URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

19. Juni 2019 ( *1 )

„Rechtsmittel – Nichtigkeitsklage – Versendung der Klageschrift per Telefax – Einreichung des Originals der Klageschrift bei der Kanzlei des Gerichts nach Fristablauf – Verspätung bei der Postzustellung – Begriff ‚höhere Gewalt oder Zufall‘“

In der Rechtssache C‑660/17 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 24. November 2017,

RF mit Sitz in Gdynia (Polen), Prozessbevollmächtigter: K. Komar-Komarowski, radca prawny,

Rechtsmittelführerin,

andere Verfahrensbeteiligte:

Europäische Kommission, vertreten durch J. Szczodrowski, G. Meessen und I. Rogalski als Bevollmächtigte,

Beklagte im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richterin C. Toader sowie der Richter A. Rosas (Berichterstatter), L. Bay Larsen und M. Safjan,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Januar 2019

folgendes

Urteil

1

Mit ihrem Rechtsmittel beantragt RF die Aufhebung des Beschlusses des Gerichts der Europäischen Union vom 13. September 2017, RF/Kommission (T‑880/16, nicht veröffentlicht, im Folgenden: angefochtener Beschluss, EU:T:2017:647), mit dem das Gericht ihre Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2016) 5925 final der Kommission vom 15. September 2016 über die Zurückweisung ihrer Beschwerde in der Sache COMP AT.40251 – Schienenverkehr, Güterbeförderung (im Folgenden: streitiger Beschluss) als unzulässig abgewiesen hat.

Rechtlicher Rahmen

Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union

2

Im Titel III („Verfahren vor dem Gerichtshof“) bestimmt Art. 45 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union:

„In der Verfahrensordnung sind besondere, den Entfernungen Rechnung tragende Fristen festzulegen.

Der Ablauf von Fristen hat keinen Rechtsnachteil zur Folge, wenn der Betroffene nachweist, dass ein Zufall oder ein Fall höherer Gewalt vorliegt.“

3

In dem das Gericht betreffenden Titel IV der Satzung sieht Art. 53 Abs. 1 und 2 der Satzung vor:

„Das Verfahren vor dem Gericht bestimmt sich nach Titel III.

Das Verfahren vor dem Gericht wird, soweit dies erforderlich ist, durch seine Verfahrensordnung im Einzelnen geregelt und ergänzt. …“

Verfahrensordnung des Gerichts

4

Der Dritte Titel („Klageverfahren“) der Verfahrensordnung des Gerichts vom 4. März 2015 (ABl. 2015, L 105, S. 1), die am 1. Juli 2015 in Kraft getreten ist, enthält ein Erstes Kapitel („Allgemeine Bestimmungen“). Dieses Kapitel ist in fünf Abschnitte unterteilt, deren vierter die Fristen regelt und die Art. 58 bis 62 der Verfahrensordnung enthält.

5

Art. 58 der Verfahrensordnung des Gerichts, der die Fristberechnung betrifft, lautet:

„(1)   Die in den Verträgen, in der Satzung und in dieser Verfahrensordnung vorgesehenen Verfahrensfristen werden wie folgt berechnet:

b)

Eine nach … Monaten … bemessene Frist endet mit Ablauf des Tages, der … im letzten Monat … dieselbe Bezeichnung oder dieselbe Zahl wie der Tag trägt, an dem das Ereignis eingetreten oder die Handlung vorgenommen worden ist, von denen an die Frist zu berechnen ist. Fehlt bei einer nach Monaten … bemessenen Frist im letzten Monat der für ihren Ablauf maßgebende Tag, so endet die Frist mit Ablauf des letzten Tages dieses Monats.

…“

6

Art. 60 („Entfernungsfrist“) der Verfahrensordnung bestimmt:

„Die Verfahrensfristen werden um eine pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen verlängert.“

7

Art. 73 („Einreichung eines Verfahrensschriftstücks in Papierform bei der Kanzlei“) Abs. 3 der Verfahrensordnung sah vor:

„Abweichend von Artikel 72 Absatz 2 Satz 2 sind für die Wahrung der Verfahrensfristen der Tag und die Uhrzeit des Eingangs einer vollständigen Kopie des unterzeichneten Originals eines Verfahrensschriftstücks … mittels Telefax bei der Kanzlei maßgebend, sofern das unterzeichnete Original des Schriftstücks … spätestens zehn Tage danach bei der Kanzlei eingereicht wird. Artikel 60 findet auf diese Frist von zehn Tagen keine Anwendung.“

8

Dieser Art. 73 wurde im Zuge der Änderungen der Verfahrensordnung des Gerichts vom 11. Juli 2018 (ABl. 2018, L 240, S. 68) gestrichen, mit denen die Informatikanwendung „e‑Curia“ für die Einreichung von Verfahrensschriftstücken verbindlich gemacht worden ist.

9

Nach Art. 126 seiner Verfahrensordnung kann das Gericht, wenn eine Klage offensichtlich unzulässig ist, jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, ohne das Verfahren fortzusetzen.

Praktische Durchführungsbestimmungen zur Verfahrensordnung des Gerichts

10

Im Teil III.A.2, der die Einreichung von Verfahrensschriftstücken und zugehörigen Anlagen per Telefax betraf, sahen die Nrn. 79 bis 81 der Praktischen Durchführungsbestimmungen zur Verfahrensordnung des Gerichts (ABl. 2015, L 152, S. 1) vor:

„79.

Das Datum der Einreichung eines Verfahrensschriftstücks per Telefax ist für die Wahrung einer Frist nur dann maßgebend, wenn das vom Vertreter handschriftlich unterzeichnete Originalschriftstück, das Gegenstand der Übermittlung per Telefax war, wie in Art. 73 Abs. 3 der Verfahrensordnung vorgesehen spätestens zehn Tage danach bei der Kanzlei eingereicht wird.

80.

Das vom Vertreter handschriftlich unterzeichnete Originalschriftstück ist unverzüglich, unmittelbar nach seiner Übermittlung per Telefax, abzuschicken, ohne dass daran Korrekturen oder Änderungen, seien sie auch noch so gering, vorgenommen werden dürfen.

81.

Bei Abweichungen des vom Vertreter handschriftlich unterzeichneten Originalschriftstücks von der zuvor der Kanzlei per Telefax übermittelten Kopie gilt das Datum der Einreichung des unterzeichneten Originals als Eingangsdatum.“

Vorgeschichte des Rechtsstreits und angefochtener Beschluss

11

Da die Klage von RF eine Nichtigkeitsklage ist, war sie nach Art. 263 Abs. 6 AEUV binnen einer Frist von zwei Monaten zu erheben, die je nach Lage des Falles von der Bekanntgabe des Beschlusses, gegen den die Klage gerichtet war, seiner Mitteilung oder von dem Zeitpunkt an lief, zu dem RF davon Kenntnis erlangt hat.

12

Im vorliegenden Fall wurde der streitige Beschluss RF am 19. September 2016 bekannt gegeben. Die zweimonatige Klagefrist, verlängert um die zehntägige Entfernungsfrist gemäß Art. 60 der Verfahrensordnung des Gerichts, lief daher am 29. November 2016 um Mitternacht ab.

13

Am 18. November 2016 übermittelte RF der Kanzlei des Gerichts die Nichtigkeitsklageschrift per Telefax. Das unterzeichnete Original dieser Klageschrift ging jedoch erst am 5. Dezember 2016 bei der Kanzlei des Gerichts ein, d. h. nach Ablauf der in Art. 73 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehenen Frist von zehn Tagen ab Eingang des Telefax.

14

Mit Schreiben vom 20. Dezember 2016, 7. März 2017 und 19. Juni 2017 ersuchte die Kanzlei des Gerichts die Rechtsmittelführerin um Auskunft über den Zeitpunkt, zu dem der streitige Beschluss ihr bekannt gegeben wurde, und um Erläuterungen zur verspäteten Einreichung der Klageschrift.

15

Mit Schreiben vom 28. Dezember 2016, 28. April 2017 und 27. Juni 2017 reichte die Rechtsmittelführerin die erbetenen Erläuterungen ein.

16

In ihrem Schreiben vom 28. Dezember 2016 machte RF insbesondere geltend, dass die Papierfassung der Klageschrift an dem Tag versandt worden sei, an dem sie dem Gericht auch als Telefax übermittelt worden sei, und folglich – von diesem letztgenannten Zeitpunkt ausgehend – so schnell wie möglich. Es sei vernünftigerweise davon auszugehen gewesen, dass die Papierfassung der Klageschrift vor Ablauf der zehntägigen Frist bei der Kanzlei des Gerichts eingehen würde. Dass das Gericht sie erst am 5. Dezember 2016 erhalten habe, müsse als eine außergewöhnliche Verspätung angesehen werden, die unter Art. 45 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union in Verbindung mit ihrem Art. 53 Abs. 1 falle. Bestätigt werde dies dadurch, dass die zehntägige Frist sowohl in der Verfahrensordnung des Gerichts als auch in den Praktischen Durchführungsbestimmungen zu dieser Verfahrensordnung (Nr. 80) als angemessen angesehen werde. RF schloss daraus, dass die Klageschrift als fristgemäß eingereicht anzusehen sei.

17

RF fügte ihrem Schreiben vom 27. Juni 2017 Dokumente bei, die bescheinigten, dass die Sendung mit dem unterzeichneten Original der Klageschrift am 18. November 2016 bei Poczta Polska, dem führenden Postbetreiber in Polen, aufgegeben worden sei. Dieser Umstand belege, dass RF die erforderliche Sorgfalt habe walten lassen, um die Papierfassung der Klageschrift innerhalb der Frist von zehn Tagen ab ihrer Übermittlung per Telefax einzureichen. Dass sich die Sendung am 2. Dezember 2016 noch in Polen befunden habe und erst am 5. Dezember 2016, d. h. 17 Tage nach dem Versand per Telefax, bei der Kanzlei des Gerichts abgeliefert worden sei, sei ihr nicht zurechenbar.

18

In diesem Schreiben hob RF auch hervor, dass der Versand der Papierfassung der Klageschrift Poczta Polska anvertraut worden sei, und zwar wegen der von diesem öffentlichen Betreiber gebotenen Garantien. RF trug ferner vor, dass sich die die Klageschrift enthaltende Postsendung ab deren Aufgabe vollständig außerhalb ihrer Kontrolle befunden habe.

19

Das Gericht hat nach einem Hinweis in Rn. 15 des angefochtenen Beschlusses darauf, dass die in Art. 263 AEUV vorgesehenen Klagefristen zwingendes Recht seien, in Rn. 16 des Beschlusses ausgeführt, dass nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen – bei Vorliegen eines Zufalls oder eines Falles höherer Gewalt – von diesen Fristen abgewichen werden könne.

20

In den Rn. 17 und 18 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hingewiesen, nach der die Begriffe „höhere Gewalt“ oder „Zufall“ ein objektives und ein subjektives Merkmal umfassten, von denen Ersteres sich auf ungewöhnliche, außerhalb der Sphäre des Klägers liegende Umstände beziehe und Letzteres mit der Verpflichtung des Klägers zusammenhänge, sich gegen die Folgen ungewöhnlicher Ereignisse zu wappnen, indem er, ohne übermäßige Opfer zu bringen, geeignete Maßnahmen treffe. Insbesondere müsse der Kläger den Ablauf des eingeleiteten Verfahrens sorgfältig überwachen und zum Zweck der Einhaltung der vorgesehenen Fristen Sorgfalt walten lassen. Daher träfen die Begriffe „höhere Gewalt“ und „Zufall“ nicht auf eine Situation zu, in der eine sorgfältige und umsichtige Person objektiv in der Lage gewesen wäre, eine Rechtsbehelfsfrist nicht verstreichen zu lassen.

21

Das Gericht hat in Rn. 19 des angefochtenen Beschlusses hervorgehoben, dass ein Ereignis, um als „Zufall“ oder als „höhere Gewalt“ eingestuft zu werden, unvermeidlich sein müsse, so dass es den entscheidenden Grund für die Verfristung bilde.

22

In Rn. 20 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht ausgeführt, dass der Umstand, dass Art. 73 Abs. 3 seiner Verfahrensordnung eine Frist von zehn Tagen vorsehe, nicht bedeute, dass die Zustellung der das unterzeichnete Original der Klageschrift enthaltenden Post in mehr als zehn Tagen einen Zufall oder einen Fall höherer Gewalt darstelle. In Rn. 21 des Beschlusses hat es hervorgehoben, dass die bloße Langsamkeit der Postzustellung – ohne andere besondere Umstände wie ein Verwaltungsversagen, eine Naturkatastrophe oder einen Streik – an sich keinen Zufall oder Fall höherer Gewalt darstellen könne, gegen den sich die Rechtsmittelführerin nicht habe wappnen können.

23

In Rn. 26 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht festgestellt, dass die Rechtsmittelführerin auf ein Auskunftsersuchen des Gerichts hin lediglich vorgetragen habe, dass sie zum einen die das unterzeichnete Original der Klageschrift enthaltende Sendung per Einschreiben mit Rückschein verschickt habe und zum anderen aufgrund ihrer Kenntnisse angenommen habe, dass das versandte Dokument normalerweise vor Ablauf der Frist von zehn Tagen bei der Kanzlei des Gerichts eingehen sollte. Das Gericht hat ausgeführt, dass die Rechtsmittelführerin trotz ihrer Pflicht, den Ablauf des Postzustellungsverfahrens sorgfältig zu überwachen, insoweit nichts vorgetragen habe.

24

Darüber hinaus hat das Gericht in Rn. 27 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass sich RF auf keinen weiteren besonderen Umstand wie ein Verwaltungsversagen, eine Naturkatastrophe oder einen Streik berufen habe.

25

In Rn. 28 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht daher festgestellt, dass die Rechtsmittelführerin den ihr obliegenden Beweis nicht erbracht habe, dass die Dauer der Postzustellung der entscheidende Grund für die Verfristung in dem Sinne gewesen sei, dass es sich um ein unvermeidbares Ereignis gehandelt habe, gegen das sie sich nicht habe wappnen können.

26

Das Gericht ist in Rn. 29 des angefochtenen Beschlusses zu dem Ergebnis gekommen, dass RF hier nicht dargetan habe, dass ein Zufall oder ein Fall höherer Gewalt vorliege, und hat die Nichtigkeitsklage daher als offensichtlich unzulässig abgewiesen.

Anträge der Parteien vor dem Gerichtshof

27

RF beantragt,

den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache an das Gericht zurückzuverweisen, damit dieses über die Klage befindet und eine rechtsmittelfähige Entscheidung in der Sache erlässt;

für den Fall, dass der Gerichtshof feststellen sollte, dass die Voraussetzungen für eine endgültige Entscheidung in der Rechtssache vorliegen, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und den erstinstanzlichen Anträgen vollständig stattzugeben;

der Europäischen Kommission die Kosten aufzuerlegen.

28

RF beantragt ferner, bestimmte Dokumente als neue Beweise zuzulassen.

29

Die Kommission beantragt,

das Rechtsmittel zurückzuweisen;

RF die Kosten aufzuerlegen.

Zum Antrag auf Zulassung neuer Beweise

30

Der Antrag auf Zulassung neuer Beweise ist zurückzuweisen. Nach Art. 256 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV und Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Rechtsmittel nämlich unter Ausschluss der Würdigung des Sachverhalts auf Rechtsfragen beschränkt, so dass neue Beweise im Stadium des Rechtsmittels unzulässig sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 1995, Henrichs/Kommission, C‑396/93 P, EU:C:1995:280, Rn. 14, und Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. Januar 2008, Provincia di Ascoli Piceno und Comune di Monte Urano/Apache Footwear u. a., C‑464/07 P[I], nicht veröffentlicht, EU:C:2008:49, Rn. 12).

Zum Rechtsmittel

31

RF trägt vier Rechtsmittelgründe vor.

Zum ersten und zum zweiten Rechtsmittelgrund

Vorbringen der Parteien

32

Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund, mit dem eine Verletzung der Art. 45 und 53 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union gerügt wird, wirft RF dem Gericht vor, in den Rn. 17 bis 22 des angefochtenen Beschlusses den Begriff „höhere Gewalt“ dem Begriff „Zufall“ zu Unrecht gleichgestellt zu haben. Unter Bezugnahme auf Rn. 22 des Beschlusses vom 30. September 2014, Faktor B. i W. Gęsina/Kommission (C‑138/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2256), trägt RF vor, die in der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehene, der Entfernung Rechnung tragende Frist von zehn Tagen entspreche dem Zeitraum, in dem jede beliebige Postsendung aus jedem beliebigen Ort der Union die Kanzlei des Gerichts normalerweise erreichen können müsse, ohne dass sich eine Überschreitung dieses Zeitraums ausschließen lasse. Sie folgert daraus, dass die Überschreitung dieses Zeitraums aus dem Postbetreiber zurechenbaren Gründen unbestreitbar einen Zufall, d. h. unvorhersehbare Umstände, darstelle.

33

Dieses Argument werde durch Nr. 80 der Praktischen Durchführungsbestimmungen zur Verfahrensordnung des Gerichts bestätigt, wonach das vom Vertreter unterzeichnete Originalschriftstück unverzüglich, unmittelbar nach seiner Übermittlung per Telefax, abzuschicken sei.

34

RF macht schließlich geltend, die vom Gericht in dem angefochtenen Beschluss vorgenommene Auslegung des Begriffs „Zufall“ erzeuge eine Diskriminierung, da eine in Polen ansässige Partei nicht die Regelung nutzen könne, die es Parteien, deren Wohnsitz vom Sitz des Gerichts räumlich weit entfernt sei, erlaube, eine Klageschrift per Telefax zu senden. Für diese Parteien sei es nämlich nutzlos, die Klageschrift per Telefax zu senden, weil die Gefahr bestehe, dass das unterzeichnete Original erst nach Ablauf der Frist von zehn Tagen beim Gericht ankomme. Von ihnen könne jedoch nicht verlangt werden, ihre Klageschrift bei der Kanzlei des Gerichts persönlich einzureichen.

35

Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund trägt RF vor, das Gericht habe Art. 126 seiner Verfahrensordnung dadurch verletzt, dass es die Klage für offensichtlich unzulässig gehalten habe.

36

Die Kommission hält diese Rechtsmittelgründe für unbegründet.

Würdigung durch den Gerichtshof

37

Nach einer ständigen Rechtsprechung über die Wahrung der Klagefristen umfassen die Begriffe „Zufall“ und „höhere Gewalt“ dieselben Merkmale und haben dieselben Rechtsfolgen. Das Gericht hat in Rn. 17 des angefochtenen Beschlusses rechtsfehlerfrei ausgeführt, dass diese Begriffe ein objektives und ein subjektives Merkmal umfassen, von denen Ersteres sich auf ungewöhnliche, außerhalb der Sphäre des Klägers liegende Umstände bezieht und Letzteres mit der Verpflichtung des Klägers zusammenhängt, sich gegen die Folgen ungewöhnlicher Ereignisse zu wappnen, indem er, ohne übermäßige Opfer zu bringen, geeignete Maßnahmen trifft (Urteil vom 15. Dezember 1994, Bayer/Kommission, C‑195/91 P, EU:C:1994:412, Rn. 32; Beschlüsse vom 8. November 2007, Belgien/Kommission, C‑242/07 P, EU:C:2007:672, Rn. 17, und vom 30. September 2014, Faktor B. i W. Gęsina/Kommission, C‑138/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2256, Rn. 19).

38

Der Gerichtshof hat betont, dass der Kläger den Ablauf des eingeleiteten Verfahrens sorgfältig überwachen und insbesondere zum Zweck der Einhaltung der vorgesehenen Fristen Sorgfalt walten lassen muss (Urteil vom 15. Dezember 1994, Bayer/Kommission, C‑195/91 P, EU:C:1994:412, Rn. 32; Beschlüsse vom 8. November 2007, Belgien/Kommission, C‑242/07 P, EU:C:2007:672, Rn. 17, und vom 30. September 2014, Faktor B. i W. Gęsina/Kommission, C‑138/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2256, Rn. 19) und dass die Begriffe „Zufall“ und „höhere Gewalt“ nicht auf eine Situation zutreffen, in der eine sorgfältige und umsichtige Person objektiv in der Lage gewesen wäre, den Ablauf einer Klagefrist zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 1984, Ferriera Valsabbia/Kommission, 209/83, EU:C:1984:274, Rn. 22, und Beschluss vom 30. September 2014, Faktor B. i W. Gęsina/Kommission, C‑138/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2256, Rn. 20).

39

Im vorliegenden Fall hat die Rechtsmittelführerin jedoch lediglich behauptet, dass die Überschreitung der in der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehenen Frist von zehn Tagen auf dem Postbetreiber zurechenbare Gründe zurückzuführen sei, ohne – wie der Generalanwalt in Nr. 71 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – zu beweisen, dass sie alle geeigneten Maßnahmen getroffen hat, um sich gegen ein solches Ereignis zu wappnen. Der Versand des unterzeichneten Originals sofort nach der Übermittlung der Kopie per Telefax ist nämlich nur eine der insoweit zu treffenden Maßnahmen.

40

Dieses Ergebnis wird durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs gestützt, wonach der Umstand, dass die Verfahrensordnung des Gerichts für den Versand des Originals nach einem Versand durch elektronische Kommunikationsmittel eine pauschale Frist von zehn Tagen vorsieht, nicht bedeutet, dass die Postzustellung in mehr als zehn Tagen einen Zufall oder einen Fall höherer Gewalt darstellt. Ebenso wie die in Art. 60 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehene pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen ermöglichte die Frist von zehn Tagen, die in Art. 73 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehen war, eine Berücksichtigung der mehr oder weniger großen zurückzulegenden Entfernungen und der unterschiedlichen Schnelligkeit der Postbetreiber. Diese Frist entspricht daher nicht der garantierten maximalen Postlaufzeit, sondern dem Zeitraum, in dem jede beliebige Postsendung aus jedem beliebigen Ort der Union die Kanzlei des Gerichts normalerweise erreichen können muss, ohne dass sich eine Überschreitung dieses Zeitraums ausschließen lässt (vgl. entsprechend Beschluss vom 30. September 2014, Faktor B. i W. Gęsina/Kommission, C‑138/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2256, Rn. 22).

41

Entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführerin ist ein Zeitraum von mehr als zehn Tagen für die Postzustellung kein unvorhersehbares Ereignis, sondern stellt eine Möglichkeit dar, die trotz der Angaben der Postbetreiber eintreten kann.

42

Daher kann die bloße Langsamkeit der Postzustellung – ohne andere besondere Umstände – keinen Zufall oder Fall höherer Gewalt darstellen, gegen den sich die Rechtsmittelführerin nicht hat wappnen können (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 30. September 2014, Faktor B. i W. Gęsina/Kommission, C‑138/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2256, Rn. 23).

43

Aus denselben Gründen lässt sich aus Nr. 80 der Praktischen Durchführungsbestimmungen zur Verfahrensordnung des Gerichts nicht ableiten, dass in dem Fall, dass das vom Vertreter unterzeichnete Originalschriftstück unverzüglich, unmittelbar nach seiner Übermittlung per Telefax, abgeschickt wurde, der Empfang dieses Schriftstücks nach Ablauf der Frist von zehn Tagen als ein Zufall oder ein Fall höherer Gewalt anzusehen ist. Denn diese Durchführungsbestimmungen, die Erläuterungen und Ratschläge für die Parteien enthalten, um diese dazu anzuhalten, auf die Wahrung der Fristen zu achten, können Art. 45 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, wie er in der Rechtsprechung des Gerichtshofs ausgelegt worden ist, jedenfalls nicht entgegengehalten werden.

44

Was das Vorbringen anbelangt, dass eine Diskriminierung vorliege, die sich aus der Rechtsprechung zum Begriff „Zufall“ ergebe, hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass von den Unionsvorschriften über die Verfahrensfristen nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen – bei Vorliegen eines Zufalls oder eines Falles höherer Gewalt im Sinne von Art. 45 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union – abgewichen werden kann, da die strikte Anwendung dieser Vorschriften dem Erfordernis der Rechtssicherheit und der Notwendigkeit entspricht, jede Diskriminierung oder willkürliche Behandlung bei der Rechtspflege zu vermeiden (Beschluss vom 8. November 2007, Belgien/Kommission, C‑242/07 P, EU:C:2007:672, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45

Dass verneint wird, dass eine Langsamkeit der Postdienste für sich genommen einen Zufall oder einen Fall höherer Gewalt darstellen kann, ist eine Regel, die für jeden Einzelnen gilt, unabhängig vom Ort seines Wohnsitzes oder vom Ort des Versands des betreffenden Dokuments. Durch die Anwendung dieser Regel lässt sich vermeiden, dass der Einzelne diskriminiert oder willkürlich behandelt wird, da niemand bevorzugt behandelt wird, wenn er das unerwartete Auftreten eines Zufalls oder eines Falles höherer Gewalt geltend macht und beweist.

46

Folglich sind die ersten beiden Rechtsmittelgründe zurückzuweisen.

Zum dritten Rechtsmittelgrund

Vorbringen der Parteien

47

Mit dem dritten Rechtsmittelgrund wirft RF dem Gericht vor, unzutreffend angenommen zu haben, dass sie nicht dargetan habe, dass ein Zufall im Sinne von Art. 45 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union vorliege, und rügt insoweit die Feststellungen in Rn. 26 des angefochtenen Beschlusses. Sie macht geltend, es sei schwer vorstellbar, welche „zusätzlichen Maßnahmen“ sie hätte treffen können, um Verspätungen bei der Zustellung der Sendung zu vermeiden, da sie die Versandstrecke im Rahmen des Dienstes „Sendungsverfolgung“ geprüft habe, auch wenn sie ab einem bestimmten Zeitpunkt die weitere Kontrolle über den Versand verloren habe. Ihrer Auffassung nach ist die Ansicht des Gerichts, dass sie den Zeitraum der Zustellung der Postsendung habe beeinflussen können, offensichtlich unbegründet.

48

Nach Auffassung der Kommission ist der dritte Rechtsmittelgrund als unzulässig zurückzuweisen, da die Rechtsmittelführerin – ohne eine Verfälschung der dem Gericht vorgelegten Beweise zu behaupten – dessen Beweiswürdigung beanstande.

Würdigung durch den Gerichtshof

49

In Rn. 26 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht ausgeführt, dass die Rechtsmittelführerin selbst angegeben habe, die das unterzeichnete Original der Klageschrift enthaltende Sendung per Einschreiben mit Rückschein verschickt zu haben, aber keine weiteren Schritte vorgetragen habe. In Rn. 27 des Beschlusses hat das Gericht festgestellt, dass sich RF auf keinen weiteren besonderen Umstand wie ein Verwaltungsversagen, eine Naturkatastrophe oder einen Streik berufen habe. In Rn. 28 ist es zu dem Ergebnis gekommen, dass die Rechtsmittelführerin den ihr obliegenden Beweis nicht erbracht habe, dass die Dauer der Postzustellung der entscheidende Grund für die Verfristung in dem Sinne gewesen sei, dass es sich um ein unvermeidbares Ereignis gehandelt habe, gegen das sie sich nicht habe wappnen können.

50

Bei diesen Elementen handelt es sich jedoch um Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen, die nicht der Kontrolle durch den Gerichtshof unterliegen, sofern keine Verfälschung vorliegt, was im vorliegenden Fall nicht geltend gemacht worden ist. Wie in Rn. 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sind die Befugnisse des Gerichtshofs im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens nämlich auf Rechtsfragen beschränkt.

51

In Anbetracht dieser Schlussfolgerungen zum Sachverhalt ist das Gericht in Rn. 29 des angefochtenen Beschlusses rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Rechtsmittelführerin vorliegend nicht dargetan hat, dass ein Zufall oder ein Fall höherer Gewalt vorliegt.

52

Deshalb ist der dritte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.

Zum vierten Rechtsmittelgrund

Vorbringen der Parteien

53

Mit dem vierten Rechtsmittelgrund trägt RF vor, die Auslegung von Art. 45 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union durch das Gericht, nach der die Verspätung des Postbetreibers, die zur Überschreitung der Frist geführt habe, mit der der Entfernung Rechnung getragen werde, nicht unter den Begriff „Zufall“ falle, stelle einen Verstoß gegen Art. 1, Art. 6 Abs. 1 und Art. 14 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten dar. Sie macht geltend, dass diese Auslegung zu einer vom Ort des Wohnsitzes abhängigen Ungleichbehandlung führe und daher diskriminierend sei. Die dadurch entstehende Beschränkung der in Rede stehenden Grundrechte sei weder unerlässlich, noch stehe sie in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel.

54

Die Kommission trägt vor, der vierte Rechtsmittelgrund sei unzulässig, weil er zu vage sei, und jedenfalls unbegründet.

Würdigung durch den Gerichtshof

55

Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der nunmehr in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum Ausdruck kommt, der im Unionsrecht Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten entspricht (Urteil vom 10. Juli 2014, Telefónica und Telefónica de España/Kommission, C‑295/12 P, EU:C:2014:2062, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56

Dieser Grundsatz, dass jedermann Anspruch auf einen fairen Prozess hat, steht der Festlegung einer Frist für die Erhebung einer Klage nicht entgegen (Beschluss vom 16. November 2010, Internationale Fruchtimport Gesellschaft Weichert/Kommission, C‑73/10 P, EU:C:2010:684, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57

Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz durch die strikte Anwendung der Rechtsvorschriften der Union über die Verfahrensfristen, die nach ständiger Rechtsprechung dem Erfordernis der Rechtssicherheit und der Notwendigkeit entspricht, jede Diskriminierung oder willkürliche Behandlung bei der Rechtspflege zu verhindern, nicht beeinträchtigt wird (Beschluss vom 16. November 2010, Internationale Fruchtimport Gesellschaft Weichert/Kommission, C‑73/10 P, EU:C:2010:684, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58

Außerdem kann nach der Rechtsprechung ein Abweichen von diesen Vorschriften nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass es um Grundrechte geht. Die Vorschriften über die Klagefristen sind nämlich zwingendes Recht und vom Gericht so anzuwenden, dass die Rechtssicherheit und die Gleichheit des Einzelnen vor dem Gesetz gewährleistet sind (Beschluss vom 16. November 2010, Internationale Fruchtimport Gesellschaft Weichert/Kommission, C‑73/10 P, EU:C:2010:684, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59

Schließlich lässt sich, wie aus Rn. 45 des vorliegenden Urteils hervorgeht, durch die Anwendung der Regel, dass eine Langsamkeit der Postdienste für sich allein nicht die Ursache für das Vorliegen eines Zufalls oder eines Falles höherer Gewalt sein kann, vermeiden, dass der Einzelne diskriminiert oder willkürlich behandelt wird, da niemand bevorzugt behandelt werden darf, wenn er das unerwartete Auftreten eines Zufalls oder eines Falles höherer Gewalt geltend macht und beweist.

60

Folglich ist der vierte Rechtsmittelgrund unbegründet.

61

Da keiner der Rechtsmittelgründe durchgreift, ist das Rechtsmittel zurückzuweisen.

Kosten

62

Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, der nach ihrem Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

63

Da RF mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Der Antrag auf Zulassung neuer Beweise wird zurückgewiesen.

 

2.

Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.

 

3.

RF trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.