SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 7. März 2019 ( 1 )

Rechtssache C‑145/18

Regards Photographiques SARL

gegen

Ministre de l’Action et des Comptes publics

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Frankreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Sonderregelungen – Kunstgegenstände – Ermäßigter Mehrwertsteuersatz – Vom Künstler aufgenommene Fotografien, die von ihm oder unter seiner Überwachung abgezogen wurden und signiert sowie nummeriert sind, wobei die Gesamtzahl der Abzüge 30 nicht überschreiten darf“

Einleitung

1.

Die Fotografie ist ein schwer einzuordnendes Phänomen. Ihre Eigenschaft als „Widerspiegelung der Wirklichkeit“, ihre offensichtlich leichte Ausführung und die mit ihr verbundene fortschreitende Demokratisierung (gegenwärtig ist beinahe jedermann, und sei es auch nur als Bestandteil seines Telefons, im Besitz eines Fotoapparats) erwecken Zweifel hinsichtlich ihres künstlerischen Charakters. Die Debatte darüber, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen die Fotografie eine Kunst darstellt, ist im Übrigen so alt wie die Fotografie selbst ( 2 ). Eine solche Debatte ist natürlich unter Kunstphilosophen und Kunsttheoretikern gerechtfertigt. Dagegen muss die Besteuerung von Handelsgeschäften unbedingt auf klaren und objektiven gesetzlichen Kriterien beruhen, auch wenn sich diese Geschäfte auf als „Kunstgegenstände“ qualifizierte Güter beziehen. Über diese Debatte kann weder von den Steuerbehörden noch von den nationalen Gerichten und noch nicht einmal vom Gerichtshof entschieden werden. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich die Gründe darlegen, weshalb jeder in diese Richtung gehende Versuch, wie er im Rahmen der französischen Verwaltungspraxis unternommen wird, nicht nur sein Ziel, d. h. eine Unterscheidung zwischen Kunst und dem, was keine Kunst darstellt, zu ermöglichen, nicht erreichen kann, sondern auch zwingend zu einer Verletzung der Rechtssicherheit, der Steuerneutralität und des Wettbewerbs führt.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

2.

Art. 103 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ( 3 ) bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der ermäßigte oder ein ermäßigter Steuersatz, den sie gemäß den Artikeln 98 und 99 anwenden, auch auf die Einfuhr von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten im Sinne des Artikels 311 Absatz 1 Nummern 2, 3 und 4 anwendbar ist.

(2)   Wenn die Mitgliedstaaten von der in Absatz 1 genannten Möglichkeit Gebrauch machen, können sie diesen ermäßigten Steuersatz auch auf folgende Lieferungen anwenden:

a)

die Lieferung von Kunstgegenständen durch ihren Urheber oder dessen Rechtsnachfolger;

…“

3.

Art. 311 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„(1)   Für die Zwecke dieses Kapitels gelten unbeschadet sonstiger Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts folgende Begriffsbestimmungen:

2. ‚Kunstgegenstände‘ sind die in Anhang IX Teil A genannten Gegenstände;

(2)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die in Anhang IX Teil A Nummern 5, 6 und 7 genannten Gegenstände nicht als Kunstgegenstände gelten.

…“

4.

Anhang IX Teil A („Kunstgegenstände“) Nr. 7 der Richtlinie 2006/112 hat folgenden Wortlaut:

„vom Künstler aufgenommene Photographien, die von ihm oder unter seiner Überwachung abgezogen wurden und signiert sowie nummeriert sind; die Gesamtzahl der Abzüge darf, alle Formate und Trägermaterialien zusammengenommen, 30 nicht überschreiten“.

Französisches Recht

5.

Art. 278 septies des Code général des impôts (Allgemeines Steuergesetzbuch, im Folgenden: CGI) in seiner bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Fassung sah vor:

„Die Mehrwertsteuer wird zum Satz von 5,5 % erhoben[ ( 4 )]:

2. auf die Lieferung von Kunstwerken durch ihren Urheber oder dessen Rechtsnachfolger;

…“

6.

Gemäß Art. 98 A Nr. 7 des Anhangs III des CGI gelten als Kunstwerke „vom Künstler aufgenommene Fotografien, die von ihm oder unter seiner Überwachung abgezogen wurden und signiert sowie nummeriert sind; die Gesamtzahl der Abzüge darf, alle Formate und Trägermaterialien zusammengenommen, 30 nicht überschreiten“.

7.

Die Anweisung vom 25. Juni 2003 in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung (im Folgenden: Anweisung vom 25. Juni 2003) enthält die folgenden Klarstellungen zu den Voraussetzungen für die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes im Hinblick auf künstlerische Fotografien:

„…

I.

Kriterien der künstlerischen Fotografie:

1.

Als Kunstwerke, für die der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gilt, können nur Fotografien gelten, die von einer offenkundigen schöpferischen Absicht ihres Urhebers zeugen.

Dies ist der Fall, wenn der Fotograf durch die Wahl des Themas, die Umstände der Inszenierung, die Besonderheiten der Aufnahme oder jede andere Besonderheit seiner Arbeit, die sich insbesondere auf die Qualität des Bildausschnitts, der Komposition, der Belichtung, der Beleuchtung, der Kontraste, der Farben und der Reliefs, des Spiels des Lichts und der Räume, der Wahl des Objektivs und des Films oder auf die besonderen Bedingungen der Entwicklung des Negativs bezieht, ein Werk schafft, das über das bloße mechanische Festhalten der Erinnerung an ein Ereignis, eine Reise oder an Personen hinausgeht und somit für die allgemeine Öffentlichkeit von Interesse ist.

II.

Anwendungsvoraussetzungen

1.

Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der ermäßigte Steuersatz auf Passfotos, Schulfotos sowie Gruppenfotos keine Anwendung findet.

2.

Die Fotografien, die in erster Linie im Hinblick auf die Eigenschaft der Person oder die Art des abgebildeten Gegenstands von Interesse sind, gelten im Allgemeinen nicht als künstlerische Fotografien. Das gilt z. B. für Fotografien, die familiäre oder religiöse Ereignisse wiedergeben (Hochzeiten, Kommunionsfeiern usw.).

3.

Vor diesem Hintergrund können bei Fotografien aller Art, die nicht unter die in II‑1 genannten Fotografien fallen, folgende Anhaltspunkte die sich aus den genannten Kriterien ergebende schöpferische Absicht des Urhebers und das Interesse für die allgemeine Öffentlichkeit bekräftigen:

a)

Der Fotograf weist die Ausstellung seiner Werke in kulturellen Einrichtungen (regionaler, nationaler oder internationaler Art), musealen Einrichtungen (Museen, vorübergehenden oder Dauerausstellungen) oder kommerziellen Einrichtungen (Messen, Salons, Galerien usw.) oder auch ihre Präsentation in Fachpublikationen nach.

b)

Die Verwendung von besonderen Materialien sowohl bei der Aufnahme als auch bei der Entwicklung.

…“

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

8.

Die Gesellschaft Regards Photographiques SARL ist im Bereich der Aufnahme und des Verkaufs von Fotografien tätig.

9.

Im Anschluss an eine Rechnungsprüfung beanstandete die Steuerverwaltung (Frankreich), dass diese Gesellschaft den ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf die Lieferung bestimmter Fotografien, nämlich Porträts und Hochzeitsfotos, angewandt habe. Da die Steuerverwaltung der Auffassung war, dass diese Fotografien dem Normalsatz der Mehrwertsteuer unterlägen, erlegte sie der Gesellschaft Regards Photographiques für den Zeitraum vom 1. Februar 2009 bis zum 31. Januar 2012 Mehrwertsteuernachzahlungen auf.

10.

Die von der Gesellschaft Regards Photographiques gegen diese Mehrwertsteuernachforderungen erhobene Klage wurde sowohl vom Tribunal administratif d’Orléans (Verwaltungsgericht Orléans, Frankreich) als auch von der Cour administrative d’appel de Nantes (Verwaltungsberufungsgericht Nantes, Frankreich) abgewiesen. Gegen dieses Urteil legte die Gesellschaft Regards Photographiques bei dem vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde ein.

11.

Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind die Art. 103 und 311 der Richtlinie 2006/112 sowie deren Anhang IX Teil A Nr. 7 dahin auszulegen, dass die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nur voraussetzt, dass Fotografien von ihrem Urheber aufgenommen und von ihm oder unter seiner Überwachung abgezogen wurden und signiert sowie nummeriert sind, wobei die Gesamtzahl der Abzüge, alle Formate und Trägermaterialien zusammengenommen, 30 nicht überschreiten darf?

2.

Falls die erste Frage bejaht wird: Können die Mitgliedstaaten Fotografien, die darüber hinaus keinen künstlerischen Charakter haben, dennoch von der Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes ausschließen?

3.

Falls die erste Frage verneint wird: Welchen weiteren Voraussetzungen müssen Fotografien genügen, damit der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gilt? Müssen sie insbesondere einen künstlerischen Charakter haben?

4.

Sind diese Voraussetzungen innerhalb der Europäischen Union einheitlich auszulegen, oder verweisen sie auf das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten, insbesondere das Recht im Bereich des geistigen Eigentums?

12.

Das Vorabentscheidungsersuchen ist beim Gerichtshof am 23. Februar 2018 eingegangen. Schriftliche Erklärungen sind von der Gesellschaft Regards Photographiques, von der französischen Regierung und von der Europäischen Kommission abgegeben worden. Dieselben Beteiligten haben an der mündlichen Verhandlung vom 21. November 2018 teilgenommen.

Würdigung

13.

Das vorlegende Gericht richtet an den Gerichtshof vier Vorlagefragen. Von diesen Fragen hat die erste grundsätzlichen Charakter, wohingegen die drei übrigen Fragen eher ergänzender Natur sind. Ich werde meine Würdigung daher mit dieser ersten Frage beginnen.

Erste Vorlagefrage

14.

Die erste Vorlagefrage betrifft die Auslegung von Anhang IX Teil A Nr. 7 der Richtlinie 2006/112. Dabei ist daran zu erinnern, dass diese Bestimmung die Voraussetzungen festlegt, die Fotografien erfüllen müssen, damit sie als „Kunstgegenstände“ eingestuft werden können und insbesondere der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gemäß Art. 103 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie auf sie angewandt werden kann. Nach diesen Voraussetzungen muss es sich um vom Künstler aufgenommene Fotografien handeln, die von ihm oder unter seiner Überwachung abgezogen wurden und signiert sowie nummeriert sind, wobei die Gesamtzahl der Abzüge 30 nicht überschreiten darf.

15.

Der Streitpunkt in der vorliegenden Rechtssache ist offensichtlich der Begriff „Künstler“. Denn in der in den oben genannten Bestimmungen der Anweisung vom 25. Juni 2003 kodifizierten Praxis der französischen Steuerbehörden wird dieser Begriff als Rechtfertigung herangezogen, um zusätzliche Anforderungen an den „künstlerischen“ Charakter der Fotografien zu stellen, die unter den ermäßigten Mehrwertsteuersatz fallen können. Die französische Regierung gibt diesen Standpunkt in ihren Erklärungen sehr gut wieder, wonach eine Fotografie nur dann als „Kunstgegenstand“ im Sinne von Anhang IX Teil A Nr. 7 der Richtlinie 2006/112 qualifiziert werden kann, wenn nicht nur „die [in dieser Bestimmung] vorgesehenen materiellen Voraussetzungen erfüllt sind“, sondern zudem „die Fotografie eine künstlerische Schöpfung des Urhebers ist, die dessen Persönlichkeit widerspiegelt und für die allgemeine Öffentlichkeit von Interesse sein kann“. Diese zweite Voraussetzung folgt nach Ansicht der französischen Regierung aus dem Umstand, dass gemäß Anhang IX Teil A Nr. 7 der Richtlinie 2006/112 eine Fotografie „von einem Künstler“ aufgenommen worden sein müsse.

16.

Ich muss gleich zugeben, dass ich ein gänzlich anderes Verständnis von der oben genannten Bestimmung habe. Dieses Verständnis beruht auf einer Auslegung, die sich am Wortlaut ebenso wie an der Systematik und dem Sinn und Zweck dieser Bestimmung orientiert.

17.

Die von der französischen Regierung vertretene Auslegung kann meines Erachtens bereits bei einer rein grammatikalischen Analyse der in Rede stehenden Bestimmung keinen Bestand haben. Denn nach Auffassung dieser Regierung verlangt die genannte Bestimmung, dass die Fotografie „von einem Künstler“ aufgenommen wird, wohingegen der exakte Wortlaut auf eine „vom Künstler“ aufgenommene Fotografie Bezug nimmt. Der Würdigung der französischen Regierung liegt somit eine abgeänderte Formulierung der in Rede stehenden Bestimmung zugrunde, womit ihr eine Aussage zugeschrieben wird, die dort nicht getroffen wird.

18.

Die Verwendung des bestimmten Artikels („le“ bzw. „vom“) in der in Rede stehenden Bestimmung ist nicht zufällig gewählt und spiegelt die vom Unionsgesetzgeber gewollte Bedeutung wider. Die Ersetzung durch den unbestimmten Artikel („un“ bzw. „von einem“) verändert diese Bedeutung und verfälscht damit den Willen des Gesetzgebers. Im Übrigen ist zu beachten, dass der bestimmte Artikel auch in anderen Sprachfassungen von Anhang IX Teil A Nr. 7 der Richtlinie 2006/112 verwendet wird, und zwar in den Sprachen, die die grammatikalische Kategorie von Artikeln kennen ( 5 ). Der Argumentation der französischen Regierung könnte eher gefolgt werden, wenn man nur die Fassungen in den Sprachen zugrunde legte, die – wie die polnische Sprache – keine bestimmten und unbestimmten Artikel kennen. Denn in diesen Sprachen kann die Verwendung allein des Begriffs „Künstler“ in rein grammatikalischer Hinsicht zu Verwirrung führen. Allerdings können dadurch, dass bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts ihre Bedeutung in mehreren Sprachfassungen zu berücksichtigen ist, mögliche Missverständnisse ausgeräumt werden.

19.

In allen bzw. fast allen Nummern von Anhang IX Teil A der Richtlinie 2006/112 wird der Begriff „Künstler“ in den Sprachen, die diese grammatikalische Form kennen, mit einem vorangestellten bestimmten Artikel verwendet. So gelten neben den Fotografien Gemälde usw., die „vollständig vom Künstler mit der Hand geschaffen“ wurden, Stiche usw., die von „vom Künstler vollständig handgearbeiteten“ Platten abgezogen wurden, Skulpturen usw., die „vollständig vom Künstler geschaffen“ wurden, „handgearbeitete“ Tapisserien und Textilwaren für Wandbekleidung, erstellt „nach Originalentwürfen von Künstlern“, Originalwerke aus Keramik, die „vollständig vom Künstler geschaffen“ wurden, sowie Werke der Emaillekunst, die „mit der Signatur des Künstlers oder des Kunstateliers [versehen]“ sind, als Kunstgegenstände.

20.

In diesen Bestimmungen werden die Schritte der Anfertigung des Gegenstands dargestellt, die von demjenigen, der als ihr Urheber gilt, vorgenommen werden müssen. Da die fraglichen Gegenstände im Hinblick auf die Anwendung des Mehrwertsteuersystems als „Kunstgegenstände“ eingestuft werden, gelten deren Urheber nach der gewählten Formulierung als „Künstler“. Es ist daher die Urheberschaft an einem Gegenstand der in Anhang IX Teil A der Richtlinie 2006/112 aufgeführten Kategorien, die einer Person die Eigenschaft als „Künstler“ im Sinne dieses Anhangs verleiht, und nicht umgekehrt. Die Bezugnahme auf die persönliche Anfertigung des Gegenstands hat den ausschließlichen Zweck, Gegenstände der industriellen Massenproduktion sowie einfache Kopien oder Reproduktionen, die nicht persönlich vom Urheber erstellt wurden, von der Anwendung der verschiedenen Ausnahmeregelungen des Mehrwertsteuersystems ( 6 ) auszuschließen.

21.

Dagegen sollen diese Bestimmungen entgegen dem, was sich aus der von der französischen Regierung vertretenen Auslegung ergäbe, keine Unterscheidung treffen zwischen einerseits den Gemälden, Skulpturen, Stichen usw., die von Personen gefertigt werden, die nach Ansicht der Steuerverwaltung als Künstler anzusehen sind, und andererseits Gegenständen, die von Personen hergestellt werden, die diese Eigenschaft nicht haben. Im Übrigen hat die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs ausgeführt, dass eine solche zusätzliche Anforderung an den „künstlerischen Charakter“ in der französischen Verwaltungspraxis nur an eine einzige Kategorie von Kunstgegenständen, nämlich die Fotografien, gestellt werde.

22.

Ich sehe aber keinen Grund, der eine unterschiedliche Behandlung dieser Kategorie im Verhältnis zu den anderen rechtfertigen könnte.

23.

Anhang IX Teil A Nr. 7 der Richtlinie 2006/112 präzisiert die Anforderungen, die eine Fotografie erfüllen muss, um als „Kunstgegenstand“ im Sinne dieser Bestimmung zu gelten. Diese Anforderungen beziehen sich hauptsächlich auf zwei wichtige Schritte bei der Herstellung einer Fotografie: die Aufnahme und den Abzug auf Papier oder einem anderen Trägermaterial. Die Aufnahme, die die Auswahl des Motivs der Fotografie und der Einstellungen des Geräts sowie die Erstellung des Bildes auf der lichtempfindlichen Fläche (in den meisten Fällen ein silberhaltiger Film oder ein elektronischer Sensor) beinhaltet, muss durch den Urheber der Fotografie erfolgen. Der nächste Schritt ist der Abzug, worunter – im Bereich der analogen Technik – die Entwicklung des Films und der Abzug im engeren Sinne, d. h. die Erstellung eines Papierabzugs, oder – im Bereich der digitalen Technik – die digitale Nachbearbeitung und der Ausdruck auf Papier oder einem anderen Träger zu verstehen ist. Dieser Schritt muss entweder durch den Urheber der Fotografie selbst oder unter seiner Überwachung erfolgen. Dass der Abzug einem Spezialisten übertragen wird, ist im Bereich der Urheberfotografie gängige Praxis, wobei der Fotograf aber die volle Kontrolle über das Endergebnis, d. h. über das in Papierform oder auf einem anderen Trägermaterial hergestellte Bild, behält. Die Fotografie muss anschließend vom Urheber signiert werden, wobei die Anzahl der Kopien (Abzüge auf Papier oder einem anderen Trägermaterial) auf 30 begrenzt ist.

24.

Diese Anforderungen ermöglichen es, die Fotografien, die als „Kunstgegenstände“ qualifiziert werden können, von der Massenherstellung von Fotografien in Fällen zu unterscheiden, in denen diese, wenn ein Abzug auf Papier oder einem anderen Trägermaterial erfolgt ( 7 ), zumeist teilweise oder vollständig Fachlaboren übertragen wird, ohne dass der Fotograf das Endergebnis überwacht.

25.

Dagegen enthält Anhang IX Teil A Nr. 7 der Richtlinie 2006/112 keine Anforderungen dazu, was das Motiv der Fotografie sein muss oder nicht sein kann, sowie in Bezug auf ihr künstlerisches Niveau oder die Eigenschaft ihres Urhebers. Jede Fotografie, die unter den in dieser Bestimmung angeführten Voraussetzungen hergestellt und unter Umständen vertrieben wird, die zu einer Besteuerung mit der Mehrwertsteuer führen ( 8 ), gilt als „Kunstgegenstand“ im Sinne dieser Bestimmung. In gleicher Weise ist jede Person, die eine solche Fotografie hergestellt hat, als „Künstler“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen.

26.

Der Begriff „Künstler“ in Anhang IX Teil A der Richtlinie 2006/112 erfüllt im Rahmen der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf die Lieferungen von Kunstgegenständen eine ergänzende Funktion. Denn nach Art. 103 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 gilt dieser Steuersatz nur für Lieferungen, die von den Urhebern der betreffenden Kunstgegenstände oder deren Rechtsnachfolgern ausgeführt werden. In der Richtlinie 2006/112 wird der Begriff des „Urhebers“ eines Kunstgegenstands nicht definiert, aber es erscheint mir mehr als offensichtlich, dass es sich nur um den „Künstler“ handeln kann, von dem in Anhang IX Teil A der Richtlinie 2006/112 die Rede ist. Deshalb entbehrt die von der französischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen vorgetragene Auffassung, dass sich der Begriff „Urheber“ in Art. 103 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 und der Begriff „Künstler“ in Anhang IX Teil A dieser Richtlinie voneinander unterschieden, meines Erachtens jeglicher Grundlage, da die Logik der Regelung des auf Kunstgegenstände anzuwendenden ermäßigten Steuersatzes gerade auf der Identität der Person, die die Lieferung ausführt, d. h. des Urhebers im Sinne von Art. 103 Abs. 2 Buchst. a, und des Schöpfers des in Rede stehenden Kunstgegenstands (des Künstlers im Sinne von Anhang IX Teil A) beruht.

27.

Die Verwendung des Begriffs „Künstler“ in Anhang IX Teil A Nr. 7 der Richtlinie 2006/112 rechtfertigt es also entgegen der von der französischen Regierung zur Stützung der Verwaltungspraxis dieses Mitgliedstaats vorgetragenen Auffassung nicht, bestimmten Fotografien aufgrund ihrer Themensetzung, ihres künstlerischen Niveaus oder der Eigenschaft ihres Urhebers die Eigenschaft als „Kunstgegenstand“ im Sinne dieser Bestimmung abzusprechen.

28.

Ich schlage daher vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 103 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit Anhang IX Teil A Nr. 7 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er nur voraussetzt, dass die Fotografien von ihrem Urheber aufgenommen und von ihm oder unter seiner Überwachung abgezogen wurden und signiert sowie nummeriert sind, wobei die Gesamtzahl der Abzüge, alle Formate und Trägermaterialien zusammengenommen, 30 nicht überschreiten darf, damit darauf der ermäßigte Mehrwertsteuersatz angewandt werden kann.

Zweite Vorlagefrage

29.

Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es den Mitgliedstaaten ungeachtet dessen, dass in Anhang IX Teil A Nr. 7 der Richtlinie 2006/112 eine solche Anforderung nicht vorgesehen ist, freisteht, bei Fotografien die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes von der Voraussetzung abhängig zu machen, dass die betreffenden Fotografien einen künstlerischen Charakter aufweisen, wobei diese Eigenschaft in den Rechtsvorschriften oder der Verwaltungspraxis der Mitgliedstaaten zu definieren ist. Mit anderen Worten geht diese Frage dahin, ob Anhang IX Teil A Nr. 7 der Richtlinie 2006/112 einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, wie sie in der Anweisung vom 25. Juni 2003 kodifiziert wurde.

30.

In diesem Zusammenhang weist die Kommission zu Recht darauf hin, dass der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf konkrete und spezifische Aspekte einer der Kategorien von Leistungen anzuwenden, für die sie die Möglichkeit der Anwendung eines solchen Satzes haben (selektive Anwendung), vorausgesetzt, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität gewahrt wird ( 9 ). Der Gerichtshof hat daher die Anwendung eines unterschiedlichen Steuersatzes auf die Verteilung von Energie im Rahmen einer Anschlussgrundgebühr und darüber hinaus ( 10 ), auf Leistungen des Anschlusses an die Netze für die Wasserversorgung und andere Dienstleistungen der Wasserversorgung ( 11 ), auf Leichentransporte und andere Leistungen der Bestattungsinstitute ( 12 ) sowie, vorbehaltlich der späteren Überprüfungen durch die nationalen Gerichte, auf Beförderungsleistungen per Taxi und Beförderungsleistungen in Fahrzeugen mit Fahrer ( 13 ), auf Bücher in Papierform und Bücher auf anderen Trägern ( 14 ) oder auch auf feine Backwaren und Kuchen (ohne Dauerbackwaren) je nach dem Verfallsdatum ( 15 ) zugelassen.

31.

Ich teile die Auffassung der Kommission, dass diese Rechtsprechung auf die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes nach Art. 103 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 übertragen werden kann.

32.

Mir scheint jedoch, dass die französische Verwaltungspraxis in Bezug auf die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf Fotografien, wie sie in der Anweisung vom 25. Juni 2003 kodifiziert wurde, nicht eine selektive Anwendung dieses Steuersatzes im Sinne der oben angeführten Rechtsprechung zum Ziel hat, sondern die Festlegung zusätzlicher Kriterien, die eine Unterscheidung zwischen Fotografien mit und ohne künstlerischen Charakter ermöglichen. Diese Feststellung wird sowohl durch den Wortlaut der zweiten Vorlagefrage als auch durch die Erklärungen der französischen Regierung bestätigt.

33.

So wird mit Teil I der Anweisung vom 25. Juni 2003 mit dem Titel „Kriterien der künstlerischen Fotografie“ der Versuch unternommen, die künstlerische Fotografie abstrakt zu definieren, insbesondere anhand der Kriterien der offenkundig schöpferischen Absicht des Urhebers und des Interesses für die allgemeine Öffentlichkeit. Es ist jedoch festzustellen, dass es sich dabei um in hohem Maße mehrdeutige und subjektive Kriterien handelt. Sie stellen weder die Wahrung der Rechtssicherheit sicher, da sie der Finanzverwaltung einen praktisch unbegrenzten Wertungsspielraum lassen, noch gewährleisten sie die steuerliche Neutralität, da zwei objektiv identische Fotografien unterschiedlich besteuert werden könnten, je nachdem, ob sie aus der Sicht der Steuerverwaltung eine offensichtliche schöpferische Absicht und ein Interesse für die allgemeine Öffentlichkeit aufweisen oder nicht.

34.

Teil II der Anweisung vom 25. Juni 2003 scheint diese Mehrdeutigkeit abzuschwächen, indem dort Klarstellungen hinsichtlich der Einstufung verschiedener Arten von Fotografien getroffen werden. Das Ergebnis ist jedoch noch weniger überzeugend.

35.

Zunächst werden in Teil II Nr. 1 der Anweisung vom 25. Juni 2003 Passfotos, Schulfotos sowie Gruppenfotos ausgeschlossen. Wenn auch die Kategorie der Passfotos recht einfach zu definieren ist, so gilt dies nicht für die beiden anderen Kategorien ( 16 ). Darüber hinaus ist nicht klar, wie diese Ausnahme mit den in Teil I der in Rede stehenden Anweisung aufgestellten Kriterien verbunden ist. Insbesondere das Gruppenporträt ist seit jeher ein künstlerisches Thema par excellence ( 17 ), so dass ein Gruppenfoto sehr wohl die offenkundig künstlerische Absicht seines Urhebers belegen und von Interesse für die allgemeine Öffentlichkeit sein könnte.

36.

Sodann werden in Teil II Nr. 2 der Anweisung vom 25. Juni 2003 Fotografien, bei denen hauptsächlich die Eigenschaft des fotografierten Motivs von Interesse ist, ausgeschlossen – allerdings nur „im Allgemeinen“. Lediglich beispielhaft werden Fotografien genannt, die Familienereignisse, wie Hochzeiten und Kommunionsfeiern, illustrieren. Die Feststellung, ob eine Fotografie von Interesse ist, bleibt damit auch hier der Wertung durch die Steuerverwaltung überlassen.

37.

Nach Teil II Nr. 3 der Anweisung vom 25. Juni 2003 kann der künstlerische Charakter einer Fotografie jedoch dadurch bekräftigt (wenn auch, wie es scheint, nicht endgültig nachgewiesen) werden, dass der Fotograf seine Werke in kulturellen, musealen oder kommerziellen Einrichtungen ausstellt oder sie veröffentlicht oder dass er spezifisches Material verwendet.

38.

Das Kriterium der Ausstellung oder der Veröffentlichung der Werke des Fotografen verstößt meines Erachtens gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität. Mit diesem Kriterium wird der auf die Lieferung eines Gegenstands (der Fotografie) entfallende Steuersatz nämlich von den Eigenschaften des diese Lieferung ausführenden Steuerpflichtigen abhängig gemacht. Diese sind aber im Zusammenhang mit der Erhebung der Mehrwertsteuer unerheblich. So könnte ein und dieselbe Lieferung an ein und denselben Empfänger dem Normalsteuersatz oder einem ermäßigten Steuersatz unterliegen, je nachdem, ob der Verkäufer die Ausstellung oder Veröffentlichung seiner Werke nachweist, die, wenn ich es richtig sehe, nicht unbedingt mit dem Gegenstand der Lieferung identisch sein müssen.

39.

Das Kriterium des verwendeten Materials wiederum ist mit ernsthaften Gefahren einer Wettbewerbsverzerrung verbunden, da es bestimmte Technologien (die analoge Technik und insbesondere die Arbeit mit Silberhalogeniden), bestimmte Formate und bestimmte Verfahren (Abzug auf Papier) bevorzugt und andere Technologien, wie z. B. die Digitaltechnik, nicht berücksichtigt. Diese technischen Unterschiede haben aber weder einen Einfluss auf den künstlerischen Charakter der hergestellten Fotografie, noch sind sie im Hinblick auf den zu erhebenden Steuersatz von irgendeiner Bedeutung.

40.

Mit der Anweisung vom 25. Juni 2003 wird somit der Versuch unternommen, mit Begriffen der Verwaltung etwas, nämlich den künstlerischen Charakter eines Werks, zu erfassen, was nicht erfasst werden kann. Dieser Versuch, die Steuerverwaltung in eine kunstkritische Instanz zu verwandeln, beeinträchtigt unausweichlich die Rechtssicherheit, den Grundsatz der steuerlichen Neutralität und den Wettbewerb. Es handelt sich daher bei Weitem nicht um jene objektiven und eindeutigen Kriterien, die der Gerichtshof in der oben in Nr. 30 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung zugelassen hat, um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, den Anwendungsbereich des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf bestimmte Kategorien von Gegenständen und Dienstleistungen, bei denen die Anwendung eines solchen Steuersatzes möglich ist, zu begrenzen. Die französische Verwaltungspraxis, wie sie in der Anweisung vom 25. Juni 2003 kodifiziert wurde, verstößt somit gegen die allgemeinen Grundsätze des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems.

41.

Diese Feststellung wird nicht durch das Vorbringen der französischen Regierung entkräftet, die Beschränkung der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes allein auf Fotografien mit künstlerischem Charakter ergebe sich aus der Zielsetzung von Art. 103 der Richtlinie 2006/112, nämlich der Förderung der Entwicklung des Marktes für Kunstgegenstände.

42.

Zwar werden in den Erwägungsgründen der Richtlinie 2006/112 nicht die Gründe dargelegt, die den Unionsgesetzgeber dazu veranlasst haben, es den Mitgliedstaaten zu gestatten, den ermäßigten Steuersatz auf die in Anhang IX dieser Richtlinie aufgeführten Gegenstände anzuwenden. Es ist jedoch festzustellen, dass diese Befugnis sich in die Logik der in dieser Richtlinie vorgesehenen steuerlichen Vorzugsbehandlung von Gegenständen und Dienstleistungen einfügt, die eine breite Palette von Bedürfnissen im Bereich der Kultur und der Unterhaltung der Verbraucher befriedigen sollen. So wird in Art. 132 Abs. 1 Buchst. n der Richtlinie 2006/112 eine zwingende Steuerbefreiung für bestimmte kulturelle Dienstleistungen und eng damit verbundene Lieferungen von Gegenständen eingeführt. In Bezug auf den ermäßigten Steuersatz ermöglicht Art. 98 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit Anhang III dieser Richtlinie die Anwendung eines solchen Steuersatzes u. a. auf die Lieferung von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, auf die Eintrittsberechtigung für Veranstaltungen, Theater, Zirkus, Jahrmärkte, Vergnügungsparks, Konzerte, Museen, Tierparks, Kinos, Ausstellungen sowie ähnliche kulturelle Ereignisse und Einrichtungen, auf den Empfang von Rundfunk- und Fernsehprogrammen sowie auf Dienstleistungen von Schriftstellern, Komponisten und ausübenden Künstlern sowie diesen geschuldete urheberrechtliche Vergütungen.

43.

Keine dieser Bestimmungen erwähnt irgendeine Anforderung in Bezug auf den künstlerischen Charakter oder das künstlerische Niveau der zu den oben genannten Kategorien gehörenden Gegenstände oder Dienstleistungen. Ganz im Gegenteil legt die sehr weite Formulierung dieser Kategorien eher nahe, dass der Unionsgesetzgeber alle Arten von Aktivitäten im Bereich der Kultur und der Unterhaltung erfassen wollte, ohne ihr künstlerisches oder intellektuelles Niveau zu bewerten. Die der steuerlichen Vorzugsbehandlung solcher Tätigkeiten zugrunde liegende Zielsetzung beschränkt sich somit ersichtlich nicht auf die Förderung der Kunst im edlen Sinne des Wortes.

44.

Ich kann daher nicht erkennen, weshalb der angebliche Zweck von Art. 103 der Richtlinie 2006/112 die Begrenzung der Anwendung dieses Artikels auf Gegenstände von künstlerischem Charakter verlangen sollte. Wenn der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten die Befugnis eingeräumt hat, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf bestimmte Gegenstände (Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten) anzuwenden, und (in Anhang IX der Richtlinie 2006/112) eine Legaldefinition dieser Gegenstände vorgesehen hat, ist es nicht angebracht, diese Definition mit dem Versuch in Frage zu stellen, sie durch vage und mehrdeutige Begriffe zu präzisieren, mit der Begründung, dass sie dem Ziel schlecht diene, das der Unionsgesetzgeber mit der Einführung dieser Befugnis habe erreichen wollen.

45.

Dies gilt umso mehr, als die in Rede stehende französische Verwaltungspraxis, wie sie in der Anweisung vom 25. Juni 2003 kodifiziert und im Vorabentscheidungsersuchen sowie in den Erklärungen der französischen Regierung wiedergegeben wurde, in zweifacher Hinsicht nicht kohärent ist.

46.

Erstens hat die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass die Anforderung hinsichtlich des künstlerischen Charakters nur auf Fotografien und nicht auch auf andere in Anhang IX Teil A der Richtlinie 2006/112 aufgeführte Kategorien von Kunstgegenständen (ganz zu schweigen von Sammlungsstücken oder Antiquitäten, von denen in den Teilen B und C dieses Anhangs die Rede ist) angewandt werde. Werke, die mindere künstlerische Qualität aufweisen oder die nur für konkrete Personen von Interesse sind, gibt es indessen auch in anderen Bereichen der Kunst. In welcher Hinsicht sollte eine von einem „Straßenkünstler“ an einem Touristenort erstellte Zeichnung oder ein Kunstwerk, das Gedenkzwecken dient, besser sein als ein von einem professionellen Atelier erstelltes Familienfoto?

47.

Zweitens sieht Art. 279 Buchst. g CGI nach meiner Kenntnis die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes (derzeit 10 %) auf die Übertragung von Urhebervermögensrechten, auch in Bezug auf Fotografien, vor, ohne dass Anforderungen hinsichtlich eines künstlerischen Charakters der Werke, auf die sich diese Rechte beziehen, gestellt werden.

48.

Selbstverständlich bin ich mir der Tatsache bewusst, dass die Fotografie neben einem Mittel, sich künstlerisch auszudrücken, ein technisches Verfahren darstellt, mit dem ein Abbild der Realität zu Zwecken erzeugt werden kann, die mit der Befriedigung von Bedürfnissen der Kultur oder der Unterhaltung rein gar nichts zu tun haben, was es rechtfertigt, sie von der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auszuschließen. Dies ist beispielsweise der Fall bei Passbildern, bei Fotografien, mit denen zu Versicherungszwecken der Ort eines Unfalls oder Schadensfalls dokumentiert werden soll, bei Fotografien von Immobilien zu Verkaufs- oder Vermietungszwecken, bei medizinischen Lichtbildern usw. Diese Fotografien sind jedoch normalerweise nicht Gegenstand einer Lieferung unter den in Anhang IX Teil A Nr. 7 der Richtlinie 2006/112 angeführten Bedingungen. Die einzige erwähnenswerte Ausnahme kann nach meinem Dafürhalten Passbilder betreffen. Diese Kategorie von Fotografien lässt sich jedoch mit objektiven Kriterien hinreichend bestimmen, um sie leicht von der Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes ausnehmen zu können, ohne dass die Rechtssicherheit und die steuerliche Neutralität beeinträchtigt werden.

49.

Ich schlage daher vor, auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 103 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten unter dem Vorbehalt der Wahrung der Rechtssicherheit und der Steuerneutralität das Recht haben, den ermäßigten Steuersatz nur auf bestimmte in Anhang IX Teil A dieser Richtlinie aufgeführte Kategorien von Gegenständen anzuwenden, die objektiv und eindeutig definiert sind. Dagegen sind die Mitgliedstaaten nicht befugt, auf diese Gegenstände zusätzliche Anforderungen anzuwenden, die auf vagen Kriterien beruhen oder die den mit der Anwendung der Steuervorschriften betrauten Behörden einen weiten Wertungsspielraum lassen, wie etwa der künstlerische Charakter eines Gegenstands.

Dritte Vorlagefrage

50.

Die Antwort auf die dritte Frage folgt aus der Antwort, die nach meinem Vorschlag auf die ersten beiden Fragen zu geben ist, so dass insoweit keine eigenständige Prüfung erforderlich ist.

Vierte Vorlagefrage

51.

Mit seiner vierten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Mitgliedstaaten in anderen Bereichen des nationalen Rechts, insbesondere im Urheberrecht, angewandte Kriterien heranziehen können, um den Begriff „Kunstgegenstand“ in Bezug auf die Fotografien abzugrenzen. Ausgehend von der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die ersten beiden Vorlagefragen ist diese Frage zu verneinen. Dennoch möchte ich dazu folgende Bemerkungen machen.

52.

Im Urheberrecht sind Fotografien seit Langem als geistige Werke anerkannt ( 18 ). Der Begriff „Werk“ im Sinne des Urheberrechts beinhaltet jedoch keinerlei Wertung hinsichtlich des künstlerischen Charakters oder Niveaus des in Rede stehenden Gegenstands. Das Urheberrecht macht den vom ihm gewährten Schutz zwar davon abhängig, dass es sich um ein originales Werk handelt, d. h., dass das Werk eine geistige Schöpfung seines Urhebers darstellt, diese Voraussetzung wird jedoch großzügig ausgelegt, so dass sie leicht zu erfüllen ist. Diese Feststellung gilt auch für Fotografien, da die Fotografie entgegen bestimmten verbreiteten Vorstellungen nur selten eine vollkommene Abbildung der Wirklichkeit ( 19 ) darstellt: Schon durch die Bildeinstellung schneidet der Fotograf einen Teil aus dieser Wirklichkeit heraus und trifft damit eine kreative Entscheidung. Der im Urheberrecht verwendete Begriff „Werk“ wäre daher in keiner Weise hilfreich, um den Begriff „Kunstgegenstand“ im Sinne von Anhang IX Teil A Nr. 7 der Richtlinie 2006/112 einzugrenzen.

53.

Darüber hinaus wurde das Urheberrecht in der Union insbesondere durch die Richtlinie 2001/29/EG ( 20 ) weitgehend harmonisiert. Diese Harmonisierung umfasst den Begriff „Werk“, der einen autonomen Begriff des Unionsrechts darstellt ( 21 ). Hinsichtlich der Fotografien hat der Gerichtshof einfache Porträt- ( 22 ) und Landschaftsfotografien ( 23 ) als Werke anerkannt. Ich denke, dass ein Hochzeitsfoto ebenfalls als „Werk“ im Sinne des Urheberrechts eingestuft werden könnte.

Ergebnis

54.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu antworten:

1.

Art. 103 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit Anhang IX Teil A Nr. 7 dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass er nur voraussetzt, dass die Fotografien von ihrem Urheber aufgenommen und von ihm oder unter seiner Überwachung abgezogen wurden und signiert sowie nummeriert sind, wobei die Gesamtzahl der Abzüge, alle Formate und Trägermaterialien zusammengenommen, 30 nicht überschreiten darf, damit darauf der ermäßigte Mehrwertsteuersatz angewandt werden kann.

2.

Art. 103 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten unter dem Vorbehalt der Wahrung der Rechtssicherheit und der Steuerneutralität das Recht haben, den ermäßigten Steuersatz nur auf bestimmte in Anhang IX Teil A dieser Richtlinie aufgeführte Kategorien von Gegenständen anzuwenden, die objektiv und eindeutig definiert sind. Dagegen sind die Mitgliedstaaten nicht befugt, auf diese Gegenstände zusätzliche Anforderungen anzuwenden, die auf vagen Kriterien beruhen oder die den mit der Anwendung der Steuervorschriften betrauten Behörden einen weiten Wertungsspielraum lassen, wie etwa der künstlerische Charakter eines Gegenstands.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Charles Baudelaire schrieb 1859 aus Anlass der Erfindung der Daguerreotypie: „… die Industrie wird, indem sie in die Welt der Kunst einbricht, zu deren tödlichstem Feind …“ (Baudelaire, C., „Salon de 1859“, Revue française, Bd. XVII, 1859, S. 262).

( 3 ) ABl. 2006, L 347, S. 1.

( 4 ) Mit Wirkung vom 1. Januar 2012 wurde dieser Steuersatz auf 7 % angehoben.

( 5 ) Wie die englische („photographs taken by the artist“), die deutsche („vom Künstler aufgenommene Photographien“) und die spanische Sprachfassung („fotografías tomadas por el artista“) usw.

( 6 ) Anhang IX der Richtlinie 2006/112 findet nicht nur im Rahmen des ermäßigten Steuersatzes Anwendung, sondern auch im Bereich der in Titel XII Kapitel 4 dieser Richtlinie bestimmten steuerlichen Sonderregelungen.

( 7 ) Derzeit bleibt die große Mehrheit der Fotografien in der Form einer digitalen Datei, ohne dass ein Abzug auf einem körperlichen Träger erstellt wird. Diese Fotografien können auch auf digitalem Wege vermarktet werden. Dabei handelt es sich im Sinne der Bestimmungen über die Mehrwertsteuer um eine Dienstleistung, so dass sich die Frage ihrer Qualifizierung als Kunstgegenstände nicht stellt (vgl. Anhang II Nr. 3 der Richtlinie 2006/112).

( 8 ) D. h. unter den Voraussetzungen einer Lieferung eines Gegenstands im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit seines Verkäufers, der die Eigenschaft eines Mehrwertsteuerpflichtigen hat (vgl. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112). Insbesondere führt der gelegentliche Verkauf einer Fotografie außerhalb einer wirtschaftlichen Tätigkeit nicht dazu, dass darauf Mehrwertsteuer erhoben wird, so dass sich die Frage der Qualifizierung dieser Fotografie als Kunstgegenstand im Sinne von Anhang IX Teil A Nr. 7 der Richtlinie 2006/112 nicht stellt.

( 9 ) Vgl. u. a. Urteil vom 27. Februar 2014, Pro Med Logistik und Pongratz (C‑454/12 und C‑455/12, EU:C:2014:111, Rn. 43 bis 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 10 ) Urteil vom 8. Mai 2003, Kommission/Frankreich (C‑384/01, EU:C:2003:264, Rn. 29).

( 11 ) Urteil vom 3. April 2008, Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Torgau-Westelbien (C‑442/05, EU:C:2008:184, Nr. 2 Satz 2 des Tenors).

( 12 ) Urteil vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich (C‑94/09, EU:C:2010:253, Rn. 46).

( 13 ) Urteil vom 27. Februar 2014, Pro Med Logistik und Pongratz (C‑454/12 und C‑455/12, EU:C:2014:111, Nr. 1 des Tenors).

( 14 ) Urteil vom 11. September 2014, K (C‑219/13, EU:C:2014:2207, Tenor).

( 15 ) Urteil vom 9. November 2017, AZ (C‑499/16, EU:C:2017:846, Tenor).

( 16 ) Insbesondere die Kategorie der Schulfotos erscheint mir rätselhaft: Handelt es sich um Fotografien, die die Schüler und/oder Lehrkräfte abbilden, um von Schülern im Rahmen des Unterrichts erstellte Fotografien oder aber um andere Arten von Fotografien?

( 17 ) Um nur die „Laokoon-Gruppe“ oder „Das letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vinci zu nennen.

( 18 ) Eine der ersten Gerichtsentscheidungen, die die Fotografie unter den Schutz des Urheberrechts stellten, ist das Urteil des Supreme Court of the United States (Oberster Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika) vom 17. März 1884, Burrow-Giles Lithographic Co./Sarony, 111 U.S. 53 (1884) (vgl. Markiewicz, R., Ilustrowane prawo autorskie, Warschau, 2018, S. 106). Die am 9. September 1886 in Bern unterzeichnete Berner Übereinkunft über den Schutz von Werken der Literatur und Kunst verlangt seit der Akte von Berlin von 1908 den Schutz von Fotografien. Schließlich wurde mit Art. 9 des am 20. Dezember 1996 in Genf angenommenen Urheberrechtsvertrags der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) die Schutzdauer der Urheberrechte an Fotografien an jene anderer Kategorien von Werken angeglichen.

( 19 ) Oder besser des Bildes, das wir uns von der Wirklichkeit machen.

( 20 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10).

( 21 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2009, Infopaq International (C‑5/08, EU:C:2009:465, Rn. 31 bis 37).

( 22 ) Urteil vom 1. Dezember 2011, Painer (C‑145/10, EU:C:2011:798, Rn. 94).

( 23 ) Urteil vom 7. August 2018, Renckhoff (C‑161/17, EU:C:2018:634, Rn. 14).