URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

24. Oktober 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – In einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitzmitgliedstaat erzielte Einkünfte – Bilaterales Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung – Aufteilung der Besteuerungsbefugnis – Besteuerungsbefugnis des Wohnsitzstaats – Anknüpfungspunkte“

In der Rechtssache C‑602/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance de Liège (Gericht erster Instanz Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 3. Oktober 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Oktober 2017, in dem Verfahren

Benoît Sauvage,

Kristel Lejeune

gegen

État belge

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Zweiten Kammer A. Arabadjiev in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer sowie der Richter C. G. Fernlund (Berichterstatter) und S. Rodin,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Sauvage und Frau Lejeune, vertreten durch M. Gustin, avocat,

der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, J.‑C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, H. Shev, L. Zettergren und A. Alriksson als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Gossement und C. Perrin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 AEUV.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den Herr Benoît Sauvage und Frau Kristel Lejeune gegen die belgische Steuerverwaltung wegen deren Entscheidung führen, den Teil der in Luxemburg erzielten Einkünfte zu besteuern, der mit der unselbständigen Arbeit von Herrn Sauvage in Zusammenhang steht und den Tagen entspricht, an denen er tatsächlich außerhalb des luxemburgischen Hoheitsgebiets unselbständig tätig war.

Rechtlicher Rahmen

Belgisch-luxemburgisches Abkommen

3

Das Abkommen zwischen dem Königreich Belgien und dem Großherzogtum Luxemburg zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Regelung verschiedener anderer Fragen auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen, das zusammen mit dem Schlussprotokoll zu diesem Abkommen am 17. September 1970 in Luxemburg unterzeichnet wurde, sieht in der Fassung des am 11. Dezember 2002 in Brüssel unterzeichneten Zusatzvertrags (im Folgenden: belgisch-luxemburgisches Abkommen) in Art. 15 Abs. 1 und 3 vor:

„(1)   Vorbehaltlich der Bestimmungen in den Artikeln 16, 18, 19 und 20 können Löhne, Gehälter und ähnliche Vergütungen, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Person aus unselbständiger Arbeit bezieht, nur in diesem Staat besteuert werden, es sei denn, dass die Arbeit in dem anderen Vertragsstaat ausgeübt wird. Wird die Arbeit dort ausgeübt, können die dafür bezogenen Vergütungen in dem anderen Staat besteuert werden.

(3)   Abweichend von den Absätzen 1 und 2 und unter dem in Abs. 1 genannten Vorbehalt gelten Vergütungen für eine an Bord eines Seeschiffes, Luftfahrzeugs oder Schienen- oder Straßenfahrzeugs im internationalen Verkehr oder an Bord eines Schiffes im Binnenverkehr ausgeübte unselbständige Arbeit als Vergütungen für eine Tätigkeit, die in dem Vertragsstaat ausgeübt wird, in dem sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung des Unternehmens befindet; sie können in diesem Staat besteuert werden.“

4

Art. 23 Abs. 2 Nr. 1 des Abkommens, der regelt, wie die Doppelbesteuerung der in Luxemburg bezogenen Löhne von Personen, die in Belgien ansässig sind, vermieden wird, lautet:

„Die aus Luxemburg stammenden Einkünfte – mit Ausnahme der unter die Nrn. 2 und 3 fallenden Einkünfte – und die in Luxemburg gelegenen Vermögensteile, die nach den vorstehenden Artikeln in diesem Staat besteuert werden können, sind in Belgien von der Steuer befreit. Diese Befreiung schränkt nicht das Recht Belgiens ein, die auf diese Weise befreiten Einkünfte und Vermögensteile bei der Festsetzung des Steuersatzes zu berücksichtigen.“

5

Nr. 8 des Schlussprotokolls des Abkommens bestimmt:

„Im Sinne von Art. 15 Abs. 1 und 2 wird eine unselbständige Arbeit in dem anderen Vertragsstaat ausgeübt, wenn die Tätigkeit, für die die Löhne, Gehälter und ähnlichen Vergütungen gezahlt werden, tatsächlich in diesem anderen Staat ausgeübt wird, d. h., wenn der Arbeitnehmer zur Ausübung dieser Tätigkeit körperlich in diesem anderen Staat anwesend ist.“

Belgisches Recht

6

Art. 3 des Code des impôts sur les revenus (Einkommensteuergesetzbuch) 1992 bestimmt:

„Die Einwohner des Königreichs unterliegen der Steuer der natürlichen Personen.“

7

Art. 5 des Einkommensteuergesetzbuchs sieht vor:

„Die Einwohner des Königreichs unterliegen der Steuer der natürlichen Personen mit all ihren in vorliegendem Gesetzbuch erwähnten steuerpflichtigen Einkünften, selbst wenn einige dieser Einkünfte im Ausland erzielt oder bezogen wurden.“

8

In Art. 155 des Einkommensteuergesetzbuchs heißt es:

„Einkünfte, die aufgrund internationaler Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung steuerfrei sind, werden für die Festlegung der Steuer berücksichtigt, wobei die Steuer jedoch im Verhältnis zum Anteil der steuerfreien Einkünfte an der Gesamtheit der Einkünfte ermäßigt wird ...“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

9

Herr Sauvage und Frau Lejeune haben ihren Wohnsitz in Belgien, wo sie mit ihren weltweit erzielten Einkünften zur Einkommensteuer veranlagt werden. Herr Sauvage ist bei einer Gesellschaft mit Sitz in Luxemburg tätig. Seine Aufgaben als Berater führen dazu, dass er für seinen Arbeitgeber außerhalb dieses Staates an Besprechungen teilnimmt und kurze Dienstreisen durchführt.

10

Für die Steuerjahre 2007 bis 2009 erklärte Herr Sauvage seine Gehälter als in Belgien zu versteuernde Einkünfte, erklärte die gesamten Einkünfte aber auch als steuerfreie Einkünfte unter Progressionsvorbehalt.

11

Im Anschluss an eine den Ort, an dem Herr Sauvage seine unselbständige Tätigkeit ausübte, betreffende Prüfung berichtigte die belgische Steuerverwaltung die Steuerbemessungsgrundlagen für diese drei Steuerjahre. Ihrer Auffassung nach war gemäß Art. 15 Abs. 1 des belgisch-luxemburgischen Abkommens der auf die abhängige Beschäftigung von Herrn Sauvage in Luxemburg entfallende Teil der Einkünfte in Bezug auf die Tage, an denen er seine unselbständige Tätigkeit tatsächlich außerhalb des luxemburgischen Hoheitsgebiets erbrachte, in Belgien zu versteuern.

12

Herr Sauvage und Frau Lejeune legten gegen die sie betreffenden Entscheidungen der Steuerverwaltung Beschwerden ein. Nach deren Zurückweisung erhoben sie beim Tribunal de première instance de Liège (Gericht erster Instanz Lüttich, Belgien) Klage, mit der sie die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 des Abkommens durch die Steuerverwaltung beanstandeten.

13

Vor diesem Gericht machten Herr Sauvage und Frau Lejeune geltend, Art. 15 Abs. 1 sei dahin auszulegen, dass begrenzte und gelegentliche Geschäftsreisen der ausschließlichen Besteuerungsbefugnis des Staates, in dem die Einkünfte erzielt worden seien, nicht entgegenstünden, da die betreffende Tätigkeit überwiegend dort erbracht worden sei und da sich die außerhalb dieses Staates erbrachten Leistungen in den Rahmen des in Luxemburg bestehenden Arbeitsverhältnisses eingefügt hätten. Hilfsweise beriefen sie sich darauf, dass ein Verstoß gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und den freien Dienstleistungsverkehr vorliege, die der AEU-Vertrag gewährleiste.

14

Das vorlegende Gericht ist im Wesentlichen der Auffassung, dass die fragliche Steuerregelung in Belgien ansässige Arbeitnehmer, die sich in einer Situation wie der von Herrn Sauvage befänden, davon abhalte, eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien anzunehmen, die Dienstreisen ins Ausland umfasse. Dagegen sehe Art. 15 Abs. 3 des belgisch-luxemburgischen Abkommens für den Fall, dass eine in Belgien ansässige Person eine unselbständige Tätigkeit an Bord eines Transportmittels ausübe, das im internationalen Verkehr von einem Unternehmen betrieben werde, dessen tatsächliche Geschäftsleitung sich in Luxemburg befinde, vor, dass seine gesamten Einkünfte aus einer solchen unselbständigen Tätigkeit auch dann von der Besteuerung in Belgien befreit seien, wenn die Tätigkeit, aufgrund deren diese Einkünfte gezahlt würden, tatsächlich außerhalb von Luxemburg ausgeübt werde.

15

Unter diesen Umständen hat das Tribunal de première instance de Liège (Gericht erster Instanz Lüttich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Verstößt Art. 15 Abs. 1 des belgisch-luxemburgischen Abkommens bei einer Auslegung, wonach er es gestattet, die Befugnis des Quellenstaats zur Besteuerung der Vergütungen eines in Belgien ansässigen Arbeitnehmers, der für einen luxemburgischen Arbeitgeber tätig ist, auf die im luxemburgischen Hoheitsgebiet ausgeübte Tätigkeit zu beschränken, so dass der Wohnsitzstaat den verbleibenden Betrag der Vergütungen für die außerhalb des luxemburgischen Hoheitsgebiets erbrachten Tätigkeiten besteuern darf, bei einer Auslegung, wonach eine ständige und tägliche körperliche Anwesenheit des Arbeitnehmers am Sitz seines Arbeitgebers verlangt wird, obwohl aufgrund einer flexibel, auf der Grundlage objektiver und nachprüfbarer Umstände, durchgeführten gerichtlichen Würdigung unstreitig ist, dass er sich regelmäßig dorthin begibt, und bei einer Auslegung, wonach die Gerichte das Vorhandensein und den Stellenwert der jeweils pro Tag erbrachten Leistungen im Verhältnis zu 220 Arbeitstagen beurteilen müssen, gegen Art. 45 AEUV, weil er eine Beeinträchtigung steuerlicher Art darstellt, die von grenzüberschreitenden Tätigkeiten abschreckt, und gegen den allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit, weil er keine beständige und sichere Regelung für die Befreiung aller Vergütungen vorsieht, die eine in Belgien ansässige Person aufgrund ihres Vertrags mit einem Arbeitgeber erhält, dessen tatsächliche Geschäftsleitung sich im Großherzogtum Luxemburg befindet, und diese Person der Gefahr einer Doppelbesteuerung ihrer gesamten Einkünfte oder eines Teils davon aussetzt sowie einer Regelung, der die Vorhersehbarkeit und jede Rechtssicherheit fehlen?

Zur Vorlagefrage

16

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die belgische Regierung vorbringt, der Gerichtshof sei nicht befugt, über Fragen nach der Vereinbarkeit des nationalen Rechts oder des Vertragsrechts mit dem Unionsrecht zu entscheiden. Der Gerichtshof könne den nationalen Gerichten hingegen Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die es ihnen ermöglichten, die Rechtsprobleme zu lösen, mit denen sie befasst seien.

17

Insoweit ist festzustellen, dass der Gerichtshof im Rahmen von Art. 267 AEUV zwar nicht dafür zuständig ist, darüber zu befinden, ob ein Vertragsstaat gegebenenfalls die Bestimmungen bilateraler Abkommen verletzt hat, die die Mitgliedstaaten geschlossen haben, um die nachteiligen Wirkungen, die sich aus dem Nebeneinander nationaler Steuersysteme ergeben, zu beseitigen oder abzumildern. Der Gerichtshof kann auch das Verhältnis zwischen einer nationalen Maßnahme und einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden bilateralen Steuerabkommen nicht prüfen, da diese Frage nicht die Auslegung des Unionsrechts betrifft (Urteil vom 16. Juli 2009, Damseaux, C‑128/08, EU:C:2009:471, Rn. 22).

18

Gehört jedoch eine Steuerregelung, die auf einem Steuerabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung beruht, zu dem auf eine Rechtssache anwendbaren rechtlichen Rahmen und wurde sie als solche vom nationalen Gericht dargestellt, muss der Gerichtshof sie gleichwohl berücksichtigen, um das Unionsrecht in einer Weise auszulegen, die für das nationale Gericht nützlich ist (Urteil vom 19. Januar 2006, Bouanich, C‑265/04, EU:C:2006:51, Rn. 51).

19

Vorliegend gehört die auf dem belgisch-luxemburgischen Abkommen beruhende Steuerregelung zu dem im Ausgangsverfahren anwendbaren rechtlichen Rahmen und wurde als solche vom vorlegenden Gericht dargestellt. Somit ist sie zu berücksichtigen, um zu einer für das vorlegende Gericht nützlichen Auslegung des Unionsrechts zu gelangen.

20

Zu der steuerlichen Behandlung, die sich aus dem belgisch-luxemburgischen Abkommen ergibt, ist festzustellen, dass die Vorlagefrage auf der Prämisse beruht, dass nach diesem Abkommen die Befreiung von Einkünften, die eine in Belgien ansässige Person in Luxemburg aufgrund einer dort ausgeübten unselbständigen Tätigkeit erzielt, von der belgischen Einkommensteuer davon abhängt, dass diese Person körperlich in Luxemburg anwesend ist. Wird die Tätigkeit, aufgrund deren die Einkünfte gezahlt werden, tatsächlich außerhalb dieses Staates ausgeübt, steht die Besteuerung der mit ihr erzielten Einkünfte somit dem Königreich Belgien zu.

21

Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen möchte, ob Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die auf einem Steuerabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung beruht und die Befreiung der Einkünfte eines Gebietsansässigen, die aus einem anderen Mitgliedstaat stammen und aufgrund eines dort bestehenden Beschäftigungsverhältnisses erzielt werden, davon abhängig macht, dass die Tätigkeit, aufgrund deren die Einkünfte gezahlt werden, tatsächlich in dem anderen Mitgliedstaat ausgeübt wird.

22

Nach ständiger Rechtsprechung bleiben die Mitgliedstaaten – in Ermangelung von Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung auf Unionsebene – dafür zuständig, die Kriterien für die Besteuerung des Einkommens und des Vermögens festzulegen, um – gegebenenfalls im Vertragsweg – die Doppelbesteuerung zu beseitigen. Dabei können die Mitgliedstaaten im Rahmen bilateraler Abkommen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung die Anknüpfungspunkte für die Aufteilung der Steuerhoheit festlegen (Urteil vom 12. Dezember 2013, Imfeld und Garcet, C‑303/12, EU:C:2013:822, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung)

23

Es liegt nahe, dass sich die Mitgliedstaaten hierbei an den in der internationalen Besteuerungspraxis befolgten Kriterien orientieren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Mai 1998, Gilly, C‑336/96, EU:C:1998:221, Rn. 31, und vom 16. Juli 2009, Damseaux, C‑128/08, EU:C:2009:471, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24

Die in Rn. 22 des vorliegenden Urteils erwähnte Aufteilung der Steuerhoheit erlaubt es den Mitgliedstaaten jedoch nicht, Maßnahmen anzuwenden, die gegen die vom AEU-Vertrag garantierten Verkehrsfreiheiten verstoßen. Bei der Ausübung der in dieser Weise im Rahmen eines bilateralen Doppelbesteuerungsabkommens aufgeteilten Steuerhoheit sind die Mitgliedstaaten nämlich verpflichtet, den Unionsvorschriften nachzukommen und insbesondere den Grundsatz der Gleichbehandlung einzuhalten (Urteile vom 12. Dezember 2002, de Groot, C‑385/00, EU:C:2002:750, Rn. 94, und vom 12. Dezember 2013, Imfeld und Garcet, C‑303/12, EU:C:2013:822, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Vorliegend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 15 des belgisch-luxemburgischen Abkommens – um zu verhindern, dass dieselben Einkünfte aus einem in Luxemburg bestehenden Beschäftigungsverhältnis sowohl im Königreich Belgien, in dem der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz hat, besteuert werden als auch im Großherzogtum Luxemburg, in dem die Einkünfte erzielt wurden – die Besteuerungsbefugnis in Bezug auf diese Einkünfte unter den beiden Vertragsstaaten aufteilt, wobei er grundsätzlich den Inhalt der Bestimmungen des von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ausgearbeiteten Musterabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen übernimmt.

26

In diesem Zusammenhang ist erstens festzustellen, dass nach den Angaben in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten die Einkünfte einer in Belgien ansässigen Person aus einem in Luxemburg bestehenden Beschäftigungsverhältnis, wenn die Tätigkeit, aufgrund deren diese Einkünfte gezahlt werden, tatsächlich außerhalb von Luxemburg erbracht wird, keiner anderen Behandlung unterliegen als die Einkünfte aus einem Beschäftigungsverhältnis in Belgien. Somit hängt die gerügte Benachteiligung mit dem Anknüpfungspunkt zusammen, den die Vertragsparteien des belgisch-luxemburgischen Abkommens in Bezug auf die Aufteilung ihrer Besteuerungsbefugnis bei den fraglichen Einkünften aus unselbständiger Tätigkeit gewählt haben, und mit der günstigeren steuerlichen Behandlung der steuerpflichtigen Einkünfte aus unselbständiger Tätigkeit in Luxemburg, nicht aber mit einer steuerlichen Benachteiligung dieser Einkünfte durch das Königreich Belgien.

27

Zum einen sind die Mitgliedstaaten aber, wie in Rn. 22 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bei der Definition der Anknüpfungspunkte für die Aufteilung ihrer Besteuerungsbefugnis frei, so dass der bloße Umstand, dass die Besteuerungsbefugnis des Staates, in dem die Einkünfte erzielt wurden, von der körperlichen Anwesenheit des gebietsansässigen Arbeitnehmers im Hoheitsgebiet dieses Staates abhängig gemacht wird, keine gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer verstoßende Diskriminierung oder Ungleichbehandlung darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 1998, Gilly, C‑336/96, EU:C:1998:221, Rn. 30).

28

Zum anderen soll ein Doppelbesteuerungsabkommen verhindern, dass ein und dieselben Einkünfte in jedem der beiden Vertragsstaaten des Abkommens besteuert werden, und nicht gewährleisten, dass die vom Steuerpflichtigen in dem einen Vertragsstaat erhobenen Steuern nicht höher sind als diejenigen, die von ihm im anderen Vertragsstaat erhoben würden (Urteil vom 19. November 2015, Bukovansky, C‑241/14, EU:C:2015:766, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher kann eine steuerliche Benachteiligung, die sich aus der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen dem Königreich Belgien als dem Wohnsitzstaat des Steuerpflichtigen und dem Großherzogtum Luxemburg als dem Staat, in dem die betreffenden Einkünfte aus unselbständiger Tätigkeit erzielt wurden, und aus den Unterschieden zwischen den Steuersystemen dieser beiden Staaten ergibt, nicht als eine gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer verstoßende Diskriminierung oder Ungleichbehandlung angesehen werden.

29

Zweitens kann auch der Umstand, dass die Einkünfte aus einem in Luxemburg bestehenden Beschäftigungsverhältnis, die einer in Belgien ansässigen Person für Tage gezahlt werden, an denen die Tätigkeit, aufgrund deren diese Einkünfte gezahlt werden, tatsächlich außerhalb von Luxemburg ausgeübt wurde, in Belgien besteuert werden, nicht als steuerliche Benachteiligung dieser Person gegenüber einer in Belgien ansässigen Person angesehen werden, deren Beschäftigungsverhältnis dort besteht und die ihre unselbständige Tätigkeit tatsächlich gelegentlich oder regelmäßig außerhalb von Belgien ausübt. Denn die Einkünfte aus unselbständiger Tätigkeit der letztgenannten Person sind in vollem Umfang in Belgien steuerpflichtig, während die Einkünfte der erstgenannten Person in diesem Staat nur besteuert werden, soweit die Tätigkeit, aufgrund deren sie gezahlt wurden, tatsächlich außerhalb von Luxemburg ausgeübt wurde.

30

Drittens kann auch nicht geltend gemacht werden, dass eine in Belgien ansässige Person mit einem Beschäftigungsverhältnis in Luxemburg, die ihre Tätigkeit gelegentlich oder regelmäßig tatsächlich außerhalb dieses Staates ausübt, ungünstiger behandelt wird als eine in Belgien ansässige Person, die ebenfalls in Luxemburg in einem Beschäftigungsverhältnis steht, aber deren Anwesenheit in diesem Staat unerlässlich ist, so dass sie ihre unselbständige Tätigkeit nur im Hoheitsgebiet dieses Staates ausübt. Beide profitieren nämlich von der im belgisch-luxemburgischen Abkommen und im belgischen Recht vorgesehenen Befreiung ihrer Einkünfte aus unselbständiger Tätigkeit für Tage, an denen sie tatsächlich in Luxemburg tätig sind.

31

Art. 15 Abs. 3 des belgisch-luxemburgischen Abkommens sieht, wie das vorlegende Gericht dargelegt hat, vor, dass die Einkünfte einer in Belgien ansässigen Person aus einem in Luxemburg bestehenden Beschäftigungsverhältnis, die mit einer unselbständigen Tätigkeit an Bord eines Transportmittels erzielt werden, das im internationalen Verkehr von einem Unternehmen betrieben wird, dessen tatsächliche Geschäftsleitung sich in Luxemburg befindet, auch dann in Belgien von der Steuer befreit sind, wenn die Tätigkeit, aufgrund deren diese Einkünfte gezahlt werden, tatsächlich nicht in diesem Staat ausgeübt wurde. Dagegen wird eine in Belgien ansässige Person, die sich in einer Situation wie der von Herrn Sauvage befindet, in Belgien besteuert, wenn die Tätigkeit, aufgrund deren die fraglichen Einkünfte gezahlt wurden, nicht tatsächlich in Luxemburg ausgeübt wurde.

32

Insoweit ist festzustellen, dass der Umstand, dass unterschiedliche Anknüpfungspunkte gewählt wurden, je nachdem, ob die unselbständige Tätigkeit durch eine hohe Mobilität auf internationaler Ebene gekennzeichnet ist oder nicht, nicht als eine gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer verstoßende Diskriminierung oder Ungleichbehandlung angesehen werden kann. Zum einen obliegt nämlich, wie aus Rn. 22 des vorliegenden Urteils hervorgeht, eine solche Entscheidung mangels Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung auf Unionsebene den betreffenden Mitgliedstaaten, und sie steht im Übrigen im Einklang mit der internationalen Steuerpraxis. Zum anderen befindet sich ein Gebietsansässiger, der einer durch hohe Mobilität auf internationaler Ebene gekennzeichneten unselbständigen Tätigkeit nachgeht, schon aufgrund des Charakters der Tätigkeit jedenfalls nicht in einer objektiv mit der Situation eines Gebietsansässigen in der Lage von Herrn Sauvage vergleichbaren Situation.

33

Schließlich können der bloße Umstand, dass der Anspruch auf einen steuerlichen Vorteil davon abhängt, dass der Steuerpflichtige den Nachweis für das Vorliegen der für seine Inanspruchnahme erforderlichen Voraussetzungen erbringt, oder das Bestehen einer gewissen Unsicherheit über die Ermittlung der Steuerlast schon zu Beginn des Steuerjahrs für sich genommen keine Beeinträchtigung im Sinne des Unionsrechts darstellen.

34

Erstens ist es nämlich dem Grundsatz der Steuerautonomie der Mitgliedstaaten inhärent, dass diese festlegen, welche Beweise erforderlich sind und welche materiellen und formellen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Steuervorteils erfüllt sein müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. Juni 2011, Meilicke u. a., C‑262/09, EU:C:2011:438, Rn. 37, sowie vom 9. Oktober 2014, van Caster, C‑326/12, EU:C:2014:2269, Rn. 47).

35

Die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten dürfen somit vom Steuerpflichtigen alle Belege verlangen, die ihnen für die richtige Anwendung der Steuer und für die Beurteilung der Frage notwendig erscheinen, ob die in der betreffenden Steuerregelung vorgesehenen Voraussetzungen für die Gewährung eines Steuervorteils erfüllt sind und ob der Vorteil demnach gewährt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. Juni 2011, Meilicke u. a., C‑262/09, EU:C:2011:438, Rn. 45, sowie vom 9. Oktober 2014, van Caster, C‑326/12, EU:C:2014:2269, Rn. 52).

36

Zweitens kann das steuerliche Ergebnis eines Steuerjahrs grundsätzlich erst an dessen Ende ermittelt werden, so dass es den Steuersystemen inhärent ist, dass die endgültige Steuerlast eines Steuerjahrs zu dessen Beginn nicht mit Sicherheit vorhergesehen werden kann.

37

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, die auf einem Steuerabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung beruht und die Befreiung der Einkünfte eines Gebietsansässigen, die aus einem anderen Mitgliedstaat stammen und aufgrund eines dort bestehenden Beschäftigungsverhältnisses erzielt werden, davon abhängig macht, dass die Tätigkeit, aufgrund deren die Einkünfte gezahlt werden, tatsächlich in dem anderen Staat ausgeübt wird, nicht entgegensteht.

Kosten

38

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, die auf einem Steuerabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung beruht und die Befreiung der Einkünfte eines Gebietsansässigen, die aus einem anderen Mitgliedstaat stammen und aufgrund eines dort bestehenden Beschäftigungsverhältnisses erzielt werden, davon abhängig macht, dass die Tätigkeit, aufgrund deren die Einkünfte gezahlt werden, tatsächlich in dem anderen Staat ausgeübt wird, nicht entgegensteht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.