URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

16. Oktober 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 167 und 168 – Recht auf Vorsteuerabzug – Verweigerung – Betrug – Beweisführung – Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte – Recht auf Anhörung – Akteneinsicht – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Effektive gerichtliche Kontrolle – Grundsatz der Waffengleichheit – Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens – Nationale Regelung oder Praxis, wonach die Steuerverwaltung bei der Prüfung des von einem Steuerpflichtigen geltend gemachten Rechts auf Vorsteuerabzug an die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren vorgenommen hat, an denen der betreffende Steuerpflichtige nicht beteiligt war“

In der Rechtssache C‑189/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn) mit Entscheidung vom 14. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 13. März 2018, in dem Verfahren

Glencore Agriculture Hungary Kft.

gegen

Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter), E. Juhász, M. Ilešič und C. Lycourgos,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. März 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Glencore Agriculture Hungary Kft., vertreten durch Z. Várszegi, D. Kelemen und B. Balog, ügyvédek,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós, als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Havas und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Juni 2019

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), sowie die Auslegung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte und von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Glencore Agriculture Hungary Kft. (im Folgenden: Glencore) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Steuerverwaltung) über zwei Bescheide, mit denen u. a. Mehrwertsteuerzahlungen für die Steuerjahre 2010 und 2011 angeordnet wurden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

4

Art. 168 dieser Richtlinie sieht vor:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)

die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

…“

Ungarisches Recht

5

§ 119 Abs. 1 des Általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény (Gesetz Nr. CXXVII aus dem Jahr 2007 über die allgemeine Umsatzsteuer) bestimmt:

„Soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist, entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Festsetzung der geschuldeten Steuer in Höhe der Vorsteuer (§ 120).“

6

In § 120 dieses Gesetzes heißt es:

„Soweit der Steuerpflichtige – in dieser Eigenschaft – Gegenstände oder Dienstleistungen zur steuerpflichtigen Lieferung von Gegenständen bzw. zur steuerpflichtigen Erbringung von Dienstleistungen verwendet oder auf andere Weise verwertet, ist er berechtigt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer die Steuer abzuziehen,

a)

die ein anderer Steuerpflichtiger – einschließlich der Personen oder Einrichtungen, die der vereinfachten Unternehmensteuer unterliegen – im Zusammenhang mit dem Erwerb von Gegenständen oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen an ihn weitergegeben hat;

…“

7

§ 1 Abs. 3a des Adózás rendjéről szóló 2003. évi XCII. törvény (Gesetz Nr. XCII aus dem Jahr 2003 über die Ordnung der Besteuerung; im Folgenden: Besteuerungsordnung) bestimmt:

„Im Rahmen einer Prüfung der Parteien des steuerpflichtigen Rechtsverhältnisses (Vertrag, Geschäft) darf die Steuerbehörde ein und dasselbe Rechtsverhältnis, das von der Prüfung betroffen ist und das bereits eingestuft worden ist, nicht bei jedem Steuerpflichtigen unterschiedlich einstufen und muss die bei einer der Parteien dieses Rechtsverhältnisses getroffenen Feststellungen bei der Prüfung der anderen Partei dieses Rechtsverhältnisses von Amts wegen anwenden.“

8

Nach § 12 Abs. 1 und 3 der Besteuerungsordnung hat jeder Steuerpflichtige sowie jede nach § 35 Abs. 2 und 7 zur Zahlung der Steuer verpflichtete Person das Recht, von den Besteuerungsunterlagen Kenntnis zu nehmen. Er kann jedes für die Ausübung seiner Rechte oder die Erfüllung seiner Verpflichtungen erforderliche Dokument einsehen oder eine Kopie davon anfertigen oder verlangen. Der Steuerpflichtige darf jedoch u. a. ein Dokument insoweit nicht einsehen, als es Informationen über eine andere Person enthält und seine Offenlegung gegen eine Bestimmung über das Steuergeheimnis verstoßen würde.

9

§ 97 Abs. 4 und 5 der Besteuerungsordnung sieht vor:

„(4)   Bei einer Prüfung muss die Steuerbehörde den Sachverhalt ermitteln und beweisen, es sei denn, das Gesetz erlegt dem Steuerpflichtigen die Beweislast auf.

(5)   Beweismittel und Beweise sind insbesondere … Feststellungen angeordneter konnexer Prüfungen …“

10

In § 100 Abs. 4 der Besteuerungsordnung heißt es:

„Stützt die Steuerbehörde die Feststellungen einer Prüfung auf die Ergebnisse einer konnexen Prüfung, die bei einem anderen Steuerpflichtigen durchgeführt wurde, oder auf bei dieser Gelegenheit erhobene Daten und Beweise, wird der Steuerpflichtige detailliert über den ihn betreffenden Teil des diesbezüglichen Protokolls und der betreffenden Entscheidung sowie der Daten und Beweise, die bei der konnexen Prüfung erhoben wurden, in Kenntnis gesetzt.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11

Glencore ist ein in Ungarn ansässiges Unternehmen, das hauptsächlich im Großhandel mit Getreide, Ölsaaten und Futtermitteln sowie Rohstoffen tätig ist.

12

Im Anschluss an Prüfungen aller Steuern und Subventionen für die Steuerjahre 2010 und 2011 mit Ausnahme der Mehrwertsteuer für die Monate September und Oktober 2011 sowie eine Mehrwertsteuerprüfung für Oktober 2011 erließ die Steuerverwaltung zwei Bescheide. Mit dem ersten wurde Glencore zur Zahlung von Mehrwertsteuer in Höhe von 1951418000 ungarischen Forint (HUF) (etwa 6000000 Euro) verpflichtet und ihr eine Geldbuße sowie ein Säumniszuschlag auferlegt; mit dem zweiten wurde Glencore zur Begleichung einer Mehrwertsteuerdifferenz in Höhe von 130171000 HUF (etwa 400000 Euro) verpflichtet.

13

In diesen Bescheiden vertrat die Steuerverwaltung die Ansicht, dass Glencore die Mehrwertsteuer unrechtmäßig abgezogen habe, da sie gewusst habe oder hätte wissen müssen, dass die von ihr mit ihren Lieferanten getätigten Umsätze in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen gewesen seien. Die Steuerverwaltung stützte sich auf die bei den Lieferanten gewonnenen Erkenntnisse und wertete hierbei den Mehrwertsteuerbetrug als erwiesene Tatsache.

14

Nach erfolglosem Einspruch gegen diese beiden Bescheide erhob Glencore beim vorlegenden Gericht, dem Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn), Anfechtungsklage.

15

Glencore begründet diese Klage u. a. damit, dass die Steuerverwaltung das in Art. 47 der Charta garantierte Recht auf ein faires Verfahren und die sich aus diesem Recht ergebenden Anforderungen verkannt und insbesondere gegen den Grundsatz der Waffengleichheit verstoßen habe. Darüber hinaus habe die Steuerverwaltung in zweifacher Hinsicht gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verstoßen. Zum einen habe nur die Steuerverwaltung Zugang zu der gesamten Akte über ein Strafverfahren gegen Lieferanten gehabt, an dem Glencore nicht beteiligt gewesen sei und in dem Glencore daher auch keinerlei Rechte habe geltend machen können, und auf diese Weise seien Beweise zusammengetragen und gegen sie verwendet worden. Zum anderen habe die Steuerverwaltung Glencore weder die Akte über die bei diesen Lieferanten durchgeführten Prüfungen, insbesondere die Unterlagen, auf denen die Feststellungen gestützt würden, noch ihr Protokoll oder die von ihr erlassenen Entscheidungen zur Verfügung gestellt und Glencore lediglich einen Teil davon übermittelt, den sie nach ihren eigenen Kriterien ausgewählt habe.

16

Die Steuerverwaltung ist der Ansicht, Glencore könne zwar in einem Steuerverfahren, das einen anderen Steuerpflichtigen betreffe, nicht über die Rechte verfügen, die sich an die Beteiligteneigenschaft knüpften; gleichwohl seien aber die Verteidigungsrechte nicht verletzt worden, da Glencore im Rahmen des sie betreffenden Verfahrens die aus konnexen Verfahren stammenden Schriftstücke und Erklärungen, die zu ihrer Akte genommen worden seien, habe einsehen und ihre Beweiskraft habe bestreiten können, indem sie von ihrem Recht auf Einlegung eines Rechtsmittels Gebrauch mache.

17

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Recht auf Vorsteuerabzug ein fundamentaler Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems sei und grundsätzlich nicht verweigert werden dürfe, wenn die erforderlichen materiellen Voraussetzungen erfüllt seien. Die im Ausgangsverfahren angewandte Praxis der Steuerverwaltung, die sich insbesondere auf eine Auslegung von § 1 Abs. 3a der Besteuerungsordnung stütze, wonach die Steuerverwaltung an die Feststellungen gebunden sei, die in den Entscheidungen enthalten seien, die von ihr infolge der bei den Lieferanten des Steuerpflichtigen durchgeführten Kontrollen erlassen worden und bestandskräftig geworden seien, sei jedoch darauf hinausgelaufen, dass Glencore dieses Abzugsrecht verweigert worden sei.

18

§ 1 Abs. 3a der Besteuerungsordnung bezwecke, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, und schreibe zu diesem Zweck vor, dass ein und derselbe Umsatz dieselben Feststellungen nach sich ziehen müsse. Es stelle sich jedoch die Frage, ob dieser Zweck eine Praxis wie die im Ausgangsverfahren streitige rechtfertige, wonach sich die Steuerverwaltung von der ihr obliegenden Beweislast befreie, indem sie automatisch die Feststellungen aus einem früheren Verfahren berücksichtige, in dem der Steuerpflichtige nicht den Status eines Beteiligten gehabt habe, daher die an diesen Status geknüpften Rechte nicht habe ausüben können und von den zum Abschluss des früheren Verfahrens erlassenen und bestandskräftig gewordenen Entscheidungen erst im Rahmen der ihn betreffenden Prüfungen Kenntnis erlangt habe.

19

Diese Entscheidungen und die Unterlagen, auf die sie sich stützen, seien Glencore nur teilweise übermittelt worden, da die Steuerverwaltung in ihrem Protokoll lediglich die einzelnen Feststellungen angegeben habe, die in diesen Entscheidungen enthalten seien, die Entscheidungen selbst jedoch ebenso wenig vorgelegt habe wie die Unterlagen, auf denen sie beruhten.

20

Dem vorlegenden Gericht stellt sich die Frage, ob eine solche Praxis in Anbetracht der Grenzen, die für die von ihm vorzunehmende gerichtliche Kontrolle gälten, mit dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und dem in Art. 47 der Charta verankerten Recht auf ein faires Verfahren vereinbar sei, da es nicht befugt sei, die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen zu überprüfen, die aufgrund von Prüfungen ergangen seien, die andere Steuerpflichtige betroffen hätten. Insbesondere sei es nicht befugt, zu überprüfen, ob die Beweise, auf denen diese Entscheidungen beruhten, rechtmäßig erlangt worden seien. Unter Bezugnahme auf das Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832), wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob die Anforderungen an ein faires Verfahren erfordern, dass das Gericht, bei dem eine Klage gegen einen Nacherhebungsbescheid der Steuerverwaltung anhängig ist, befugt ist, zu kontrollieren, ob die aus einem konnexen Verwaltungsverfahren stammenden Beweise im Einklang mit den unionsrechtlich garantierten Rechten erlangt wurden und ob die auf ihnen beruhenden Feststellungen diese Rechte nicht verletzen.

21

Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und in Verbindung mit ihnen der fundamentale Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung und einer darauf beruhenden nationalen Praxis entgegenstehen, wonach die Feststellungen, die im Rahmen einer die Steuerpflicht betreffenden Prüfung der Parteien eines Rechtsverhältnisses (Vertrag, Geschäft) in einem Verfahren getroffen wurden, das bei einer der Parteien dieses Rechtsverhältnisses (im Ausgangsverfahren dem Rechnungsaussteller) durchgeführt wurde, und die eine Neueinstufung des Rechtsverhältnisses beinhalten, bei der Prüfung der anderen Partei des Rechtsverhältnisses (im Ausgangsverfahren des Rechnungsempfängers) von der Steuerbehörde von Amts wegen zu berücksichtigen sind, obschon die andere Partei des Rechtsverhältnisses im ursprünglichen Prüfverfahren über keine Rechte, insbesondere über keine Beteiligtenrechte, verfügte?

2.

Stehen in dem Fall, dass die erste Vorlagefrage verneint wird, die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und in Verbindung mit ihnen der fundamentale Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte einer nationalen Praxis entgegen, die ein Verfahren wie das in der ersten Frage beschriebene zulässt, obschon die andere Partei des Rechtsverhältnisses (der Rechnungsempfänger) im ursprünglichen Prüfverfahren über keine Beteiligtenrechte verfügte und somit auch keinen Rechtsbehelf im Rahmen dieses Prüfverfahrens einlegen konnte, dessen Feststellungen von der Steuerbehörde in dem die Steuerpflicht der anderen Partei betreffenden Prüfverfahren von Amts wegen berücksichtigt werden und dieser zur Last gelegt werden können, wobei die Steuerbehörde der anderen Partei die maßgeblichen Schriftstücke der Prüfung, die bei der ersten Partei des Rechtsverhältnisses durchgeführt wurde, insbesondere die diesen Feststellungen zugrunde liegenden Beweise, Protokolle und Verwaltungsentscheidungen nicht zur Verfügung stellt, sondern der anderen Partei nur einen Teil davon in Form eines Auszugs und auch diesen nur mittelbar zur Kenntnis bringt, indem sie eine Auswahl nach ihren eigenen, von der anderen Partei nicht überprüfbaren Kriterien trifft?

3.

Sind die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und in Verbindung mit ihnen der fundamentale Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Praxis entgegenstehen, wonach die Feststellungen, die im Rahmen einer die Steuerpflicht betreffenden Prüfung der Parteien eines Rechtsverhältnisses in einem Verfahren getroffen wurden, das beim Rechnungsaussteller durchgeführt wurde, und die auch die Feststellung beinhalten, dass das betreffende Rechtssubjekt (der Rechnungsaussteller) aktiv an einem Mehrwertsteuerbetrug beteiligt gewesen ist, von der Steuerbehörde bei der Prüfung des Rechnungsempfängers von Amts wegen berücksichtigt werden, obschon der Rechnungsempfänger in dem beim Rechnungsaussteller durchgeführten Prüfverfahren über keine Beteiligtenrechte verfügte und somit auch keinen Rechtsbehelf im Rahmen dieses Prüfverfahrens einlegen konnte, dessen Feststellungen von der Steuerbehörde in dem die Steuerpflicht des Rechnungsempfängers betreffenden Prüfverfahren von Amts wegen berücksichtigt werden und diesem zur Last gelegt werden können, wobei die Steuerbehörde dem Rechnungsempfänger überdies die maßgeblichen Schriftstücke der Prüfung, die beim Rechnungsaussteller durchgeführt wurde, insbesondere die diesen Feststellungen zugrunde liegenden Beweise, Protokolle und Verwaltungsentscheidungen, nicht zur Verfügung stellt, sondern dem Rechnungsempfänger nur einen Teil davon in Form eines Auszugs und auch diesen nur mittelbar zur Kenntnis bringt, indem sie eine Auswahl nach ihren eigenen, von dem anderen Steuerpflichtigen nicht überprüfbaren Kriterien trifft?

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

22

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Glencore im Anschluss an die bei ihr und ihren Lieferanten durchgeführten Steuerprüfungen das Recht auf Vorsteuerabzug verweigert und sie daher zu Mehrwertsteuernachzahlungen verpflichtet wurde. Die Steuerverwaltung stützte diese Weigerung u. a. gemäß § 1 Abs. 3a der Besteuerungsordnung auf die Feststellungen, die in den gegen die genannten Lieferanten durchgeführten Verfahren getroffen wurden, an denen Glencore folglich nicht beteiligt war und die zu bestandskräftigen Entscheidungen geführt haben, denen zufolge diese Lieferanten Steuerbetrug begangen haben.

23

Da im Vorabentscheidungsersuchen ein Strafverfahren und ein vorhergehendes Steuerverwaltungsverfahren sowie Verwaltungsentscheidungen erwähnt werden, die die Lieferanten von Glencore betrafen, hat der Gerichtshof das vorlegende Gericht nach Art. 101 seiner Verfahrensordnung um Klarstellungen zu dem oder den in Rede stehenden Strafverfahren sowie um Mitteilung ersucht, ob sie durch rechtskräftig gewordene strafgerichtliche Entscheidungen abgeschlossen worden sind. Auf dieses Ersuchen hin hat das vorlegende Gericht mitgeteilt, dass es keine Informationen darüber habe, ob die Strafverfahren gegen die Lieferanten von Glencore durch ein Sachurteil abgeschlossen worden seien, und vier bestandskräftige Entscheidungen der Steuerverwaltung übermittelt, die einige dieser Lieferanten betrafen.

24

In der mündlichen Verhandlung haben Glencore und die ungarische Regierung darauf hingewiesen, dass zwei Strafverfahren wegen des in Rede stehenden Betrugs noch anhängig gewesen seien, als die Steuerverwaltung die Unterlagen dieser Verfahren eingesehen und die beiden von Glencore im Ausgangsverfahren angefochtenen Verwaltungsentscheidungen erlassen habe. Diese Strafverfahren waren daher noch nicht durch eine strafgerichtliche Sachentscheidung abgeschlossen. Demzufolge wirft der vorliegende Fall keine Fragen hinsichtlich der Rechtskraftwirkung auf.

25

In Anbetracht dieser Klarstellungen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, wissen möchte, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie, der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung oder Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach die Steuerverwaltung bei der Überprüfung des von einem Steuerpflichtigen ausgeübten Rechts auf Vorsteuerabzug an die Tatsachenfeststellungen und die rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie bereits im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren gegen Lieferanten des betreffenden Steuerpflichtigen vorgenommen hat und auf die bestandskräftige Entscheidungen gestützt sind, in denen das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs durch diese Lieferanten festgestellt wird.

26

Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist die Steuerverwaltung der Ansicht, dass sie der Umstand, an die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen gebunden zu sein, die in den betreffenden bestandskräftig gewordenen Entscheidungen enthalten seien, davon freistelle, in dem den Steuerpflichtigen betreffenden Verfahren erneut Beweise für den Betrug beibringen zu müssen. In diesem Zusammenhang wirft das vorlegende Gericht insbesondere die Frage auf, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte einer Praxis der Steuerverwaltung entgegenstehen, bei der – wie im Ausgangsverfahren – dem betreffenden Steuerpflichtigen kein Zugang zu den Akten der konnexen Verfahren gewährt wird, insbesondere nicht zu allen Unterlagen, auf denen die Tatsachenfeststellungen beruhen, zu den erstellten Protokollen und den ergangenen Entscheidungen, und ihm lediglich mittelbar ein Teil dieser Anhaltspunkte übermittelt wird, den die Steuerverwaltung nach ihren eigenen, vom Steuerpflichtigen in keiner Weise überprüfbaren Kriterien ausgewählt hat.

27

Hierzu ist in der mündlichen Verhandlung ausgeführt worden, dass sich die Steuerverwaltung zum Nachweis dafür, dass Glencore in diesen Betrug einbezogen gewesen sei, auf Beweise gestützt habe, die im Rahmen der anhängigen Strafverfahren, der Verwaltungsverfahren gegen die Lieferanten von Glencore und des Verwaltungsverfahrens gegen Glencore zusammengetragen worden seien.

28

Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass es nicht befugt sei, die Rechtmäßigkeit früherer Entscheidungen, die nach bei anderen Steuerpflichtigen durchgeführten Prüfungen erlassen worden seien, zu prüfen, insbesondere nicht dazu, zu überprüfen, ob die Beweise, auf denen diese Entscheidungen beruhten, rechtmäßig erlangt worden seien, und wirft daher unter Hinweis auf das Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832), auch die Frage auf, ob die Anforderungen an ein faires Verfahren es erfordern, dass das Gericht, bei dem eine Klage gegen die Entscheidung der Steuerverwaltung über eine Nacherhebung von Mehrwertsteuer anhängig ist, befugt ist, zu überprüfen, ob die aus einem konnexen Verwaltungsverfahren stammenden Beweise im Einklang mit den unionsrechtlich garantierten Rechten erlangt wurden und ob die auf ihnen beruhenden Feststellungen diese Rechte nicht verletzen.

29

Soweit die ungarische Regierung in ihren schriftlichen und mündlichen Erklärungen die nationalen Vorschriften ausgelegt und die Praxis der Steuerverwaltung erläutert hat, sowohl was die Beweiserhebung als auch was den Umfang der Akteneinsicht und die Reichweite der gerichtlichen Kontrolle betrifft, und dabei von der Darstellung des vorlegenden Gerichts abweicht, ist zu beachten, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Systems der justiziellen Zusammenarbeit die Richtigkeit der Auslegung des nationalen Rechts durch das nationale Gericht zu überprüfen oder in Frage zu stellen, da diese Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit dieses Gerichts fällt. Der Gerichtshof hat daher, wenn ihm ein nationales Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegt, von der Auslegung des nationalen Rechts auszugehen, die ihm dieses Gericht vorgetragen hat (Urteil vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Es ist auch nicht Sache des Gerichtshofs, sondern des nationalen Gerichts, die dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Tatsachen festzustellen und daraus die Schlussfolgerungen für die von ihm zu erlassende Entscheidung zu ziehen. Der Gerichtshof hat somit im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten den Sachverhalt und die Rechtslage zu berücksichtigen, in die sich die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen einfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2018, Scotch Whisky Association, C‑44/17, EU:C:2018:415, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Darüber hinaus ist es auch nicht Sache des Gerichtshofs, die Vereinbarkeit innerstaatlicher Rechtsnormen mit dem Unionsrecht zu beurteilen oder nationale Rechtsvorschriften auszulegen (Urteile vom 1. März 2012, Ascafor und Asidac, C‑484/10, EU:C:2012:113, Rn. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 6. Oktober 2015, Consorci Sanitari del Maresme, C‑203/14, EU:C:2015:664, Rn. 43). Der Gerichtshof ist jedoch befugt, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (Urteile vom 1. März 2012, Ascafor und Asidac, C‑484/10, EU:C:2012:113, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 26. Juli 2017, Europa Way und Persidera, C‑560/15, EU:C:2017:593, Rn. 35).

32

In Anbetracht dieser Vorbemerkungen sind die Anforderungen, die sich in einer Rechtssache wie dem Ausgangsverfahren aus der Mehrwertsteuerrichtlinie, dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und Art. 47 der Charta für die Beweiserhebung, den Umfang des Akteneinsichtsrechts des Steuerpflichtigen und die Reichweite der gerichtlichen Kontrolle ergeben, einzeln nacheinander zu prüfen.

Zur Beweiserhebung unter Berücksichtigung der Mehrwertsteuerrichtlinie und des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte

33

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein Grundprinzip des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, ist das in den Art. 167 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie geregelte Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden (Urteile vom 6. Dezember 2012, Bonik, C‑285/11, EU:C:2012:774, Rn. 25 und 26, vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C‑101/16, EU:C:2017:775, Rn. 35 und 36, sowie vom 21. März 2018, Volkswagen, C‑533/16, EU:C:2018:204, Rn. 37 und 39).

34

Allerdings ist die Bekämpfung von Betrug, Steuerhinterziehung und etwaigen Missbräuchen ein Ziel, das mit der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird, und der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist. Daher haben die nationalen Behörden und Gerichte das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Dezember 2012, Bonik, C‑285/11, EU:C:2012:774, Rn. 35 bis 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 28. Juli 2016, Astone, C‑332/15, EU:C:2016:614, Rn. 50).

35

Dies ist nicht nur der Fall, wenn der Steuerpflichtige selbst einen Betrug begeht, sondern auch, wenn ein Steuerpflichtiger wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen war. Das Recht auf Vorsteuerabzug kann dem Steuerpflichtigen daher nur unter der Voraussetzung versagt werden, dass aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass dieser Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit dem Erwerb dieser Gegenstände oder der Inanspruchnahme dieser Dienstleistungen an einem Umsatz beteiligt hat, der in eine vom Lieferer bzw. Leistenden oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Liefer- oder Leistungskette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Dezember 2012, Bonik, C‑285/11, EU:C:2012:774, Rn. 38 bis 40, sowie vom 13. Februar 2014, Maks Pen, C‑18/13, EU:C:2014:69, Rn. 27 und 28).

36

Da die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts eine Ausnahme vom Grundprinzip ist, das dieses Recht darstellt, obliegt es folglich den Steuerbehörden, die objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in einen solchen Betrug einbezogen war, rechtlich hinreichend nachzuweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Februar 2014, Maks Pen, C‑18/13, EU:C:2014:69, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Da das Unionsrecht keine Regeln über die Modalitäten der Beweiserhebung beim Mehrwertsteuerbetrug vorsieht, müssen die betreffenden objektiven Umstände von der Steuerverwaltung gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts ermittelt werden. Diese Regeln dürfen jedoch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen und müssen die durch das Unionsrecht, insbesondere die Charta garantierten Rechte beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 65 bis 67).

38

Somit und unter diesen Bedingungen hat der Gerichtshof in Rn. 68 seines Urteils vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832) entschieden, dass das Unionsrecht dem nicht entgegensteht, dass die Steuerbehörde im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens zur Feststellung des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis im Bereich der Mehrwertsteuer Beweise verwenden darf, die im Rahmen eines parallel gegen den Steuerpflichtigen geführten, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens erlangt wurden. Wie der Generalanwalt in Nr. 39 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, gilt diese Wertung auch dann, wenn zur Feststellung des Vorliegens eines Mehrwertsteuerbetrugs Beweismittel verwendet werden, die im Rahmen nicht abgeschlossener Strafverfahren, die nicht gegen den Steuerpflichtigen geführt werden, oder während konnexer Verwaltungsverfahren, an denen der Steuerpflichtige – wie im Ausgangsverfahren – nicht beteiligt war, erlangt wurden.

39

Zu den unionsrechtlich garantierten Rechten gehört die Wahrung der Verteidigungsrechte, die nach ständiger Rechtsprechung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen. Nach diesem Grundsatz müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung sich zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen. Diese Verpflichtung besteht für die Verwaltungen der Mitgliedstaaten, wenn sie Maßnahmen treffen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch dann, wenn die anwendbaren Unionsvorschriften ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsehen (Urteile vom 18. Dezember 2008, Sopropé, C‑349/07, EU:C:2008:746, Rn. 36 bis 38, und vom 22. Oktober 2013, Sabou, C‑276/12, EU:C:2013:678, Rn. 38).

40

Dieser allgemeine Grundsatz ist somit in Situationen wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anzuwenden, in denen ein Mitgliedstaat einen Steuerpflichtigen einer Steuerprüfung unterzieht, um seine sich aus der Anwendung des Unionsrechts ergebende Verpflichtung zu erfüllen, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 27).

41

Integraler Bestandteil der Verteidigungsrechte ist das Recht auf Anhörung, das jeder Person die Möglichkeit garantiert, im Verwaltungsverfahren, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll die Regel, wonach der Adressat einer beschwerenden Entscheidung Gelegenheit erhalten muss, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor die Entscheidung getroffen wird, der zuständigen Behörde erlauben, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen. Zur Gewährleistung eines wirksamen Schutzes der betroffenen Person soll diese Regel der betroffenen Person insbesondere ermöglichen, einen Fehler zu berichtigen oder ihre persönliche Situation betreffende maßgebliche Umstände vorzutragen, die für oder gegen den Erlass oder für oder gegen einen bestimmten Inhalt der Entscheidung sprechen (Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 46 und 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Das Recht auf Anhörung beinhaltet auch, dass die Verwaltung mit aller gebotenen Sorgfalt die entsprechenden Erklärungen der betroffenen Person zur Kenntnis nimmt, indem sie sorgfältig und unparteiisch alle maßgeblichen Gesichtspunkte des Einzelfalls untersucht und ihre Entscheidung eingehend begründet. Die Pflicht, eine Entscheidung so hinreichend spezifisch und konkret zu begründen, dass es dem Betroffenen ermöglicht wird, die Gründe für die Ablehnung seines Antrags zu verstehen, ergibt sich somit aus dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte (Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Allerdings ist der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht schrankenlos gewährleistet, sondern kann Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt werden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte vorliegt, ist zudem anhand der besonderen Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen, insbesondere anhand der Natur des betreffenden Rechtsakts, des Kontexts, in dem er erlassen wurde, sowie der Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45

Ferner gehört auch die Rechtssicherheit zu den im Unionsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. So hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, dass die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten ist, zur Rechtssicherheit beiträgt und das Unionsrecht nicht verlangt, dass eine Behörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz, C‑453/00, EU:C:2004:17‚ Rn. 24, vom 12. Februar 2008, Kempter, C‑2/06, EU:C:2008:78‚ Rn. 37, und vom 4. Oktober 2012, Byankov, C‑249/11, EU:C:2012:608‚ Rn. 76).

46

Eine Regel wie die in § 1 Abs. 3a der Besteuerungsordnung vorgesehene, nach der die Steuerverwaltung – dem vorlegenden Gericht zufolge – an die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren vorgenommen hat, die gegen die Lieferanten des Steuerpflichtigen eingeleitet wurden und an denen der Steuerpflichtige daher nicht beteiligt war, ist allem Anschein nach geeignet – wie die ungarische Regierung geltend gemacht und der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausgeführt hat –, die Rechtssicherheit und die Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen zu gewährleisten, da sie die Verwaltung zu Kohärenz verpflichtet, weil sie denselben Sachverhalt rechtlich identisch werten muss. Das Unionsrecht steht daher der Anwendung einer solchen Regel nicht grundsätzlich entgegen.

47

Dies gilt jedoch dann nicht, wenn die Steuerverwaltung aufgrund dieser Regel und wegen der Bestandskraft der am Ende dieser konnexen Verwaltungsverfahren getroffenen Entscheidungen davon freigestellt wird, dem Steuerpflichtigen die Beweise einschließlich der aus diesen Verfahren stammenden Beweise zur Kenntnis zu bringen, auf deren Grundlage sie den Erlass einer Entscheidung beabsichtigt, und dem Steuerpflichtigen somit das Recht genommen wird, die betreffenden Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen in dem ihn betreffenden Verfahren wirksam in Frage zu stellen.

48

Zum einen steht nämlich die Anwendung einer solchen Regel, die darauf hinausläuft, einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung, mit der das Vorliegen eines Betrugs festgestellt wird, gegenüber einem Steuerpflichtigen, der an dem zu dieser Feststellung führenden Verfahren nicht beteiligt war, Geltung zu verleihen, im Widerspruch zu der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten Pflicht der Steuerverwaltung, diejenigen objektiven Umstände rechtlich hinreichend nachzuweisen, die den Schluss erlauben, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der Umsatz, mit dem das Recht auf Steuerabzug begründet wird, in einen Betrug einbezogen war, da diese Pflicht beinhaltet, dass die Steuerverwaltung in dem Verfahren gegen den Steuerpflichtigen den Beweis für das Vorliegen des Betrugs erbringt, bei dem ihm eine passive Beteiligung zur Last gelegt wird.

49

Zum anderen vermag der Grundsatz der Rechtssicherheit im Rahmen eines Steuerprüfungsverfahrens wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden eine derartige Einschränkung der Verteidigungsrechte, deren Inhalt in den Rn. 39 bis 41 des vorliegenden Urteils dargestellt wird, nicht zu rechtfertigen. Diese Einschränkung stellt in Anbetracht des verfolgten Zwecks einen unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff dar, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet. Sie nimmt nämlich dem Steuerpflichtigen, dem die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug verweigert werden soll, die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren, bevor ihm gegenüber eine für seine Interessen nachteilige Entscheidung ergeht, seinen Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung sich zu stützen beabsichtigt, sachdienlich und wirksam vorzutragen. Sie beeinträchtigt die Möglichkeit, dass die zuständige Behörde in die Lage versetzt wird, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen, und dass die betroffene Person gegebenenfalls einen Fehler berichtigt. Sie stellt schließlich die Verwaltung von ihrer Pflicht frei, mit aller gebotenen Sorgfalt die Erklärungen der betroffenen Person zur Kenntnis zu nehmen, indem sie sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls untersucht und ihre Entscheidung eingehend begründet.

50

Folglich stehen die Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte einer solchen Regel zwar nicht grundsätzlich entgegen, doch gilt dies unter dem Vorbehalt, dass ihre Anwendung die Steuerverwaltung nicht davon freistellt, dem Steuerpflichtigen die Beweise einschließlich der aus konnexen Verfahren gegen seine Lieferanten stammenden Beweise zur Kenntnis zu bringen, auf deren Grundlage sie den Erlass einer Entscheidung beabsichtigt, und dem Steuerpflichtigen somit nicht das Recht genommen wird, die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen, die die Steuerverwaltung in diesen konnexen Verfahren vorgenommen hat, in dem ihn betreffenden Verfahren wirksam in Frage zu stellen.

Zum Umfang des Akteneinsichtsrechts des Steuerpflichtigen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte

51

Die in den Rn. 39 bis 41 des vorliegenden Urteils dargestellte Anforderung, dass der Adressat einer Entscheidung seinen Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung diese zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vortragen können muss, setzt voraus, dass er in die Lage versetzt wird, von diesen Gesichtspunkten Kenntnis zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 31). Aus dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte folgt somit logisch das Recht auf Akteneinsicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 68).

52

Da der Adressat einer beschwerenden Entscheidung in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor diese getroffen wird, um u. a. der zuständigen Behörde zu erlauben, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen, und ihm gegebenenfalls zu ermöglichen, einen Fehler zu berichtigen oder seine persönliche Situation betreffende maßgebliche Gesichtspunkte vorzutragen, muss die Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren gewährt werden. Daher wird ein im Verwaltungsverfahren begangener Verstoß gegen das Recht auf Akteneinsicht nicht durch den bloßen Umstand geheilt, dass die Akteneinsicht im Gerichtsverfahren über eine Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung ermöglicht worden ist (vgl. entsprechend Urteile vom 8. Juli 1999, Hercules Chemicals/Kommission, C‑51/92 P, EU:C:1999:357, Rn. 78, vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 318, sowie vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 104).

53

Daraus folgt, dass der Steuerpflichtige in einem Steuerverwaltungsverfahren wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einsicht in den gesamten Akteninhalt nehmen können muss, auf den die Steuerverwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt. Beabsichtigt die Steuerverwaltung, ihre Entscheidung auf Beweise zu stützen, die sie – wie im Ausgangsverfahren – im Rahmen von Strafverfahren und konnexen Verwaltungsverfahren gegen die Lieferanten des Steuerpflichtigen erlangt hat, so muss diesem Zugang zu diesen Beweisen ermöglicht werden.

54

Zudem muss dem Steuerpflichtigen, wie der Generalanwalt in den Nrn. 59 und 60 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Zugang zu denjenigen Dokumenten ermöglicht werden, die nicht unmittelbar dazu dienen, die Entscheidung der Steuerverwaltung zu stützen, aber für die Ausübung der Verteidigungsrechte zweckdienlich sein können, insbesondere entlastende Gesichtspunkte, die die Steuerverwaltung möglicherweise zusammengetragen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2018, UBS Europe u. a., C‑358/16, EU:C:2018:715‚ Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55

Da allerdings, wie in Rn. 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte nicht schrankenlos gewährleistet wird, sondern Beschränkungen unterworfen werden kann, ist zu bemerken, dass solche im nationalen Recht vorgesehenen Beschränkungen u. a. den gebotenen Schutz der Vertraulichkeit oder von Geschäftsgeheimnissen bezwecken können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 36) und auch, wie die ungarische Regierung vorgetragen hat, den Schutz des Privatlebens Dritter, deren personenbezogener Daten oder der Wirksamkeit der Strafverfolgung, die durch den Zugang zu bestimmten Informationen und Dokumenten beeinträchtigt werden könnten.

56

Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte erlegt der Steuerverwaltung in einem Verwaltungsverfahren wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden somit keine allgemeine Verpflichtung auf, vollständigen Zugang zu der in ihrer Verfügungsgewalt befindlichen Akte zu gewähren, sondern erfordert, dass es dem Steuerpflichtigen möglich sein muss, auf Antrag Zugang zu den Informationen und Dokumenten zu erhalten, die in der Verwaltungsakte enthalten sind und die von der Behörde für den Erlass ihrer Entscheidung berücksichtigt werden, es sei denn, eine Beschränkung des Zugangs zu diesen Informationen und Dokumenten ist durch dem Gemeinwohl dienende Ziele gerechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 32 und 39). Letzterenfalls muss die Steuerverwaltung, wie der Generalanwalt in Nr. 64 seiner Schlussanträge dargelegt hat, prüfen, ob ein teilweiser Zugang möglich ist.

57

Demzufolge erfordert der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, wenn die Steuerverwaltung beabsichtigt, ihre Entscheidung auf Beweise zu stützen, die sie – wie im Ausgangsverfahren – im Rahmen von Strafverfahren und konnexen Verwaltungsverfahren gegen die Lieferanten des Steuerpflichtigen erlangt hat, dass der Steuerpflichtige in dem ihn betreffenden Verfahren zu all diesen Beweisen und zu den Beweisen, die für seine Verteidigung nützlich sein können, Zugang erhalten kann, es sei denn, eine Beschränkung dieses Zugangs ist durch dem Gemeinwohl dienende Ziele gerechtfertigt.

58

Eine Praxis der Steuerverwaltung, wonach dem betreffenden Steuerpflichtigen kein Zugang zu diesen Beweisen, insbesondere kein Zugang zu den Unterlagen, auf die sich die getroffenen Feststellungen stützen, zu den erstellten Protokollen und zu den aufgrund der konnexen Verwaltungsverfahren erlassenen Entscheidungen gewährt und ihm lediglich mittelbar in Form einer Zusammenfassung nur ein Teil dieser Beweise mitgeteilt wird, die die Steuerverwaltung nach ihren eigenen, vom Steuerpflichtigen in keiner Weise überprüfbaren Kriterien ausgewählt hat, erfüllt diese Anforderung nicht.

Zur Reichweite der gerichtlichen Überprüfung unter Berücksichtigung von Art. 47 der Charta

59

Zu der vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Frage, ob die Anforderungen an ein faires Verfahren es verlangen, dass das Gericht, bei dem die Klage gegen einen Mehrwertsteuernacherhebungsbescheid der Steuerverwaltung anhängig ist, befugt ist, zu überprüfen, ob die aus einem konnexen Verwaltungsverfahren stammenden Beweise im Einklang mit den unionsrechtlich garantierten Rechten erlangt wurden und ob die darauf beruhenden Feststellungen diese Rechte nicht verletzen, ist darauf hinzuweisen, dass die von der Charta garantierten Rechte in einer solchen Situation Geltung beanspruchen, da eine Mehrwertsteuernacherhebung im Anschluss an die Feststellung eines Betrugs wie die im Ausgangsverfahren streitige eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105‚ Rn. 19 und 27, sowie vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C‑419/14, EU:C:2015:832‚ Rn. 67).

60

Nach Art. 47 der Charta hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Jede Person hat u. a. ein Recht darauf, dass ihre Sache in einem fairen Verfahren verhandelt wird.

61

Da der Grundsatz der Waffengleichheit, der integraler Bestandteil des in Art. 47 der Charta verankerten Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte ist, ebenso wie etwa der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens eine logische Folge des Begriffs des fairen Verfahrens als solchem ist, gebietet er, dass es jeder Partei angemessen ermöglicht wird, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 2014, Sánchez Morcillo und Abril García, C‑169/14, EU:C:2014:2099‚ Rn. 49, und vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373‚ Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62

Dieser Grundsatz dient der Wahrung des prozeduralen Gleichgewichts zwischen den Parteien eines Gerichtsverfahrens, indem er ihnen gleiche Rechte und Pflichten gewährleistet, insbesondere hinsichtlich der Regeln der Beweisführung und der streitigen Verhandlung vor Gericht sowie ihrer Rechtsbehelfe (Urteil vom 28. Juli 2016, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑543/14, EU:C:2016:605, Rn. 41). Für die Erfüllung der Anforderungen im Zusammenhang mit dem Recht auf ein faires Verfahren kommt es darauf an, dass die Beteiligten sowohl die tatsächlichen als auch die rechtlichen Umstände kennen, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind (Urteil vom 2. Dezember 2009, Kommission/Irland u. a., C‑89/08 P, EU:C:2009:742, Rn. 56).

63

In Rn. 87 des Urteils vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832), auf das das vorlegende Gericht Bezug nimmt, hat der Gerichtshof – in einer Rechtssache, in der es um Beweise, die im Rahmen eines noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens ohne Wissen des Steuerpflichtigen durch eine möglicherweise gegen Art. 7 der Charta verstoßende Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und Beschlagnahme von E‑Mails erlangt worden waren, und ihre Verwendung im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens ging – entschieden, dass die Wirksamkeit der durch Art. 47 der Charta garantierten gerichtlichen Nachprüfung erfordert, dass das Gericht, das die Rechtmäßigkeit einer das Unionsrecht durchführenden Entscheidung nachprüft, prüfen kann, ob die Beweise, auf die diese Entscheidung gestützt wird, nicht unter Verletzung der durch das Unionsrecht, insbesondere die Charta, garantierten Rechte erlangt wurden.

64

Der Gerichtshof hat in Rn. 88 dieses Urteils ausgeführt, dass dieses Erfordernis dann erfüllt ist, wenn das mit einer Klage gegen den Mehrwertsteuernacherhebungsbescheid der Steuerverwaltung befasste Gericht befugt ist, nachzuprüfen, ob die fraglichen Beweise, auf die der Bescheid gestützt wird, in dem betreffenden Strafverfahren im Einklang mit den durch das Unionsrecht garantierten Rechten erlangt wurden, oder sich zumindest aufgrund einer von einem Strafgericht im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens bereits vorgenommenen Nachprüfung vergewissern kann, dass die Beweise im Einklang mit dem Unionsrecht erlangt wurden.

65

Die Wirksamkeit der in Art. 47 der Charta garantierten gerichtlichen Überprüfung erfordert ebenso, dass das mit einer Klage gegen den Mehrwertsteuernacherhebungsbescheid der Steuerverwaltung befasste Gericht befugt ist, zu überprüfen, ob die Beweise, die im Rahmen eines konnexen Verwaltungsverfahrens, an dem der Steuerpflichtige nicht beteiligt war, gesammelt wurden und die zur Begründung dieser Entscheidung verwendet wurden, nicht unter Verletzung der durch das Unionsrecht und speziell die Charta garantierten Rechte erlangt worden sind. Dies gilt auch dann, wenn diese Beweise – wie im Ausgangsverfahren – Verwaltungsentscheidungen zugrunde lagen, die gegenüber anderen Steuerpflichtigen ergangen und bestandskräftig geworden sind.

66

Insoweit ist hervorzuheben, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 74 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Erklärungen und Feststellungen der Verwaltungsbehörden für die Gerichte nicht bindend sein können.

67

Generell muss das angerufene Gericht im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens die Rechtmäßigkeit der Erlangung und Verwendung von Beweisen, die im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren gegen andere Steuerpflichtige zusammengetragen wurden, sowie die Feststellungen, die in den am Ende dieses Verfahrens erlassenen Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, überprüfen können, wenn sie für den Erfolg der Klage ausschlaggebend sind. Denn es bestünde keine Waffengleichheit mehr und der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens würde missachtet, wenn die Steuerverwaltung aus dem Grund, dass sie an gegenüber anderen Steuerpflichtigen getroffene bestandskräftige Entscheidungen gebunden ist, nicht verpflichtet wäre, diese Beweise dem Gericht vorzulegen, wenn der Steuerpflichtige keine Kenntnis von ihnen erlangen könnte, die Parteien nicht sowohl über diese Beweise als auch über die getroffenen Feststellungen kontradiktorisch verhandeln könnten und das angerufene Gericht nicht in der Lage wäre, alle tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zu überprüfen, auf denen diese Entscheidungen gestützt sind und die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits ausschlaggebend sind.

68

Ist das angerufene Gericht nicht befugt, eine solche Überprüfung vorzunehmen, und ist folglich das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf nicht wirksam, so müssen die Beweise, die im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren erlangt wurden, und die Feststellungen, die in den am Ende dieser Verfahren gegen andere Steuerpflichtige erlassenen Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, außer Betracht bleiben, und der angefochtene Bescheid, der sich auf diese Beweise und diese Feststellungen gründet, ist aufzuheben, falls er deswegen keine Grundlage hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 89).

69

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie, der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung oder Praxis, wonach die Steuerverwaltung bei der Überprüfung des von einem Steuerpflichtigen ausgeübten Rechts auf Vorsteuerabzug an die Tatsachenfeststellungen und die rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie bereits im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren gegen Lieferanten des betreffenden Steuerpflichtigen vorgenommen hat und auf die bestandskräftige Entscheidungen gestützt sind, in denen das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs durch diese Lieferanten festgestellt wird, grundsätzlich nicht entgegenstehen; dies gilt unter dem Vorbehalt, dass erstens die Steuerverwaltung durch diese Regelung oder Praxis nicht davon freigestellt wird, dem Steuerpflichtigen die Beweise einschließlich der aus diesen konnexen Verwaltungsverfahren stammenden Beweise zur Kenntnis zu bringen, auf deren Grundlage sie den Erlass einer Entscheidung beabsichtigt, und dem Steuerpflichtigen somit nicht das Recht genommen wird, diese Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen in dem ihn betreffenden Verfahren wirksam in Frage zu stellen, zweitens der betreffende Steuerpflichtige in diesem Verfahren Zugang zu allen in diesen konnexen Verwaltungsverfahren oder in jedem sonstigen Verfahren zusammengetragenen Beweisen erhalten kann, auf die die Steuerverwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt oder die für die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte zweckdienlich sein können, es sei denn, eine Beschränkung dieses Zugangs ist durch dem Gemeinwohl dienende Ziele gerechtfertigt, und drittens das mit einer Klage gegen die betreffende Entscheidung befasste Gericht die Rechtmäßigkeit der Erlangung und Verwendung dieser Beweise sowie die Feststellungen, die in den gegenüber den Lieferanten des Steuerpflichtigen ergangenen Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, überprüfen kann, wenn sie für den Erfolg der Klage ausschlaggebend sind.

Kosten

70

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung oder Praxis, wonach die Steuerverwaltung bei der Überprüfung des von einem Steuerpflichtigen ausgeübten Rechts auf Vorsteuerabzug an die Tatsachenfeststellungen und die rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie bereits im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren gegen Lieferanten des betreffenden Steuerpflichtigen vorgenommen hat und auf die bestandskräftige Entscheidungen gestützt sind, in denen das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs durch diese Lieferanten festgestellt wird, grundsätzlich nicht entgegenstehen; dies gilt unter dem Vorbehalt, dass erstens die Steuerverwaltung durch diese Regelung oder Praxis nicht davon freigestellt wird, dem Steuerpflichtigen die Beweise einschließlich der aus diesen konnexen Verwaltungsverfahren stammenden Beweise zur Kenntnis zu bringen, auf deren Grundlage sie den Erlass einer Entscheidung beabsichtigt, und dem Steuerpflichtigen somit nicht das Recht genommen wird, diese Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen in dem ihn betreffenden Verfahren wirksam in Frage zu stellen, zweitens der betreffende Steuerpflichtige während dieses Verfahrens zu allen in diesen konnexen Verfahren zusammengetragenen Beweisen, auf die die Steuerverwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt oder die für die Ausübung der Verteidigungsrechte nützlich sein können, Zugang erhalten kann, es sei denn, eine Beschränkung dieses Zugangs ist durch dem Gemeinwohl dienende Ziele gerechtfertigt, und drittens das mit einer Klage gegen die betreffende Entscheidung befasste Gericht die Rechtmäßigkeit der Erlangung und Verwendung dieser Beweise sowie die Feststellungen, die in den gegenüber den Lieferanten des Steuerpflichtigen ergangenen Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, überprüfen kann, wenn sie für den Erfolg der Klage ausschlaggebend sind.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.