SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 11. Juli 2019 ( 1 )

Verbundene Rechtssachen C‑469/18 und C‑470/18

IN (C‑469/18),

JM (C‑470/18)

gegen

Belgische Staat

(Vorabentscheidungsersuchen des Hof van Cassatie [Kassationshof, Belgien])

„Vorabentscheidungsersuchen – Besteuerung – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Gerichtliche Überprüfung eines Steuerbescheids – Zuständigkeit des Gerichtshofs im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung – Verwertung eines angeblich unter Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens erlangten Beweismittels durch die Steuerverwaltung – Verpflichtung des Richters, diese Beweismittel außer Acht zu lassen“

I. Einleitung

1.

Führt ein Mitgliedstaat das Recht der Union durch, wenn seine Steuerbehörden ein Beweismittel für einen Einkommensteuerbescheid verwenden, das die Ermittlungsbehörden nach der Aufdeckung eines Mehrwertsteuer-Karussells erlangt haben? Oder anders gefragt, führt ein Verstoß gegen Unionsgrundrechte bei der Beweiserhebung zu einem Beweisverwertungsverbot im Rahmen einer Einkommensteuerfestsetzung? Das sind im Kern die Fragen, mit denen sich der Gerichtshof anhand zweier Vorabentscheidungsersuchen des belgischen Kassationshofs zu befassen hat.

2.

Hintergrund sind strafrechtliche Ermittlungen, in deren Rahmen Luxemburg ein Beweismittel unter Missachtung eines in einem völkerrechtlichen Abkommen vorgesehenen Richtervorbehalts an Belgien herausgab. Dieses Beweismittel fand jedenfalls für die Einkommensteuerbescheide Verwendung. Nur gegen diese wenden sich die Kassationsbeschwerdeführer in den Ausgangsverfahren (im Folgenden: Kassationsbeschwerdeführer).

3.

In Frage steht damit die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) – hier Art. 47 der Charta – im Rahmen einer Einkommensteuerfestsetzung. Diese Frage geht über das viel diskutierte ( 2 ) Urteil Åkerberg Fransson aus 2013 ( 3 ) hinaus. Dort hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Strafverfahren wegen Mehrwertsteuerbetrugs eine „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta ist. Nunmehr ist zu prüfen, ob auch die Festsetzung einer Ertragsteuer eine Durchführung des Unionsrechts ist, wenn ein Beweismittel verwendet wird, das in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erlangt wurde, das durch den Verdacht eines Mehrwertsteuerbetrugs ausgelöst wurde.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Völkerrecht

4.

Zwischen dem Königreich Belgien, dem Großherzogtum Luxemburg und dem Königreich der Niederlande besteht das am 27. Juni 1962 in Brüssel unterzeichnete Übereinkommen über die Auslieferung und Rechtshilfe in Strafsachen (im Folgenden: Benelux-Übereinkommen).

5.

Art. 20 Abs. 1 und 2 des Benelux-Übereinkommens lautet:

„(1)

Auf Ersuchen der ersuchenden Partei beschlagnahmt die ersuchte Partei, sofern dies nach innerstaatlichem Recht zulässig ist, Gegenstände, die

a)

als Beweismittel dienen können,

b)

durch die Straftat erlangt und vor oder nach der Übergabe der verhafteten Person gefunden wurden, und gibt sie heraus.

(2)

Die Herausgabe darf nur mit Genehmigung der Ratskammer des erstinstanzlichen Gerichts erfolgen, in dessen Bezirk die Durchsuchung und die Beschlagnahme stattgefunden haben. Die Ratskammer entscheidet, ob die beschlagnahmten Gegenstände ganz oder teilweise an die ersuchende Partei herausgegeben werden. Sie kann die Rückgabe von Gegenständen anordnen, die nicht unmittelbar mit der Tat, die der verdächtigen Person zur Last gelegt wird, in Beziehung stehen, und entscheidet gegebenenfalls über Einwendungen Dritter, die den Gegenstand in Besitz hatten, oder sonstiger Berechtigter.“

6.

Art. 24 Abs. 2 des Benelux-Übereinkommens bestimmt:

„Rechtshilfeersuchen, die auf eine Durchsuchung oder eine Beschlagnahme gerichtet sind, werden jedoch nur bei Taten, die auf der Grundlage dieses Übereinkommens zu einer Auslieferung führen können, und vorbehaltlich des Art. 20 Abs. 2 erledigt.“

B.   Belgisches Recht

7.

Das belgische Steuerrecht sieht kein absolutes Beweisverwertungsverbot für rechtswidrig erlangte Beweismittel vor. Der Kassationshof hat allerdings eine als sogenannter Steuer-Antigoon bezeichnete Rechtsprechung entwickelt. Nach dem Steuer-Antigoon ist die Verwendung rechtswidrig erlangter Beweise in Steuersachen nur dann unzulässig, wenn die betreffenden Beweisunterlagen in einer Art und Weise erlangt worden sind, wonach die Verwendung unter allen Umständen als unzulässig angesehen werden muss, oder wenn die Verwendung das Recht des Steuerpflichtigen auf ein faires Verfahren beeinträchtigt. Dies hat das Gericht im Rahmen einer Gesamtabwägung zu beurteilen.

III. Sachverhalt und Ausgangsverfahren

8.

Die Kassationsbeschwerdeführer sind Geschäftsführer von Handels- und Vertriebsunternehmen für Computer und Computerzubehör in Belgien.

9.

Die Bijzondere Belastinginspectie (belgische Sondersteuerinspektion) nahm 1995 Ermittlungen im Zusammenhang mit Mehrwertsteuer-Karussellbetrug gegen die Unternehmen der Kassationsbeschwerdeführer auf. Auf Anzeige der belgischen Sondersteuerinspektion wurden 1996 außerdem strafrechtliche Ermittlungen gegen diese eingeleitet. Ob sich diese Ermittlungen auf die Hinterziehung der Mehrwertsteuer oder der Einkommensteuer bezogen, geht aus den Vorabentscheidungsersuchen nicht eindeutig hervor.

10.

Im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen richteten die belgischen Strafverfolgungsbehörden ein Rechtshilfeersuchen an das Großherzogtum Luxemburg, das zu der Beschlagnahme von Bankunterlagen bei einer luxemburgischen Bank am 15. Juli 1998 führte. Bei der Beschlagnahme war neben einem luxemburgischen Untersuchungsrichter auch ein belgischer Richter anwesend.

11.

Die luxemburgischen Behörden gaben die so erlangten Unterlagen an die belgischen Strafverfolgungsbehörden heraus, ohne dass die in Art. 20 Abs. 2 des Benelux-Übereinkommens vorgesehene Genehmigung eines luxemburgischen Gerichts beantragt, geschweige denn erteilt worden wäre.

12.

Die belgischen Strafverfolgungsbehörden gewährten den belgischen Steuerbehörden Akteneinsicht in die Strafakte. Auf Grundlage der so erlangten Informationen übersandten die belgischen Steuerbehörden den Kassationsbeschwerdeführern in den Jahren 1999 und 2000 Bescheide zur Berichtigung der Erklärung zur Steuer der natürlichen Personen für die Steuerjahre 1997 und 1998. Die Behörden besteuerten die Beträge, die auf ein luxemburgisches Konto der Kassationsbeschwerdeführer überwiesen worden waren, als Bruttogewinne aus gewerblichen und kommerziellen Tätigkeiten.

13.

Auf die gegen diese Bescheide eingelegten Rechtsbehelfe ließ das erstinstanzliche belgische Finanzgericht den Kassationsbeschwerdeführern einen überwiegenden Teil der zusätzlichen Veranlagungen zur Steuer der natürlichen Personen nach.

14.

Auf die Berufung des Kassationsbeschwerdegegners in den Ausgangsverfahren hob das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil auf, soweit damit ein Nachlass für die Veranlagungen zur Steuer der natürlichen Personen gewährt worden war. Nach seiner Ansicht liegen die Voraussetzungen eines Beweisverwertungsverbots nach dem belgischen Steuer-Antigoon nicht vor. Gegen dieses Urteil haben die Kassationsbeschwerdeführer eine Kassationsbeschwerde beim Kassationshof eingelegt.

IV. Vorabentscheidungsersuchen und Verfahren vor dem Gerichtshof

15.

Mit Beschlüssen vom 28. Juni 2018 hat der Kassationshof dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass er in Bezug auf die Mehrwertsteuer unter allen Umständen der Verwendung von Beweismitteln, die unter Verletzung des durch Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens erlangt wurden, entgegensteht, oder lässt er eine nationale Regelung zu, nach der das Gericht, das entscheiden muss, ob ein solches Beweismittel als Grundlage für eine Mehrwertsteuerfestsetzung verwendet werden darf, eine Abwägung, wie in Rn. 4 der Vorlageentscheidung beschrieben (siehe oben, Nr. 7), vorzunehmen hat?

16.

Der Präsident des Gerichtshofs hat am 6. September 2018 entschieden, die Rechtssachen C‑469/18 und C‑470/18 zum gemeinsamen schriftlichen und mündlichen Verfahren und gemeinsamen Urteil zu verbinden.

17.

Im Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof haben die Kassationsbeschwerdeführer, das Königreich Belgien, die Italienische Republik, das Königreich der Niederlande und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen.

V. Zulässigkeit der Vorlagefrage

18.

Zu klären ist zunächst die Zulässigkeit der Vorlagefrage. Der Kassationshof fragt nämlich ausdrücklich danach, ob bestimmte Beweismittel für eine „Mehrwertsteuerfestsetzung“ verwendet werden dürfen. Streitgegenstand der Ausgangsverfahren sind aber nicht Mehrwertsteuer‑, sondern Einkommensteuerbescheide. Insofern stünde die Vorlagefrage offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits, wäre hypothetischer Natur und daher unzulässig. ( 4 )

19.

Nach ständiger Rechtsprechung ist es Sache des Gerichtshofs, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens der Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren. ( 5 )

20.

Der Kassationshof kann in seiner Vorlagefrage nicht die Verwendung von Beweisen für eine Mehrwertsteuerfestsetzung gemeint haben, weil in den Vorabentscheidungsersuchen nicht von Mehrwertsteuerbescheiden, sondern ausschließlich von Einkommensteuerbescheiden die Rede ist. Der Begriff „Mehrwertsteuerfestsetzung“ scheint ein Redaktionsversehen zu sein und ist deswegen durch den Begriff „Einkommensteuerfestsetzung“ zu ersetzen.

21.

Außerdem fragt der Kassationshof nach der Zulässigkeit der Verwendung von Beweismitteln für diese Festsetzung „in Bezug auf die Mehrwertsteuer“. Der Bezug der Festsetzung der Einkommensteuer zur Mehrwertsteuer kann vorliegend nur darin gesehen werden, dass ein Mehrwertsteuerbetrugsverdacht der Auslöser der steuer- und strafrechtlichen Ermittlungen war, in Folge dessen Beweise erhoben und in der Einkommensteuerfestsetzung verwertet wurden.

22.

Daher kann der Gerichtshof die Vorlagefrage dahin gehend umformulieren, ob Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er unter allen Umständen der Verwendung von Beweismitteln, die in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, welches durch den Verdacht eines Mehrwertsteuerbetrugs ausgelöst wurde, unter Verletzung von Art. 7 der Charta erlangt wurden, bei einer Einkommensteuerfestsetzung entgegensteht, oder er eine Auslegung zulässt, nach der das Gericht, das entscheiden muss, ob ein solches Beweismittel für eine Einkommensteuerfestsetzung verwendet werden darf, eine Abwägung im Einzelfall vorzunehmen hat.

23.

So umformuliert, ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

VI. Zuständigkeit des Gerichtshofs

24.

Allerdings entscheidet der Gerichtshof in Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. a AEUV über die Auslegung des Unionsrechts. Hier ist jedoch fraglich, ob die Charta in zeitlicher (Nrn. 25 ff.) und in sachlicher Hinsicht (Nrn. 30 ff.) einschlägig ist.

A.   Zeitliche Anwendbarkeit der Charta

25.

Zu klären ist zunächst, ob die am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Charta für einen mutmaßlichen Verfahrensverstoß im Jahr 1998 zeitlich anwendbar ist.

26.

Einerseits hat der Gerichtshof in der ebenfalls im Bereich der direkten Steuern angesiedelten Rechtssache Sabou entschieden, dass die Charta nicht anwendbar ist, weil das Amtshilfeverfahren, das zu dem dort streitgegenständlichen ergänzenden Steuerbescheid führte, vor dem Inkrafttreten der Charta beendet worden war. ( 6 )

27.

Andererseits ging es etwa auch in der Rechtssache Åkerberg Fransson um Steuerbescheide aus der Zeit vor dem 1. Dezember 2009. Allerdings war dort der Grundsatz ne bis in idem vom Strafrichter bei seiner Entscheidung zu beachten. Dieser Zeitpunkt fiel in den zeitlichen Anwendungsbereich der Charta.

28.

Eine ähnliche Konstellation liegt auch hier vor. Auch wenn die Beweiserhebung im Jahr 1998 erfolgte, stellt sich die Frage der Beweisverwertung für das nationale Gericht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung und damit nach Inkrafttreten der Charta.

29.

Während sich – wie etwa in der unter Nr. 26 dargestellten Rechtssache Sabou – die Information über das Amtshilfeersuchen und die etwaige Mitwirkung an der Formulierung des Ersuchens mit Beendigung des Amtshilfeverfahrens erledigt, behält ein etwaiges Beweiserhebungsverbot für die Abwägung hinsichtlich eines Beweisverwertungsverbots Bedeutung. Im Ergebnis ist die Charta vorliegend zeitlich anwendbar.

B.   Sachliche Anwendbarkeit der Charta

30.

Der Anwendungsbereich der Charta ist in deren Art. 51 definiert. Die Charta gilt nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.

31.

Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass er eine nationale Rechtsvorschrift nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen kann, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. ( 7 )

32.

Mehrere Verfahrensbeteiligte zweifeln die Zuständigkeit des Gerichtshofs an, weil die Charta nicht anwendbar sei. Sowohl Belgien als auch die Kommission sind der Auffassung, dass der Gerichtshof unzuständig sei, weil es sich bei dem Erlass von Einkommensteuerbescheiden nicht um die Durchführung des Rechts der Union handele. Selbst der Kassationshof weist darauf hin, dass es in der vorliegenden Rechtssache „um die Einkommensteuer geht, die nicht unionsrechtlich geregelt ist“. ( 8 )

33.

Um dennoch den Anwendungsbereich der Charta zu begründen, kommen vorliegend zwei Anknüpfungspunkte in Betracht: Neben der Amtshilfe (Nrn. 34 ff.) ist dies vorliegend vor allem die unionsrechtliche Harmonisierung der Mehrwertsteuer (Nrn. 38 ff.).

1. Durchführung des Rechts der Union im Rahmen der Amtshilfe?

34.

Zunächst könnte die Durchführung des Rechts der Union im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta vorliegen, wenn das Beweismittel im Wege der Amtshilfe gemäß der Richtlinie 77/799 (im Folgenden: Amtshilferichtlinie) ( 9 ) erlangt worden wäre.

35.

Die Amtshilferichtlinie regelt nur die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und nicht die Rechtshilfe in Strafsachen, wie etwa das Benelux-Übereinkommen. Die verwaltungsbehördliche Amtshilfe beschränkt sich in der Sache auf eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den Austausch von Informationen, während im Rahmen der Rechtshilfe in Strafsachen spezifische Ermittlungsmaßnahmen zur Erlangung von Beweisen durchgeführt werden können.

36.

Einerseits geht die streitgegenständliche Herausgabe von Bankunterlagen über einen bloßen Informationsaustausch im Rahmen der Amtshilfe hinaus. Vielmehr wurden diese Beweismittel aufgrund eines Rechtshilfeersuchens beschlagnahmt. Andererseits war die Rechtshilfe in Strafsachen zu dem Zeitpunkt der Beweiserhebung 1998 noch nicht harmonisiert. ( 10 )

37.

Eine Durchführung des Rechts der Union ist vorliegend folglich nicht aufgrund der gewährten Amtshilfe anzunehmen.

2. Festsetzung der Einkommensteuer als Durchführung des Rechts der Union?

38.

Damit müsste die Einkommensteuerfestsetzung als Durchführung des Unionsrechts betrachtet werden können. Im Grundsatz ist die Festsetzung der Einkommensteuer mangels unionsrechtlicher Vorschriften in diesem Bereich keine Durchführung von Unionsrecht.

39.

Das Ertragsteuerrecht ist lediglich punktuell auf der Grundlage von Art. 115 AEUV sekundärrechtlich geregelt (Mutter-Tochter-Richtlinie ( 11 ), Fusionsrichtlinie ( 12 ), Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie ( 13 ), Richtlinie mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken ( 14 )). Im Übrigen fallen die direkten Steuern nach ständiger Rechtsprechung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. ( 15 ) Bei der den Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Steuer der natürlichen Personen handelt es sich um eine direkte Einkommensteuer, für die Belgien demnach allein zuständig ist.

40.

Die Besonderheit des vorliegenden Falls besteht aber darin, dass für die Festsetzung der Einkommensteuer ein Beweismittel verwertet wurde, das die belgischen Strafverfolgungsbehörden in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erlangt haben, welches durch den Verdacht eines Mehrwertsteuerbetrugs ausgelöst wurde.

a) Mehrwertsteuerrecht als Durchführung des Rechts der Union

41.

Würde es sich bei dem in den Ausgangsverfahren angefochtenen Rechtsakten um Mehrwertsteuerbescheide handeln, wäre eine Durchführung von Unionsrecht im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta anzunehmen. Denn einerseits hat der Gerichtshof entschieden, dass aus Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112 (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) ( 16 ) und Art. 4 Abs. 3 EUV hervorgeht, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten. ( 17 ) Eine Mehrwertsteuernacherhebung infolge der Feststellung einer missbräuchlichen Praxis ist somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen. ( 18 )

42.

Andererseits sind, auch wenn das Unionsrecht weder Regelungen zum Steuerstrafrecht noch zu verwaltungsrechtlichen Sanktionen enthält, Sanktionen, mit denen die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sichergestellt und gemäß Art. 325 AEUV Betrug bekämpft werden soll, „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta. ( 19 )

43.

Welche mehrwertsteuerrechtlichen Maßnahmen und welche strafrechtlichen Sanktionen Belgien wegen des Mehrwertsteuerbetrugs ergriffen hat, geht aus dem vom Kassationshof mitgeteilten Sachverhalt nicht hervor. Gegenstand der Vorlagen sind einzig die ertragsteuerrechtlichen Maßnahmen, mithin die Einkommensteuerbescheide.

b) Erhebung von Beweismitteln im Ermittlungsverfahren aufgrund eines Mehrwertsteuerbetrugsverdachts als Durchführung des Rechts der Union?

44.

Allerdings haben das Beweismittel, das für die Einkommensteuerfestsetzung verwendet wurde, nicht etwa die Steuerbehörden im Rahmen ihrer eigenen Ermittlungen erhoben. Es stammt vielmehr aus strafrechtlichen Ermittlungen, die nach einer Anzeige der belgischen Besonderen Steuerinspektion im Zusammenhang mit einem Mehrwertsteuer-Karussellbetrug eingeleitet wurden. Diese Beweiserhebung im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen könnte eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellen.

45.

Das Strafrecht stellt einen Kernbereich der nationalen Souveränität dar. ( 20 ) Die Union verfügt in diesem Bereich nur über eine begrenzte Zuständigkeit (Art. 83 und Art. 325 Abs. 4 AEUV). Im Übrigen waren das materielle Strafrecht und das Strafprozessrecht der Mitgliedstaaten nicht Gegenstand einer Harmonisierung auf Unionsebene. ( 21 ) Damit verbleibt auch die Zuständigkeit für das Strafrecht grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten.

46.

Allerdings hat der Gerichtshof zu einem gerichtlichen Strafverfahren wegen Mehrwertsteuerstraftaten in Åkerberg Fransson entschieden, dass nicht nur steuerliche Sanktionen, sondern auch ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung wegen unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen ist. ( 22 ) Dass die nationalen Sanktions- und Verfahrensvorschriften nicht zur Umsetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie erlassen wurden, sei angesichts der Verpflichtungen aus der Mehrwertsteuerrichtlinie, Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 AEUV unbeachtlich. ( 23 )

47.

In der Folge hat der Gerichtshof den Grundsatz der Wirksamkeit der Strafverfolgung wegen Mehrwertsteuerstraftaten entwickelt. ( 24 ) Nach dem Grundsatz der Wirksamkeit der Strafverfolgung wegen Mehrwertsteuerstraftaten sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Verstöße gegen die Mehrwertsteuerrichtlinie wirksam zu verfolgen.

48.

Der Grundsatz der Wirksamkeit der Strafverfolgung wegen Mehrwertsteuerstraftaten ist aber – so der Gerichtshof ( 25 ) – nicht erst im gerichtlichen Strafverfahren, sondern bereits im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu beachten, sobald „der Betroffene einer Beschuldigung ausgesetzt ist“ bzw. „gegen den Betroffenen eine Beschuldigung erhoben wird“.

49.

Auf welchen konkreten Zeitpunkt damit Bezug genommen wird, ergibt sich aber nicht eindeutig aus der Rechtsprechung. Maßgeblicher Zeitpunkt könnte einerseits die offizielle Benachrichtigung der zuständigen Behörde über den Vorwurf, eine Straftat begangen zu haben, sein. ( 26 ) Eine solche Benachrichtigung über die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens ist aber nicht in allen Rechtsordnungen vorgesehen. Wird das Ermittlungsverfahren eingestellt, erfährt ein Beschuldigter unter Umständen gar nicht, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn geführt worden ist. Würde auf eine solche Benachrichtigung abgestellt, läge es damit in den Händen der Ermittlungsbehörden, den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem die Grundrechte der Charta gelten.

50.

Insofern muss es ausreichen, dass sich aus den Verfahrensakten ergibt, dass strafrechtliche Ermittlungen zur Verfolgung eines Mehrwertsteuerbetrugs eingeleitet wurden. Dieser Zeitpunkt ist zuverlässig bestimmbar. Ab diesem Zeitpunkt ist die Behörde auch bei ihren strafrechtlichen Ermittlungen insofern an Unionsgrundrechte gebunden.

51.

Allerdings ist im vorliegenden Fall unklar, ob die strafrechtlichen Ermittlungen und die Beweiserhebung zur Verfolgung eines Mehrwertsteuerbetrugs oder zur Verfolgung eines Einkommensteuerbetrugs erfolgten. Diese Unklarheit hätte der Kassationshof grundsätzlich im Nachgang des Vorabentscheidungsverfahrens aufzuklären.

52.

Da diese Frage aber bereits für die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens maßgeblich ist, schlage ich dem Gerichtshof vor, sich insofern auf die Vermutung der ständigen Rechtsprechung zu stützen, dass die Vorlagefrage im Zweifel entscheidungserheblich ist. ( 27 )

53.

Denn nach dem vom Kassationshof in seinen Vorabentscheidungsersuchen geschilderten Sachverhalt steht immerhin fest, dass für die Einkommensteuerbescheide Beweismittel verwertet worden sind, die in Ermittlungsverfahren erhoben wurden, welche nach Anzeige der Steuerbehörde eingeleitet wurden, die Ermittlungen im Zusammenhang mit Mehrwertsteuer-Karussellbetrug aufgenommen hatte. Insofern wird im weiteren Verlauf vermutet, dass die Beweiserhebung im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zur Verfolgung eines Mehrwertsteuerbetrugs erlangt worden ist.

c) Verwertung solchermaßen erlangter Beweismittel bei der Einkommensteuerfestsetzung als Durchführung des Unionsrechts?

54.

Genauso wenig wie die Ermittlungen der Steuerbehörden wegen Mehrwertsteuer-Karussellbetrug haben aber die strafrechtlichen Ermittlungen zu einem Vorabentscheidungsersuchen geführt.

55.

Folgt nun aber aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs seit Åkerberg Fransson, dass ein Mitgliedstaat auch dann das Recht der Union im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführt, wenn für einen Einkommensteuerbescheid Beweismittel verwendet werden, die zuvor in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen Mehrwertsteuerbetrugs erhoben worden sind?

56.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt der Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen einem Unionsrechtsakt und der fraglichen nationalen Maßnahme voraus, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann. ( 28 )

57.

Um festzustellen, ob ein Mitgliedstaat das Recht der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführt, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs u. a. zu prüfen, ob mit der fraglichen nationalen Regelung eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann. ( 29 )

58.

Für die Annahme einer Durchführung des Unionsrechts spricht allein, dass sich ein etwaiger Verstoß bei der Beweiserhebung nicht dadurch verändert, wofür das Beweismittel letztlich verwertet wird. Wurden Beweise im Anwendungsbereich des Unionsrechts erhoben, könnte argumentiert werden, dass dann auch für die Beweisverwertung Unionsrecht gelten müsse.

59.

Die Durchführung von Unionsrecht bei der Beweiserhebung würde sich dann gleichsam auf die Bereiche, in denen die Beweise verwertet werden, erstrecken, selbst wenn diese Bereiche – hier die Einkommensteuerfestsetzung – kein Unionsrecht darstellen. Das wäre eine Auslegung, die weit über die in Åkerberg Fransson vorgenommene Auslegung des Begriffs der „Anwendung des Unionsrechts“ hinausgehen würde. Denn dort wurde mit Art. 325 AEUV und dem Zusammenhang des Strafverfahrens wegen Mehrwertsteuerbetrugs und der wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer argumentiert. Diese Argumentation greift nicht, wenn es um die effektive Einkommensteuerdurchsetzung geht.

60.

Gegen diese Lösung spricht auch, dass es in einem Sachverhalt wie dem vorliegenden vom Zufall abhängt, ob die Steuer- bzw. Strafbehörden wegen Einkommensteuerhinterziehung oder Mehrwertsteuerbetrug ermitteln. In vielen Fällen ist ein Mehrwertsteuerbetrug (d. h. die fehlende Angabe von steuerpflichtigen Umsätzen) mit einem Einkommensteuerbetrug (d. h. die fehlende Angabe von steuerpflichtigen Einkünften) verbunden.

61.

Würden alle späteren behördlichen Maßnahmen allein aufgrund des Zufalls, ob das Ermittlungsverfahren wegen Hinterziehung der Einkommensteuer oder wegen Hinterziehung der Mehrwertsteuer eingeleitet worden ist, als Durchführung des Rechts der Union angesehen, würde dies der oben genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs ( 30 ) widersprechen.

62.

Denn erstens bezwecken die Mitgliedstaaten nicht, das Recht der Union durchzuführen, wenn sie Einkommensteuerbescheide erlassen. Das Ertragsteuerrecht dient auch nicht der Umsetzung von unionsrechtlichen Verpflichtungen, sondern unterfällt wie oben unter den Nrn. 38 und 39 dargestellt der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.

63.

Zweitens verfolgen die nationalen Regelungen über die Ertragsteuer ihrem Charakter nach andere als die unter das Unionsrecht fallende Ziele. Die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Eigenmittel der Union aus Art. 325 AEUV erstrecken sich zwar auf alle Teile des nationalen Rechts, mit denen diese Verpflichtungen erfüllt werden. ( 31 ) Bei den Ertragsteuern handelt es sich aber nicht um Unionsmittel, sondern um Mittel der Mitgliedstaaten.

64.

Drittens gibt es – mit Ausnahme des unter Nr. 39 angeführten Sekundärrechts – keine spezifischen Regelungen des Unionsrechts für den Bereich der Ertragsteuern. Es wäre weder vernünftigerweise vorhersehbar noch funktional erforderlich, mittelbare Auswirkungen, die das Mehrwertsteuerrecht auf das Ertragsteuerrecht haben kann, für die Annahme einer Durchführung des Rechts der Union im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta ausreichen zu lassen.

65.

Reichten jegliche mittelbaren Auswirkungen des Mehrwertsteuerrechts auf das Ertragsteuerrecht aus, um den Anwendungsbereich des Unionsrechts zu begründen, würde es praktisch unmöglich gemacht, die wenigen verbliebenen, allein nach nationalem Recht zu beurteilenden Bereiche des Ertragsteuerrechts zu bestimmen. Insbesondere die Nichtangabe von mehrwertsteuerpflichtigen Umsätzen geht in der Regel mittelbar mit der Nichtangabe von für die Einkommensteuer relevanten Einkünften einher. Insofern würde das letztlich die beim gegenwärtigen Entwicklungsstand des Unionsrechts bei den Mitgliedstaaten verbliebene Zuständigkeit für die direkten Steuern aushöhlen.

66.

Im Ergebnis liegt daher keine Durchführung des Rechts der Union im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta vor, wenn für einen Einkommensteuerbescheid Beweise verwertet werden, die in einem Ermittlungsverfahren wegen Mehrwertsteuerstraftaten erhoben wurden.

67.

Wie Generalanwalt Saugmandsgard Øe zu Recht unlängst ausgeführt hat, bedeutet dies jedoch nicht, dass der Grundrechtsschutz für die Unionsbürger lückenhaft ist. Ihnen steht bezüglich der Einkommensteuerfestsetzung weiterhin der nationale Rechtsweg mit den nationalen Grundrechten offen, und sie können nach Erschöpfung dieses Rechtswegs Individualbeschwerde beim EGMR erheben. ( 32 )

3. Zwischenergebnis

68.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Charta sachlich nicht anwendbar ist. Der Gerichtshof ist deshalb nicht für die Vorabentscheidungsersuchen zuständig.

VII. Hilfsweise: inhaltliche Würdigung der Vorlagefrage

69.

Für den Fall, dass der Gerichtshof gleichwohl seine Zuständigkeit annimmt und von einer Durchführung von Unionsrecht bei der Einkommensteuerfestsetzung ausgeht, möchte der Kassationshof in der Sache im Wesentlichen wissen, ob Art. 47 der Charta der Verwendung von rechtswidrig erlangten Beweisen entgegensteht oder eine Abwägung durch das nationale Gericht zulässt. Insbesondere bittet der Kassationshof in diesem Zusammenhang um die Präzisierung entsprechender Passagen im Urteil WebMindLicenses. ( 33 )

70.

Das Urteil WebMindLicenses betraf das Erfordernis, dass die Beweise, auf die eine das Unionsrecht durchführende Entscheidung (in casu die Festsetzung der Mehrwertsteuer) gestützt wird, nicht unter Verletzung der durch das Unionsrecht, insbesondere der Charta, garantierten Rechte erlangt wurden. ( 34 )

71.

Dazu hat der Gerichtshof festgestellt, dass dieses Erfordernis dann erfüllt ist, wenn das mit einer Klage gegen diesen Bescheid befasste Gericht befugt ist, nachzuprüfen, ob Beweise, auf die der Bescheid gestützt wird, im Einklang mit den durch das Unionsrecht garantierten Rechten erlangt wurden. ( 35 )

72.

Der Gerichtshof hat sich im Urteil WebMindLicenses also nur dazu geäußert, dass das nationale Gericht eine solche Beweiserhebung auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen muss. Ob aus einem Verstoß bei der Beweiserhebung automatisch ein Beweisverwertungsverbot folgt oder das nationale Gericht eine Abwägung vornehmen darf, ergibt sich daraus hingegen – entgegen der Auffassung der Kassationsbeschwerdeführer – nicht.

73.

Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht keine Regeln zur Beweiserhebung und ‑verwertung im Rahmen von Strafverfahren im Bereich der Mehrwertsteuer vorsieht, so dass hierfür grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig sind. ( 36 ) Strafrechtliche Verfahren zur Bekämpfung von Verstößen im Bereich der Mehrwertsteuer fallen damit unter die verfahrensrechtliche und institutionelle Autonomie der Mitgliedstaaten. Dies gilt erst recht für die Verwendung von Beweisen für die Festsetzung der Ertragsteuer, wenn diese in einem Ermittlungsverfahren wegen Mehrwertsteuerstraftaten erhoben wurden.

74.

Diese Autonomie ist jedoch bei der Durchführung von Unionsrecht durch die Grundrechte und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie den Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität beschränkt. ( 37 )

75.

Es ist vor diesem Hintergrund indes nichts dafür ersichtlich, dass die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität einer Abwägung durch das nationale Gericht bei der Annahme eines Beweisverwertungsverbots entgegenstehen.

76.

Auch eine Verletzung der Grundrechte ist nicht ersichtlich. Art. 47 der Charta hat kein automatisches Beweisverwertungsverbot zur Folge.

77.

Schon vor Inkrafttreten der Charta und unter Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ( 38 ) hat der Gerichtshof entschieden, dass die Zulässigkeit eines Beweises, der rechtswidrig gewonnen wurde, nicht grundsätzlich und abstrakt ausgeschlossen werden kann, sondern es Sache des nationalen Gerichts ist, die erhobenen Beweise zu würdigen. ( 39 )

78.

Den Grundrechten wird durch eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs im Einzelfall am besten Rechnung getragen, wie sie bei der Abwägung durch die nationalen Gerichte erfolgt (etwa nach dem belgischen Steuer-Antigoon). Der Gerichtshof hat insofern in einem Fall zu der Erstellung einer Liste mit personenbezogenen Daten zu dem Zweck der Steuererhebung entschieden, dass die nationalen Gerichte in jedem Einzelfall prüfen müssen, ob Gesichtspunkten für ein legitimes Interesse an der eventuellen Vertraulichkeit der fraglichen Liste größeres Gewicht zukommt als dem Interesse am Schutz der Rechte des Einzelnen. ( 40 )

79.

In einem Fall wie dem vorliegenden wird das nationale Gericht bei seiner Abwägung im Einzelfall vor allem berücksichtigen müssen, gegen welche Vorschrift verstoßen wurde und welche Qualität der Verstoß hat. Hierzu wird zu bewerten sein, dass bei der Beschlagnahme der Beweismittel durch den luxemburgischen Richter ein belgischer Richter anwesend war, so dass eventuell „nur“ ein Verstoß gegen das Benelux-Übereinkommen vorliegt, der nicht automatisch einen Verstoß gegen Art. 7 der Charta darstellt.

80.

Im Ergebnis steht Art. 47 der Charta einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der ein nationales Gericht, das entscheiden muss, ob ein Beweismittel, das unter Verletzung von Unionsrecht in einem Ermittlungsverfahren wegen Mehrwertsteuerstraftaten erlangt wurde, für eine Einkommensteuerfestsetzung verwendet werden darf, eine Abwägung vorzunehmen hat, wobei es vor allem die Qualität des Verstoßes zu berücksichtigen hat.

VIII. Ergebnis

81.

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof jedoch vor, sich für die Beantwortung der Frage des belgischen Kassationshofs für unzuständig zu erklären.

Juliane Kokott


( 1 ) Originalsprache: Deutsch.

( 2 ) Siehe z. B. die Ausführungen des BVerfG, Urteil vom 24. April 2013, Antiterrordatei (1 BVR 1215/07, BVerfGE 133, 277, ECLI:DE:BVerfG:2013:rs20130424.1bvr121507, Rn. 91).

( 3 ) Urteil vom 26. Februar 2013 (C‑617/10, EU:C:2013:105).

( 4 ) Vgl. nur zuletzt Urteil vom 28. März 2019, Verlezza u. a. (C‑487/17 bis C‑489/17, EU:C:2019:270, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 5 ) Zuletzt Urteile vom 11. März 2008, Jager (C‑420/06, EU:C:2008:152, Rn. 46), vom 8. Dezember 2011, Banco Bilbao Vizcaya Argentaria (C‑157/10, EU:C:2011:813, Rn. 18), und vom 28. Februar 2013, Petersen und Petersen (C‑544/11, EU:C:2013:124, Rn. 23).

( 6 ) Urteil vom 22. Oktober 2013, Sabou (C‑276/12, EU:C:2013:678, Rn. 25), meinen Schlussanträgen in derselben Rechtssache folgend (EU:C:2013:370, Nr. 34).

( 7 ) Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19), vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 33), vom 27. März 2014, Torralbo Marcos (C‑265/13, EU:C:2014:187, Rn. 29), vom 6. Oktober 2015, Delvigne (C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 26), vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horațiu-Vasile Cruduleci (C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 23), und vom 8. Dezember 2016, Eurosaneamientos u. a. (C‑532/15 und C‑538/15, EU:C:2016:932, Rn. 52).

( 8 ) Rn. 11 der Vorabentscheidungsersuchen.

( 9 ) Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern (ABl. 1977, L 336, S. 15), inzwischen aufgehoben durch die Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1); vgl. dazu etwa die anhängigen Rechtssachen C‑245/19, État du Grand-duché de Luxembourg, und C‑246/19, État du Grand-duché de Luxembourg.

( 10 ) Siehe nunmehr Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1).

( 11 ) Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2011, L 345, S. 8).

( 12 ) Richtlinie 2009/133/EG des Rates vom 19. Oktober 2009 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, Abspaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, sowie für die Verlegung des Sitzes einer Europäischen Gesellschaft oder einer Europäischen Genossenschaft von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat (ABl. 2009, L 310, S. 34).

( 13 ) Richtlinie 2003/49/EG des Rates vom 3. Juni 2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2003, L 157, S. 49).

( 14 ) Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts (ABl. 2016, L 193, S. 1).

( 15 ) Urteile vom 7. September 2004, Manninen (C‑319/02, EU:C:2004:484, Rn. 19), vom 25. Oktober 2007, Porto Antico di Genova (C‑427/05, EU:C:2007:630, Rn. 10), und zuletzt vom 19. Dezember 2018, Cadeddu (C‑667/17, EU:C:2018:1036, Rn. 15).

( 16 ) Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1); im Zeitraum des dem vorliegenden Sachverhalt zugrunde liegenden Mehrwertsteuer-Karussells galt indes noch die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1).

( 17 ) Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 25), vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 18), und vom 21. November 2018, Fontana (C‑648/16, EU:C:2018:932, Rn. 33).

( 18 ) Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 67). Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Ispas (C‑298/16, EU:C:2017:650, Nr. 52).

( 19 ) Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26 und 27), vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti (C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 16), und vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 21).

( 20 ) Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Ognyanov (C‑554/14, EU:C:2016:319, Nr. 121).

( 21 ) Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 76).

( 22 ) Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 27).

( 23 ) Vgl. Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 28).

( 24 ) Urteil vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Tenor und Rn. 39 und 41).

( 25 ) Urteile vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 71), und vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 33).

( 26 ) Vgl. EGMR, Urteil vom 10. September 2010, McFarlane/Irland (CE:ECHR:2010:0910JUD003133306, § 143), zu Art. 6 Abs. 1 EMRK.

( 27 ) Vgl. nur Urteile vom 12. Februar 2009, Klarenberg (C‑466/07, EU:C:2009:85, Rn. 27), und vom 6. Oktober 2015, Capoda Import-Export (C‑354/14, EU:C:2015:658, Rn. 25).

( 28 ) Urteile vom 6. März 2014, Siragusa (C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 24), vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a. (C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 34), und vom 6. Oktober 2016, Paoletti u. a. (C‑218/15, EU:C:2016:748, Rn. 14); vgl. zuletzt Schlussanträge des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2017:395, Nr. 43, Fn. 36) sowie des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Ispas (C‑298/16, EU:C:2017:650, Nr. 45); oder in den Worten des Bundesverfassungsgerichts, in Reaktion auf das Urteil Åkerberg Fransson: „für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der Grundrechtecharta niedergelegten Grundrechte der Europäischen Union [reicht] nicht schon jeder sachliche Bezug einer [nationalen] Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses aus“, BVerfG, Urteil vom 24. April 2013, Antiterrordatei (1 BVR 1215/07, BVerfGE 133, 277, ECLI:DE:BVerfG:2013:rs20130424.1bvr121507, Rn. 91).

( 29 ) Urteile vom 6. März 2014, Siragusa (C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 25), und vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a. (C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 37), sowie zuletzt Beschluss vom 7. September 2017, Demarchi Gino und Garavaldi (C‑177/17 und C‑178/17, EU:C:2017:656, Rn. 20).

( 30 ) Urteile vom 6. März 2014, Siragusa (C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 24), vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a. (C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 34), und vom 6. Oktober 2016, Paoletti u. a. (C‑218/15, EU:C:2016:748, Rn. 14).

( 31 ) Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Ispas (C‑298/16, EU:C:2017:650, Nrn. 26 bis 65) und in der Rechtssache Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2018:623, Nr. 68).

( 32 ) Schlussanträge des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache Kommission/Ungarn (Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen) (C‑235/17, EU:C:2018:971, Nr. 109).

( 33 ) Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 86 bis 89).

( 34 ) Vgl. Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 87).

( 35 ) Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 88).

( 36 ) Vgl. Urteile vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 65), vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 25), und vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 24).

( 37 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 29), und vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 30).

( 38 ) EGMR, Urteile vom 18. März 1997, Mantovanelli/Frankreich (ECLI:CE:ECHR:1997:0318JUD002149793, §§ 33 und 34), und vom 25. März 1999, Pélissier und Sassi/Frankreich (ECLI:CE:ECHR:1999:0325JUD002544494, § 45).

( 39 ) Vgl. Urteil vom 10. April 2003, Steffensen (C‑276/01, EU:C:2003:228, Rn. 75).

( 40 ) Urteil vom 27. September 2017, Puškár (C‑73/16, EU:C:2017:725, Rn. 97).