Rechtssache C‑307/18

Generics (UK) Ltd u. a.

gegen

Competition and Markets Authority

(Vorabentscheidungsersuchen des Competition Appeal Tribunal)

Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 30. Januar 2020

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Pharmazeutische Erzeugnisse – Schranken für den Eintritt in den Generikamarkt, die durch Vereinbarungen zur gütlichen Beilegung von Rechtsstreitigkeiten über Verfahrenspatente errichtet werden, die der Hersteller des Originalpräparats und Inhaber der Verfahrenspatente mit Generikaherstellern schließt – Art. 101 AEUV – Potenzieller Wettbewerb – Bezweckte Beschränkung – Einstufung – Bewirkte Beschränkung – Beurteilung der Auswirkungen – Art. 102 AEUV – Relevanter Markt – Einbeziehung der Generika in den relevanten Markt – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Einstufung – Rechtfertigungsgründe“

  1. Kartelle – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Beurteilungskriterien – Einstufung eines Unternehmens als potenzieller Wettbewerber – Konkrete, tatsächlich bestehende Möglichkeiten, in den Markt einzutreten – Kriterien – Unternehmen, das fest entschlossen ist, in den relevanten Markt einzutreten, und hierzu aus eigener Kraft in der Lage ist – Fehlen unüberwindlicher Schranken – Beurteilung – Bestehen eines Verfahrenspatents

    (Art. 101 Abs. 1 AEUV)

    (vgl. Rn. 36-39, 43-46, 48-53, Tenor 1)

  2. Wettbewerb – Regeln der Union – Sachlicher Anwendungsbereich – Vereinbarungen zur gütlichen Beilegung von Patentrechtsstreitigkeiten – Einbeziehung

    (Art. 101 Abs. 1 AEUV)

    (vgl. Rn. 46-53, 79-86, 96, 97)

  3. Kartelle – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Beurteilungskriterien – Unterscheidung zwischen bezweckten und bewirkten Beschränkungen – Bezweckte Beschränkung – Hinreichende Beeinträchtigung – Beurteilung

    (Art. 101 Abs. 1 AEUV)

    (vgl. Rn. 64, 65, 67-70, 76-102)

  4. Kartelle – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Vereinbarungen zur gütlichen Beilegung von Patentrechtsstreitigkeiten – Vereinbarung zwischen dem Hersteller des Originalpräparats und einem Generikahersteller – Vereinbarung mit einer für die Patente geltenden Nichtangriffsklausel sowie einer Klausel über den Verzicht auf einen unabhängigen Markteintritt – Wertübertragungen als Gegenleistung – Einstufung als bezweckte Beschränkung – Kriterien – Beurteilung der Anreizwirkung der Wertübertragungen für einen Verzicht auf den Markteintritt

    (Art. 101 Abs. 1 AEUV)

    (vgl. Rn. 77-102, Tenor 2)

  5. Kartelle – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Beurteilungskriterien – Unterscheidung zwischen bezweckten und bewirkten Beschränkungen – Bezweckte Beschränkung – Hinreichende Beeinträchtigung – Beurteilung – Erforderlichkeit der Berücksichtigung wettbewerbsfördernder Auswirkungen, soweit diese erwiesen, relevant und allein auf die betreffende Vereinbarung zurückzuführen sind – Vereinbarkeit mit dem Fehlen einer „rule of reason“ im Wettbewerbsrecht der Union

    (Art. 101 Abs. 1 AEUV)

    (vgl. Rn. 103-110)

  6. Kartelle – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Beurteilungskriterien – Unterscheidung zwischen bezweckten und bewirkten Beschränkungen – Bewirkte Beschränkung – Prüfung der Wettbewerbssituation bei Wegdenken der streitigen Vereinbarung – Wahrscheinlichkeit, dass der Generikahersteller, mit dem die Vereinbarung geschlossen wurde, im Patentrechtsstreit obsiegt oder eine den Wettbewerb weniger einschränkende Vereinbarung geschlossen hätte – Unbeachtlich

    (Art. 101 Abs. 1 AEUV)

    (vgl. Rn. 116-121, Tenor 3)

  7. Beherrschende Stellung – Relevanter Markt – Abgrenzung – Kriterien – Austauschbarkeit – Generikum, das denselben Wirkstoff wie das Originalpräparat enthält – Beurteilung

    (Art. 102 AEUV)

    (vgl. Rn. 127-139, Tenor 4)

  8. Beherrschende Stellung – Missbrauch – Begriff – Eignung, den Wettbewerb zu beschränken, und Verdrängungswirkung – Abschluss einer ganzen Reihe von Vereinbarungen zur gütlichen Beilegung von Patentrechtsstreitigkeiten – Beurteilung

    (Art. 102 AEUV)

    (vgl. Rn. 145-171, Tenor 5)

  9. Beherrschende Stellung – Missbrauch – Eignung, den Wettbewerb zu beschränken, und Verdrängungswirkung – Rechtfertigung des Verhaltens durch wettbewerbsfördernde Auswirkungen – Voraussetzungen

    (Art. 102 AEUV)

    (vgl. Rn. 165-171)

Zusammenfassung

Der Gerichtshof stellt klar, unter welchen Voraussetzungen eine Vereinbarung zur gütlichen Beilegung eines Rechtsstreits zwischen dem Inhaber eines Arzneimittelpatents und einem Generikahersteller gegen das EU-Wettbewerbsrecht verstößt

In dem Urteil Generics (UK) u. a. (C‑307/18), das am 30. Januar 2020 verkündet wurde, hat der Gerichtshof klargestellt, unter welchen Voraussetzungen Vereinbarungen zur gütlichen Beilegung von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Inhaber von Arzneimittelpatenten und Generikaherstellern unter das Verbot von Verhaltensweisen und Vereinbarungen, die eine Einschränkung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken (Art. 101 AEUV), bzw. unter das Verbot der missbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) fallen.

Das vom Competition Appeal Tribunal (Gericht für Wettbewerbssachen, Vereinigtes Königreich) beim Gerichtshof eingereichte Vorabentscheidungsersuchen betraf die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung über Vereinbarungen zur gütlichen Beilegung von Patentrechtsstreitigkeiten, die die Competition and Markets Authority (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Vereinigtes Königreich) gegen verschiedene Generikahersteller und den Pharmakonzern GlaxoSmithKline (im Folgenden: GSK) erlassen hatte (im Folgenden: angefochtene Entscheidung). GSK war Inhaberin eines Patents für den Wirkstoff des Antidepressivums Paroxetin sowie von Sekundärpatenten für bestimmte Verfahren zur Herstellung dieses Wirkstoffs. Als das Primärpatent 1999 auslief, erwogen mehrere Generikahersteller, mit generischem Paroxetin in den Markt des Vereinigten Königreichs einzutreten. Vor diesem Hintergrund erhob GSK gegen die Generikahersteller Klagen wegen Verletzung ihrer Patente. Diese wiederum fochten eines der Sekundärpatente von GSK an. Die Rechtsstreitigkeiten wurden schließlich durch Vereinbarungen, die GSK mit den betreffenden Generikaherstellern schloss, gütlich beigelegt. Die Generikahersteller erklärten sich gegen Zahlungen von GSK bereit, für einen bestimmten Zeitraum darauf zu verzichten, mit eigenen Generika in den Markt einzutreten (im Folgenden: streitige Vereinbarungen). Mit der angefochtenen Entscheidung stellte die Competition and Markets Authority fest, dass die streitigen Vereinbarungen gegen das Kartellverbot verstießen und dass GSK mit den Vereinbarungen auch ihre beherrschende Stellung auf dem relevanten Markt missbraucht habe, weshalb gegen die beteiligten Unternehmen Geldbußen verhängt wurden.

Der Gerichtshof hat zunächst darauf hingewiesen, dass eine Vereinbarung zwischen Unternehmen nur dann unter das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt, wenn sie den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts spürbar einschränkt, was voraussetzt, dass die betreffenden Unternehmen zumindest potenzielle Wettbewerber sind. Bei einem Generikahersteller, der zum Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarung noch nicht in den Markt eingetreten war, muss hierzu nachgewiesen werden, dass für ihn tatsächlich konkrete Möglichkeiten bestanden, in den Markt einzutreten. Insoweit ist im Einzelfall zu prüfen, ob der betreffende Generikahersteller in Anbetracht der von ihm getroffenen Vorbereitungsmaßnahmen fest entschlossen war, in den Markt einzutreten, und hierzu auch aus eigener Kraft in der Lage war, und ob unüberwindliche Marktzutrittsschranken bestanden. Patente stellen, da sie angefochten werden können, für sich genommen keine unüberwindlichen Marktzutrittsschranken dar.

Zum Begriff der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Einstufung als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung die Feststellung voraussetzt, dass die streitigen Vereinbarungen den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigen. Maßgeblich sind insoweit neben dem Inhalt der Vereinbarungen die mit ihnen verfolgten Ziele sowie der wirtschaftliche und der rechtliche Zusammenhang, in dem sie stehen. Da bei Arzneimitteln der Verkaufspreis nach dem Markteintritt von Generika erheblich sinkt, ist nach Auffassung des Gerichtshofs davon auszugehen, dass Vereinbarungen wie die streitigen den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigen, wenn sich die vorgesehenen Wertübertragungen in Anbetracht ihres Umfangs nur mit dem geschäftlichen Interesse der Vertragsparteien an der Vermeidung von Leistungswettbewerb erklären lassen und sie somit für die Generikahersteller einen Anreiz darstellen, auf den Eintritt in den betreffenden Markt zu verzichten. Bei der Einstufung als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung sind, sofern sie erwiesen sind, auch wettbewerbsfördernde Auswirkungen der fraglichen Vereinbarungen zu berücksichtigen, jedoch allein im Rahmen der Prüfung der Frage, ob die betreffende Vereinbarung den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigt. Es ist Sache des nationalen Gerichts, im Einzelfall zu prüfen, ob die festgestellten wettbewerbsfördernden Auswirkungen ausreichen, um begründete Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass die betreffende Vereinbarung den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigt.

Zu der Frage, ob Vereinbarungen zur gütlichen Beilegung eines Rechtsstreits wie die streitigen Vereinbarungen als bewirkte Wettbewerbsbeschränkung eingestuft werden können, hat der Gerichtshof entschieden, dass, um festzustellen, ob die Vereinbarung potenzielle oder tatsächliche Auswirkungen auf den Wettbewerb hatte, zu prüfen ist, wie sich der Markt ohne die Absprachen wahrscheinlich verhalten hätte und welche Struktur er dann gehabt hätte, ohne dass ermittelt zu werden braucht, wie wahrscheinlich es war, dass der Generikahersteller obsiegt oder einen den Wettbewerb weniger einschränkenden Vergleich schließt.

Zu den Fragen betreffend den Begriff des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung hat der Gerichtshof als Erstes festgestellt, dass bei einem Arzneimittel, dessen Herstellungsverfahren nach wie vor durch ein Patent geschützt sind, auch Generika in den Produktmarkt einzubeziehen sind, sofern die betreffenden Generikahersteller nachweislich in der Lage sind, mit hinreichender Stärke in den Markt einzutreten, um ein ernst zu nehmendes Gegengewicht zu dem bereits auf dem Markt vertretenen Originalpräparatehersteller bilden zu können. Als Zweites hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Feststellung des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung einen Eingriff in die Wettbewerbsstruktur des Marktes voraussetzt, der über die spezifischen Auswirkungen der einzelnen durch Art. 101 AEUV verbotenen Vereinbarungen hinausgeht. Da diese auch in ihrer Gesamtheit wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen haben können, kann ihr Abschluss, soweit er Teil einer entsprechenden Gesamtstrategie ist, auf dem Markt eine erhebliche abschottende Wirkung haben, indem den Verbrauchern die Vorteile des Markteintritts potenzieller Wettbewerber, die ihr eigenes Arzneimittel herstellen, vorenthalten werden und der Markt mithin unmittelbar oder mittelbar dem Hersteller des Originalpräparats vorbehalten wird. Schließlich hat der Gerichtshof als Drittes darauf hingewiesen, dass ein solches Verhalten gerechtfertigt sein kann, wenn das Unternehmen nachweist, dass dessen wettbewerbswidrige Auswirkungen durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen werden, die auch dem Verbraucher zugutekommen. Bei der entsprechenden Abwägung sind die wettbewerbsfördernden Auswirkungen des betreffenden Verhaltens ohne Rücksicht auf die mit diesem verfolgten Ziele zu berücksichtigen.