URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

8. Mai 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Fiktive Umsätze – Unmöglichkeit des Abzugs der Steuer – Verpflichtung des Rechnungsausstellers, die darin enthaltene Mehrwertsteuer zu entrichten – Geldbuße in Höhe der zu Unrecht abgezogenen Mehrwertsteuer – Vereinbarkeit mit den Grundsätzen der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑712/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Commissione tributaria regionale di Lombardia (Finanzgericht der Region Lombardei, Italien) mit Entscheidung vom 9. Oktober 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Dezember 2017, in dem Verfahren

EN.SA. Srl

gegen

Agenzia delle Entrate – Direzione Regionale Lombardia Ufficio Contenzioso

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie der Richter A. Rosas, L. Bay Larsen und M. Safjan,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Capolupo und G. De Bellis, avvocati dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Gossement und F. Tomat als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. Januar 2019

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der EN.SA. Srl und der Agenzia delle Entrate – Direzione Regionale della Lombardia (Finanzverwaltung – Regionaldirektion der Lombardei, Italien) (im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen einer Steuernacherhebung bei diesem Unternehmen in Form einer Erhöhung der geschuldeten Mehrwertsteuer zuzüglich Zinsen und Sanktionen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.“

4

Art. 167 dieser Richtlinie sieht vor:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

5

In Art. 168 der Richtlinie heißt es:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)

die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

…“

6

Art. 203 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.“

7

Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“

Italienisches Recht

8

Das Decreto del Presidente della Repubblica n. 633 – Istituzione e disciplina dell’imposta sul valore aggiunto (Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 633 zur Einführung und Regelung der Mehrwertsteuer) vom 26. Oktober 1972 in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Dekret Nr. 633/1972) bestimmt in seinem Art. 17 Abs. 1:

„Steuerschuldner ist, wer steuerpflichtige Vermögensübertragungen oder Leistungen bewirkt; er hat die Steuer für alle bewirkten Umsätze zusammen und bereinigt um den in Art. 19 vorgesehenen Abzug gemäß den in Titel II vorgesehenen Modalitäten und Bedingungen an den Fiskus zu entrichten.“

9

Art. 19 Abs. 1 des Dekrets Nr. 633/1972 lautet:

„Zur Ermittlung der nach Art. 17 Abs. 1 geschuldeten Steuer oder des Überschusses im Sinne des Art. 30 Abs. 2 ist vom Betrag der Steuer auf die getätigten Umsätze der Betrag der vom Steuerpflichtigen entrichteten oder geschuldeten oder ihm im Wege der Überwälzung in Rechnung gestellten Steuer auf von ihm in Ausübung seines Unternehmens, Handwerks oder freien Berufs eingeführte oder erworbene Gegenstände und Dienstleistungen abzuziehen. Das Recht auf Abzug der Steuer auf erworbene oder eingeführte Gegenstände und Dienstleistungen entsteht in dem Zeitpunkt, in dem der Steueranspruch entsteht, und kann spätestens mit der Steuererklärung für das zweite Jahr, das auf das Jahr folgt, in dem das Abzugsrecht entstanden ist, und zu den Bedingungen, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Rechts galten, ausgeübt werden.“

10

Art. 21 des Dekrets Nr. 633/1972 sieht vor:

„Wird eine Rechnung für nicht existente Umsätze ausgestellt oder werden die Gegenleistungen für die Umsätze oder die entsprechenden Steuern in der Rechnung höher als der tatsächliche Betrag ausgewiesen, ist die Steuer auf den gesamten ausgewiesenen Betrag oder entsprechend den Angaben in den Rechnungen zu entrichten.“

11

Art. 6 Abs. 6 des Decreto legislativo n. 471 (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 471) vom 18. Dezember 1997 in der für das Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung sah vor:

„Wer die entrichtete, geschuldete oder ihm im Wege der Überwälzung in Rechnung gestellte Steuer zu Unrecht abzieht, ist mit einer Verwaltungssanktion in Höhe des vorgenommenen Vorsteuerabzugs zu bestrafen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

12

EN.SA. ist eine italienische Stromerzeugungs- und ‑vertriebsgesellschaft. Die Finanzverwaltung nahm eine Berichtigung der Mehrwertsteuererklärungen von EN.SA. für die Steuerjahre 2009 und 2010 vor. Sie lehnte den Abzug der Mehrwertsteuer auf Umsätze aus dem Erwerb von elektrischer Energie, die sie mangels tatsächlicher Übergabe der Ware „Energie“ als fiktiv erachtete, nach Art. 19 des Dekrets Nr. 633/1972 ab und verhängte gegen EN.SA. gemäß Art. 6 Abs. 6 des in Rn. 11 des vorliegenden Urteils genannten gesetzesvertretenden Dekrets eine Geldbuße in Höhe der zu Unrecht abgezogenen Mehrwertsteuer.

13

Hingegen stellte die Finanzverwaltung nicht fest, dass EN.SA. ihre Pflicht, die geschuldete Mehrwertsteuer für ihre jeweiligen Umsätze aus dem Verkauf von Elektrizität zu entrichten, verletzt habe.

14

Die betreffenden Umsätze sind nach Ansicht der Finanzverwaltung Teil eines „zirkulären“ Verkaufsmechanismus der gleichen Mengen an Energie zum gleichen Preis zwischen Gesellschaften derselben Gruppe. Sie seien allein zu dem Zweck vorgenommen worden, es der Gruppe „Green Network“ zu ermöglichen, in ihrer Buchhaltung größere Beträge auszuweisen, um Zugang zu Bankfinanzierungen zu erhalten.

15

Die Finanzverwaltung erließ gegenüber EN.SA. zwei Nacherhebungsbescheide, jeweils in Form einer Erhöhung der Mehrwertsteuer (zuzüglich Zinsen und einer Geldbuße), in Höhe von 47618491 Euro für das Steuerjahr 2009 und von 22001078 Euro für das Steuerjahr 2010.

16

EN.SA. erhob Klagen gegen diese Bescheide vor der Commissione tributaria provinciale di Milano (Finanzgericht der Provinz Mailand, Italien), die diese abwies. Gegen das Urteil dieses Gerichts legte sie bei der Commissione tributaria regionale di Lombardia (Finanzgericht der Region Lombardei, Italien) Berufung ein.

17

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umsätze aus dem fiktiven Verkauf von Elektrizität ihren Urhebern aufgrund der „Zirkularität“ der Umsätze und des fehlenden Verlusts von Einnahmen für den Fiskus keinen Steuervorteil verschafft haben. Es möchte wissen, ob es im vorliegenden Fall in Bezug auf die fiktiven Umsätze mit den Grundsätzen des Unionsrechts vereinbar ist, den Händler der Mehrwertsteuer zu unterwerfen. Da keine Steuerhinterziehung vorliege, sollte der Grundsatz der Steuerneutralität Vorrang haben und stünden die Versagung des Abzugs der ordnungsgemäß entrichteten Mehrwertsteuer und die Verhängung einer zusätzlichen Geldbuße in Höhe der zu Unrecht abgezogenen Mehrwertsteuer außer Verhältnis zu dem Verstoß, der darin bestanden habe, Rechnungen für fiktive Umsätze auszustellen.

18

Unter diesen Umständen hat die Commissione tributaria regionale di Lombardia (Finanzgericht der Region Lombardei) entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht bei als inexistent erachteten Umsätzen, die dem Fiskus keinen Schaden verursacht und dem Steuerpflichtigen keinen Steuervorteil verschafft haben, die nationale Regelung, die sich aus der Anwendung der Art. 19 (Vorsteuerabzug) und 21 Abs. 7 (Inrechnungstellung der Umsätze) des Dekrets Nr. 633/1972 und von Art. 6 Abs. 6 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 471 vom 18. Dezember 1997 (Verletzung von Pflichten im Zusammenhang mit der Dokumentierung, Registrierung und Identifizierung von Umsätzen) ergibt, mit den vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätzen des Unionsrechts im Bereich des Mehrwertsteuerrechts im Einklang, wenn die gleichzeitige Anwendung der nationalen Vorschriften dazu führt, dass

a)

die Steuer, die der Erwerber beim Erwerb gezahlt hat, bei keinem der streitigen, dasselbe Steuersubjekt und dieselbe Steuerbemessungsgrundlage betreffenden Umsätze abzugsfähig ist;

b)

die Steuer auf die entsprechenden parallelen Veräußerungsumsätze, die ebenfalls als inexistent erachtet werden, erhoben und vom Veräußerer entrichtet wird (und eine Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge ausgeschlossen ist);

c)

eine Sanktion in Höhe der als nicht abzugsfähig erachteten Vorsteuer verhängt wird?

Zur Vorlagefrage

19

Auch wenn das vorlegende Gericht seine Fragen formal auf die Auslegung von „vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätzen des Unionsrechts im Bereich des Mehrwertsteuerrechts“ beschränkt hat, indem es besonders die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität erwähnt, hindert dies den Gerichtshof nicht daran, alle Auslegungshinweise des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom vorlegenden Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, L.E.G.O., C‑242/17, EU:C:2018:804, Rn. 43, vom 7. Februar 2019, Escribano Vindel, C‑49/18, EU:C:2019:106, Rn. 32, und vom 12. Februar 2019, TC, C‑492/18 PPU, EU:C:2019:108, Rn. 37).

Zu den ersten beiden Teilen der Frage

20

Mit den ersten beiden Teilen seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der fiktive Verkäufe von Elektrizität, die in einer „zirkulären“ Art und Weise zwischen denselben Händlern und für dieselben Beträge durchgeführt wurden, nicht zu Verlusten von Steuereinnahmen geführt haben, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Abzug für die auf fiktive Umsätze entfallende Mehrwertsteuer ausschließt und zugleich die Personen, die die Mehrwertsteuer auf einer Rechnung ausweisen, verpflichtet, diese Steuer auch für einen fiktiven Umsatz zu entrichten.

21

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die beiden oben genannten nationalen Rechtsvorschriften auf entsprechenden Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie beruhen.

22

Zum einen ergibt sich die Nichtabzugsfähigkeit der auf fiktive Umsätze entfallenden Mehrwertsteuer aus Art. 168 dieser Richtlinie.

23

Aus diesem Artikel geht nämlich hervor, dass der Steuerpflichtige die Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen abziehen kann, die er für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet. Mit anderen Worten ist das Recht auf Abzug der für den Bezug von Gegenständen oder Dienstleistungen auf der Eingangsstufe entrichteten Mehrwertsteuer nur gegeben, wenn die hierfür getätigten Aufwendungen zu den Kostenelementen der auf der Ausgangsstufe versteuerten Umsätze gehören (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2012, Portugal Telecom, C‑496/11, EU:C:2012:557, Rn. 36).

24

Wenn jedoch ein aus dem Erwerb eines Gegenstands oder einer Dienstleistung resultierender Umsatz fiktiv ist, kann er in keinerlei Verbindung zu den auf der Ausgangsstufe versteuerten Umsätzen des Steuerpflichtigen stehen. Daher kann kein Recht auf Vorsteuerabzug entstehen, wenn die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung tatsächlich nicht bewirkt wurde (Urteil vom 27. Juni 2018, SGI und Valériane, C‑459/17 und C‑460/17, EU:C:2018:501, Rn. 36).

25

Dem Mechanismus der Mehrwertsteuer ist daher immanent, dass ein fiktiver Umsatz nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen kann.

26

Zum anderen enthält Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie ausdrücklich für jede Person, die die Mehrwertsteuer in einer Rechnung ausweist, die Verpflichtung, diese Steuer zu entrichten. Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass die in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer vom Aussteller dieser Rechnung geschuldet wird, auch wenn jeder tatsächlich steuerpflichtige Umsatz fehlt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2013, Stroy trans, C‑642/11, EU:C:2013:54, Rn. 38).

27

Grundsätzlich gelten die beiden oben genannten Vorschriften nicht für denselben Händler. Der Aussteller einer Rechnung schuldet die darauf ausgewiesene Mehrwertsteuer, während die Nichtabzugsfähigkeit der auf fiktive Umsätze entfallenden Mehrwertsteuer dem Empfänger dieser Rechnung entgegengehalten werden kann.

28

Allerdings gelten in der besonderen Situation des Ausgangsverfahrens die in den Art. 168 und 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten Anforderungen beide für denselben Händler. Die gleichen Mengen an Elektrizität wurden nämlich zum gleichen Preis von den Gesellschaften derselben Gruppe in einer „zirkulären“ Art und Weise fiktiv wiederverkauft, indem sie diese verkauften und auch wieder zum gleichen Preis ankauften. Somit war jeder Händler zugleich Aussteller einer Rechnung, die einen Mehrwertsteuerbetrag ausweist, und Empfänger einer anderen Rechnung über den Erwerb der gleichen Menge an Elektrizität zum gleichen Preis, die den gleichen Mehrwertsteuerbetrag ausweist. Als Rechnungsausstellerin und gemäß der Regel des Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie schuldete EN.SA. daher dem Fiskus den darin ausgewiesenen Mehrwertsteuerbetrag. Hingegen war es dieser Gesellschaft im Hinblick auf den fiktiven Charakter der betreffenden Umsätze gemäß der sich aus Art. 168 dieser Richtlinie ergebenden Anforderung nicht gestattet, die Steuer in Höhe desselben, auf der Rechnung ausgewiesenen Betrags abzuziehen, deren Empfängerin sie aufgrund des Rückkaufs der Elektrizität war.

29

Aus diesen Gründen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die kombinierte Anwendung dieser Anforderungen, die sich aus dem nationalen Recht ergeben und aus der Mehrwertsteuerrichtlinie übernommen wurden, auf einen Händler, der sich in einer Situation wie EN.SA. befindet, gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer verstößt.

30

Zwar soll der Unternehmer durch den Vorsteuerabzugsmechanismus, wie er in den Art. 167 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehen ist, vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden, wenn diese der Mehrwertsteuer unterliegt. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet somit die völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Oktober 2009, NCC Construction Danmark, C‑174/08, EU:C:2009:669, Rn. 27, und vom 22. Dezember 2010, RBS Deutschland Holdings, C‑277/09, EU:C:2010:810, Rn. 38).

31

Allerdings ist die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen auch ein Ziel, das von der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird (Urteil vom 31. Januar 2013, Stroy trans, C‑642/11, EU:C:2013:54, Rn. 46). Die Gefährdung des Steueraufkommens ist jedoch grundsätzlich nicht vollständig beseitigt, solange der Empfänger eine Rechnung, in der ein Mehrwertsteuerbetrag zu Unrecht ausgewiesen ist, noch dazu nutzen kann, den Abzug dieser Steuer zu erlangen (Urteil vom 31. Januar 2013, Stroy trans, C‑642/11, EU:C:2013:54, Rn. 31).

32

Insoweit soll mit der in Art. 203 dieser Richtlinie vorgesehenen Pflicht der Gefährdung des Steueraufkommens entgegengewirkt werden, die sich aus dem Recht auf Vorsteuerabzug ergeben kann (Urteil vom 31. Januar 2013, Stroy trans, C‑642/11, EU:C:2013:54, Rn. 32).

33

Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darf diese Pflicht jedoch nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, und insbesondere den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer nicht übermäßig beeinträchtigen. In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der der fiktive Charakter der Umsätze die Abzugsfähigkeit der Steuer verhindert, wird der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer durch die von den Mitgliedstaaten vorzusehende Möglichkeit gewahrt, jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer zu berichtigen, wenn der Rechnungsaussteller seinen guten Glauben nachweist oder wenn er die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat (Urteil vom 31. Januar 2013, Stroy trans, C‑642/11, EU:C:2013:54, Rn. 43).

34

Im vorliegenden Fall geht aus den Erläuterungen, die das vorlegende Gericht dem Gerichtshof gegeben hat, hervor, dass EN.SA. wissentlich Rechnungen ausgestellt hat, die mit keinem tatsächlichen Umsatz in Zusammenhang stehen. Unter diesen Umständen kann sich diese Gesellschaft nicht auf ihren guten Glauben berufen. Die fiktiven Verkäufe von Elektrizität zwischen den betreffenden Gesellschaften haben hingegen dem vorlegenden Gericht zufolge nicht zu einem Verlust von Steuereinnahmen geführt. Wie die Generalanwältin in Nr. 47 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, folgt dies aus der Tatsache, dass die involvierten Gesellschaften die Mehrwertsteuer für Verkäufe von Elektrizität ordnungsgemäß gezahlt haben und dass sie, da sie in der Folge die gleichen Mengen an Elektrizität zum gleichen Preis wieder zurückgekauft haben, einen Mehrwertsteuerbetrag als Vorsteuer abgezogen haben, der mit demjenigen, den sie entrichtet hatten, identisch war.

35

Unter derartigen Umständen ergibt sich aus Rn. 33 des vorliegenden Urteils, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht der Grundsätze der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit die Mitgliedstaaten verpflichtet, dem Aussteller einer Rechnung über einen fiktiven Umsatz zu ermöglichen, die auf dieser Rechnung ausgewiesene Steuer erstattet zu bekommen, die er zu entrichten hatte, wenn er die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat.

36

Nach alledem ist auf die ersten beiden Teile der Vorlagefrage zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht der Grundsätze der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der fiktive Verkäufe von Elektrizität, die in einer „zirkulären“ Art und Weise zwischen denselben Händlern und für dieselben Beträge durchgeführt wurden, nicht zu Verlusten von Steuereinnahmen geführt haben, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den Abzug der auf fiktive Umsätze entfallenden Mehrwertsteuer ausschließt und zugleich die Personen, die die Mehrwertsteuer auf einer Rechnung ausweisen, verpflichtet, diese Steuer auch für fiktive Umsätze zu entrichten, sofern das nationale Recht erlaubt, die sich aus dieser Verpflichtung ergebende Steuerschuld zu berichtigen, wenn der Aussteller dieser Rechnung, der nicht gutgläubig war, die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

Zum dritten Teil der Frage

37

Mit dem dritten Teil seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens einer nationalen Rechtsvorschrift, nach der der zu Unrecht vorgenommene Abzug der Mehrwertsteuer mit einer Geldbuße in Höhe des durchgeführten Vorsteuerabzugs bestraft wird, entgegensteht.

38

Nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, Maßnahmen zu erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden. Insbesondere können die Mitgliedstaaten mangels einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften bei Nichtbeachtung der in der Unionsrechtsordnung für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts vorgesehenen Voraussetzungen die Sanktionen wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. September 2016, Senatex, C‑518/14, EU:C:2016:691, Rn. 41, und vom 26. April 2017, Farkas, C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 59 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine Grundsätze, insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer, zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Sanktionen dürfen also nicht über das zur Erreichung der in Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Ziele Erforderliche hinausgehen und die Neutralität der Mehrwertsteuer nicht in Frage stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean, C‑183/14, EU:C:2015:454, Rn. 62).

40

Erstens sind bei der Beurteilung der Frage, ob eine Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, u. a. die Art und die Schwere des Verstoßes, der mit dieser Sanktion geahndet werden soll, sowie die Methoden für die Bestimmung der Höhe dieser Sanktion zu berücksichtigen (Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im vorliegenden Fall das nationale Recht, um die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden, eine Geldbuße vorsieht, deren Höhe nicht anhand der Steuerschuld des Steuerpflichtigen berechnet wird, sondern dem Betrag der von diesem zu Unrecht abgezogenen Vorsteuer entspricht. Da die Steuerschuld des Mehrwertsteuerpflichtigen der Differenz zwischen der für die auf der Ausgangsstufe erbrachten Gegenstände und Dienstleistungen geschuldeten Steuer und der für die auf der Eingangsstufe erworbenen Gegenstände und Dienstleistungen abziehbaren Vorsteuer entspricht, ist nämlich der Betrag der zu Unrecht abgezogenen Vorsteuer nicht notwendigerweise gleich hoch wie diese Steuerschuld.

42

Das ist insbesondere im Ausgangsrechtsstreit der Fall. Wie die Generalanwältin in Nr. 63 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, war die Mehrwertsteuerschuld von EN.SA., da sie die gleichen Mengen an Elektrizität zum gleichen Preis fiktiv kaufte und verkaufte, für diese Umsätze bei null. In dieser Situation stellt eine Geldbuße in Höhe von 100 % der zu Unrecht abgezogenen Vorsteuer, die ohne Berücksichtigung der Tatsache verhängt wird, dass Mehrwertsteuer in gleicher Höhe auf der Ausgangsstufe ordnungsgemäß gezahlt wurde und der Fiskus demnach keinen Verlust von Steuereinnahmen erlitten hat, eine unverhältnismäßige Sanktion im Verhältnis zu dem mit ihr verfolgten Ziel dar.

43

Zweitens steht auch der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens der Anwendung einer Sanktion wie der im nationalen Recht vorgesehenen entgegen. In dieser Situation wird, wie in Rn. 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer durch die von den Mitgliedstaaten vorzusehende Möglichkeit gewahrt, jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer zu berichtigen, wenn der Rechnungsaussteller seinen guten Glauben nachweist oder wenn er die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat.

44

Wie die Generalanwältin in Nr. 57 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, führt aber die Verhängung einer Geldbuße in Höhe von 100 % der zu Unrecht abgezogenen Vorsteuer dazu, dass die hinsichtlich der Steuerschuld nach Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie gebotene Berichtigungsmöglichkeit leerläuft. Denn selbst wenn die Steuerschuld mangels Gefährdung des Steueraufkommens berichtigt werden kann, verbleibt aufgrund dieser Geldbuße eine Geldschuld in Höhe der zu Unrecht abgezogenen Vorsteuer.

45

Daher ist auf den dritten Teil der Vorlagefrage zu antworten, dass die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen sind, dass sie in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens einer nationalen Rechtsvorschrift, nach der der zu Unrecht vorgenommene Abzug der Mehrwertsteuer mit einer Geldbuße in Höhe des durchgeführten Vorsteuerabzugs bestraft wird, entgegenstehen.

Kosten

46

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der fiktive Verkäufe von Elektrizität, die in einer „zirkulären“ Art und Weise zwischen denselben Händlern und für dieselben Beträge durchgeführt wurden, nicht zu Verlusten von Steuereinnahmen geführt haben, ist die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Licht der Grundsätze der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den Abzug der auf fiktive Umsätze entfallenden Mehrwertsteuer ausschließt und zugleich die Personen, die die Mehrwertsteuer auf einer Rechnung ausweisen, verpflichtet, diese Steuer auch für fiktive Umsätze zu entrichten, sofern das nationale Recht erlaubt, die sich aus dieser Verpflichtung ergebende Steuerschuld zu berichtigen, wenn der Rechnungsaussteller, der nicht gutgläubig war, die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

 

2.

Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer sind dahin auszulegen, dass sie in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens einer nationalen Rechtsvorschrift, nach der der zu Unrecht vorgenommene Abzug der Mehrwertsteuer mit einer Geldbuße in Höhe des durchgeführten Vorsteuerabzugs bestraft wird, entgegenstehen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.