Richtlinie sollten die zuständigen Behörden Personen, die zum Beispiel aufgrund ihres jugendlichen Alters oder aufgrund ihres geistigen oder körperlichen Zustands nicht in der Lage sind, den Inhalt oder die Bedeutung der Belehrung oder Unterrichtung zu verstehen, besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen.“

5

Der Anwendungsbereich der Richtlinie 2012/13 wird in ihrem Art. 2 Abs. 1 wie folgt eingegrenzt:

„Diese Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“

6

Art. 3 der Richtlinie 2012/13 („Recht auf Rechtsbelehrung“) lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:

a)

das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts;

b)

den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung;

c)

das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6;

d)

das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen;

e)

das Recht auf Aussageverweigerung.

(2)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die in Absatz 1 vorgesehene Rechtsbelehrung entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden.“

7

Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) der Richtlinie 2012/13 bestimmt in den Abs. 1 und 3:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.

(3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.“

8

Art. 8 („Überprüfung und Rechtsbehelfe“) der Richtlinie 2012/13 sieht in Abs. 2 vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten.“

Richtlinie 2013/48

9

Der 51. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 lautet:

„Die Fürsorgepflicht für Verdächtige oder beschuldigte Personen, die sich in einer potenziell schwachen Position befinden, ist Grundlage einer fairen Justiz. Anklage‑, Strafverfolgungs- und Justizbehörden sollten es solchen Personen daher erleichtern, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte wirksam auszuüben, zum Beispiel indem sie etwaige Benachteiligungen, die die Fähigkeit der Personen beeinträchtigen, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand und auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug wahrzunehmen, berücksichtigen und indem sie geeignete Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass diese Rechte gewährleistet sind.“

10

Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 sieht vor:

„Diese Richtlinie gilt für Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden, und unabhängig davon, ob ihnen die Freiheit entzogen wurde. Die Richtlinie gilt bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“

11

Art. 12 („Rechtsbehelfe“) der Richtlinie 2013/48 sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren sowie gesuchten Personen in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zusteht.

(2)   Unbeschadet der nationalen Vorschriften und Regelungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass in Strafverfahren bei der Beurteilung von Aussagen von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder von Beweisen, die unter Missachtung ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand erhoben wurden, oder in Fällen, in denen gemäß Artikel 3 Absatz 6 eine Abweichung von diesem Recht genehmigt wurde, die Verteidigungsrechte und die Einhaltung eines fairen Verfahrens beachtet werden.“

12

Art. 13 der Richtlinie 2013/48 („Schutzbedürftige Personen“) lautet:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass bei der Anwendung dieser Richtlinie die besonderen Bedürfnisse von schutzbedürftigen Verdächtigen und schutzbedürftigen beschuldigten Personen berücksichtigt werden.“

Richtlinie 2016/343

13

Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt:

„Diese Richtlinie gilt für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.“

14

Art. 3 („Unschuldsvermutung“) der Richtlinie 2016/343 lautet:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde.“

15

Art. 6 der Richtlinie 2016/343 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder der beschuldigten Personen zugutekommt, einschließlich in Fällen, wenn das Gericht prüft, ob die betreffende Person freigesprochen werden sollte.“

16

Nach ihrem Art. 14 Abs. 1 musste die Richtlinie 2016/343 bis zum 1. April 2018 umgesetzt werden, und nach ihrem Art. 15 trat sie am 31. März 2016 in Kraft.

Bulgarisches Recht

17

Der Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) in seiner für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgebenden Fassung sieht in den Art. 427 ff. ein besonderes Verfahren vor, das es dem Gericht ermöglicht, auf Vorschlag des Staatsanwalts medizinische Zwangsmaßnahmen gegenüber einer Person anzuordnen, die im Zustand geistiger Verwirrung eine für die Allgemeinheit gefährliche Tat begangen hat.

18

Art. 427 der Strafprozessordnung bestimmt:

„(1)   Der Bezirksstaatsanwalt unterbreitet einen Vorschlag für die Anwendung medizinischer Zwangsmaßnahmen …

(2)   Vor der Unterbreitung des Vorschlags holt der Staatsanwalt ein Gutachten ein und betraut die Ermittlungsbehörde mit der Aufklärung des Verhaltens der Person vor und nach Begehung der Tat und mit der Beurteilung der Frage, ob die Person eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt.“

19

Aus dem in den Art. 428 bis 491 der Strafprozessordnung beschriebenen Verfahren ergibt sich, dass der Vorschlag des Staatsanwalts vom Kreisgericht am Aufenthaltsort der betreffenden Person geprüft wird und dass dieses Gericht nach mündlicher Verhandlung als Einzelrichter durch Beschluss entscheidet, der angefochten werden kann.

20

Überdies sieht das Zakon za zdraveto (Gesundheitsgesetz) in den Art. 155 ff. ein besonderes Verfahren vor, das es ermöglicht, eine Person mit einer psychischen Erkrankung, die eine Gefahr für ihre Gesundheit oder die Gesundheit Dritter darstellt, gerichtlich zwangsweise in eine medizinische Einrichtung einzuweisen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

21

Am 26. August 2015 fanden Polizeibeamte auf einer Straße in Medkovets (Bulgarien) eine Leiche. Sie begaben sich daraufhin zum Haus von EP, dem Sohn des Opfers. Dieser gab zu, seine Mutter getötet zu haben. Nachdem die Beamten von Zeugen erfahren hatten, dass EP unter psychischen Störungen leide, brachten sie ihn in die Notaufnahme eines psychiatrischen Krankenhauses.

22

Mit Entscheidung vom 12. September 2015 ordnete der Rayonen sad Lom (Kreisgericht Lom, Bulgarien) an, EP für die Dauer von sechs Monaten in ein psychiatrisches Krankenhaus aufzunehmen. Diese auf der Grundlage des Gesundheitsgesetzes getroffene Entscheidung wurde bis zum Erlass der Vorlageentscheidung ununterbrochen verlängert.

23

Das von zwei Krankenhauspsychiatern erstellte gerichtspsychiatrische Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass EP an paranoider Schizophrenie leide.

24

Mit Verfügung vom 7. Juli 2016 stellte der Staatsanwalt von Montana (Bulgarien) das Strafverfahren mit der Begründung ein, dass EP an einer psychischen Erkrankung leide. Da er der Ansicht war, dass EP nicht am Verfahren teilnehmen könne, stellte er EP diese Verfügung nicht zu.

25

Am 29. Dezember 2017 ordnete die Apelativna prokuratura Sofia (Staatsanwaltschaft Sofia, Bulgarien) die Wiederaufnahme des Verfahrens im Hinblick auf die weitere Unterbringung von EP auf der Grundlage des Gesundheitsgesetzes an.

26

Mit Verfügung vom 1. März 2018 wurde das Strafverfahren gegen EP eingestellt. Die Staatsanwaltschaft kam zu dem Ergebnis, dass medizinische Zwangsmaßnahmen anzuordnen seien, da EP aufgrund psychischer Störungen eine vorsätzliche Tat begangen habe, so dass er schuldunfähig sei. Diese Verfügung wurde der Tochter des Opfers zugestellt. Sie wurde am 10. März 2018 rechtskräftig, da innerhalb der vorgesehenen Frist kein Rechtsbehelf eingelegt wurde.

27

Die Rayonna prokuratura Lom (Staatsanwaltschaft Lom, Bulgarien) beantragte beim vorlegenden Gericht, dem Rayonen sad Lukovit (Kreisgericht Lukovit, Bulgarien), auf der Grundlage der Art. 427 ff. der Strafprozessordnung die psychiatrische Unterbringung von EP.

28

Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Bestimmungen über die zwangsweise medizinische Unterbringung psychisch Kranker mit den durch die Richtlinien 2012/13, 2013/48 und 2016/343 sowie durch die Charta garantierten Rechten. Diese Zweifel betreffen in erster Linie die Art. 427 ff. der Strafprozessordnung und das durch sie geschaffene besondere Strafverfahren, das zur psychiatrischen Unterbringung einer Person führen kann, die eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Sie beziehen sich auch auf die Bestimmungen des Gesundheitsgesetzes, soweit das darin vorgesehene Verfahren es ebenfalls gestattet, eine Person vorsorglich zwangsweise unterzubringen, wenn es Gründe für die Annahme gibt, dass sie angesichts ihres Gesundheitszustands eine Straftat begehen könnte.

29

Das vorlegende Gericht führt aus, EP sei während der Ermittlungen nie befragt worden, und die Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihn sei ihm nicht mitgeteilt worden. Da er nicht strafrechtlich verfolgt worden sei, habe er nicht den Beistand eines Anwalts erhalten. Gegen die rechtlichen und tatsächlichen Schlussfolgerungen der Staatsanwaltschaft habe er keinen Rechtsbehelf einlegen können.

30

Überdies gestatte das nationale Recht es dem Gericht nicht, bei Verfahren zur Anwendung medizinischer Zwangsmaßnahmen gemäß den Art. 427 ff. der Strafprozessordnung zu prüfen, ob die als Täter angesehene Person während der ursprünglichen Ermittlungen über die Mindestverfahrensgarantien für die Ausübung der Verteidigungsrechte verfügt habe. Im vorliegenden Fall habe EP geltend gemacht, seine Rechte, über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe informiert zu werden, zu schweigen und einen Anwalt gestellt zu bekommen, seien verletzt worden. Fraglich sei insbesondere, ob eine solche Regelung mit Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta vereinbar sei.

31

Ferner bedürfe der Klärung, ob das Verfahren gegenüber EP in den Anwendungsbereich der Richtlinien 2012/13, 2013/48 und 2016/343 falle. Wenn ja, könnte das allgemeine Strafverfahrensrecht entsprechend angewandt werden, falls der Gerichtshof zu dem Ergebnis komme, dass das in den Art. 427 ff. der Strafprozessordnung vorgesehene besondere Strafverfahren kein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewährleiste.

32

Unter diesen Umständen hat der Rayonen sad Lukovit (Kreisgericht Lukovit) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Fällt das vorliegende Verfahren zur Anordnung von medizinischen Zwangsmaßnahmen, bei denen es sich um eine Form staatlichen Zwangs gegenüber Personen handelt, die nach den Feststellungen der Staatsanwaltschaft eine für die Allgemeinheit gefährliche Tat begangen haben, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2012/13 und der Richtlinie 2013/48?

2.

Stellen die bulgarischen Verfahrensvorschriften für das besondere Verfahren zur Anordnung medizinischer Zwangsmaßnahmen (Art. 427 ff. der Strafprozessordnung), wonach das Gericht nicht befugt ist, das Verfahren an die Staatsanwaltschaft zurückzuverweisen und ihr aufzugeben, die im Rahmen des vorgerichtlichen Verfahrens begangenen wesentlichen Verfahrensfehler zu beheben, sondern nur dem Antrag auf Anordnung von medizinischen Zwangsmaßnahmen stattgeben oder ihn zurückweisen kann, einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 12 der Richtlinie 2013/48 und Art. 8 der Richtlinie 2012/13 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dar, der gewährleistet, dass der Betroffene etwaige im Rahmen des vorgerichtlichen Verfahrens begangene Verstöße gegen seine Rechte vor Gericht anfechten kann?

3.

Sind die Richtlinie 2012/13 und die Richtlinie 2013/48 auf strafrechtliche (vorgerichtliche) Verfahren anwendbar, wenn das nationale Recht, konkret die Strafprozessordnung, die Rechtsfigur des „Verdächtigen“ nicht kennt und die Staatsanwaltschaft die Person im Rahmen des vorgerichtlichen Verfahrens nicht förmlich als Beschuldigten ansieht, da sie davon ausgeht, dass der Totschlag, der Gegenstand der Ermittlungen ist, von der Person im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen wurde, und daher das Strafverfahren einstellt, ohne die Person davon in Kenntnis zu setzen, und beim Gericht die Anordnung von medizinischen Zwangsmaßnahmen gegenüber der Person beantragt?

4.

Gilt die Person, in Bezug auf die eine medizinische Zwangsbehandlung beantragt wurde, als „verdächtig“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 und Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2013/48, wenn bei der erstmaligen Besichtigung des Tatorts und den anfänglichen Ermittlungsmaßnahmen in der Wohnung des Opfers und ihres Sohnes ein Polizeibeamter, nachdem er Blutspuren am Körper des Sohnes feststellte, diesen fragte, warum er seine Mutter getötet und ihre Leiche auf die Straße gelegt habe, und ihm nach der Beantwortung dieser Fragen Handschellen anlegte? Falls dies bejaht wird, ist die Person bereits zu diesem Zeitpunkt nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 zu belehren, und wie sind die besonderen Bedürfnisse der Person im Sinne von Abs. 2 bei der Belehrung in einem solchen Fall zu berücksichtigen, wenn dem Polizeibeamten bekannt war, dass die Person an einer psychischen Störung leidet?

5.

Sind nationale Regelungen wie die vorliegenden, die faktisch eine Freiheitsentziehung durch Zwangsunterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in einem Verfahren nach dem Gesundheitsgesetz zulassen (vorbeugende Zwangsmaßnahme, die angeordnet wird, wenn bewiesen ist, dass die Person an einer psychischen Erkrankung leidet und die Gefahr der Begehung einer Straftat durch sie besteht, nicht jedoch wegen einer bereits begangenen Tat), mit Art. 3 der Richtlinie 2016/343 vereinbar, sofern der tatsächliche Grund für die Einleitung des Verfahrens die Tat ist, derentwegen ein Strafverfahren gegen die zur Behandlung untergebrachte Person eingeleitet wurde, und wird auf diese Weise das Recht auf ein faires Verfahren bei einer Festnahme umgangen, das den Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 4 der EMRK entsprechen muss, d. h. ein Verfahren sein soll, in dessen Rahmen das Gericht befugt ist, sowohl die Einhaltung der Verfahrensregeln als auch den die Festnahme begründenden Verdacht sowie die Rechtmäßigkeit des mit dieser Maßnahme verfolgten Ziels zu überprüfen, wozu das Gericht verpflichtet ist, wenn die Person nach dem in der Strafprozessordnung vorgesehenen Verfahren festgenommen wurde?

6.

Umfasst der Begriff der Unschuldsvermutung im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2016/343 auch die Vermutung, dass schuldunfähige Personen die Tat, die eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und die ihnen von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird, nicht begangen haben, solange nicht das Gegenteil im Einklang mit den Verfahrensregeln (im Strafverfahren unter Wahrung der Verteidigungsrechte) nachgewiesen wurde?

7.

Gewährleisten nationale Regelungen, die verschiedene Befugnisse des erkennenden Gerichts in Bezug auf die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Rechtmäßigkeit des vorgerichtlichen Verfahrens vorsehen, je nachdem, ob

a)

das Gericht eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft prüft, in der behauptet wird, dass eine bestimmte, psychisch gesunde Person einen Totschlag begangen habe (Art. 249 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 der Strafprozessordnung), oder

b)

das Gericht einen Antrag der Staatsanwaltschaft prüft, in dem behauptet wird, dass die Person einen Totschlag begangen habe, die Tat jedoch wegen der psychischen Störung des Täters keine Straftat darstelle, und die gerichtliche Anordnung staatlichen Zwangs zu Behandlungszwecken begehrt wird,

den schutzbedürftigen Personen einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 in Verbindung mit Art. 12 der Richtlinie 2013/48 und von Art. 8 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13, und sind die verschiedenen Befugnisse des Gerichts, die von der Art des Verfahrens abhängen, die sich wiederum danach richtet, ob die als Täter festgestellte Person angesichts ihres psychischen Gesundheitszustands strafrechtlich verantwortlich ist, mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung in Art. 21 Abs. 1 der Charta vereinbar?

Verfahren vor dem Gerichtshof

33

Das vorlegende Gericht hat beantragt, die Rechtssache dem in Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

34

Am 10. August 2018 hat der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, diesem Antrag nicht stattzugeben.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten, zur dritten und zur vierten Frage

35

Mit seiner ersten, seiner dritten und seiner vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 dahin auszulegen sind, dass sie auf ein gerichtliches Verfahren Anwendung finden, das wie das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Verfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, und, wenn ja, zu welchem Zeitpunkt die betreffende Person über die ihr nach der Richtlinie 2012/13 zustehenden Rechte informiert werden muss.

36

Der gemeinsame Gegenstand der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 besteht darin, Mindestvorschriften in Bezug auf bestimmte Rechte Verdächtiger und beschuldigter Personen im Rahmen von Strafverfahren festzulegen. Die Richtlinie 2012/13 betrifft speziell das Recht auf Rechtsbelehrung, während die Richtlinie 2013/48 dem Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, dem Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und dem Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs gewidmet ist.

37

Ferner geht aus den Erwägungsgründen dieser Richtlinien hervor, dass sie sich dabei insbesondere auf die in den Art. 6, 47 und 48 der Charta genannten Rechte stützen und dazu beitragen sollen, dass diese Rechte bei Verdächtigen oder beschuldigten Personen im Rahmen von Strafverfahren gewahrt werden.

38

Der jeweilige Anwendungsbereich der Richtlinien wird in ihrem Art. 2 nahezu gleichlautend definiert. Aus diesen Bestimmungen geht im Wesentlichen hervor, dass die Richtlinien ab dem Zeitpunkt gelten, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter „die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren“.

39

Es trifft zu, dass weder die Richtlinie 2012/13 noch die Richtlinie 2013/48 ausdrücklich vorsieht, dass zu den von ihnen geregelten Strafverfahren auch Verfahren gehören, die zu einer psychiatrischen Unterbringung führen können, wie sie die Art. 427 ff. der Strafprozessordnung vorsehen.

40

Das Fehlen ausdrücklicher Bestimmungen bedeutet jedoch nicht, dass ein solches Verfahren der psychiatrischen Unterbringung vom Anwendungsbereich der Richtlinien ausgenommen ist, weil es nicht zur „Verurteilung“ zu einer Strafe führt.

41

Insoweit lässt, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in den Nrn. 61 und 62 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 und von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 im Gegenteil den Schluss zu, dass sich der Begriff des Strafverfahrens im Sinne dieser Richtlinien auch auf Verfahren der psychiatrischen Unterbringung erstreckt, die zwar nicht zur „Verurteilung“ zu einer Strafe im engeren Sinne führen, wohl aber zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme, vorausgesetzt, diese Maßnahme wird nicht nur mit therapeutischen Gründen gerechtfertigt, sondern auch mit Sicherheitsgründen, und sie wird gegen Personen verhängt, die eine Straftat begangen haben, deren Geisteszustand bei Begehung dieser Tat es aber rechtfertigt, ihre psychiatrische Unterbringung anzuordnen, statt ihnen eine strafrechtliche Sanktion wie eine Freiheitsstrafe aufzuerlegen.

42

Da der das Recht auf Freiheit und Sicherheit betreffende Art. 6 der Charta Rechte garantiert, die den durch Art. 5 der EMRK, der ebenfalls das Recht auf Freiheit und Sicherheit betrifft, garantierten Rechten entsprechen, ist ihm nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite beizumessen wie Art. 5 der EMRK nach dessen Auslegung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Bei der Auslegung von Art. 6 der Charta ist somit Art. 5 Abs. 1 der EMRK zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2019, TC, C‑492/18 PPU, EU:C:2019:108, Rn. 57).

43

Art. 5 Abs. 1 Buchst. e der EMRK lautet: „Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden: … rechtmäßige Freiheitsentziehung … bei psychisch Kranken …“

44

Diese Bestimmung ist vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dahin ausgelegt worden, dass sie dem Staat die positive Verpflichtung auferlegt, die Freiheit der seiner Gerichtsbarkeit unterstehenden Personen zu schützen. Wäre dies nicht der Fall, bestünde eine beträchtliche Lücke im Schutz vor willkürlicher Inhaftierung, was nicht mit der Bedeutung der persönlichen Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft vereinbar wäre. Der Staat ist daher verpflichtet, Maßnahmen zu treffen, die schutzbedürftigen Personen einen wirksamen Schutz verschaffen (EGMR, 17. Januar 2012, Stanev/Bulgarien, Nr. 36760/06, CE:ECHR:2012:0117JUD003676006, § 120).

45

Daraus ergibt sich, dass freiheitsentziehende Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen zur psychiatrischen oder medizinischen Behandlung unter Art. 5 der EMRK und damit unter Art. 6 der Charta fallen.

46

Folglich können die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 im Licht des durch Art. 6 der Charta garantierten Rechts auf Freiheit und Sicherheit nicht dahin ausgelegt werden, dass von ihrem Anwendungsbereich ein gerichtliches Verfahren ausgenommen ist, das es gestattet, die psychiatrische Unterbringung einer Person anzuordnen, die nach einem vorangegangenen Strafverfahren als Täter einer Straftat eingestuft wurde.

47

Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 die Verpflichtung auferlegt hat, zu gewährleisten, dass die Rechtsbelehrung „entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden“. Im 26. Erwägungsgrund dieser Richtlinie wird ausdrücklich der Fall von Personen erwähnt, die aufgrund ihres geistigen Zustands nicht in der Lage sind, den Inhalt oder die Bedeutung der Belehrung oder Unterrichtung durch die zuständigen Behörden zu verstehen. Psychisch Kranke sind daher als schutzbedürftige Personen im Sinne dieser Bestimmung anzusehen, denn aufgrund schwerer psychischer Störungen besteht bei ihnen die Gefahr, dass sie die ihnen erteilte Rechtsbelehrung nicht verstehen.

48

Desgleichen müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 13 der Richtlinie 2013/48 bei deren Anwendung „die besonderen Bedürfnisse von schutzbedürftigen Verdächtigen und schutzbedürftigen beschuldigten Personen“ berücksichtigen. Auch wenn im 51. Erwägungsgrund dieser Richtlinie von Personen die Rede ist, „die sich in einer potenziell schwachen Position befinden“, und von „etwaige[n] Benachteiligungen, die die Fähigkeit der Personen beeinträchtigen, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand und auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug wahrzunehmen“, ohne ausdrücklich klarzustellen, dass sich die Benachteiligungen aus ihrem geistigen Zustand ergeben können, ist angesichts der Zielsetzung der Richtlinie gleichwohl davon auszugehen, dass auch psychisch Kranke zu den von Art. 13 erfassten schutzbedürftigen Personen gehören.

49

Da die Richtlinie 2012/13 somit auf ein Verfahren wie das in den Art. 427 ff. der Strafprozessordnung vorgesehene Anwendung findet, ist auf die weitere Frage des vorlegenden Gerichts einzugehen, wann ein Verdächtiger gemäß Art. 3 der Richtlinie über seine Rechte belehrt werden muss.

50

Um Wirkung entfalten zu können, muss die Rechtsbelehrung in einem frühen Verfahrensstadium stattfinden. Nach ihrem Art. 2 gilt die Richtlinie „ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind“. Nach Art. 3 der Richtlinie stellen die Mitgliedstaaten sicher, „dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend … über [die] Verfahrensrechte … belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen“.

51

Im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 wird darauf hingewiesen, dass das Recht auf Rechtsbelehrung ab den ersten Verfahrensschritten für die Fairness des Strafverfahrens sorgen und die Wirksamkeit der Verteidigungsrechte gewährleisten soll. Wie aus Rn. 24 des der Richtlinie 2012/13 zugrunde liegenden Richtlinienvorschlags der Kommission vom 20. Juli 2010 (KOM[2010] 392 endgültig) hervorgeht, besteht im Zeitraum unmittelbar nach Beginn des Freiheitsentzugs das größte Risiko dafür, dass missbräuchlich Geständnisse erlangt werden, so dass es „unerlässlich [ist], dass Verdächtige oder Beschuldigte unmittelbar, d. h. ohne Verzögerung nach ihrer Festnahme, und möglichst wirksam … über [ihre Rechte] belehrt werden“.

52

Im Übrigen wird im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 hervorgehoben, dass das Recht auf Rechtsbelehrung „spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei“ umgesetzt werden muss. Ferner heißt es im 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13: „Verdächtige oder beschuldigte Personen sollten bei ihrer Festnahme oder Inhaftierung über die anwendbaren Verfahrensrechte im Wege einer schriftlichen Erklärung der Rechte belehrt werden, die so gut verständlich abgefasst ist, dass sie diesen Personen dabei hilft, ihre Rechte zu verstehen. Eine solche Erklärung der Rechte sollte jeder festgenommenen Person umgehend ausgehändigt werden, wenn ihr durch das Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden im Rahmen eines Strafverfahrens die Freiheit entzogen wird.“

53

Aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich, dass Personen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, ab dem Zeitpunkt, zu dem der gegen sie gerichtete Verdacht es in einem anderen Kontext als dem der Dringlichkeit rechtfertigt, dass die zuständigen Behörden ihre Freiheit durch Zwangsmaßnahmen einschränken, so schnell wie möglich und spätestens vor ihrer ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei über ihre Rechte belehrt werden müssen.

54

In Anbetracht dessen ist auf die erste, die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 dahin auszulegen sind, dass sie auf ein gerichtliches Verfahren Anwendung finden, das wie das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Verfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht. Die Richtlinie 2012/13 ist dahin auszulegen, dass Personen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, ab dem Zeitpunkt, zu dem der gegen sie gerichtete Verdacht es in einem anderen Kontext als dem der Dringlichkeit rechtfertigt, dass die zuständigen Behörden ihre Freiheit durch Zwangsmaßnahmen einschränken, so schnell wie möglich und spätestens vor ihrer ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei über ihre Rechte belehrt werden müssen.

Zur zweiten und zur siebten Frage

55

Mit seiner zweiten und seiner siebten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das durch Art. 47 der Charta sowie durch Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 und durch Art. 12 der Richtlinie 2013/48 garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die ein Verfahren vorsieht, das aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, entgegensteht, weil diese Regelung dem zuständigen Gericht nicht die Prüfung ermöglicht, ob die in diesen Richtlinien genannten Verfahrensrechte in Verfahren beachtet wurden, die dem Verfahren, mit dem das Gericht befasst ist, vorausgingen und die keiner solchen gerichtlichen Kontrolle unterliegen.

56

Erstens ist zur Auslegung der Richtlinie 2012/13 festzustellen, dass ihr Art. 8 Abs. 2 verlangt, dass „Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten“.

57

Angesichts der Bedeutung des durch Art. 47 der Charta geschützten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf sowie des klaren, an keine Bedingungen geknüpften und präzisen Wortlauts von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 steht die letztgenannte Bestimmung jeder nationalen Maßnahme entgegen, die ein Hindernis für die Ausübung wirksamer Rechtsbehelfe im Fall der Verletzung der durch die Richtlinie geschützten Rechte darstellt.

58

Die gleiche Auslegung ist zweitens bei Art. 12 der Richtlinie 2013/48 geboten, wonach „Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren … bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zusteht“.

59

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs obliegen die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das darin vorgesehene Ziel zu erreichen, und ihre Pflicht gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 288 AEUV, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten einschließlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten, der Gerichte (Urteil vom 7. August 2018, Smith, C‑122/17, EU:C:2018:631, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60

Zur Erfüllung dieser Verpflichtung verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung von den nationalen Behörden, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 117, und vom 8. Mai 2019, Praxair MRC, C‑486/18, EU:C:2019:379, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61

Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts unterliegt jedoch bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt des Unionsrechts heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteil vom 7. August 2018, Smith, C‑122/17, EU:C:2018:631, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62

Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu klären, ob es zu einer unionsrechtskonformen Auslegung der nationalen Regelung in der Lage ist. Insoweit genügt die Feststellung, dass das vorlegende Gericht nach den Angaben in der Vorlageentscheidung davon ausgeht, dass es trotz des Fehlens eines Rechtsbehelfs, der bei einem Antrag auf psychiatrische Unterbringung auf der Grundlage der Art. 427 ff. der Strafprozessordnung die Prüfung ermöglicht, ob das diesem Antrag vorangegangene Strafverfahren ordnungsgemäß abgelaufen ist, das allgemeine Strafverfahrensrecht entsprechend anwenden könnte, um eine solche Prüfung vorzunehmen und die Rechte des Betroffenen zu schützen.

63

Folglich sind Art. 47 der Charta sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 und Art. 12 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die ein gerichtliches Verfahren vorsieht, das aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, entgegenstehen, soweit diese Regelung dem zuständigen Gericht nicht die Prüfung ermöglicht, ob die in diesen Richtlinien genannten Verfahrensrechte in Verfahren beachtet wurden, die dem Verfahren, mit dem das Gericht befasst ist, vorausgingen und die keiner solchen gerichtlichen Kontrolle unterliegen.

Zur fünften Frage

64

Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Schutz des Rechts auf Freiheit und Sicherheit im Sinne von Art. 6 der Charta und die in Art. 3 der Richtlinie 2016/343 genannte Unschuldsvermutung dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art. 155 ff. des Gesundheitsgesetzes, wonach die psychiatrische Unterbringung einer Person zulässig ist, wenn sie angesichts ihres Gesundheitszustands eine Gefahr für ihre eigene Gesundheit oder die Gesundheit Dritter darstellt, entgegensteht, soweit diese Regelung dem mit einem solchen Antrag auf Unterbringung befassten Gericht nicht die Prüfung ermöglicht, ob diese Person in einem parallel gegen sie durchgeführten Strafverfahren in den Genuss der Verfahrensgarantien gekommen ist.

65

Wie aus den Art. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 hervorgeht, beschränken sich ihr Gegenstand und ihr Anwendungsbereich ausschließlich auf Strafverfahren.

66

Ein Verfahren zur psychiatrischen Unterbringung einer Person, wie es im vorliegenden Fall die Art. 155 ff. des Gesundheitsgesetzes vorsehen, gehört aber, wenn es unabhängig von einem Strafverfahren durchgeführt wird, aufgrund seiner therapeutischen Zielsetzung nicht zu den in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/343 fallenden Strafverfahren, selbst wenn mit ihm eine Gefahr für die Gesundheit des Betroffenen oder Dritter abgewendet werden soll.

67

Außerdem gibt es in den dem Gerichtshof unterbreiteten Unterlagen keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass ein Verfahren der zwangsweisen psychiatrischen Unterbringung zu therapeutischen Zwecken, wie es durch das Gesundheitsgesetz geschaffen wurde, eine Durchführung des Unionsrechts darstellt, so dass der fragliche Mitgliedstaat bei der Anwendung eines solchen Verfahrens nach Art. 51 Abs. 1 der Charta die durch sie gewährleisteten Grundrechte einhalten müsste.

68

Auf die fünfte Frage ist daher zu antworten, dass die Richtlinie 2016/343 und Art. 51 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass weder die Richtlinie noch diese Bestimmung der Charta auf ein gerichtliches Verfahren der psychiatrischen Unterbringung zu therapeutischen Zwecken, wie es die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art. 155 ff. des Gesundheitsgesetzes vorsehen, Anwendung findet, wenn sich das Verfahren darauf gründet, dass der Betroffene angesichts seines Gesundheitszustands eine Gefahr für seine eigene Gesundheit oder die Gesundheit Dritter darstellen könnte.

Zur sechsten Frage

69

Mit seiner sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der in Art. 3 der Richtlinie 2016/343 aufgestellte Grundsatz der Unschuldsvermutung dahin auszulegen ist, dass er im Rahmen eines Verfahrens, das wie im Ausgangsverfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen zur psychiatrischen Unterbringung von Personen durchgeführt wird, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, verlangt, dass die Staatsanwaltschaft nachweist, dass die Person, deren Unterbringung begehrt wird, die Taten, von denen eine solche Gefahr ausgehen soll, begangen hat.

70

Die Richtlinie 2016/343 trat nach ihrem Art. 15 am 31. März 2016 in Kraft, und nach ihrem Art. 14 Abs. 1 lief die Frist für ihre Umsetzung am 1. April 2018 ab. Sie ist daher in zeitlicher Hinsicht auf das beim vorlegenden Gericht anhängige Verfahren anwendbar.

71

Überdies trifft es zwar zu, dass ein Verfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht dazu dient, die Schuld des Betroffenen zu ermitteln, sondern dazu, über seine zwangsweise psychiatrische Unterbringung zu entscheiden. Da diese freiheitsentziehende Maßnahme jedoch nicht ausschließlich auf therapeutischen Gründen beruht, sondern auch auf Sicherheitsgründen, ist ein solches Verfahren im Einklang mit den obigen Ausführungen zu den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 wegen seiner strafrechtlichen Zielsetzung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/343 einzubeziehen. Die Richtlinie 2016/343 ist somit auf ein Verfahren wie das in den Art. 427 ff. der Strafprozessordnung vorgesehene anwendbar.

72

Nach Art. 3 der Richtlinie 2016/343 stellen die Mitgliedstaaten sicher, „dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde“. Diese Verpflichtung ist von den zuständigen Behörden im Rahmen eines Verfahrens der psychiatrischen Unterbringung wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu beachten. Nach Art. 6 der Richtlinie trägt die Staatsanwaltschaft die Beweislast dafür, dass die gesetzlichen Kriterien für die psychiatrische Unterbringung einer Person erfüllt sind.

73

Ist in einem vorangegangenen Strafverfahren rechtskräftig nachgewiesen worden, dass die betreffende Person im Zustand geistiger Verwirrung eine Straftat begangen hat, verstößt es für sich genommen nicht gegen die in Art. 3 der Richtlinie 2016/343 aufgestellte Unschuldsvermutung, wenn die Staatsanwaltschaft diese Gesichtspunkte zur Stützung ihres Antrags auf psychiatrische Unterbringung anführt.

74

In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens lassen diese Erwägungen jedoch die vom angerufenen Gericht vorzunehmende Prüfung, ob die in den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 aufgeführten Verfahrensrechte während vorangegangener, keiner solchen gerichtlichen Kontrolle unterliegender Verfahren beachtet wurden, unberührt (siehe oben, Rn. 63).

75

Daher ist auf die sechste Frage zu antworten, dass der in Art. 3 der Richtlinie 2016/343 aufgestellte Grundsatz der Unschuldsvermutung dahin auszulegen ist, dass er im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens, das wie im Ausgangsverfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen zur psychiatrischen Unterbringung von Personen durchgeführt wird, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, verlangt, dass die Staatsanwaltschaft nachweist, dass die Person, deren Unterbringung begehrt wird, die Taten, von denen eine solche Gefahr ausgehen soll, begangen hat.

Kosten

76

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren und die Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs sind dahin auszulegen, dass sie auf ein gerichtliches Verfahren Anwendung finden, das wie das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Verfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht. Die Richtlinie 2012/13 ist dahin auszulegen, dass Personen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, ab dem Zeitpunkt, zu dem der gegen sie gerichtete Verdacht es in einem anderen Kontext als dem der Dringlichkeit rechtfertigt, dass die zuständigen Behörden ihre Freiheit durch Zwangsmaßnahmen einschränken, so schnell wie möglich und spätestens vor ihrer ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei über ihre Rechte belehrt werden müssen.

 

2.

Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 und Art. 12 der Richtlinie 2013/48 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die ein gerichtliches Verfahren vorsieht, das aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, entgegenstehen, soweit diese Regelung dem zuständigen Gericht nicht die Prüfung ermöglicht, ob die in diesen Richtlinien genannten Verfahrensrechte in Verfahren beachtet wurden, die dem Verfahren, mit dem das Gericht befasst ist, vorausgingen und die keiner solchen gerichtlichen Kontrolle unterliegen.

 

3.

Die Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren und Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte sind dahin auszulegen, dass weder die Richtlinie noch diese Bestimmung der Charta der Grundrechte auf ein gerichtliches Verfahren der psychiatrischen Unterbringung zu therapeutischen Zwecken, wie es die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art. 155 ff. des Zakon za zdraveto (Gesundheitsgesetz) vorsehen, Anwendung findet, wenn sich das Verfahren darauf gründet, dass der Betroffene angesichts seines Gesundheitszustands eine Gefahr für seine eigene Gesundheit oder die Gesundheit Dritter darstellen könnte.

 

4.

Der in Art. 3 der Richtlinie 2016/343 aufgestellte Grundsatz der Unschuldsvermutung ist dahin auszulegen, dass er im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens, das wie im Ausgangsverfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen zur psychiatrischen Unterbringung von Personen durchgeführt wird, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, verlangt, dass die Staatsanwaltschaft nachweist, dass die Person, deren Unterbringung begehrt wird, die Taten, von denen eine solche Gefahr ausgehen soll, begangen hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.