SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GIOVANNI PITRUZZELLA

vom 26. Februar 2019 ( 1 )

Rechtssache C‑33/18

V

gegen

Institut national d’assurances sociales pour travailleurs indépendants,

Securex Integrity ASBL

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour du travail de Liège [Arbeitsgerichtshof Lüttich, Belgien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Übergangsbestimmungen – Art. 87 Abs. 8 – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 14c Buchst. b – Ausnahmen vom Grundsatz der Anwendung nur eines nationalen Rechts – Doppelte Zugehörigkeit -Einreichung eines Antrags, den gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 anzuwendenden Rechtsvorschriften unterstellt zu werden“

1.

Die vorliegende Rechtssache betrifft ein Vorabentscheidungsersuchen der Cour du travail de Liège (Arbeitsgerichtshof Lüttich, Belgien) über die Auslegung von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ( 2 ).

2.

Es handelt sich um eine Übergangsbestimmung zur Regelung der Situationen, in denen infolge des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 883/2004 am 1. Mai 2010 für eine Person die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen gelten, der durch die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ( 3 ) bestimmt wurde, die durch die Verordnung Nr. 883/2004 aufgehoben und ersetzt wurde.

3.

Mit seinem Vorabentscheidungsersuchen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 in einem Fall wie dem bei ihm anhängigen anwendbar ist, der eine Person, Herrn V, betrifft, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 883/2004 eine abhängige Beschäftigung in einem Mitgliedstaat und eine selbständige Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübte und einer doppelten Zugehörigkeit unterlag. Es ist das erste Mal, dass der Gerichtshof um eine Auslegung dieser Übergangsbestimmung gebeten wird.

I. Rechtlicher Rahmen

4.

Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 kodifizierte den Grundsatz der Einheitlichkeit der anwendbaren Rechtsvorschriften und sah vor, dass „[v]orbehaltlich de[s] Artikel[s] 14c … Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats [unterliegen]“.

5.

Als Ausnahme von diesem Grundsatz sah Art. 14c Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit deren Anhang VII Nr. 1 jedoch vor, dass der Erwerbstätige, der eine selbständige Tätigkeit in Belgien und eine abhängige Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, gleichzeitig zwei verschiedenen Rechtsvorschriften unterlag, nämlich denen des Ortes seiner abhängigen Beschäftigung und denen des Ortes seiner selbständigen Tätigkeit.

6.

Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 bestätigte den Grundsatz der Einheitlichkeit der anwendbaren Rechtsvorschriften und hob die in der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Ausnahmen von diesem Grundsatz alle auf.

7.

Nach Art. 13 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 „[unterliegt e]ine Person, die gewöhnlich in verschiedenen Mitgliedstaaten eine Beschäftigung und eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, … den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie eine Beschäftigung ausübt …“.

8.

Art. 87 („Übergangsbestimmungen“) Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„Gelten für eine Person infolge dieser Verordnung die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, der durch Titel II der Verordnung … Nr. 1408/71 bestimmt wird, bleiben diese Rechtsvorschriften so lange, wie sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert, und auf jeden Fall für einen Zeitraum von höchstens zehn Jahren ab dem Geltungsbeginn dieser Verordnung anwendbar, es sei denn, die betreffende Person beantragt, den nach dieser Verordnung anzuwendenden Rechtsvorschriften unterstellt zu werden. Der Antrag ist innerhalb von drei Monaten nach dem Geltungsbeginn dieser Verordnung bei dem zuständigen Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach dieser Verordnung anzuwenden sind, zu stellen, wenn die betreffende Person den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats ab dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung unterliegen soll. Wird der Antrag nach Ablauf dieser Frist gestellt, gelten diese Rechtsvorschriften für die betreffende Person ab dem ersten Tag des darauf folgenden Monats.“

II. Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

9.

Herr V arbeitete in Belgien als Rechtsanwalt bis 30. September 2007. In dieser Eigenschaft war er beim Institut national d’assurances sociales pour travailleurs indépendants (Landesinstitut der Sozialversicherungen für Selbständige, im Folgenden: INASTI) eingetragen und bei der Sozialversicherungskasse Securex Integrity ASBL (im Folgenden: Securex) versichert.

10.

Als die Rechtsanwaltskanzlei abgewickelt wurde, für die er arbeitete, wurde Herr V am 30. September 2007 zu einem der Abwickler der Kanzlei bestellt, und gleichzeitig trat er aus der Securex aus. Am nächsten Tag, dem 1. Oktober 2007, begann er eine Erwerbstätigkeit für eine in Luxemburg ansässige Gesellschaft, und demzufolge ist er ab diesem Zeitpunkt bei der luxemburgischen Sozialversicherung als Arbeitnehmer versichert.

11.

Im Jahr 2010 forderte das INASTI Herrn V auf, nähere Angaben zu seinem Mandat als Abwickler zu machen. Herr V antwortete, dass seine Bezüge nicht dazu führten, dass er als Selbständiger einzustufen sei oder dem Sozialstatut der Selbständigen unterliege.

12.

Im Jahr 2013 übermittelte das INASTI der Securex einen Berichtigungsbescheid für die Einkünfte, die Herr V in den Jahren 2008, 2009 und 2010 als Abwickler erhalten habe. Auf dieser Grundlage teilte die Securex Herrn V mit, dass er seit 1. Oktober 2007 ergänzend als Beitragspflichtiger neu einzustufen sei und daher für den Zeitraum von 2007 bis 2013 über 35000 Euro an Sozialversicherungsbeiträgen und Zuschlägen zu entrichten habe.

13.

Herr V focht diesen Bescheid vor dem Tribunal du travail d’Arlon (Arbeitsgericht Arlon, Belgien) an. Gleichzeitig beantragte er bei der Securex, ab 2014 nicht mehr dem ergänzenden System der sozialen Sicherheit zu unterliegen, und reichte einen Beleg dafür ein, dass er sein Mandat als Mitabwickler ab 1. Januar 2010 unentgeltlich ausgeübt habe.

14.

Da das Tribunal du travail d’Arlon (Arbeitsgericht Arlon) seine Klage abwies, legte Herr V beim vorlegenden Gericht gegen das im ersten Rechtszug ergangene Urteil ein Rechtsmittel ein, mit dem er u. a. geltend machte, dass INASTI und SECUREX aufgrund der Verordnung Nr. 883/2004 keinen Anspruch auf die streitigen Beiträge hätten.

15.

Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob in einer Situation wie der von Herrn V, in der zudem die Entscheidung über seine Zugehörigkeit zum belgischen ergänzenden System der sozialen Sicherheit rückwirkend im Dezember 2013 erlassen worden sei, Herr V verpflichtet war, gemäß Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 innerhalb von drei Monaten einen ausdrücklichen Antrag zu stellen, damit die Verordnung Nr. 883/2004 auf ihn anwendbar wird.

16.

Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen, dass eine Person, die vor dem 1. Mai 2010 eine abhängige Beschäftigung in Luxemburg und eine selbständige Tätigkeit in Belgien aufgenommen hat, einen ausdrücklichen Antrag stellen muss, um den nach der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbaren Rechtsvorschriften unterworfen zu werden, auch wenn sie in Belgien vor dem 1. Mai 2010 nicht beitragspflichtig war und den belgischen Rechtsvorschriften über das Sozialstatut der Selbständigen erst nach Ablauf der Frist von drei Monaten, die am 1. Mai 2010 begann, rückwirkend unterstellt wurde?

2.

Falls die erste Frage bejaht wird, führt dann der in Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Antrag, wenn er unter den vorgenannten Umständen gestellt wird, dazu, dass die Rechtsvorschriften des nach der Verordnung Nr. 883/2004 zuständigen Staates rückwirkend ab dem 1. Mai 2010 anwendbar sind?

III. Rechtliche Würdigung

17.

Einleitend ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht auf ein Ersuchen um Klarstellung, das der Gerichtshof gemäß Art. 101 der Verfahrensordnung an es gerichtet hatte, ausgeführt hat, dass zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 883/2004 bei Herrn V aufgrund seiner Tätigkeit als Abwickler für die in Abwicklung befindliche Rechtsanwaltskanzlei angenommen werden könne, dass er als selbständig Erwerbstätiger den belgischen Rechtsvorschriften unterliege.

18.

Daher sind die Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts unter Berücksichtigung dieser Prämisse zu prüfen ( 4 ).

19.

Nachdem dies geklärt ist, geht es bei den Vorlagefragen im Kern um die Frage der Anwendbarkeit von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 in einem Fall wie dem des Herrn V.

20.

Mit der ersten Frage soll in Erfahrung gebracht werden, ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass eine Person, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 883/2004, d. h. dem 1. Mai 2010, einerseits eine abhängige Beschäftigung in einem Mitgliedstaat (hier: Luxemburg) ausübte und daher den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterlag und andererseits eine selbständige Tätigkeit in Belgien ausübte und daher als selbständig Erwerbstätiger den belgischen Rechtsvorschriften unterlag, gemäß Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 einen ausdrücklichen Antrag stellen musste, um den nach der Verordnung Nr. 883/2004 anzuwendenden Rechtsvorschriften unterstellt zu werden.

21.

Für den Fall, dass dies bejaht werden sollte, soll mit der zweiten Frage in Erfahrung gebracht werden, ob ein solcher Antrag, wenn er unter besonderen Umständen wie denen des vorliegenden Falles gestellt wird, dazu führt, dass die nach der Verordnung Nr. 883/2004 anzuwendenden Rechtsvorschriften rückwirkend ab dem 1. Mai 2010 anwendbar sind.

22.

Zunächst ist die vom Königreich Belgien erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen. Es macht geltend, dass die beiden Vorlagefragen nicht die Realität und den Gegenstand des Rechtsstreits widerspiegelten und daher ein rein hypothetisches Problem aufwürfen.

23.

Insoweit ist auf die Rechtsprechung hinzuweisen, wonach der Gerichtshof dann, wenn die Fragen der nationalen Gerichte die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts betreffen, grundsätzlich gehalten ist, über ein Vorabentscheidungsersuchen zu befinden, es sei denn, er soll offensichtlich in Wirklichkeit dazu veranlasst werden, über einen konstruierten Rechtsstreit zu entscheiden oder Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben, die begehrte Auslegung des Unionsrechts steht in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Rechtsstreits oder der Gerichtshof verfügt nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind ( 5 ).

24.

Was erstens das Vorbringen der belgischen Regierung anbelangt, dass sich die beiden Vorlagefragen auf die unzutreffende tatsächliche Prämisse stützten, dass Herr V vor dem 1. Mai 2010 in Belgien nicht beitragspflichtig gewesen sei, ist festzustellen, dass es infolge der Antwort des vorlegenden Gerichts auf das in Nr. 17 der vorliegenden Schlussanträge erwähnte Ersuchen um Klarstellung nicht mehr zutrifft.

25.

Zweitens ist aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte jedenfalls klar ersichtlich, dass die Frage, ob Herr V verpflichtet war, einen Antrag gemäß Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 zu stellen, um nach dem 1. Mai 2010 ausschließlich den gemäß dieser Verordnung bestimmten Rechtsvorschriften, d. h. den luxemburgischen, unterstellt sein zu können, und die sich bejahendenfalls stellende Frage, welche Folgen sich daraus ergeben, dass ein solcher Antrag mehrere Jahre nach diesem Zeitpunkt gestellt wird, sicherlich Auswirkungen auf die Entscheidung des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits haben. Die Antwort auf diese Fragen beeinflusst nämlich unmittelbar die Zahl der Jahre, für die die belgischen Behörden von Herrn V die Entrichtung gegebenenfalls geschuldeter Beiträge verlangen dürften.

26.

Folglich sind die Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts nicht hypothetisch und damit zulässig.

27.

In der Sache geht aus der Akte hervor, dass Herr V zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 883/2004 gemäß der Ausnahme vom Grundsatz der Einheitlichkeit der anwendbaren Rechtsvorschriften in Art. 14c Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit deren Anhang VII Nr. 1 zwei Rechtsvorschriften unterlag: als Arbeitnehmer den luxemburgischen Rechtsvorschriften und als Person, die eine selbständige Tätigkeit ausübt, den belgischen Rechtsvorschriften.

28.

Mit der ersten Vorlagefrage soll im Licht von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 festgestellt werden, wie sich das Inkrafttreten dieser Verordnung auf diese Situation ausgewirkt hat.

29.

Daher bedarf es meines Erachtens einer Auslegung dieser Bestimmung, um zu prüfen, ob sie auf eine Situation wie die von Herrn V anwendbar ist. Wäre diese Übergangsbestimmung anwendbar, hätte Herr V nämlich einen Antrag gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 stellen müssen, um ausschließlich dem gemäß dieser Verordnung bestimmten Recht unterstellt zu sein. Wäre diese Übergangsbestimmung dagegen nicht anwendbar, wäre Herr V in Anbetracht der Aufhebung der in der Verordnung Nr. 1408/71 für Belgien vorgesehenen Ausnahme und gemäß dem Grundsatz der Einheitlichkeit der anwendbaren Rechtsvorschriften, der unter der Verordnung Nr. 883/2004 absolute Geltung erlangt hat, ausschließlich den gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmten Rechtsvorschriften, d. h. den luxemburgischen, unterstellt gewesen.

30.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden ( 6 ).

31.

Was zunächst den Wortlaut von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 anbelangt, ergibt sich daraus, dass diese Übergangsbestimmung Anwendung findet, wenn für eine Person aufgrund des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 883/2004 die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen gelten, der durch die Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt wird.

32.

Der Wortlaut dieser Bestimmung zeigt somit, dass sie für die Fälle gilt, in denen sich eine Person zunächst in einer Situation befindet, in der sie den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterstellt ist, und dann in einer Situation befindet, in der sie den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats unterstellt ist.

33.

Wie die Europäische Kommission zutreffend vorgetragen hat, erfasst diese Bestimmung dagegen ausdrücklich nicht Situationen wie die auf Art. 14c Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 gestützten, in denen die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit zweier Mitgliedstaaten gleichzeitig anwendbar sind und nach dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 883/2004 eine einzige dieser beiden Rechtsvorschriften anwendbar bleibt.

34.

Dass Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 auf eine Situation wie die des vor dem vorlegenden Gericht in Rede stehende nicht anwendbar ist, wird meines Erachtens auch durch den Zusammenhang, zu dem diese Bestimmung gehört, und durch die der mit der streitigen Regelung verfolgten Ziele bestätigt.

35.

In Bezug auf den Zusammenhang ist festzustellen, dass durch die Verordnung Nr. 883/2004 alle unter der Verordnung Nr. 1408/71 geltenden Ausnahmen vom Grundsatz der Einheitlichkeit der anwendbaren Rechtsvorschriften gestrichen wurden. Eine Auslegung von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 über seinen Wortlaut hinaus würde jedoch die Ausnahmeregelung erweitern, die eine doppelte Zugehörigkeit vorsieht, und wäre meines Erachtens nicht mit dem von der Verordnung Nr. 883/2004 eingeführten System vereinbar, das sich auf den Grundsatz der Einheitlichkeit der anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften stützt, der absolute Geltung erlangt hat.

36.

Desgleichen wurde der Zweck von Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin bestimmt, eine Vielzahl von Änderungen der anwendbaren Rechtsvorschriften bei der Umstellung auf die neue Verordnung zu vermeiden und für die betreffende Person hinsichtlich der anwendbaren Rechtsvorschriften eine weiche Landung zu ermöglichen, falls sich Abweichungen hinsichtlich der nach der Verordnung Nr. 1408/71 und der nach der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbaren Rechtsvorschriften ergeben ( 7 ).

37.

Daher spricht – wie die Kommission hervorgehoben hat – die in der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Streichung der unter der Verordnung Nr. 1408/71 bestehenden Möglichkeit einer doppelten Zugehörigkeit gegen die Ansicht, dass Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 einen Fortbestand dieser in der Verordnung Nr. 883/2004 im Übrigen gestrichenen Möglichkeit bezweckt haben könnte.

38.

Aus dem Vorstehenden folgt meines Erachtens, dass Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht anwendbar ist auf eine Situation wie die von Herrn V, der zum Zeitpunkt deren Inkrafttretens gemäß Art. 14c Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzeitig den Rechtsvorschriften zweier verschiedener Mitgliedstaaten unterlag.

39.

Aufgrund dieses Ergebnisses braucht meines Erachtens nicht auf das Vorbringen der belgischen Regierung zur Auslegung der Voraussetzung nach Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 eingegangen zu werden, nach der sich „der bis dahin vorherrschende Sachverhalt“ nicht ändern dürfe, damit die gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmten Rechtsvorschriften anwendbar blieben. Auf die Auslegung dieser Voraussetzung kommt es nämlich nur dann an, wenn Art. 87 Abs. 8 anwendbar ist, was unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen meines Erachtens hier nicht der Fall ist.

40.

Folglich war Herr V nicht verpflichtet, einen Antrag gemäß Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 zu stellen, um ab dem 1. Mai 2010 aufgrund ihres Art. 13 Abs. 3 ausschließlich dem gemäß dieser Verordnung bestimmten Recht, d. h. dem luxemburgischen Recht, unterstellt zu sein.

41.

Angesichts der Lösung, die ich dem Gerichtshof vorschlage, braucht die zweite Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts nicht beantwortet zu werden.

IV. Ergebnis

42.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Cour du travail de Liège (Arbeitsgerichtshof Lüttich, Belgien) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Art. 87 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass er nicht auf eine Person anwendbar ist, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung, d. h. am1. Mai 2010, gemäß Art. 14c Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, einer doppelten Zugehörigkeit unterlag. Eine solche Person war daher nicht verpflichtet, gemäß Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 einen ausdrücklichen Antrag zu stellen, um den nach dieser Verordnung anzuwendenden Rechtsvorschriften unterstellt zu werden.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. 2009, L 284, S. 43) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004).

( 3 ) Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung (ABl. 1997, L 28, S. 1), zuletzt geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 (ABl. 2008, L 177, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71).

( 4 ) Dagegen ist die Tatsache, dass die Entscheidung über seine Zugehörigkeit zum belgischen ergänzenden System der sozialen Sicherheit rückwirkend erlassen wurde, bei der Würdigung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 883/2004 meines Erachtens unerheblich. Die Verordnung soll nämlich nicht die inhaltlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anspruchs auf Leistungen der sozialen Sicherheit festlegen, und es ist grundsätzlich Sache der Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaats, diese Voraussetzungen festzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. September 2013, Brey, C‑140/12, EU:C:2013:565, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. Juni 2016, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑308/14, EU:C:2016:436, Rn. 65).

( 5 ) Vgl. Urteil vom 7. Dezember 2010, VEBIC (C‑439/08, EU:C:2010:739, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 6 ) Vgl. u. a. Urteil vom 21. März 2018, Klein Schiphorst (C‑551/16, EU:C:2018:200, Rn. 34).

( 7 ) Praktischer Leitfaden zum anwendbaren Recht in der Europäischen Union (EU), im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und in der Schweiz, erarbeitet und gebilligt von der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=11366&langId=de, S. 52).