URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

29. Juli 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Übereinkommen von Espoo – Übereinkommen von Aarhus – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43/EWG – Art. 6 Abs. 3 – Begriff ‚Projekt‘ – Prüfung auf Verträglichkeit mit dem betreffenden Gebiet – Art. 6 Abs. 4 – Begriff ‚zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses‘ – Erhaltung der wildlebenden Vogelarten – Richtlinie 2009/147/EG – Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten – Richtlinie 2011/92/EU – Art. 1 Abs. 2 Buchst. a – Begriff ‚Projekt‘ – Art. 2 Abs. 1 – Art. 4 Abs. 1 – Umweltverträglichkeitsprüfung – Art. 2 Abs. 4 – Ausnahme von der Prüfung – Schrittweiser Ausstieg aus der Kernenergie – Nationale Rechtsvorschriften, die zum einen vorsehen, dass die industrielle Stromerzeugung eines abgeschalteten Kernkraftwerks für die Dauer von fast zehn Jahren wieder aufgenommen wird, so dass der Zeitpunkt, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Stilllegung und die Einstellung des Betriebs dieses Kraftwerks festgelegt hat, um zehn Jahre aufgeschoben wird, und zum anderen, dass der Endtermin, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Stilllegung und die Einstellung der industriellen Stromerzeugung eines in Betrieb befindlichen Kraftwerks vorgesehen hat, ebenfalls um zehn Jahre aufgeschoben wird – Fehlende Umweltverträglichkeitsprüfung“

In der Rechtssache C‑411/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verfassungsgerichtshof (Belgien) mit Entscheidung vom 22. Juni 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juli 2017, in dem Verfahren

Inter-Environnement Wallonie ASBL,

Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen ASBL

gegen

Conseil des ministres,

Beteiligte:

Electrabel SA,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan und T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin C. Toader und des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter A. Rosas, M. Ilešič, J. Malenovský, M. Safjan, D. Šváby und C. G. Fernlund,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. September 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Inter-Environnement Wallonie ASBL und der Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen ASBL, vertreten durch J. Sambon, avocat,

der Electrabel SA, vertreten durch T. Vandenput und M. Pittie, avocats, sowie D. Arts und F. Tulkens, advocaten,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und J. Van Holm als Bevollmächtigte im Beistand von G. Block und K. Wauters, avocats, sowie von F. Henry,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil, J. Pavliš und L. Dvořáková als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze und D. Klebs, dann durch D. Klebs als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, zunächst vertreten durch C. Pesendorfer, dann durch M. Oswald und G. Hesse als Bevollmächtigte,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo, J. Reis Silva und L. Medeiros als Bevollmächtigte,

der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski als Bevollmächtigten,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon, J. Kraehling, G. Brown und R. Fadoju als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara, C. Zadra, M. Noll-Ehlers, R. Tricot und M. Patakia als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 29. November 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Übereinkommens über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen, das am 25. Februar 1991 in Espoo (Finnland) geschlossen und mit Beschluss des Rates vom 27. Juni 1997 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde (im Folgenden: Übereinkommen von Espoo), und des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, das am 25. Juni 1998 in Aarhus (Dänemark) geschlossen und durch den Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17. Februar 2005 (ABl. 2005, L 124, S. 1) im Namen der Gemeinschaft genehmigt wurde (im Folgenden: Übereinkommen von Aarhus), sowie der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7) in der durch die Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. 2013, L 158, S. 193) geänderten Fassung (im Folgenden: Habitatrichtlinie), der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 2010, L 20, S. 7) in der durch die Richtlinie 2013/17 geänderten Fassung (im Folgenden: Vogelschutzrichtlinie) und der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012, L 26, S. 1, im Folgenden: UVP-Richtlinie).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Inter-Environnement Wallonie ASBL und der Bond Beter Leefmilieu ASBL einerseits und dem Conseil des ministres (Ministerrat, Belgien) andererseits über das Gesetz, mit dem das Königreich Belgien zum einen vorgesehen hat, die industrielle Stromerzeugung eines abgeschalteten Kernkraftwerks für die Dauer von fast zehn Jahren wieder aufzunehmen, und zum anderen den Endtermin, der ursprünglich für die Außerbetriebnahme und die Einstellung der industriellen Stromerzeugung eines in Betrieb befindlichen Kernkraftwerks vorgesehen war, um zehn Jahre aufgeschoben hat.

I. Rechtlicher Rahmen

A. Völkerrecht

1.   Übereinkommen von Espoo

3

Nach Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) des Übereinkommens von Espoo bedeutet

„…

5.

‚geplantes Projekt‘ jedes Projekt oder jede größere Änderung eines Projekts, das der Entscheidung einer zuständigen Behörde nach einem geltenden innerstaatlichen Verfahren unterliegt;

9.

‚zuständige Behörde‘ die nationale Behörde bzw. Behörden, die von einer Partei für die Wahrnehmung der Aufgaben nach diesem Übereinkommen als zuständig benannt worden ist bzw. sind, und/oder die Behörde bzw. Behörden, der bzw. denen von einer Partei Befugnisse zur Entscheidung über ein geplantes Projekt übertragen worden sind;

…“

4

Art. 2 des Übereinkommens von Espoo bestimmt:

„(1)   Die Parteien ergreifen einzeln oder gemeinsam alle zweckmäßigen und wirksamen Maßnahmen zur Verhütung, Reduzierung und Eingrenzung einer erheblichen, grenzüberschreitenden nachteiligen Auswirkung eines geplanten Projekts.

(2)   Jede Partei ergreift die erforderlichen rechtlichen, administrativen oder sonstigen Maßnahmen zur Durchführung dieses Übereinkommens; dazu gehört bei den in Anhang I aufgeführten geplanten Projekten, die wahrscheinlich erhebliche, grenzüberschreitende nachteilige Auswirkungen zur Folge haben, die Schaffung eines Verfahrens zur Umweltverträglichkeitsprüfung, das die Beteiligung der Öffentlichkeit sowie die Ausarbeitung der in Anhang II beschriebenen Dokumentation zur Umweltverträglichkeitsprüfung gestattet.

(3)   Die Ursprungspartei stellt sicher, dass eine Umweltverträglichkeitsprüfung entsprechend diesem Übereinkommen durchgeführt wird, bevor über die Genehmigung oder Durchführung eines in Anhang I aufgeführten geplanten Projekts, das voraussichtlich eine erhebliche, grenzüberschreitende nachteilige Auswirkung zur Folge hat, entschieden wird.

(6)   Entsprechend diesem Übereinkommen gibt die Ursprungspartei der Öffentlichkeit in den voraussichtlich betroffenen Gebieten Gelegenheit, bei den geplanten Projekten an den einschlägigen Verfahren zur Umweltverträglichkeitsprüfung mitzuwirken[,] und stellt sicher, dass die Öffentlichkeit der betroffenen Partei die gleiche Gelegenheit hierzu erhält wie die Öffentlichkeit der Ursprungspartei.

(7)   Als Mindestforderung sind die nach diesem Übereinkommen geforderten Umweltverträglichkeitsprüfungen in der Projektplanungsphase durchzuführen. In angemessenem Umfang werden die Parteien bestrebt sein, die Grundsätze der Umweltverträglichkeitsprüfung auf Maßnahmen, Pläne und Programme anzuwenden.

…“

5

Nach Art. 3 Abs. 8 des Übereinkommens von Espoo stellen „[d]ie beteiligten Parteien … sicher, dass die Öffentlichkeit der betroffenen Partei in den voraussichtlich betroffenen Gebieten über das geplante Projekt informiert wird und Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Äußerung von Einwänden erhält sowie zur Übermittlung dieser Stellungnahmen bzw. Einwände auf direktem Wege an die zuständige Behörde der Ursprungspartei oder – soweit zweckmäßig – über die Ursprungspartei selbst“.

6

In Art. 5 des Übereinkommens von Espoo heißt es:

„Nach Fertigstellung der Dokumentation zur Umweltverträglichkeitsprüfung nimmt die Ursprungspartei ohne unnötige Verzögerung Beratungen mit der betroffenen Partei auf, unter anderem über die möglichen grenzüberschreitenden Auswirkungen des geplanten Projekts und über deren Reduzierung oder Beseitigung. Gegenstand der Beratungen kann Folgendes sein:

a)

mögliche Alternativen zu dem geplanten Projekt, einschließlich der Unterlassung, sowie mögliche Maßnahmen zur Abschwächung erheblicher, grenzüberschreitender nachteiliger Auswirkungen und zur Überwachung der Folgen solcher Maßnahmen auf Kosten der Ursprungspartei,

b)

andere Möglichkeiten für eine gegenseitige Unterstützung bei der Verringerung erheblicher, grenzüberschreitender nachteiliger Auswirkungen des geplanten Projekts und

c)

sonstige sachdienliche Fragen im Zusammenhang mit dem geplanten Projekt.

Bei der Aufnahme solcher Beratungen vereinbaren die Parteien eine angemessene Beratungsdauer. Die Beratungen können über ein entsprechendes gemeinsames Gremium, soweit vorhanden, abgewickelt werden.“

7

Art. 6 Abs. 1 des Übereinkommens von Espoo lautet:

„Die Parteien stellen sicher, dass bei der endgültigen Entscheidung über das geplante Projekt das Ergebnis der Umweltverträglichkeitsprüfung, einschließlich der Dokumentation zur Umweltverträglichkeitsprüfung, sowie die gemäß Artikel 3 Absatz 8 und Artikel 4 Absatz 2 dazu übermittelten Stellungnahmen und das Ergebnis der in Artikel 5 genannten Beratungen angemessen berücksichtigt werden.“

8

Anhang I („Liste der Projekte“) des Übereinkommens von Espoo erfasst in seiner Nr. 2 u. a. „Kernkraftwerke und sonstige Kernreaktoren“.

9

Die „Background note on the application of the Convention to nuclear energy-related activities“ (Informationsdokument über die Anwendung des Übereinkommens [von Espoo] auf Aktivitäten im Zusammenhang mit Kernenergie) (ECE/MP.EIA/2011/5), die am 2. April 2011 von der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa erstellt wurde, nennt als größere Änderungen, für die die Vorschriften des Übereinkommens von Espoo gelten, „eine wesentliche Erhöhung der Erzeugung oder der Lagerung radioaktiver Abfälle aus einer Anlage (nicht nur einem Kernkraftwerk), z. B. um 25 %“, sowie „eine Verlängerung der Lebensdauer einer Anlage“.

10

Dieses Dokument enthält eine Zusammenfassung seines Inhalts, in der auf Folgendes hingewiesen wird:

„Das vorliegende Dokument versucht die unterschiedlichen und gegensätzlichen Ansichten widerzuspiegeln, die in Bezug auf die Anwendung des Übereinkommens [von Espoo] auf Aktivitäten im Zusammenhang mit Kernenergie, insbesondere Kernkraftwerken, geäußert werden. Es ist keine Orientierungshilfe, sondern soll die Diskussion über zentrale Fragen bei der Podiumsdiskussion zu kernenergiebezogenen Projekten befördern, die während der fünften Tagung der Vertragsparteien des Übereinkommens [von Espoo] stattfinden soll.

Dieses Dokument gibt nicht zwangsläufig die Ansichten der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen oder des Sekretariats wieder.“

11

Im Auftrag zur Ausarbeitung der „Good Practice recommendations on the application of the Convention to nuclear energy-related activities“ (Empfehlungen für gute Praktiken in Bezug auf die Anwendung des Übereinkommens [von Espoo] auf Aktivitäten im Zusammenhang mit Kernenergie), die von den Vertragsparteien des Übereinkommens von Espoo auf ihrer siebten Tagung (Minsk [Belarus], 13.‑16. Juni 2017) gebilligt wurden, heißt es, Zweck dieser Empfehlungen sei, „die bestehenden guten Praktiken bei Umweltverträglichkeitsprüfung zu beschreiben, die auf Aktivitäten im Zusammenhang mit der Kernenergie Anwendung finden können“.

12

In diesem Auftrag heißt es ferner, dass durch das Screening festgestellt werden muss, ob die nuklearen Tätigkeiten sowie die daran vorgenommenen größeren Änderungen zum Anwendungsbereich des Übereinkommens von Espoo gehören oder nicht. Das Screening „umfasst Erwägungen bezüglich der Verlängerung, der Erneuerung oder der Aktualisierung der Lizenz (beispielsweise die Verlängerung der operationellen Lebensdauer), wie eine wesentliche Erhöhung der Erzeugungsmengen oder der Erzeugung/Verbringung/Lagerung radioaktiver Abfälle einer Anlage (nicht nur eines Kernkraftwerks) und die Außerbetriebnahme“.

2.   Übereinkommen von Aarhus

13

Nach Art. 2 Abs. 2 des Übereinkommens von Aarhus umfasst der Begriff „Behörde“ im Sinne dieses Übereinkommens „keine Gremien oder Einrichtungen, die in … gesetzgebender Eigenschaft handeln“.

14

Art. 6 („Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungen über bestimmte Tätigkeiten“) des Übereinkommens von Aarhus bestimmt in seinen Abs. 1 und 4:

„(1)   Jede Vertragspartei

a)

wendet diesen Artikel bei Entscheidungen darüber an, ob die in Anhang I aufgeführten geplanten Tätigkeiten zugelassen werden;

b)

wendet diesen Artikel in Übereinstimmung mit ihrem innerstaatlichen Recht auch bei Entscheidungen über nicht in Anhang I aufgeführte geplante Tätigkeiten an, die eine erhebliche Auswirkung auf die Umwelt haben können. Zu diesem Zweck bestimmen die Vertragsparteien, ob dieser Artikel Anwendung auf eine derartige geplante Tätigkeit findet;

(4)   Jede Vertragspartei sorgt für eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung zu einem Zeitpunkt, zu dem alle Optionen noch offen sind und eine effektive Öffentlichkeitsbeteiligung stattfinden kann.“

15

In Anhang I („Liste der in Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a genannten Tätigkeiten“) des Übereinkommens von Aarhus werden unter Nr. 1 fünfter Gedankenstrich „Kernkraftwerke und andere Kernreaktoren einschließlich der Demontage oder Stilllegung solcher Kraftwerke oder Reaktoren“ erwähnt.

16

In Abs. 22 dieses Anhangs heißt es:

„Jede Änderung oder Erweiterung von Tätigkeiten unterliegt Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a dieses Übereinkommens, wenn sie für sich betrachtet die Kriterien/Schwellenwerte in diesem Anhang erreicht. Jede sonstige Änderung oder Erweiterung von Tätigkeiten unterliegt Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe b dieses Übereinkommens.“

17

Die „Maastricht Recommendations on Promoting Effective Public Participation in Decision-making in Environmental Matters“ (Maastrichter Empfehlungen zur Förderung der effektiven Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren in Umweltangelegenheiten) wurden auf der fünften Tagung der Vertragsparteien des Übereinkommens von Aarhus (Maastricht [Niederlande], 30. Juni und 1. Juli 2014) gebilligt. In dem mit „Zusammenfassung“ überschriebenen Abschnitt dieser Empfehlungen heißt es, dass diese Empfehlungen, obschon sie „weder verbindlich noch erschöpfend“ sind, gleichwohl „eine wertvolle Orientierungshilfe für die Anwendung der Art. 6, 7 und 8 des Übereinkommens [von Aarhus]“ bieten.

B. Unionsrecht

1.   Habitatrichtlinie

18

Art. 2 Abs. 2 der Habitatrichtlinie bestimmt:

„Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.“

19

Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Es wird ein kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer Schutzgebiete mit der Bezeichnung ‚Natura 2000‘ errichtet. Dieses Netz besteht aus Gebieten, die die natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I sowie die Habitate der Arten des Anhang[s] II umfassen, und muss den Fortbestand oder gegebenenfalls die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet gewährleisten.

Das Netz ‚Natura 2000‘ umfasst auch die von den Mitgliedstaaten aufgrund der Richtlinie 79/409/EWG [vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 1979, L 103, S. 1)] ausgewiesenen besonderen Schutzgebiete.“

20

Art. 6 der Habitatrichtlinie bestimmt:

„(1)   Für die besonderen Schutzgebiete legen die Mitgliedstaaten die nötigen Erhaltungsmaßnahmen fest, die gegebenenfalls geeignete, eigens für die Gebiete aufgestellte oder in andere Entwicklungspläne integrierte Bewirtschaftungspläne und geeignete Maßnahmen rechtlicher, administrativer oder vertraglicher Art umfassen, die den ökologischen Erfordernissen der natürlichen Lebensraumtypen nach Anhang I und der Arten nach Anhang II entsprechen, die in diesen Gebieten vorkommen.

(2)   Die Mitgliedstaaten treffen die geeigneten Maßnahmen, um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten.

(3)   Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch einzeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich des Absatzes 4 stimmen die zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie festgestellt haben, dass das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.

(4)   Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und ist eine Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission über die von ihm ergriffenen Ausgleichsmaßnahmen.

Ist das betreffende Gebiet ein Gebiet, das einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art einschließt, so können nur Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend gemacht werden.“

21

Art. 7 der Habitatrichtlinie lautet:

„Was die nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie [79/409] zu besonderen Schutzgebieten erklärten oder nach Artikel 4 Absatz 2 derselben Richtlinie als solche anerkannten Gebiete anbelangt, so treten die Verpflichtungen nach Artikel 6 Absätze 2, 3 und 4 der vorliegenden Richtlinie ab dem Datum für die Anwendung der vorliegenden Richtlinie bzw. danach ab dem Datum, zu dem das betreffende Gebiet von einem Mitgliedstaat entsprechend der Richtlinie [79/409] zum besonderen Schutzgebiet erklärt oder als solches anerkannt wird, an die Stelle der Pflichten, die sich aus Artikel 4 Absatz 4 Satz 1 der Richtlinie [79/409] ergeben.“

2.   Vogelschutzrichtlinie

22

Art. 2 der Vogelschutzrichtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die Bestände aller unter Artikel 1 fallenden Vogelarten auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird.“

23

Art. 3 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten treffen unter Berücksichtigung der in Artikel 2 genannten Erfordernisse die erforderlichen Maßnahmen, um für alle unter Artikel 1 fallenden Vogelarten eine ausreichende Vielfalt und eine ausreichende Flächengröße der Lebensräume zu erhalten oder wieder herzustellen.

(2)   Zur Erhaltung und Wiederherstellung der Lebensstätten und Lebensräume gehören insbesondere folgende Maßnahmen:

a)

Einrichtung von Schutzgebieten;

b)

Pflege und ökologisch richtige Gestaltung der Lebensräume in und außerhalb von Schutzgebieten;

c)

Wiederherstellung zerstörter Lebensstätten,

d)

Neuschaffung von Lebensstätten.“

24

In Art. 4 der Vogelschutzrichtlinie heißt es:

„(1)   Auf die in Anhang I aufgeführten Arten sind besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich ihrer Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen.

(2)   Die Mitgliedstaaten treffen unter Berücksichtigung der Schutzerfordernisse in dem geografischen Meeres- und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, entsprechende Maßnahmen für die nicht in Anhang I aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs‑, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten. …

(4)   Die Mitgliedstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel, sofern sich diese auf die Zielsetzungen dieses Artikels erheblich auswirken, in den Absätzen 1 und 2 genannten Schutzgebieten zu vermeiden. Die Mitgliedstaaten bemühen sich ferner, auch außerhalb dieser Schutzgebiete die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume zu vermeiden.“

25

Mit der Vogelschutzrichtlinie wurde, wie sich aus ihrem Art. 18 Abs. 1 ergibt, die Richtlinie 79/409 aufgehoben. Nach Art. 18 Abs. 2 der Vogelschutzrichtlinie gelten Verweisungen auf die Richtlinie 79/409 als Verweisungen auf die Vogelschutzrichtlinie und sind nach Maßgabe der Entsprechungstabelle des Anhangs VII der Vogelschutzrichtlinie zu lesen.

3.   Die UVP-Richtlinie

26

In den Erwägungsgründen 1, 15 und 18 bis 20 der UVP-Richtlinie heißt es:

„(1)

Die Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten [(ABl. 1985, L 175, S. 40)] ist mehrfach und in wesentlichen Punkten geändert worden … Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Klarheit empfiehlt es sich, die genannte Richtlinie zu kodifizieren.

(15)

Es ist ratsam, strengere Bestimmungen über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen vorzusehen, um den Entwicklungen auf internationaler Ebene Rechnung zu tragen. Die Europäische Gemeinschaft hat am 25. Februar 1991 das Übereinkommen [von Espoo] unterzeichnet und am 24. Juni 1997 ratifiziert.

(18)

Die Europäische Gemeinschaft hat das [Übereinkommen von Aarhus] am 25. Juni 1998 unterzeichnet und am 17. Februar 2005 ratifiziert.

(19)

Eines der Ziele des Übereinkommens von Aarhus ist es, das Recht auf Beteiligung der Öffentlichkeit an Entscheidungsverfahren in Umweltangelegenheiten zu gewährleisten und somit dazu beizutragen, dass das Recht des Einzelnen auf ein Leben in einer der Gesundheit und dem Wohlbefinden zuträglichen Umwelt geschützt wird.

(20)

Artikel 6 des Übereinkommens von Aarhus sieht die Beteiligung der Öffentlichkeit an Entscheidungen über bestimmte Tätigkeiten, die in Anhang I des Übereinkommens aufgeführt sind, sowie über dort nicht aufgeführte Tätigkeiten, die eine erhebliche Auswirkung auf die Umwelt haben können, vor.“

27

Art. 1 Abs. 2 und 4 der Richtlinie bestimmt:

„(2)   Im Sinne dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

a)

‚Projekt‘:

die Errichtung von baulichen oder sonstigen Anlagen,

sonstige Eingriffe in Natur und Landschaft einschließlich derjenigen zum Abbau von Bodenschätzen;

b)

‚Projektträger‘: Person, die die Genehmigung für ein privates Projekt beantragt, oder die Behörde, die ein Projekt betreiben will;

c)

‚Genehmigung‘: Entscheidung der zuständigen Behörde oder der zuständigen Behörden, aufgrund deren der Projektträger das Recht zur Durchführung des Projekts erhält;

(4)   Diese Richtlinie gilt nicht für Projekte, die im Einzelnen durch einen besonderen einzelstaatlichen Gesetzgebungsakt genehmigt werden, da die mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele, einschließlich desjenigen der Bereitstellung von Informationen, im Wege des Gesetzgebungsverfahrens erreicht werden.“

28

Art. 2 Abs. 1 und 4 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vor Erteilung der Genehmigung die Projekte, bei denen unter anderem aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standortes mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, einer Genehmigungspflicht unterworfen und einer Prüfung in Bezug auf ihre Auswirkungen unterzogen werden. Diese Projekte sind in Artikel 4 definiert.

(4)   Unbeschadet des Artikels 7 können die Mitgliedstaaten in Ausnahmefällen ein einzelnes Projekt ganz oder teilweise von den Bestimmungen dieser Richtlinie ausnehmen.

In diesem Fall müssen die Mitgliedstaaten:

a)

prüfen, ob eine andere Form der Prüfung angemessen ist;

b)

der betroffenen Öffentlichkeit die im Rahmen anderer Formen der Prüfung nach Buchstabe a gewonnenen Informationen, die Informationen betreffend die Entscheidung, die die Ausnahme gewährt, und die Gründe für die Gewährung der Ausnahme zugänglich machen;

c)

die Kommission vor Erteilung der Genehmigung über die Gründe für die Gewährung dieser Ausnahme unterrichten und ihr die Informationen übermitteln, die sie gegebenenfalls ihren eigenen Staatsangehörigen zur Verfügung stellen.

Die Kommission übermittelt den anderen Mitgliedstaaten unverzüglich die ihr zugegangenen Unterlagen.

Die Kommission erstattet dem Europäischen Parlament und dem Rat jährlich über die Anwendung dieses Absatzes Bericht.“

29

Art. 4 Abs. 1 und 2 der UVP-Richtlinie bestimmt:

„(1)   Projekte des Anhangs I werden vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 4 einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen.

(2)   Bei Projekten des Anhangs II bestimmen die Mitgliedstaaten vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 4, ob das Projekt einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen werden muss. Die Mitgliedstaaten treffen diese Entscheidung anhand

a)

einer Einzelfalluntersuchung

oder

b)

der von den Mitgliedstaaten festgelegten Schwellenwerte bzw. Kriterien.

Die Mitgliedstaaten können entscheiden, beide unter den Buchstaben a und b genannten Verfahren anzuwenden.“

30

Nach Art. 5 Abs. 3 der UVP-Richtlinie umfassen die vom Projektträger vorzulegenden Angaben bei Projekten, die nach Art. 4 dieser Richtlinie einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen sind, mindestens eine Beschreibung des Projekts nach Standort, Art und Umfang, eine Beschreibung der Maßnahmen, mit denen erhebliche nachteilige Auswirkungen vermieden, verringert und soweit möglich ausgeglichen werden sollen, die notwendigen Angaben zur Feststellung und Beurteilung der Hauptauswirkungen, die das Projekt voraussichtlich auf die Umwelt haben wird, eine Übersicht über die wichtigsten anderweitigen vom Projektträger geprüften Lösungsmöglichkeiten und die Angabe der wesentlichen Auswahlgründe im Hinblick auf die Umweltauswirkungen sowie eine nicht technische Zusammenfassung dieser unterschiedlichen Angaben.

31

In Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„Stellt ein Mitgliedstaat fest, dass ein Projekt erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt eines anderen Mitgliedstaats haben könnte, oder stellt ein Mitgliedstaat, der möglicherweise davon erheblich betroffen ist, einen entsprechenden Antrag, so übermittelt der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet das Projekt durchgeführt werden soll, dem betroffenen Mitgliedstaat so bald wie möglich, spätestens aber zu dem Zeitpunkt, zu dem er in seinem eigenen Land die Öffentlichkeit unterrichtet, unter anderem

a)

eine Beschreibung des Projekts zusammen mit allen verfügbaren Angaben über dessen mögliche grenzüberschreitende Auswirkungen,

b)

Angaben über die Art der möglichen Entscheidung.“

32

In Anhang I („In Artikel 4 Absatz 1 genannte Projekte“) der UVP-Richtlinie werden unter Nr. 2 Buchst. b „Kernkraftwerke und andere Kernreaktoren einschließlich der Demontage oder Stilllegung solcher Kraftwerke oder Reaktoren“ genannt.

33

Anhang I der Richtlinie erfasst in Nr. 24 „(j)ede Änderung oder Erweiterung von Projekten, die in diesem Anhang aufgeführt sind, wenn sie für sich genommen die Schwellenwerte, sofern solche in diesem Anhang festgelegt sind, erreicht“.

34

Anhang II der UVP-Richtlinie nennt in seiner Nr. 13 Buchst. a „[d]ie Änderung oder Erweiterung von bereits genehmigten, durchgeführten oder in der Durchführungsphase befindlichen Projekten des Anhangs I oder dieses Anhangs, die erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Umwelt haben können (nicht durch Anhang I erfasste Änderung oder Erweiterung)“.

C. Belgisches Recht

1.   Gesetz vom 31. Januar 2003

35

Das Gesetz vom 31. Januar 2003 über den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie für industrielle Stromerzeugung (Belgisches Staatsblatt vom 28. Februar 2003, S. 9879, deutsche Übersetzung: Belgisches Staatsblatt vom 1. Februar 2013, S. 5306, im Folgenden: Gesetz vom 31. Januar 2003) stellte einen Zeitplan für den schrittweisen Ausstieg aus der industriellen Stromerzeugung durch Spaltung von Kernbrennstoffen durch Kernkraftwerke auf.

36

In Art. 2 dieses Gesetzes heißt es:

„Für die Anwendung des vorliegenden Gesetzes ist zu verstehen unter:

1. ‚Datum der industriellen Inbetriebnahme‘: das Datum der förmlichen Vereinbarung zwischen dem Stromerzeuger, den Herstellern und dem Studienbüro, mit der die Projektphase abgeschlossen wird und die Erzeugungsphase beginnt, das heißt für die bestehenden Kernkraftwerke:

Doel 1: 15. Februar 1975,

Doel 2: 1. Dezember 1975,

Doel 3: 1. Oktober 1982,

Doel 4: 1. Juli 1985,

Tihange 1: 1. Oktober 1975,

Tihange 2: 1. Februar 1983,

Tihange 3: 1. September 1985,

…“

37

In seiner ursprünglichen Fassung sah Art. 4 dieses Gesetzes vor:

„§ 1.   Kernkraftwerke für industrielle Stromerzeugung durch Spaltung von Kernbrennstoffen werden vierzig Jahre nach dem Datum ihrer industriellen Inbetriebnahme deaktiviert und dürfen ab diesem Zeitpunkt keinen Strom mehr erzeugen.

§ 2.   Individuelle Genehmigungen zum Betrieb und zur industriellen Stromerzeugung durch Spaltung von Kernbrennstoffen, die vom König für einen unbegrenzten Zeitraum ausgestellt wurden, … enden vierzig Jahre nach dem Datum der industriellen Inbetriebnahme der betreffenden Erzeugungsanlage.“

38

In Art. 9 dieses Gesetzes hieß es:

„Bei einer Bedrohung der Stromversorgungssicherheit kann der König nach Stellungnahme der Elektrizitäts- und Gasregulierungskommission durch einen im Ministerrat beratenen Königlichen Erlass erforderliche Maßnahmen ergreifen, unbeschadet – außer bei höherer Gewalt – der Artikel 3 bis 7 des vorliegenden Gesetzes. Die betreffende Stellungnahme bezieht sich insbesondere auf die Auswirkung der Erzeugungspreise auf die Versorgungssicherheit.“

2.   Gesetz vom 28. Juni 2015

39

Das Gesetz vom 28. Juni 2015 zur Abänderung des Gesetzes vom 31. Januar 2003 über den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie für industrielle Stromerzeugung im Hinblick auf die Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit (Belgisches Staatsblatt vom 6. Juli 2015, S. 44423, deutsche Übersetzung: Belgisches Staatsblatt vom 12. Januar 2016, S. 769, im Folgenden: Gesetz vom 28. Juni 2015) ist am 6. Juli 2015 in Kraft getreten.

40

In der Begründung des Gesetzes vom 28. Juni 2015 wird u. a. ausgeführt, dass in mehreren wissenschaftlichen Studien die potenziell problematische Situation für die Versorgungssicherheit hervorgehoben worden sei und dass die belgische Regierung angesichts der großen Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem erneuten Hochfahren der Reaktoren Doel 3 und Tihange 2, der angekündigten Schließung der thermischen Kraftwerke im Jahr 2015 sowie des Umstands, dass die Integration der ausländischen Kapazitäten in das belgische Netz kurzfristig nicht möglich sei, am 18. Dezember 2014 beschlossen habe, den Betrieb der Kraftwerke Doel 1 und Doel 2 um einen Zeitraum von zehn Jahren zu verlängern, ohne dass die Laufzeit dieser Reaktoren über das Jahr 2025 hinausgehen dürfe. Die Verlängerung erfolge unter Einhaltung der Vorschriften für die zehnjährliche Neubewertung der Sicherheit, insbesondere unter Einbeziehung des sogenannten „Long-Term-Operation“-Plans, des von der Electrabel SA ausgearbeiteten Plans für den langfristigen Betrieb der Kraftwerke, in dem die wegen der Verlängerung der industriellen Stromerzeugung der beiden Kraftwerke zu treffenden Maßnahmen im Einzelnen dargestellt würden (im Folgenden: LTO-Plan), der Wiederanpassung des Aktionsplans für Stresstests und der erforderlichen Genehmigungen durch die Föderalagentur für Nuklearkontrolle (FANK).

41

Art. 4 § 1 des Gesetzes vom 31. Januar 2003 in der Fassung des Gesetzes vom 28. Juni 2015 bestimmt nunmehr:

„Das Kernkraftwerk Doel 1 darf ab Inkrafttreten des Gesetzes vom 28. Juni 2015 … erneut Strom erzeugen. Ab dem 15. Februar 2025 wird es deaktiviert und darf es keinen Strom mehr erzeugen. Die anderen Kernkraftwerke für industrielle Stromerzeugung durch Spaltung von Kernbrennstoffen werden an den folgenden Daten deaktiviert und dürfen ab diesen Daten keinen Strom mehr erzeugen:

Doel 2: 1. Dezember 2025.“

42

Außerdem wurde durch das Gesetz vom 28. Juni 2015 Art. 4 des Gesetzes vom 31. Januar 2003 durch einen § 3 ergänzt, der wie folgt lautet:

„Der König zieht durch einen im Ministerrat beratenen Erlass für die Kernkraftwerke Doel 1 und Doel 2 das in § 1 erwähnte Datum auf den 31. März 2016 vor, wenn das in Artikel 4/2 § 3 erwähnte Abkommen nicht bis spätestens 30. November 2015 geschlossen ist.“

43

Schließlich wurde durch das Gesetz vom 28. Juni 2015 in das Gesetz vom 31. Januar 2003 ein Art. 4/2 eingefügt, in dem es heißt:

„§ 1.   Der Eigentümer der Kernkraftwerke Doel 1 und Doel 2 überweist dem Föderalstaat bis zum 15. Februar 2025 für Doel 1 und bis zum 1. Dezember 2025 für Doel 2 eine jährliche Gebühr als Gegenleistung für die Verlängerung der Dauer der Genehmigung zur industriellen Stromerzeugung durch Spaltung von Kernbrennstoffen.

§ 3.   Der Föderalstaat schließt mit dem Eigentümer der Kernkraftwerke Doel 1 und Doel 2 ein Abkommen, insbesondere um:

1.

die Modalitäten für die Berechnung der in § 1 erwähnten Gebühr zu bestimmen.

2.

die Entschädigung zu regeln, wenn eine der Parteien ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht einhält.“

II. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

44

Das Königreich Belgien verfügt über sieben Kernreaktoren: vier im Gebiet der Flämischen Region, in Doel (Doel 1, Doel 2, Doel 3 und Doel 4), und drei auf dem Gebiet der Wallonischen Region, in Tihange (Tihange 1, Tihange 2 und Tihange 3). Im Rahmen des vorliegenden Urteils wird jeder der Reaktoren als ein eigenständiges Kernkraftwerk bezeichnet.

45

Die Kraftwerke Doel 1 und Doel 2 sind seit dem 15. Februar 1975 bzw. dem 1. Dezember 1975 in Betrieb. Ihnen wurde im Jahr 1974 mit Königlichem Erlass eine einheitliche Genehmigung für unbegrenzte Zeit erteilt.

46

Das Gesetz vom 31. Januar 2003 in seiner ursprünglichen Fassung verbot zum einen die Errichtung und die Inbetriebnahme neuer Kernkraftwerke in Belgien und stellte zum anderen einen Zeitplan für den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie auf, indem es festlegte, dass die industrielle Stromerzeugung aller in Betrieb befindlichen Kraftwerke zu einem bestimmten Zeitpunkt eingestellt werden sollte. Es sah insoweit vor, dass individuelle Genehmigungen zum Betrieb und zur industriellen Stromerzeugung 40 Jahre nach der Inbetriebnahme des betreffenden Kraftwerks auslaufen sollten, wobei dem König die Möglichkeit gelassen wurde, diesen Zeitplan im Falle einer Bedrohung der Versorgungssicherheit des Landes abzuändern.

47

Mit dem Gesetz vom 18. Dezember 2013 zur Abänderung des Gesetzes vom 31. Januar 2003 wurde der Zeitpunkt, zu dem die industrielle Stromerzeugung des Kraftwerks Tihange 1, das am 1. Oktober 1975 in Betrieb genommen worden war, eingestellt werden sollte, um zehn Jahre aufgeschoben. Nach diesem Gesetz sollte lediglich die Genehmigung zur industriellen Stromerzeugung zu dem Zeitpunkt enden, der in dem Zeitplan für den Ausstieg aus der Kernenergie vorgesehen war, und die Betriebsgenehmigung weiter gelten, bis sie „angepasst“ wird. Mit ihm wurde auch die mit dem Gesetz vom 31. Januar 2003 festgelegte Möglichkeit für den König aufgehoben, den Zeitplan für den Ausstieg aus der Kernenergie abzuändern.

48

Am 18. Dezember 2014 beschloss die belgische Regierung, den Zeitraum, in dem die Kraftwerke Doel 1 und Doel 2 Strom erzeugen dürfen, ebenfalls um zehn Jahre zu verlängern.

49

Am 13. Februar 2015 teilte Electrabel, die Eigentümerin und Betreiberin dieser beiden Kraftwerke, der FANK mit, dass die Deaktivierung des Kraftwerks Doel 1 und die Einstellung der industriellen Stromerzeugung dieses Kraftwerks gemäß dem mit dem Gesetz vom 31. Januar 2003 festgelegten Zeitplan am 15. Februar 2015 um Mitternacht erfolgen werde. Diese Mitteilung sei jedoch „null und nichtig“, wenn und sobald ein Gesetz über die zehnjährige Verlängerung hinsichtlich dieses Kraftwerks in Kraft trete und sofern die betreffenden Bedingungen von Electrabel akzeptiert würden.

50

Mit dem Gesetz vom 28. Juni 2015 wurde der vom nationalen Gesetzgeber festgelegte Zeitplan für den Ausstieg aus der Kernenergie erneut dahin gehend geändert, dass der für die Einstellung der industriellen Stromerzeugung der Kraftwerke Doel 1 und Doel 2 festgelegte Endtermin um zehn Jahre aufgeschoben wurde. Dieses Gesetz sah außerdem vor, dass das Kraftwerk Doel 1 wieder Strom erzeugen durfte.

51

Nach diesem Gesetz müssen das Kraftwerk Doel 1 am 15. Februar 2025 und das Kraftwerk Doel 2 am 1. Dezember 2025 desaktiviert werden und ihre industrielle Stromerzeugung einstellen.

52

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Parlamentsabgeordneten im Rahmen des Verfahrens zur Annahme dieses Gesetzes mehrere Anhörungen durchgeführt haben, darunter eine Anhörung des Direktors der Nationalen Einrichtung für radioaktive Abfälle und angereicherte Spaltmaterialien, der darauf hinwies, dass die Verlängerung der Stromerzeugung dieser beiden Kraftwerke zu Betriebsabfällen im Umfang von 350 m3 führen könne.

53

Im September 2015 bestätigte die FANK ihre im August 2015 erlassene Entscheidung, die vom Betreiber im Rahmen des LTO-Plans geplanten Änderungen keiner Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen.

54

Diese Entscheidung war Gegenstand einer Klage vor dem Staatsrat (Belgien).

55

Ein Königlicher Erlass vom 27. September 2015 legte die Bedingungen für den Betrieb der Kraftwerke Doel 1 und Doel 2 fest und sah insoweit vor, dass Electrabel den LTO-Plan spätestens Ende 2019 durchführen musste. Dieser Erlass war ebenfalls Gegenstand einer Klage vor dem Staatsrat.

56

Am 30. November 2015 unterzeichneten Electrabel und der belgische Staat ein Abkommen über die Erstellung eines Investitionsplans „für die Verlängerung der Lebensdauer“ mit einem Volumen von 700 Mio. Euro zur Verlängerung der Laufzeit der Kraftwerke Doel 1 und Doel 2 bis zu dem im Gesetz vom 28. Juni 2015 vorgesehenen Endtermin (im Folgenden: Abkommen vom 30. November 2015).

57

Die belgischen Umweltschutzverbände Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen haben beim Verfassungsgerichtshof (Belgien) Klage auf Nichtigerklärung des Gesetzes vom 28. Juni 2015 erhoben. Sie haben im Wesentlichen geltend gemacht, dieses Gesetz sei erlassen worden, ohne dass die Erfordernisse einer vorherigen Prüfung beachtet worden seien, die sich sowohl aus den Übereinkommen von Espoo und Aarhus als auch aus der UVP‑, der Habitat- sowie der Vogelschutzrichtlinie ergäben.

58

Vor diesem Hintergrund hat der Verfassungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 2 Abs. 1 bis 3, 6 und 7, Art. 3 Abs. 8, Art. 5, Art. 6 Abs. 1 und Anhang I Nr. 2 des Übereinkommens von Espoo gemäß den Präzisierungen in der „Background note on the application of the Convention to nuclear energy-related activities“ (Informationsdokument über die Anwendung des Übereinkommens [von Espoo] auf Aktivitäten im Zusammenhang mit Kernenergie) und den „Good Practice recommendations on the application of the Convention to nuclear energy-related activities“ (Empfehlungen für gute Praktiken in Bezug auf die Anwendung des Übereinkommens [von Espoo] auf Aktivitäten im Zusammenhang mit Kernenergie) auszulegen?

2.

Ist Art. 1 Nr. 9 des Übereinkommens von Espoo, in dem die „zuständige Behörde“ definiert wird, dahin auszulegen, dass er Gesetzgebungsakte wie das Gesetz vom 28. Juni 2015 vom Anwendungsbereich dieses Übereinkommens ausschließt, insbesondere in Anbetracht der verschiedenen Studien und Anhörungen, die im Rahmen der Annahme dieses Gesetzes durchgeführt wurden?

3.

a)

Sind die Art. 2 bis 6 des Übereinkommens von Espoo dahin auszulegen, dass sie vor der Annahme eines Gesetzgebungsaktes wie des Gesetzes vom 28. Juni 2015, dessen Art. 2 das Datum der Deaktivierung und des Endes der industriellen Stromerzeugung der Kernkraftwerke Doel 1 und Doel 2 aufschiebt, anwendbar sind?

b)

Ist die Antwort auf die in Buchst. a enthaltene Frage unterschiedlich je nachdem, ob sie sich auf das Kernkraftwerk Doel 1 oder auf das Kernkraftwerk Doel 2 bezieht, in Anbetracht der Notwendigkeit, für das erstgenannte Kernkraftwerk Verwaltungsakte zur Ausführung des vorerwähnten Gesetzes vom 28. Juni 2015 zu erlassen?

c)

Kann die Stromversorgungssicherheit des Landes einen zwingenden Grund des öffentlichen Interesses darstellen, der es ermöglichen würde, von der Anwendung der Art. 2 bis 6 des Übereinkommens von Espoo abzuweichen und/oder ihre Anwendung auszusetzen?

4.

Ist Art. 2 Nr. 2 des Übereinkommens von Aarhus dahin auszulegen, dass er Gesetzgebungsakte wie das Gesetz vom 28. Juni 2015 vom Anwendungsbereich dieses Übereinkommens ausschließt, gegebenenfalls in Anbetracht der verschiedenen Studien und Anhörungen, die im Rahmen der Annahme dieses Gesetzes durchgeführt wurden?

5.

a)

Sind die Art. 2 und 6 in Verbindung mit Anhang I Nr. 1 des Übereinkommens von Aarhus, insbesondere in Anbetracht der „Maastricht Recommendations on Promoting Effective Public Participation in Decision-making in Environmental Matters“ (Maastrichter Empfehlungen zur Förderung der effektiven Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren in Umweltangelegenheiten) hinsichtlich eines mehrstufigen Entscheidungsverfahrens, dahin auszulegen, dass sie vor der Annahme eines Gesetzgebungsaktes wie des Gesetzes vom 28. Juni 2015, dessen Art. 2 das Datum der Deaktivierung und des Endes der industriellen Stromerzeugung der Kernkraftwerke Doel 1 und Doel 2 aufschiebt, anwendbar sind?

b)

Ist die Antwort auf die in Buchst. a enthaltene Frage unterschiedlich je nachdem, ob sie sich auf das Kernkraftwerk Doel 1 oder auf das Kernkraftwerk Doel 2 bezieht, in Anbetracht der Notwendigkeit, für das erstgenannte Kernkraftwerk Verwaltungsakte zur Ausführung des vorerwähnten Gesetzes vom 28. Juni 2015 zu erlassen?

c)

Kann die Stromversorgungssicherheit des Landes einen zwingenden Grund des öffentlichen Interesses darstellen, der es ermöglichen würde, von der Anwendung der Art. 2 und 6 des Übereinkommens von Aarhus abzuweichen und/oder ihre Anwendung auszusetzen?

6.

a)

Ist Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit Anhang II Nr. 13 Buchst. a der UVP-Richtlinie, gegebenenfalls im Licht der Übereinkommen von Espoo und Aarhus gelesen, dahin auszulegen, dass er auf den Aufschub des Datums der Deaktivierung und des Endes der industriellen Stromerzeugung eines Kernkraftwerks, der – wie im vorliegenden Fall – beträchtliche Investitionen für die Kernkraftwerke Doel 1 und Doel 2 und das Nachrüsten bei der Sicherheit dieser Kernkraftwerke voraussetzt, anwendbar ist?

b)

Sind die Art. 2 bis 8 und 11 und die Anhänge I, II und III der UVP-Richtlinie in dem Fall, dass die in Buchst. a enthaltene Frage bejahend beantwortet wird, dahin auszulegen, dass sie vor der Annahme eines Gesetzgebungsaktes wie des Gesetzes vom 28. Juni 2015, dessen Art. 2 das Datum der Deaktivierung und des Endes der industriellen Stromerzeugung der Kernkraftwerke Doel 1 und Doel 2 aufschiebt, anwendbar sind?

c)

Ist die Antwort auf die in den Buchst. a und b enthaltenen Fragen unterschiedlich je nachdem, ob sie sich auf das Kernkraftwerk Doel 1 oder auf das Kernkraftwerk Doel 2 bezieht, in Anbetracht der Notwendigkeit, für das erstgenannte Kernkraftwerk Verwaltungsakte zur Ausführung des vorerwähnten Gesetzes vom 28. Juni 2015 zu erlassen?

d)

Ist Art. 2 Abs. 4 der UVP-Richtlinie in dem Fall, dass die in Buchst. a enthaltene Frage bejahend beantwortet wird, dahin auszulegen, dass er es ermöglicht, den Aufschub der Deaktivierung eines Kernkraftwerks aus zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses, die mit der Stromversorgungssicherheit des Landes zusammenhängen, von der Anwendung der Art. 2 bis 8 und 11 der UVP-Richtlinie auszunehmen?

7.

Ist der Begriff „besonderer Gesetzgebungsakt“ im Sinne von Art. 1 Abs. 4 der UVP-Richtlinie dahin auszulegen, dass er einen Gesetzgebungsakt wie das Gesetz vom 28. Juni 2015 vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausschließt, insbesondere in Anbetracht der verschiedenen Studien und Anhörungen, die im Rahmen der Annahme dieses Gesetzes durchgeführt wurden und die Zielsetzungen der vorerwähnten Richtlinie verwirklichen könnten?

8.

a)

Ist Art. 6 der Habitatrichtlinie, in Verbindung mit den Art. 3 und 4 der Vogelschutzrichtlinie, gegebenenfalls im Licht der UVP-Richtlinie sowie im Licht der Übereinkommen von Espoo und Aarhus gelesen, dahin auszulegen, dass er auf den Aufschub des Datums der Deaktivierung und des Endes der industriellen Stromerzeugung eines Kernkraftwerks, der – wie im vorliegenden Fall – beträchtliche Investitionen für die Kernkraftwerke Doel 1 und Doel 2 und das Nachrüsten bei der Sicherheit dieser Kernkraftwerke voraussetzt, anwendbar ist?

b)

Ist Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie in dem Fall, dass die in Buchst. a enthaltene Frage bejahend beantwortet wird, dahin auszulegen, dass er vor der Annahme eines Gesetzgebungsaktes wie des Gesetzes vom 28. Juni 2015, dessen Art. 2 das Datum der Deaktivierung und des Endes der industriellen Stromerzeugung der Kernkraftwerke Doel 1 und Doel 2 aufschiebt, anwendbar ist?

c)

Ist die Antwort auf die in den Buchst. a und b enthaltenen Fragen unterschiedlich je nachdem, ob sie sich auf das Kernkraftwerk Doel 1 oder auf das Kernkraftwerk Doel 2 bezieht, in Anbetracht der Notwendigkeit, für das erstgenannte Kernkraftwerk Verwaltungsakte zur Ausführung des vorerwähnten Gesetzes vom 28. Juni 2015 zu erlassen?

d)

Ist Art. 6 Abs. 4 der Habitatrichtlinie in dem Fall, dass die in Buchst. a enthaltene Frage bejahend beantwortet wird, dahin auszulegen, dass er es ermöglicht, mit der Stromversorgungssicherheit des Landes zusammenhängende Gründe als zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses zu betrachten, insbesondere in Anbetracht der verschiedenen Studien und Anhörungen, die im Rahmen der Annahme des vorerwähnten Gesetzes durchgeführt wurden und die Zielsetzungen der vorerwähnten Richtlinie verwirklichen könnten?

9.

Könnte der einzelstaatliche Richter in dem Fall, dass er aufgrund der auf die vorstehenden Vorabentscheidungsfragen erteilten Antworten zu der Schlussfolgerung gelangen würde, dass das Gesetz vom 28. Juni 2015 gegen eine der aus den vorerwähnten Übereinkommen oder Richtlinien sich ergebenden Verpflichtungen verstößt, ohne dass die Stromversorgungssicherheit des Landes einen zwingenden Grund des öffentlichen Interesses darstellen könnte, wodurch von diesen Verpflichtungen abgewichen werden könnte, die Folgen des Gesetzes vom 28. Juni 2015 aufrechterhalten, um Rechtsunsicherheit zu vermeiden und es zu ermöglichen, dass die aus den vorerwähnten Übereinkommen oder Richtlinien sich ergebenden Verpflichtungen zur Umweltverträglichkeitsprüfung und Öffentlichkeitsbeteiligung eingehalten werden?

III. Zu den Vorlagefragen

A. Zu Frage 6 und Frage 7 in Bezug auf die UVP-Richtlinie

1.   Zu Frage 6 Buchst. a bis c

59

Mit seiner Frage 6 Buchst. a bis c, die an erster Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich und Art. 2 Abs. 1 der UVP-Richtlinie dahin auszulegen sind, dass die Wiederaufnahme der industriellen Stromerzeugung eines abgeschalteten Kernkraftwerks für einen Zeitraum von fast zehn Jahren mit der Folge, dass der Zeitpunkt, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für seine Stilllegung und die Einstellung seines Betriebs vorgesehen hat, um zehn Jahre aufgeschoben wird, und das Aufschieben des Endtermins, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Stilllegung und die Einstellung der industriellen Stromerzeugung eines in Betrieb befindlichen Kraftwerks vorgesehen hat, um ebenfalls zehn Jahre – Maßnahmen, die mit Arbeiten zur Modernisierung der betreffenden Kraftwerke einhergehen – ein Projekt im Sinne dieser Richtlinie darstellen und ob diese Maßnahmen und diese Arbeiten gegebenenfalls einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden müssen, bevor der nationale Gesetzgeber die betreffenden Maßnahmen erlässt. Das vorlegende Gericht möchte außerdem wissen, ob der Umstand erheblich ist, dass die Durchführung der vor ihm angefochtenen Maßnahmen für eines der beiden betroffenen Kraftwerke den Erlass weiterer Rechtsakte erfordert, wie die Erteilung einer neuen individuellen Genehmigung für Stromerzeugung zu industriellen Zwecken.

60

Da die UVP-Richtlinie ihrem ersten Erwägungsgrund zufolge die Richtlinie 85/337 kodifiziert, gilt die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung der Bestimmungen der letztgenannten Richtlinie auch für die UVP-Richtlinie, soweit ihre Bestimmungen identisch sind.

a)   Zum Begriff „Projekt“ im Sinne der UVP-Richtlinie

61

Die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der UVP-Richtlinie enthaltene Definition des Begriffs „Projekt“ erfasst im ersten Gedankenstrich dieser Vorschrift die Errichtung von baulichen oder sonstigen Anlagen und in ihrem zweiten Gedankenstrich sonstige Eingriffe in Natur und Landschaft, einschließlich derjenigen zum Abbau von Bodenschätzen.

62

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bezieht sich der Begriff „Projekt“ in Anbetracht – insbesondere – des Wortlauts von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der UVP-Richtlinie auf Arbeiten oder Eingriffe, die den materiellen Zustand eines Platzes verändern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. April 2012, Pro-Braine u. a., C‑121/11, EU:C:2012:225, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Die Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob die im Ausgangsverfahren streitigen Maßnahmen in diesem Sinne einzustufen sind, weil für die Umsetzung dieser Maßnahmen Investitionen in die beiden betreffenden Kernkraftwerke und Modernisierungsarbeiten an ihnen von erheblichem Umfang erforderlich sind und daher zwangsläufig mit ihrer Durchführung einhergehen.

64

Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht nämlich hervor, dass die im Ausgangsverfahren streitigen Maßnahmen mit umfangreichen Arbeiten an den Kraftwerken Doel 1 und Doel 2 zu deren Modernisierung und zur Gewährleistung der Einhaltung der aktuellen Sicherheitsvorschriften verbunden sind, was die dafür vorgesehene Finanzausstattung von 700 Mio. Euro belegt.

65

Der Vorlageentscheidung zufolge sieht das Abkommen vom 30. November 2015 die Erstellung eines Investitionsplans „für die Verlängerung der Lebensdauer“ vor, in dem es heißt, dass diese für die Verlängerung der Laufzeit dieser beiden Kraftwerke notwendigen Arbeiten insbesondere die Investitionen, die von der FANK im Rahmen des LTO-Plans für den Ersatz von Anlagen wegen Überalterung genehmigt worden seien, und die Modernisierung anderer Anlagen umfassten sowie die aufgrund der vierten regelmäßigen Sicherheitsinspektion und der infolge des Unfalls von Fukushima (Japan) vorzunehmenden Änderungen.

66

Konkret geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervor, dass es bei diesen Arbeiten u. a. darum gehen soll, die Kuppeln der Kraftwerke Doel 1 und Doel 2 zu modernisieren, die Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente zu erneuern, eine neue Pumpanlage zu errichten und die Sockel anzupassen, um diese Kraftwerke besser vor Überschwemmungen zu schützen. Mit diesen Arbeiten wären nicht nur Verbesserungen der bestehenden Strukturen verbunden, sondern auch die Errichtung von drei Gebäuden, von denen zwei die Lüftungseinrichtungen und das dritte eine Brandschutzanlage beherbergen sollten. Solche Arbeiten sind im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs geeignet, sich auf den materiellen Zustand der betroffenen Gebiete auszuwirken.

67

Im Übrigen werden diese Arbeiten zwar nicht im Gesetz vom 28. Juni 2015 erwähnt, sondern im Abkommen vom 30. November 2015, sie sind aber gleichwohl mit den vom belgischen Gesetzgeber erlassenen Maßnahmen eng verbunden.

68

Diese Maßnahmen hätten nämlich wegen des Umfangs der Verlängerung der industriellen Stromerzeugung, die sie vorsehen, nicht beschlossen werden können, wenn der belgische Gesetzgeber nicht vorher von der Art und der technischen und finanziellen Machbarkeit der mit ihnen einhergehenden Modernisierungsarbeiten sowie den für ihre Durchführung erforderlichen Investitionen Kenntnis gehabt hätte. Im Übrigen werden die betreffenden Modernisierungsarbeiten und Investitionen in der Begründung des Gesetzes vom 28. Juni 2015 und in dessen Materialien ausdrücklich erwähnt.

69

Dieser Sachzusammenhang zwischen den beim vorlegenden Gericht angefochtenen Maßnahmen und den in der vorstehenden Randnummer genannten Investitionen wird auch durch den Umstand bestätigt, dass mit dem Gesetz vom 28. Juni 2015 in Art. 4 des Gesetzes vom 31. Januar 2003 ein § 3 eingefügt worden ist, wonach der König, wenn nicht bis spätestens 30. November 2015 ein Abkommen zwischen dem Eigentümer der Kraftwerke Doel 1 und Doel 2 und dem belgischen Staat geschlossen würde, den Zeitpunkt für die Stilllegung dieser Kraftwerke auf den 31. März 2016 vorziehen würde.

70

Aus den dem Gerichtshof übermittelten Akten geht zudem auch hervor, dass sich der Betreiber der beiden Kraftwerke rechtsverbindlich verpflichtet hat, alle diese Arbeiten bis zum Ende des Jahres 2019 durchzuführen.

71

In Anbetracht dieser verschiedenen Gesichtspunkte dürfen bei der Prüfung, ob es sich im vorliegenden Fall um ein Projekt im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der UVP-Richtlinie handelt, Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht künstlich von den Arbeiten losgelöst werden, die mit diesen Maßnahmen untrennbar verbunden sind. Daher ist festzustellen, dass solche Maßnahmen und die Modernisierungsarbeiten, die mit ihnen untrennbar verbunden sind, zusammen und vorbehaltlich der Tatsachenwürdigung, deren Vornahme Sache des vorlegenden Gerichts ist, Bestandteil ein und desselben Projekts im Sinne dieser Vorschrift sind.

72

Der Umstand, dass die Durchführung dieser Maßnahmen für eines der betroffenen Kraftwerke den Erlass weiterer Rechtsakte, wie die Erteilung einer neuen individuellen Genehmigung für Stromerzeugung zu industriellen Zwecken, erfordert, kann daran nichts ändern.

b)   Zur Erforderlichkeit einer Umweltverträglichkeitsprüfung

73

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Projekte im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der UVP-Richtlinie nach Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie vor ihrer Genehmigung einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden müssen, wenn bei ihnen u. a. aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standorts mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist.

74

Zudem verlangt Art. 2 Abs. 1 der UVP-Richtlinie nicht, dass jedes Projekt, bei dem mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, dem in dieser Richtlinie vorgesehenen Prüfungsverfahren unterzogen wird, sondern nur, dass dies bei Projekten geschehen muss, die in Art. 4 dieser Richtlinie genannt sind, der auf die in ihren Anhängen I und II aufgezählten Projekte verweist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2011, Brussels Hoofdstedelijk Gewest u. a., C‑275/09, EU:C:2011:154, Rn. 25).

75

Schließlich ergibt sich aus einer Zusammenschau von Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der UVP-Richtlinie, dass unter Anhang I dieser Richtlinie fallende Projekte naturgemäß mit der Gefahr erheblicher Auswirkungen auf die Umwelt behaftet sind und zwingend Gegenstand einer Umweltverträglichkeitsprüfung sein müssen (vgl. in diesem Sinne zu dieser Prüfungspflicht Urteile vom 24. November 2011, Kommission/Spanien, C‑404/09, EU:C:2011:768, Rn. 74, sowie vom 11. Februar 2015, Marktgemeinde Straßwalchen u. a., C‑531/13, EU:C:2015:79, Rn. 20).

1) Zur Anwendung der Anhänge I und II der UVP-Richtlinie

76

In Nr. 2 Buchst. b des Anhangs I der UVP-Richtlinie werden als Projekte, die nach ihrem Art. 4 Abs. 1 einer Prüfung gemäß ihren Art. 5 bis 10 unterzogen werden müssen, u. a. Kernkraftwerke und andere Kernreaktoren, einschließlich ihrer Demontage oder ihrer Stilllegung, genannt.

77

Daher muss geprüft werden, ob Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen zusammen mit den Arbeiten, von denen sie nicht getrennt werden können, unter Nr. 24 des Anhangs I der UVP-Richtlinie fallen könnten, der auf „[j]ede Änderung oder Erweiterung von Projekten, die in diesem Anhang aufgeführt sind, wenn sie für sich genommen die Schwellenwerte, sofern solche in diesem Anhang festgelegt sind, erreicht“, Bezug nimmt, oder unter Nr. 13 Buchst. a des Anhangs II dieser Richtlinie, der sich auf „[d]ie Änderung oder Erweiterung von bereits genehmigten, durchgeführten oder in der Durchführungsphase befindlichen Projekten des Anhangs I oder dieses Anhangs, die erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Umwelt haben können (nicht durch Anhang I erfasste Änderung oder Erweiterung)“ bezieht.

78

Was Nr. 24 des Anhangs I der UVP-Richtlinie betrifft, ergibt sich aus ihrem Wortlaut und ihrer Systematik, dass sie Änderungen oder Erweiterungen eines Projekts erfassen soll, die u. a. wegen ihrer Art und ihres Ausmaßes hinsichtlich der Auswirkungen auf die Umwelt mit ähnlichen Gefahren behaftet sind wie das Projekt selber.

79

Die im Ausgangsverfahren streitigen Maßnahmen, die zur Folge haben, dass die Laufzeit der durch das Gesetz vom 31. Januar 2003 zuvor auf 40 Jahre befristeten Genehmigung zur Stromerzeugung für industrielle Zwecke durch die beiden betreffenden Kraftwerke um einen erheblichen Zeitraum von zehn Jahren verlängert wird, müssen in Verbindung mit den umfangreichen Renovierungsarbeiten, die aufgrund des Alters dieser Kraftwerke und der Verpflichtung, diese in Einklang mit den Sicherheitsbestimmungen zu bringen, so angesehen werden, dass sie, was die Gefahren von Umweltauswirkungen betrifft, ein Ausmaß haben, das dem der Erstinbetriebnahme dieser Kraftwerke vergleichbar ist.

80

Daher ist davon auszugehen, dass diese Maßnahmen und diese Arbeiten unter Nr. 24 des Anhangs I der UVP-Richtlinie fallen. Denn ein solches Projekt ist naturgemäß mit der Gefahr erheblicher Auswirkungen auf die Umwelt im Sinne von Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie behaftet und muss nach Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie zwingend einer Prüfung in Bezug auf seine Auswirkungen auf die Umwelt unterzogen werden.

81

Da zudem die Kraftwerke Doel 1 und Doel 2 in der Nähe zur Grenze des Königreichs Belgien mit dem Königreich der Niederlande gelegen sind, lässt sich nicht in Abrede stellen, dass ein solches Projekt im Sinne von Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt des letztgenannten Mitgliedstaats haben könnte.

2) Zum Zeitpunkt, zu dem die Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden muss

82

Nach Art. 2 Abs. 1 der UVP-Richtlinie muss die Umweltverträglichkeitsprüfung „vor Erteilung der Genehmigung“ für die Projekte stattfinden, die dieser Prüfung unterliegen.

83

Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, ist eine solche vorherige Prüfung durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, dass die zuständige Behörde bei ihrer Entscheidungsfindung die Auswirkungen auf die Umwelt bei allen technischen Planungs- und Entscheidungsprozessen so früh wie möglich berücksichtigt, um Umweltbelastungen von vornherein zu vermeiden, statt sie erst nachträglich in ihren Auswirkungen zu bekämpfen (Urteil vom 31. Mai 2018, Kommission/Polen, C‑526/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:356, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

84

Außerdem ist nach der Definition in Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der UVP-Richtlinie unter dem Begriff „Genehmigung“ die Entscheidung der zuständigen Behörde oder der zuständigen Behörden zu verstehen, aufgrund deren der Projektträger das Recht zur Durchführung des Projekts erhält, was grundsätzlich das vorlegende Gericht auf der Grundlage der einschlägigen nationalen Regelung festzustellen hat.

85

Sieht das nationale Recht ein mehrstufiges Genehmigungsverfahren vor, ist die Umweltverträglichkeitsprüfung eines Projekts überdies grundsätzlich durchzuführen, sobald es möglich ist, sämtliche Auswirkungen zu ermitteln und zu prüfen, die das Projekt möglicherweise auf die Umwelt hat (Urteile vom 7. Januar 2004, Wells, C‑201/02, EU:C:2004:12, Rn. 52, sowie vom 28. Februar 2008, Abraham u. a., C‑2/07, EU:C:2008:133, Rn. 26).

86

Ergeht also zunächst eine Grundsatzentscheidung und dann eine Durchführungsentscheidung, die nicht über die in der Grundsatzentscheidung festgelegten Vorgaben hinausgehen darf, so sind die Auswirkungen, die das Projekt möglicherweise auf die Umwelt hat, im Verfahren zum Erlass der Grundsatzentscheidung zu ermitteln und zu prüfen. Nur dann, wenn diese Auswirkungen erst im Verfahren zum Erlass der Durchführungsentscheidung ermittelt werden können, ist die Prüfung in diesem Verfahren durchzuführen (Urteile vom 7. Januar 2004, Wells, C‑201/02, EU:C:2004:12, Rn. 52, sowie vom 28. Februar 2008, Abraham u. a., C‑2/07, EU:C:2008:133, Rn. 26).

87

Auch wenn es Sache des vorlegenden Gerichts ist, auf der Grundlage der einschlägigen nationalen Regelung zu prüfen, ob das Gesetz vom 28. Juni 2015 eine Genehmigung im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der UVP-Richtlinie darstellt, lässt sich vorliegend bereits zum jetzigen Zeitpunkt feststellen, dass dieses Gesetz präzise und unabhängig von Bedingungen vorsieht, dass zum einen die industrielle Stromerzeugung eines abgeschalteten Kernkraftwerks für einen Zeitraum von fast zehn Jahren mit der Folge wieder aufgenommen wird, dass der Zeitpunkt, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für seine Stilllegung und die Einstellung seiner industriellen Stromerzeugung festgelegt hat, um zehn Jahre aufgeschoben wird, und dass zum anderen der Endtermin, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Einstellung der industriellen Stromerzeugung eines in Betrieb befindlichen Kraftwerks vorgesehen hat, ebenfalls um zehn Jahre aufgeschoben wird.

88

Auch wenn die Durchführung dieser Maßnahmen den Erlass weiterer Rechtsakte im Rahmen eines komplexen und kontrollierten Prozesses erfordert, der u. a. die Einhaltung der für die industrielle Stromerzeugung aus Kernenergie geltenden Sicherheitsvorschriften gewährleisten soll, und die Maßnahmen insbesondere, wie aus der Begründung des Gesetzes vom 28. Juni 2015 hervorgeht, von der FANK vorher genehmigt werden müssen, bleibt es dabei, dass diese Maßnahmen, nachdem sie vom nationalen Gesetzgeber erlassen worden sind, die wesentlichen Merkmale des Projekts festlegen und von vornherein nicht dazu bestimmt sind, erörtert oder in Frage gestellt zu werden.

89

Der Umstand, dass die Durchführung dieses Projekts für eines der betroffenen Kraftwerke die Erteilung einer neuen individuellen Genehmigung für Stromerzeugung zu industriellen Zwecken erfordert, vermag nicht zu rechtfertigen, dass eine Prüfung seiner Umweltauswirkungen erst nach dem Erlass dieses Gesetzes durchgeführt wird. Im Übrigen ist nach den Angaben in der Vorlageentscheidung die zusätzliche Menge radioaktiver Abfälle, die durch die im Ausgangsverfahren streitigen Maßnahmen entstehen kann, nämlich 350 m3, dem belgischen Parlament vor dem Erlass des Gesetzes zur Kenntnis gebracht worden.

90

Zudem stellen, wie in den Rn. 63 bis 71 des vorliegenden Urteils festgestellt, die im Ausgangsverfahren streitigen Maßnahmen zusammen mit den Modernisierungsarbeiten, die untrennbar mit ihnen verbunden sind, ein Projekt im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der UVP-Richtlinie dar.

91

Vor diesem Hintergrund scheint das Gesetz vom 28. Juni 2015 auf den ersten Blick eine Genehmigung im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie zu sein oder zumindest den ersten Schritt eines Verfahrens zur Genehmigung des fraglichen Projekts darzustellen, was dessen wesentliche Merkmale betrifft.

92

Die Umweltverträglichkeitsprüfung musste sich auch auf die Arbeiten erstrecken, die mit den im Ausgangsverfahren streitigen Maßnahmen untrennbar verbunden sind, falls – was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist – sowohl diese Arbeiten als auch ihre potenziellen Umweltauswirkungen bereits in diesem Stadium des Genehmigungsverfahrens ausreichend ermittelt werden konnten. Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass – wie bereits in Rn. 68 des vorliegenden Urteils ausgeführt – sowohl die Natur als auch die Kosten der Arbeiten, die die im Gesetz vom 28. Juni 2015 vorgesehenen Maßnahmen erfordern, dem belgischen Parlament ebenfalls vor der Annahme dieses Gesetzes bekannt waren.

93

Da bei dem im Ausgangsverfahren streitigen Projekt mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt eines anderen Mitgliedstaats zu rechnen ist, ist im Übrigen festzustellen, dass das Projekt auch einem grenzüberschreitenden Prüfungsverfahren nach Art. 7 der UVP-Richtlinie zu unterziehen ist.

94

Nach alledem ist auf Frage 6 Buchst. a bis c zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich, Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der UVP-Richtlinie dahin auszulegen sind, dass die Wiederaufnahme der industriellen Stromerzeugung eines abgeschalteten Kernkraftwerks für einen Zeitraum von fast zehn Jahren mit der Folge, dass der Zeitpunkt, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für seine Stilllegung und die Einstellung seines Betriebs festgelegt hat, um zehn Jahre aufgeschoben wird, und das Aufschieben des Endtermins, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Stilllegung und die Einstellung der industriellen Stromerzeugung eines in Betrieb befindlichen Kraftwerks vorgesehen hat, um ebenfalls zehn Jahre – Maßnahmen, die mit Arbeiten zur Modernisierung der betreffenden Kraftwerke einhergehen, die sich auf den materiellen Zustand der Gebiete auswirken können – ein „Projekt“ im Sinne dieser Richtlinie darstellen, das grundsätzlich und vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfung einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden muss, bevor die Maßnahmen erlassen werden. Der Umstand, dass die Durchführung dieser Maßnahmen mit weiteren Rechtsakten, wie der Erteilung einer neuen individuellen Genehmigung für Stromerzeugung zu industriellen Zwecken an eines der betroffenen Kraftwerke, einhergeht, ist insoweit nicht ausschlaggebend. Die mit diesen Maßnahmen untrennbar verbundenen Arbeiten müssen ebenfalls vor dem Erlass der Maßnahmen einer solchen Prüfung unterzogen werden, falls – was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist – ihre Natur und ihre potenziellen Auswirkungen auf die Umwelt in diesem Stadium hinreichend ermittelbar sind.

2.   Zu Frage 6 Buchst. d

95

Mit seiner Frage 6 Buchst. d möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 4 der UVP-Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Projekt wie das im Ausgangsverfahren streitige aus mit der Stromversorgungssicherheit des betreffenden Mitgliedstaats zusammenhängenden Gründen von einer Umweltverträglichkeitsprüfung ausgenommen werden darf.

96

Nach Art. 2 Abs. 4 Unterabs. 1 der UVP-Richtlinie können die Mitgliedstaaten in Ausnahmefällen ein bestimmtes Projekt ganz oder teilweise von den Bestimmungen der Richtlinie ausnehmen, allerdings unbeschadet des Art. 7 der Richtlinie, der die Pflichten regelt, die einem Mitgliedstaat obliegen, in dessen Hoheitsgebiet ein Projekt durchgeführt werden soll, das erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt eines anderen Mitgliedstaats haben kann.

97

Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass die Notwendigkeit, die Stromversorgungssicherheit eines Mitgliedstaats zu gewährleisten, einen Ausnahmefall im Sinne von Art. 2 Abs. 4 Unterabs. 1 der UVP-Richtlinie darstellen kann, der zu rechtfertigen vermag, dass ein Projekt von der Umweltverträglichkeitsprüfung ausgenommen wird, ist zu beachten, dass Art. 2 Abs. 4 Unterabs. 2 Buchst. a bis c der Richtlinie den Mitgliedstaaten, die diese Ausnahme geltend machen möchten, bestimmte Pflichten auferlegt.

98

In einem solchen Fall sind die betreffenden Mitgliedstaaten nämlich verpflichtet, zu prüfen, ob eine andere Form der Prüfung angemessen ist, sowie der betroffenen Öffentlichkeit die in diesem Rahmen gewonnenen Informationen zugänglich zu machen und die Kommission vor Erteilung der Genehmigung über die Gründe für die Gewährung dieser Ausnahme zu unterrichten und ihr die Informationen zu übermitteln, die sie gegebenenfalls ihren eigenen Staatsangehörigen zur Verfügung stellen.

99

Wie die Generalanwältin in Nr. 150 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, handelt es sich bei diesen Verpflichtungen nicht um bloße Formalien, sondern um Voraussetzungen, die gewährleisten sollen, dass die Ziele der UVP-Richtlinie so weit wie möglich eingehalten werden.

100

Auch wenn es im vorliegenden Fall Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob das Königreich Belgien diese Verpflichtungen eingehalten hat, lässt sich bereits zum jetzigen Zeitpunkt feststellen, dass die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen vorträgt, dass dieser Mitgliedstaat sie von der Anwendung der fraglichen Ausnahme nicht unterrichtet habe.

101

Ferner darf nach Art. 2 Abs. 4 der UVP-Richtlinie ein Projekt nur dann von der Umweltverträglichkeitsprüfung ausgenommen werden, wenn der betreffende Mitgliedstaat in der Lage ist, darzutun, dass die von ihm geltend gemachte Gefahr für die Stromversorgungssicherheit bei vernünftiger Betrachtung wahrscheinlich ist und dass das Projekt so dringlich ist, dass es das Unterbleiben einer solchen Prüfung zu rechtfertigen vermag. Zudem gilt diese Ausnahme, wie in Rn. 96 des vorliegenden Urteils ausgeführt, unbeschadet des Art. 7 der Richtlinie, der Projekte mit grenzüberschreitenden Auswirkungen betrifft.

102

In Anbetracht dessen ist auf Frage 6 Buchst. d zu antworten, dass Art. 2 Abs. 4 der UVP-Richtlinie dahin auszulegen ist, dass es einem Mitgliedstaat nur dann gestattet ist, ein Projekt wie das im Ausgangsverfahren streitige von einer Prüfung seiner Auswirkungen auf die Umwelt auszunehmen, um die Sicherheit seiner Stromversorgung zu gewährleisten, wenn der Mitgliedstaat dartut, dass die Gefahr für die Stromversorgungssicherheit bei vernünftiger Betrachtung wahrscheinlich ist und das fragliche Projekt so dringlich ist, dass es das Unterbleiben einer solchen Prüfung zu rechtfertigen vermag, vorausgesetzt, dass die in Art. 2 Abs. 4 Unterabs. 2 Buchst. a bis c der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen eingehalten werden. Die Möglichkeit einer solchen Ausnahme besteht allerdings unbeschadet der Pflichten, die dem betreffenden Mitgliedstaat nach Art. 7 dieser Richtlinie obliegen.

3.   Zu Frage 7

103

Mit seiner Frage 7 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 4 der UVP-Richtlinie dahin auszulegen ist, dass nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren streitigen einen besonderen einzelstaatlichen Gesetzgebungsakt im Sinne dieser Bestimmung darstellen, der nach dieser Bestimmung vom Geltungsbereich der UVP-Richtlinie ausgenommen ist.

104

Nach Art. 1 Abs. 4 der UVP-Richtlinie, der Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 85/337 inhaltlich übernommen hat, gilt die Ausnahme eines Projekts vom Geltungsbereich der UVP-Richtlinie unter zwei Voraussetzungen.

105

Die erste Voraussetzung besteht darin, dass das Projekt durch einen besonderen Gesetzgebungsakt genehmigt wird, der die gleichen Merkmale wie eine Genehmigung aufweist. Dieser Gesetzgebungsakt muss insbesondere dem Projektträger das Recht zur Durchführung des Projekts verleihen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2012, Solvay u. a., C‑182/10, EU:C:2012:82, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

106

Das Projekt muss außerdem im Einzelnen, also hinreichend genau und abschließend, genehmigt werden, so dass der Gesetzgebungsakt, durch den es genehmigt wird, wie eine Genehmigung alle für die Umweltverträglichkeitsprüfung erheblichen, vom Gesetzgeber berücksichtigten Punkte des Projekts umfassen muss. Der Gesetzgebungsakt muss erkennen lassen, dass die Zwecke der UVP-Richtlinie bei dem betreffenden Projekt erreicht wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2012, Solvay u. a., C‑182/10, EU:C:2012:82, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

107

Demnach kann nicht angenommen werden, dass ein Gesetzgebungsakt ein Projekt im Sinne von Art. 1 Abs. 4 der UVP- Richtlinie im Einzelnen genehmigt, wenn er nicht die zur Prüfung der Umweltauswirkungen des Projekts erforderlichen Angaben enthält oder wenn er den Erlass anderer Akte erfordert, damit der Projektträger das Recht zur Durchführung des Projekts erhält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2012, Solvay u. a., C‑182/10, EU:C:2012:82, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

108

Die zweite in Art. 1 Abs. 4 der UVP-Richtlinie vorgesehene Voraussetzung verlangt, dass die mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele, einschließlich desjenigen der Bereitstellung von Informationen, im Wege des Gesetzgebungsverfahrens erreicht werden. Aus Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie ergibt sich nämlich, dass das wesentliche Ziel der Richtlinie darin besteht, zu gewährleisten, dass Projekte, bei denen u. a. aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standorts mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, vor Erteilung der Genehmigung einer Prüfung in Bezug auf ihre Umweltauswirkungen unterzogen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2012, Solvay u. a., C‑182/10, EU:C:2012:82, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

109

Folglich muss der Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Genehmigung des betreffenden Projekts über ausreichende Angaben verfügen. Nach Art. 5 Abs. 3 der UVP-Richtlinie umfassen die vom Projektträger vorzulegenden Angaben mindestens eine Beschreibung des Projekts mit Angaben zu seinem Standort, seiner Ausgestaltung und seiner Größe, eine Beschreibung der Maßnahmen, mit denen erhebliche nachteilige Umweltauswirkungen des Projekts vermieden, verringert und soweit möglich ausgeglichen werden sollen, die notwendigen Angaben zur Feststellung und Beurteilung der Hauptauswirkungen, die das Projekt voraussichtlich auf die Umwelt haben wird, eine Übersicht über die wichtigsten anderweitigen vom Projektträger geprüften Lösungsmöglichkeiten und die Angabe der wesentlichen Auswahlgründe im Hinblick auf die Umweltauswirkungen sowie eine nicht technische Zusammenfassung der vorgenannten Angaben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Oktober 2011, Boxus u. a., C‑128/09 bis C‑131/09, C‑134/09 und C‑135/09, EU:C:2011:667, Rn. 43, sowie vom 16. Februar 2012, Solvay u. a., C‑182/10, EU:C:2012:82, Rn. 37).

110

Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, wobei sowohl der Inhalt des erlassenen Gesetzgebungsakts als auch das gesamte Gesetzgebungsverfahren, das zu seinem Erlass geführt hat, und insbesondere die Vorarbeiten und die parlamentarischen Debatten zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Oktober 2011, Boxus u. a., C‑128/09 bis C‑131/09, C‑134/09 und C‑135/09, EU:C:2011:667, Rn. 47, sowie vom 16. Februar 2012, Solvay u. a., C‑182/10, EU:C:2012:82, Rn. 41).

111

Gleichwohl scheint dies in Anbetracht der Informationen, die dem Gerichtshof zur Kenntnis gebracht worden sind, nicht der Fall gewesen zu sein.

112

Obschon das vorlegende Gericht die Existenz von Studien und Anhörungen erwähnt, die dem Erlass des Gesetzes vom 28. Juni 2015 vorausgegangen sind, geht nämlich aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Akten nicht hervor, dass der nationale Gesetzgeber in Bezug auf sowohl die im Ausgangsverfahren streitigen Maßnahmen als auch die mit ihnen untrennbar verbundenen Arbeiten, die bei der Antwort auf Frage 6 Buchst. a bis c zusammen als ein und dasselbe Projekt angesehen worden sind, Kenntnis von den in Rn. 109 des vorliegenden Urteils genannten Angaben hatte.

113

Zudem könnte – wie u. a. aus Rn. 91 des vorliegenden Urteils hervorgeht – ein Gesetz wie das vom 28. Juni 2015 lediglich ein erster Schritt des Verfahrens zur Genehmigung des im Ausgangsverfahren streitigen Projekts sein, was die mit ihm einhergehenden Arbeiten betrifft, so dass es auch nicht eine der erforderlichen Voraussetzungen dafür erfüllt, dass das damit verbundene Projekt nach Art. 1 Abs. 4 der UVP-Richtlinie von deren Geltungsbereich ausgenommen ist, nämlich die Voraussetzung, durch einen besonderen einzelstaatlichen Gesetzgebungsakt im Einzelnen genehmigt worden zu sein.

114

In Anbetracht dessen ist auf Frage 7 zu antworten, dass Art. 1 Abs. 4 der UVP-Richtlinie dahin auszulegen ist, dass nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren streitigen keinen besonderen einzelstaatlichen Gesetzgebungsakt im Sinne dieser Bestimmung darstellen, der nach dieser Bestimmung vom Geltungsbereich der UVP-Richtlinie ausgenommen ist.

B. Zu Frage 8 betreffend die Habitatrichtlinie

1.   Zu Frage 8 Buchst. a bis c

115

Mit seiner Frage 8 Buchst. a bis c möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie in Verbindung mit den Art. 3 und 4 der Vogelschutzrichtlinie und gegebenenfalls unter Berücksichtigung der UVP-Richtlinie dahin auszulegen ist, dass Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen in Anbetracht der Arbeiten zur Modernisierung und zur Anpassung an die aktuellen Sicherheitsvorschriften, die mit ihnen einhergehen, einen Plan oder ein Projekt darstellen, der bzw. das eine Prüfung nach Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie erfordert, und, gegebenenfalls, ob diese Prüfung vor der Annahme durch den Gesetzgeber durchgeführt werden muss. Das vorlegende Gericht stellt außerdem die Frage, ob im Hinblick darauf, dass für eines der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kraftwerke die Notwendigkeit des späteren Erlasses von Durchführungsrechtsakten wie der Erteilung einer neuen individuellen Genehmigung für Stromerzeugung zu industriellen Zwecken besteht, insoweit danach zu unterscheiden ist, auf welches der beiden Kraftwerke die Maßnahmen abzielen.

a)   Vorbemerkungen

116

Art. 6 der Habitatrichtlinie schreibt den Mitgliedstaaten eine Reihe besonderer Verpflichtungen und Verfahren vor, die, wie sich aus ihrem Art. 2 Abs. 2 ergibt, darauf abzielen, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und der wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von Interesse für die Europäische Union zu bewahren oder gegebenenfalls wiederherzustellen, um das allgemeinere Ziel der Richtlinie, ein hohes Niveau des Umweltschutzes für die gemäß der Richtlinie geschützten Gebiete zu gewährleisten, zu verwirklichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Kommission/Polen [Wald von Białowieża], C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 106 und die dort angeführte Rechtsprechung).

117

Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie sieht ein Prüfverfahren vor, das durch eine vorherige Kontrolle gewährleisten soll, dass Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des betreffenden Gebiets in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, dieses jedoch erheblich beeinträchtigen könnten, nur genehmigt werden, soweit sie das Gebiet als solches nicht beeinträchtigen (Urteile vom 17. April 2018, Kommission/Polen [Wald von Białowieża], C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 108 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 25. Juli 2018, Grace und Sweetman, C‑164/17, EU:C:2018:593, Rn. 38).

118

Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie unterscheidet zwei Phasen des von ihm vorgesehenen Verfahrens.

119

Die erste – in Satz 1 dieser Bestimmung vorgesehene – Phase verlangt von den Mitgliedstaaten eine Prüfung der Verträglichkeit eines Plans oder eines Projekts mit einem geschützten Gebiet, wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, dass dieser Plan oder dieses Projekt das Gebiet erheblich beeinträchtigt. In der zweiten, in Satz 2 dieser Bestimmung vorgesehenen Phase, die sich an die Verträglichkeitsprüfung anschließt, wird die Zustimmung zu einem solchen Plan oder Projekt vorbehaltlich der Bestimmungen des Art. 6 Abs. 4 der Habitatrichtlinie nur erteilt, wenn dieser das betreffende Gebiet als solches nicht beeinträchtigt (Urteil vom 25. Juli 2018, Grace und Sweetman, C‑164/17, EU:C:2018:593, Rn. 32).

120

Außerdem bedeutet eine angemessene Prüfung eines Plans oder eines Projekts auf Verträglichkeit für das betreffende Gebiet, dass vor dessen Genehmigung unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sämtliche Gesichtspunkte des Plans oder Projekts zu ermitteln sind, die für sich oder in Verbindung mit anderen Plänen oder Projekten die für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungsziele beeinträchtigen können. Die zuständigen nationalen Behörden dürfen eine Tätigkeit in dem geschützten Gebiet nur dann genehmigen, wenn sie Gewissheit darüber erlangt haben, dass sie sich nicht nachteilig auf dieses Gebiet als solches auswirkt. Dies ist dann der Fall, wenn aus wissenschaftlicher Sicht kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass es keine solchen Auswirkungen gibt (Urteil vom 7. November 2018, Holohan u. a.C‑461/17, EU:C:2018:883, Rn. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

121

Zudem treten bei nach dem Beginn der Anwendung der Habitatrichtlinie zu besonderen Schutzgebieten erklärten Gebieten die Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie nach deren Art. 7 ab dem Datum, zu dem das betreffende Gebiet zum besonderen Schutzgebiet erklärt wird, an die Stelle der Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie (Urteile vom 17. April 2018, Kommission/Polen [Wald von Białowieża], C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 109 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 25. Juli 2018, Grace und Sweetman, C‑164/17, EU:C:2018:593, Rn. 27).

b)   Zum Begriff „Projekt“ im Sinne der Habitatrichtlinie

122

Da die Habitatrichtlinie den Begriff „Projekt“ im Sinne ihres Art. 6 Abs. 3 nicht definiert, ist zunächst der Begriff „Projekt“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der UVP-Richtlinie zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. September 2004, Waddenvereniging und Vogelbeschermingsvereniging, C‑127/02, EU:C:2004:482, Rn. 23, 24 und 26, vom 14. Januar 2010, Stadt Papenburg, C‑226/08, EU:C:2010:10, Rn. 38, vom 17. Juli 2014, Kommission/Griechenland, C‑600/12, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2086, Rn. 75, sowie vom 7. November 2018, Coöperatie Mobilisation for the Environment u. a., C‑293/17 und C‑294/17, EU:C:2018:882, Rn. 60).

123

Der Gerichtshof hat außerdem bereits entschieden, dass eine Tätigkeit, die unter die UVP-Richtlinie fällt, erst recht unter die Habitatrichtlinie fallen muss (Urteil vom 7. November 2018, Coöperatie Mobilisation for the Environment u. a., C‑293/17 und C‑294/17, EU:C:2018:882, Rn. 65).

124

Folglich kann eine Tätigkeit, wenn sie als ein Projekt im Sinne der UVP-Richtlinie angesehen wird, ein Projekt im Sinne der Habitatrichtlinie sein (Urteil vom 7. November 2018, Coöperatie Mobilisation for the Environment u. a., C‑293/17 und C‑294/17, EU:C:2018:882, Rn. 66).

125

In Anbetracht der Antwort auf Frage 6 Buchst. a bis c ist davon auszugehen, dass Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen zusammen mit den Arbeiten, die mit ihnen untrennbar verbunden sind, ein Projekt im Sinne der Habitatrichtlinie darstellen.

126

Ferner steht außer Frage, dass das im Ausgangsverfahren streitige Projekt nicht mit der Verwaltung eines Schutzgebiets in Verbindung steht oder hierfür notwendig ist.

127

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Tatsache, dass eine wiederkehrende Tätigkeit vor dem Inkrafttreten der Habitatrichtlinie nach dem nationalen Recht genehmigt worden war, als solche nicht daran hindert, dass eine solche Tätigkeit bei jedem späteren Eingriff als gesondertes Projekt im Sinne dieser Richtlinie angesehen wird, da andernfalls diese Tätigkeit auf Dauer jeder vorherigen Prüfung auf Verträglichkeit mit dem betreffenden Gebiet entzogen wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Januar 2010, Stadt Papenburg, C‑226/08, EU:C:2010:10, Rn. 41, sowie vom 7. November 2018, Coöperatie Mobilisation for the Environment u. a., C‑293/17 und C‑294/17, EU:C:2018:882, Rn. 77).

128

Insoweit ist zu prüfen, ob bestimmte Tätigkeiten im Hinblick u. a. auf ihren wiederkehrenden Charakter, ihre Art oder die Umstände ihrer Ausführung als einheitlicher Vorgang zu betrachten sind und als ein und dasselbe Projekt im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie angesehen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Januar 2010, Stadt Papenburg, C‑226/08, EU:C:2010:10, Rn. 47, sowie vom 7. November 2018, Coöperatie Mobilisation for the Environment u. a., C‑293/17 und C‑294/17, EU:C:2018:882, Rn. 78).

129

Dies wäre nicht der Fall, wenn eine Tätigkeit nicht fortgesetzt wird und nicht identisch ist, insbesondere was die Orte und die Umstände ihrer Ausführung betrifft (Urteil vom 7. November 2018, Coöperatie Mobilisation for the Environment u. a., C‑293/17 und C‑294/17, EU:C:2018:882, Rn. 83).

130

Im vorliegenden Fall war die industrielle Stromerzeugung der Kraftwerke Doel 1 und Doel 2 zwar vor dem Inkrafttreten der Habitatrichtlinie für unbegrenzte Zeit genehmigt worden, das Gesetz vom 31. Januar 2003 hatte die Laufzeit jedoch auf 40 Jahre begrenzt, d. h. für das Kraftwerk Doel 1 bis zum 15. Februar 2015 und für das Kraftwerk Doel 2 bis zum 1. Dezember 2015. Wie das vorlegende Gericht bemerkt, wurde mit den im Ausgangsverfahren streitigen Verfahren die gesetzgeberische Entscheidung geändert, wodurch u. a. die Wiederinbetriebnahme eines der beiden Kraftwerke erforderlich wurde.

131

Außer Frage steht außerdem, dass bei der Umsetzung dieser Maßnahmen die industrielle Erzeugung dieser beiden Kraftwerke nicht unter Durchführungsbedingungen erfolgen wird, die mit den ursprünglich genehmigten identisch sind, allein schon wegen der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der neuen einschlägigen Sicherheitsvorschriften, die, wie in den Rn. 64 bis 66 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der Grund für die Durchführung umfangreicher Modernisierungsarbeiten sind. Ferner geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass dem Betreiber dieser Kraftwerke nach dem Inkrafttreten der Habitatrichtlinie eine Genehmigung zur Stromerzeugung wegen einer Erhöhung ihrer Leistung erteilt wurde.

132

Demzufolge stellen Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen zusammen mit den Arbeiten, die mit ihnen untrennbar verbunden sind, ein gesondertes Projekt dar, für das die in Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie vorgesehenen Prüfungsvorschriften gelten.

133

Dass die zuständige nationale Behörde bei der Genehmigung des betreffenden Plans oder Projekts als Gesetzgeber handelt, ist unerheblich. Denn anders als bei der UVP-Richtlinie kann auf die in Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie vorgesehene Prüfung nicht mit der Begründung verzichtet werden, dass die für die Genehmigung des betreffenden Projekts zuständige Behörde der Gesetzgeber ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2012, Solvay u. a., C‑182/10, EU:C:2012:82, Rn. 69).

c)   Zur Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung eines geschützten Gebiets

134

Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass das in Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie vorgesehene Erfordernis einer Prüfung eines Plans oder Projekts auf seine Verträglichkeit von der Voraussetzung abhängt, dass die Wahrscheinlichkeit oder die Gefahr besteht, dass der Plan oder das Projekt das betroffene Gebiet erheblich beeinträchtigt. In Anbetracht insbesondere des Vorsorgegrundsatzes ist davon auszugehen, dass eine solche Gefahr besteht, wenn sich auf der Grundlage der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht ausschließen lässt, dass der Plan oder das Projekt die für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungsziele möglicherweise beeinträchtigt. Die Beurteilung der Gefahr ist namentlich anhand der besonderen Merkmale und Umweltbedingungen des von einem solchen Plan oder Projekt betroffenen Gebiets vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Kommission/Polen [Wald von Białowieża], C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 111 und 112 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

135

Im vorliegenden Fall befinden sich die am Ufer der Schelde gelegenen Kraftwerke, die Gegenstand der im Ausgangsverfahren streitigen Maßnahmen sind – wie aus in der Vorlageentscheidung wiedergegebenen Auszügen aus den parlamentarischen Vorarbeiten zum Gesetz vom 28. Juni 2015 hervorgeht und auch die Generalanwältin in den Nrn. 24 bis 26 ihrer Schlussanträge bemerkt –, in der Nähe von nach der Habitat- und der Vogelschutzrichtlinie geschützten Gebieten, die zugunsten geschützter Fisch- und Rundmaularten, die in diesem Fluss vorkommen, eingerichtet worden sind.

136

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass ein Projekt außerhalb eines Natura-2000-Gebiets angesiedelt ist, keine Befreiung von den in Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie aufgestellten Anforderungen bedeutet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Januar 2006, Kommission/Deutschland, C‑98/03, EU:C:2006:3, Rn. 44 und 51, sowie vom 26. April 2017, Kommission/Deutschland, C‑142/16, EU:C:2017:301, Rn. 29).

137

Im vorliegenden Fall besteht sowohl wegen des Umfangs der Arbeiten, die mit dem im Ausgangsverfahren streitigen Projekt einhergehen, als auch wegen der Dauer der Verlängerung der industriellen Stromerzeugung der beiden Kraftwerke, die das Projekt vorsieht, offensichtlich die Gefahr, dass das Projekt die für die nahegelegenen Schutzgebiete festgelegten Erhaltungsziele beeinträchtigt, allein schon wegen ihrer Funktionsweise als solcher, insbesondere weil dem nahegelegenen Fluss erhebliche Mengen Wasser für den Bedarf des Kühlsystems entnommen werden und diese Wassermassen abgeleitet werden, aber auch weil die Gefahr eines schwerwiegenden Unfalls besteht, die dieses Projekt mit sich bringt (vgl. entsprechend Urteile vom 10. Januar 2006, Kommission/Deutschland, C‑98/03, EU:C:2006:3, Rn. 44, und vom 26. April 2017, Kommission/Deutschland, C‑142/16, EU:C:2017:301, Rn. 30), ohne dass zwischen der jeweiligen Situation der beiden Kraftwerke ein Unterschied zu machen wäre.

138

Folglich könnte ein Projekt wie das im Ausgangsverfahren streitige geschützte Gebiete erheblich beeinträchtigen im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie.

139

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen zusammen mit den Arbeiten, die untrennbar mit ihnen verbunden sind, ein Projekt darstellen, das eine Prüfung auf seine Verträglichkeit mit dem betroffenen Gebiet gemäß dieser Richtlinie erfordert, ohne dass danach zu unterscheiden wäre, auf welches der beiden betroffenen Kraftwerke sich diese Maßnahmen beziehen.

d)   Zum Zeitpunkt, zu dem die Prüfung stattfinden muss

140

Art. 6 Abs. 3 Satz 2 der Habitatrichtlinie stellt klar, dass die zuständigen einzelstaatlichen Behörden nach der Durchführung der Verträglichkeitsprüfung einem Projekt „nur zustimmen“, wenn sie festgestellt haben, dass das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben.

141

Demzufolge muss eine solche Prüfung zwangsläufig vor dieser Zustimmung erfolgen.

142

Im Übrigen ist, auch wenn die Habitatrichtlinie nicht die Bedingungen festlegt, unter denen die Behörden einem bestimmten Projekt nach Art. 6 Abs. 3 dieser Richtlinie „zustimmen“, der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der UVP-Richtlinie enthaltene Begriff „Genehmigung“ für die Bestimmung der Bedeutung dieses Ausdrucks maßgeblich.

143

Somit ist – entsprechend den die UVP-Richtlinie betreffenden Feststellungen des Gerichtshofs für den Fall, dass das nationale Recht ein mehrstufiges Genehmigungsverfahren vorsieht – anzunehmen, dass die nach Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie erforderliche Prüfung grundsätzlich durchgeführt werden muss, sobald alle Folgen, die das fragliche Projekt für ein geschütztes Gebiet haben kann, hinreichend ermittelbar sind.

144

Folglich und aus Gründen, die mit den in den Rn. 87 bis 91 des vorliegenden Urteils genannten vergleichbar sind, weisen nationale Rechtsvorschriften wie das Gesetz vom 28. Juni 2015 die Merkmale einer Zustimmung der Behörden zu dem betreffenden Projekt im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie auf, und der Umstand, dass die Durchführung dieses Projekts weiterer Rechtsakte bedarf, insbesondere bei einem der beiden betroffenen Kraftwerke einer neuen individuellen Genehmigung für Stromerzeugung zu industriellen Zwecken, vermag nicht zu rechtfertigen, dass vor dem Erlass dieser Rechtsvorschriften keine Prüfung dieses Projekts auf seine Verträglichkeit stattgefunden hat. Was darüber hinaus die Arbeiten betrifft, die mit den im Ausgangsverfahren streitigen Maßnahmen untrennbar verbunden sind, müssen sie in diesem Stadium des Verfahrens zur Genehmigung des Projekts einer Prüfung unterzogen werden, falls ihre Natur und ihre potenziellen Auswirkungen auf die geschützten Gebiete hinreichend ermittelbar sind, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

145

In Anbetracht dessen ist auf Frage 8 Buchst. a bis c zu antworten, dass Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen zusammen mit den Arbeiten zur Modernisierung und zur Anpassung an die aktuellen Sicherheitsvorschriften ein Projekt darstellen, das eine Prüfung auf seine Verträglichkeit mit den betroffenen geschützten Gebieten erfordert. Diese Maßnahmen müssen einer solchen Prüfung vor ihrem Erlass durch den Gesetzgeber unterzogen werden. Dass die Durchführung dieser Maßnahmen mit weiteren Rechtsakten wie der Erteilung einer neuen individuellen Genehmigung für Stromerzeugung zu industriellen Zwecken für eines der betroffenen Kraftwerke einhergeht, ist insoweit nicht ausschlaggebend. Die mit diesen Maßnahmen untrennbar verbundenen Arbeiten müssen ebenfalls vor dem Erlass der Maßnahmen einer solchen Prüfung unterzogen werden, falls, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, ihre Natur und ihre potenziellen Auswirkungen auf die betroffenen Gebiete in diesem Stadium hinreichend ermittelbar sind.

2.   Zu Frage 8 Buchst. d

146

Mit seiner Frage 8 Buchst. d möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 4 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass das Ziel, die Stromversorgungssicherheit eines Mitgliedstaats zu gewährleisten, einen zwingenden Grund des überwiegenden öffentlichen Interesses im Sinne dieser Vorschrift darstellt.

147

Art. 6 Abs. 4 der Habitatrichtlinie ist als Ausnahme von dem in deren Art. 6 Abs. 3 Satz 2 festgelegten Genehmigungskriterium eng auszulegen und kommt erst zur Anwendung, nachdem die Auswirkungen eines Plans oder Projekts gemäß Art. 6 Abs. 3 dieser Richtlinie analysiert worden sind (Urteil vom 17. April 2018, Kommission/Polen [Wald von Białowieża], C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 189 und die dort angeführte Rechtsprechung).

148

Nach Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 1 der Habitatrichtlinie muss nämlich der Mitgliedstaat, falls ein Plan oder Projekt trotz negativer Ergebnisse der nach Art. 6 Abs. 3 Satz 1 dieser Richtlinie vorgenommenen Prüfung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art durchzuführen ist und eine Alternativlösung nicht vorhanden ist, alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2007, Kommission/Italien, C‑304/05, EU:C:2007:532, Rn. 81, und vom 17. April 2018, Kommission/Polen [Wald von Białowieża], C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 190).

149

Schließt zudem das betreffende Gebiet einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art ein, so können nach Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 2 der Habitatrichtlinie nur Erwägungen im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentlichen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgeblichen günstigen Auswirkungen für die Umwelt oder, nach Stellungnahme der Kommission, andere zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend gemacht werden.

150

Die Kenntnis der Verträglichkeit eines Plans oder eines Projekts mit den für das fragliche Gebiet festgelegten Erhaltungszielen ist deshalb eine unerlässliche Voraussetzung für die Anwendung von Art. 6 Abs. 4 der Habitatrichtlinie, da andernfalls keine Anwendungsvoraussetzung dieser Ausnahmeregelung geprüft werden kann. Die Prüfung etwaiger zwingender Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses und der Frage, ob weniger nachteilige Alternativen bestehen, erfordert nämlich eine Abwägung mit den Gebietsbeeinträchtigungen, die mit dem Plan oder Projekt verbunden sind. Außerdem müssen die Gebietsbeeinträchtigungen genau ermittelt werden, um die Art etwaiger Ausgleichsmaßnahmen bestimmen zu können (Urteile vom 20. September 2007, Kommission/Italien, C‑304/05, EU:C:2007:532, Rn. 83, und vom 17. April 2018, Kommission/Polen [Wald von Białowieża], C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 191 und die dort angeführte Rechtsprechung).

151

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Frage 8 Buchst. d auf der Prämisse beruht, dass die Studien und die Anhörungen, die im Rahmen des Verfahrens zum Erlass der im Ausgangsverfahren streitigen Maßnahmen durchgeführt wurden, die Vornahme einer Prüfung gemäß den in Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie aufgestellten Anforderungen ermöglicht hätten.

152

Abgesehen davon, dass aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten nicht hervorgeht, dass diese Studien und Anhörungen die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung gemäß den Anforderungen der UVP-Richtlinie ermöglicht haben, wäre es jedoch in jedem Fall Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob eine solche Prüfung als auch den Anforderungen der Habitatrichtlinie entsprechend angesehen werden kann (vgl. entsprechend Urteile vom 22. September 2011, Valčiukienė u. a., C‑295/10, EU:C:2011:608, Rn. 62, und vom 10. September 2015, Dimos Kropias Attikis, C‑473/14, EU:C:2015:582, Rn. 58).

153

Damit dies der Fall ist, müssen insbesondere – wie in Rn. 120 des vorliegenden Urteils ausgeführt – sämtliche Gesichtspunkte des betreffenden Plans oder Projekts, die für sich oder in Verbindung mit anderen Plänen oder Projekten die für die geschützten Gebiete festgelegten Erhaltungsziele beeinträchtigen können, unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse ermittelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. April 2018, Kommission/Polen [Wald von Białowieża], C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 113 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 25. Juli 2018, Grace und Sweetman, C‑164/17, EU:C:2018:593, Rn. 40).

154

Das vorlegende Gericht müsste gegebenenfalls außerdem prüfen, ob die Studien und Anhörungen, die im Rahmen des Verfahrens zum Erlass der im Ausgangsverfahren streitigen Maßnahmen durchgeführt wurden, negative Ergebnisse erbracht haben, da anderenfalls Art. 6 Abs. 4 der Habitatrichtlinie nicht anzuwenden wäre.

155

Hinsichtlich der Frage, ob das Ziel, die Stromversorgungssicherheit eines Mitgliedstaats zu gewährleisten, einen zwingenden Grund des überwiegenden öffentlichen Interesses im Sinne von Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 1 der Habitatrichtlinie darstellt, ist darauf hinzuweisen, dass das Interesse, das die Verwirklichung eines Plans oder Projekts rechtfertigen kann, zugleich „öffentlich“ und „überwiegend“ sein muss, d. h., es muss so wichtig sein, dass es gegen das mit dieser Richtlinie verfolgte Ziel der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen abgewogen werden kann (Urteil vom 11. September 2012, Nomarchiaki Aftodioikisi Aitoloakarnanias u. a., C‑43/10, EU:C:2012:560, Rn. 121).

156

Insoweit ist zu beachten, dass Art. 194 Abs. 1 Buchst. b AEUV die Energieversorgungssicherheit in der Europäischen Union als eines der grundlegenden Ziele der Unionspolitik im Energiebereich bezeichnet (Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 48).

157

Zudem erfüllt das Ziel, die Stromversorgungssicherheit in einem Mitgliedstaat jederzeit zu gewährleisten, jedenfalls die in Rn. 155 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen.

158

Schließt allerdings das geschützte Gebiet, das durch ein Projekt beeinträchtigt werden könnte, einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp oder eine prioritäre Art im Sinne der Habitatrichtlinie ein, kann nur die Notwendigkeit der Abwendung einer tatsächlichen und schwerwiegenden Gefahr, dass die Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats unterbrochen wird, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einen Grund der öffentlichen Sicherheit darstellen, der nach Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie die Durchführung des Projekts zu rechtfertigen vermag.

159

Folglich ist auf Frage 8 Buchst. d zu antworten, dass Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 1 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass das Ziel, die Stromversorgungssicherheit eines Mitgliedstaats jederzeit zu gewährleisten, einen zwingenden Grund des überwiegenden öffentlichen Interesses im Sinne dieser Vorschrift darstellt. Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass, wenn das geschützte Gebiet, das durch ein Projekt beeinträchtigt werden könnte, einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp oder eine prioritäre Art einschließt, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, nur die Notwendigkeit der Abwendung einer tatsächlichen und schwerwiegenden Gefahr, dass die Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats unterbrochen wird, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einen Grund der öffentlichen Sicherheit im Sinne dieser Vorschrift darstellen kann.

C. Zu Fragen 1 bis 3 in Bezug auf das Übereinkommen von Espoo

160

Mit seinen Fragen 1 bis 3 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Übereinkommen von Espoo dahin auszulegen ist, dass Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen der in diesem Übereinkommen vorgesehenen Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden müssen.

161

In Rn. 93 des vorliegenden Urteils ist jedoch festgestellt worden, dass Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen Teil eines Projekts sind, bei dem mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt eines anderen Mitgliedstaats zu rechnen ist und das einem Verfahren zur Prüfung seiner grenzüberschreitenden Auswirkungen nach Art. 7 der UVP-Richtlinie unterzogen werden muss, die nach ihrem 15. Erwägungsgrund die Anforderungen des Übereinkommens von Espoo berücksichtigt.

162

Vor diesem Hintergrund sind die Fragen 1 bis 3 in Bezug auf das Übereinkommen von Espoo somit nicht zu beantworten.

D. Zu Fragen 4 und 5 in Bezug auf das Übereinkommen von Aarhus

163

Mit seinen Fragen 4 und 5 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 des Übereinkommens von Aarhus dahin auszulegen ist, dass die darin vorgesehenen Erfordernisse der Öffentlichkeitsbeteiligung für Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen gelten.

164

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass der Grund für diese Fragen des Verfassungsgerichtshofs dessen Zweifel sind, ob auf diese Maßnahmen die UVP-Richtlinie anwendbar ist, mit der jedenfalls, wie u. a. aus ihren Erwägungsgründen 18 bis 20 hervorgeht, die Vorgaben des Übereinkommens von Aarhus berücksichtigt werden sollen.

165

Aus den Antworten auf die die Fragen 6 und 7 ergibt sich jedoch, dass Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen zusammen mit den Arbeiten, die mit ihnen untrennbar verbunden sind, ein Projekt darstellen, das vor seiner Annahme einer Prüfung auf seine Umweltverträglichkeit nach der UVP-Richtlinie unterzogen werden muss.

166

Daher sind die Fragen 4 und 5 nicht zu beantworten.

E. Zu Frage 9 in Bezug auf die Aufrechterhaltung der Wirkungen des im Ausgangsverfahren streitigen Gesetzes

167

Mit seiner Frage 9 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht einem nationalen Gericht erlaubt, die Wirkungen von Maßnahmen wie den im Ausgangsverfahren streitigen für die Zeit aufrechtzuerhalten, die notwendig ist, um deren eventuelle Rechtswidrigkeit im Hinblick auf die UVP- und die Habitatrichtlinie zu beseitigen.

168

Insoweit ist festzustellen, dass Art. 2 Abs. 1 der UVP-Richtlinie eine Pflicht zur vorherigen Prüfung der von dieser Bestimmung erfassten Projekte vorschreibt und die Habitatrichtlinie hinsichtlich der nach ihrem Art. 6 Abs. 3 einer Prüfung unterliegenden Projekte ebenfalls vorsieht, dass die Mitgliedstaaten nur zustimmen dürfen, wenn sie in diesem Rahmen festgestellt haben, dass das betroffene Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird.

169

Allerdings werden weder in der UVP-Richtlinie noch in der Habitatrichtlinie die Folgen genannt, die aus einem Verstoß gegen die darin aufgestellten Pflichten zu ziehen sind.

170

Gleichwohl sind die Mitgliedstaaten nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines solchen Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben. Die zuständigen nationalen Behörden müssen daher im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um dem Unterbleiben einer Umweltverträglichkeitsprüfung abzuhelfen, beispielsweise durch die Rücknahme oder die Aussetzung einer bereits erteilten Genehmigung, damit die Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Comune di Corridonia u. a., C‑196/16 und C‑197/16, EU:C:2017:589, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

171

Diese Pflicht obliegt auch den nationalen Gerichten, die mit Klagen gegen einen nationalen Rechtsakt, der eine derartige Genehmigung enthält, befasst werden. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die für solche Klagen geltenden Verfahrensmodalitäten nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats sind, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Februar 2012, Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne, C‑41/11, EU:C:2012:103, Rn. 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

172

Folglich müssen die in diesem Zusammenhang angerufenen Gerichte auf der Grundlage ihres nationalen Rechts Maßnahmen zur Aussetzung oder Aufhebung der unter Verstoß gegen die Pflicht zur Durchführung einer Umweltprüfung erteilten Genehmigung ergreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Februar 2012, Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne, C‑41/11, EU:C:2012:103, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

173

Allerdings hat der Gerichtshof auch entschieden, dass das Unionsrecht nationalen Vorschriften nicht entgegensteht, die in bestimmten Fällen die Legalisierung unionsrechtswidriger Vorgänge oder Handlungen zulassen (Urteil vom 26. Juli 2017, Comune di Corridonia u. a., C‑196/16 und C‑197/16, EU:C:2017:589, Rn. 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

174

Eine solche Möglichkeit zur Legalisierung darf jedoch nur eingeräumt werden, wenn sie den Betroffenen keine Gelegenheit bietet, die Vorschriften des Unionsrechts zu umgehen oder nicht anzuwenden, und bleibt somit die Ausnahme (Urteil vom 26. Juli 2017, Comune di Corridonia u. a., C‑196/16 und C‑197/16, EU:C:2017:589, Rn. 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

175

Ist für ein Projekt die nach der UVP-Richtlinie erforderliche Umweltverträglichkeitsprüfung nicht durchgeführt worden, müssen die Mitgliedstaaten zwar die rechtswidrigen Folgen beheben. Das Unionsrecht verbietet aber nicht, dass während oder sogar nach der Durchführung des Projekts zu seiner Legalisierung eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt wird, sofern zwei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich zum einen, dass die eine solche Legalisierung gestattenden nationalen Vorschriften den Betreffenden nicht die Gelegenheit bieten, die Vorschriften des Unionsrechts zu umgehen oder nicht anzuwenden, und zum anderen, dass die zur Legalisierung durchgeführte Prüfung nicht nur die künftigen Umweltauswirkungen dieses Projekts umfasst, sondern auch die seit der Durchführung dieses Projekts eingetretenen Umweltauswirkungen berücksichtigt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Juli 2017, Comune di Corridonia u. a., C‑196/16 und C‑197/16, EU:C:2017:589, Rn. 43, sowie vom 28. Februar 2018, Comune di Castelbellino, C‑117/17, EU:C:2018:129, Rn 30).

176

Entsprechend ist davon auszugehen, dass das Unionsrecht bei Vorliegen der gleichen Voraussetzungen ebenso wenig verbietet, dass eine solche Legalisierung stattfindet, wenn die nach Art. 6 Abs. 3 der Habitatrichtlinie verlangte vorherige Prüfung auf Verträglichkeit des betreffenden Projekts mit dem geschützten Gebiet nicht durchgeführt worden ist.

177

Zudem kann nur der Gerichtshof in Ausnahmefällen und aus zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit eine vorübergehende Aussetzung der Verdrängungswirkung herbeiführen, die eine unionsrechtliche Vorschrift gegenüber mit ihr unvereinbarem nationalem Recht ausübt. Wären nämlich nationale Gerichte befugt, auch nur vorübergehend nationalen Bestimmungen Vorrang vor dem Unionsrecht einzuräumen, gegen das sie verstoßen, würde die einheitliche Anwendung des Unionsrechts beeinträchtigt. (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 66 und 67, und vom 28. Juli 2016, Association France Nature Environnement, C‑379/15, EU:C:2016:603, Rn. 33).

178

Der Gerichtshof hat jedoch in Rn. 58 des Urteils vom 28. Februar 2012, Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne (C‑41/11, EU:C:2012:103), ebenfalls entschieden, dass ein nationales Gericht unter Berücksichtigung dessen, dass ein zwingendes Erfordernis im Zusammenhang mit – wie es in der Rechtssache, die zu diesem Urteil geführt hat, der Fall war – dem Umweltschutz vorliegt, und sofern die in diesem Urteil angeführten Voraussetzungen erfüllt sind, ausnahmsweise zur Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift berechtigt sein kann, die es ihm gestattet, bestimmte Wirkungen eines für nichtig erklärten nationalen Rechtsakts aufrechtzuerhalten. Diesem Urteil ist somit zu entnehmen, dass der Gerichtshof einem nationalen Gericht im Einzelfall und ausnahmsweise die Befugnis verleihen wollte, die Wirkungen der Nichtigerklärung einer nationalen Bestimmung, die als mit dem Unionsrecht unvereinbar angesehen wird, unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Voraussetzungen anzupassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juli 2016, Association France Nature Environnement, C‑379/15, EU:C:2016:603, Rn. 34).

179

Im vorliegenden Fall ist es gemäß der in Rn. 177 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung allein Sache des Gerichtshofs, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen es ausnahmsweise gerechtfertigt sein kann, die Wirkungen von Maßnahmen wie den im Ausgangsverfahren streitigen aus zwingenden Erwägungen, die mit der Stromversorgungssicherheit des betreffenden Mitgliedstaats zusammenhängen, aufrechtzuerhalten. Solche Erwägungen können die Aufrechterhaltung der Wirkungen nationaler Maßnahmen, die unter Verstoß gegen die sich aus der UVP- und der Habitatrichtlinie ergebenden Pflichten erlassen wurden, nur dann rechtfertigen, wenn im Fall einer Aufhebung oder Aussetzung der Wirkungen dieser Maßnahmen die tatsächliche und schwerwiegenden Gefahr einer Unterbrechung der Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats bestünde, der nicht mit anderen Mitteln und Alternativen, insbesondere im Rahmen des Binnenmarkts, entgegengetreten werden kann.

180

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob unter Berücksichtigung von anderen Mitteln und Alternativen, über die der betreffende Mitgliedstaat verfügt, um die Stromversorgung in seinem Hoheitsgebiet zu gewährleisten, die ausnahmsweise Aufrechterhaltung der Wirkungen der vor dem vorlegenden Gericht angefochtenen Maßnahmen somit durch die Notwendigkeit, einer solchen Gefahr entgegenzutreten, gerechtfertigt ist.

181

Jedenfalls darf eine solche Aufrechterhaltung nur für den Zeitraum gelten, der absolut notwendig ist, um die Rechtswidrigkeit zu beseitigen.

182

In Anbetracht dessen ist auf Frage 9 zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, wenn das innerstaatliche Recht es zulässt, die Wirkungen von Maßnahmen wie den im Ausgangsverfahren streitigen, die unter Verstoß gegen die in der UVP- und der Habitatrichtlinie aufgestellten Pflichten erlassen wurden, ausnahmsweise aufrechterhalten darf, wenn ihre Aufrechterhaltung durch zwingende Erwägungen gerechtfertigt ist, die mit der Notwendigkeit zusammenhängen, die tatsächliche und schwerwiegende Gefahr einer Unterbrechung der Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats abzuwenden, der nicht mit anderen Mitteln und Alternativen, insbesondere im Rahmen des Binnenmarkts, entgegengetreten werden kann. Diese Aufrechterhaltung darf nur für den Zeitraum gelten, der absolut notwendig ist, um die betreffende Rechtswidrigkeit zu beseitigen.

IV. Kosten

183

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 1 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich, Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten sind dahin auszulegen, dass die Wiederaufnahme der industriellen Stromerzeugung eines abgeschalteten Kernkraftwerks für einen Zeitraum von fast zehn Jahren mit der Folge, dass der Zeitpunkt, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für seine Stilllegung und die Einstellung seines Betriebs festgelegt hat, um zehn Jahre aufgeschoben wird, und das Aufschieben des Endtermins, den der nationale Gesetzgeber ursprünglich für die Stilllegung und die Einstellung der industriellen Stromerzeugung eines in Betrieb befindlichen Kraftwerks vorgesehen hat, um ebenfalls zehn Jahre – Maßnahmen, die mit Arbeiten zur Modernisierung der betreffenden Kraftwerke einhergehen, die sich auf den materiellen Zustand der Gebiete auswirken können – ein „Projekt“ im Sinne dieser Richtlinie darstellen, das grundsätzlich und vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfung einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden muss, bevor die Maßnahmen erlassen werden. Der Umstand, dass die Durchführung dieser Maßnahmen mit weiteren Rechtsakten, wie der Erteilung einer neuen individuellen Genehmigung für Stromerzeugung zu industriellen Zwecken an eines der betroffenen Kraftwerke, einhergeht, ist insoweit nicht ausschlaggebend. Die mit diesen Maßnahmen untrennbar verbundenen Arbeiten müssen ebenfalls vor dem Erlass der Maßnahmen einer solchen Prüfung unterzogen werden, falls – was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist – ihre Natur und ihre potenziellen Auswirkungen auf die Umwelt in diesem Stadium hinreichend ermittelbar sind.

 

2.

Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie 2011/92 ist dahin auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat nur dann gestattet ist, ein Projekt wie das im Ausgangsverfahren streitige von einer Prüfung seiner Auswirkungen auf die Umwelt auszunehmen, um die Sicherheit seiner Stromversorgung zu gewährleisten, wenn der Mitgliedstaat dartut, dass die Gefahr für die Stromversorgungssicherheit bei vernünftiger Betrachtung wahrscheinlich ist und das fragliche Projekt so dringlich ist, dass es das Unterbleiben einer solchen Prüfung zu rechtfertigen vermag, vorausgesetzt, dass die in Art. 2 Abs. 4 Unterabs. 2 Buchst. a bis c der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen eingehalten werden. Die Möglichkeit einer solchen Ausnahme besteht allerdings unbeschadet der Pflichten, die dem betreffenden Mitgliedstaat nach Art. 7 dieser Richtlinie obliegen.

 

3.

Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2011/92 ist dahin auszulegen, dass nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren streitigen keinen besonderen einzelstaatlichen Gesetzgebungsakt im Sinne dieser Bestimmung darstellen, der nach dieser Bestimmung vom Geltungsbereich der UVP-Richtlinie ausgenommen ist.

 

4.

Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen ist dahin auszulegen, dass Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren streitigen zusammen mit den Arbeiten zur Modernisierung und zur Anpassung an die aktuellen Sicherheitsvorschriften ein Projekt darstellen, das eine Prüfung auf seine Verträglichkeit mit den betroffenen geschützten Gebieten erfordert. Diese Maßnahmen müssen einer solchen Prüfung vor ihrem Erlass durch den Gesetzgeber unterzogen werden. Dass die Durchführung dieser Maßnahmen mit weiteren Rechtsakten wie der Erteilung einer neuen individuellen Genehmigung für Stromerzeugung zu industriellen Zwecken für eines der betroffenen Kraftwerke einhergeht, ist insoweit nicht ausschlaggebend. Die mit diesen Maßnahmen untrennbar verbundenen Arbeiten müssen ebenfalls vor dem Erlass dieser Maßnahmen einer solchen Prüfung unterzogen werden, falls, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, ihre Natur und ihre potenziellen Auswirkungen auf die betroffenen Gebiete in diesem Stadium hinreichend ermittelbar sind.

 

5.

Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 92/43 ist dahin auszulegen, dass das Ziel, die Stromversorgungssicherheit eines Mitgliedstaats jederzeit zu gewährleisten, einen zwingenden Grund des überwiegenden öffentlichen Interesses im Sinne dieser Vorschrift darstellt. Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass, wenn das geschützte Gebiet, das durch ein Projekt beeinträchtigt werden könnte, einen prioritären natürlichen Lebensraumtyp oder eine prioritäre Art einschließt, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, nur die Notwendigkeit der Abwendung einer tatsächlichen und schwerwiegenden Gefahr, dass die Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats unterbrochen wird, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einen Grund der öffentlichen Sicherheit im Sinne dieser Vorschrift darstellen kann.

 

6.

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn das innerstaatliche Recht es zulässt, die Wirkungen von Maßnahmen wie den im Ausgangsverfahren streitigen, die unter Verstoß gegen die in der UVP- und der Habitatrichtlinie aufgestellten Pflichten erlassen wurden, ausnahmsweise aufrechterhalten darf, wenn ihre Aufrechterhaltung durch zwingende Erwägungen gerechtfertigt ist, die mit der Notwendigkeit zusammenhängen, die tatsächliche und schwerwiegende Gefahr einer Unterbrechung der Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats abzuwenden, der nicht mit anderen Mitteln und Alternativen, insbesondere im Rahmen des Binnenmarkts, entgegengetreten werden kann. Diese Aufrechterhaltung darf nur für den Zeitraum gelten, der absolut notwendig ist, um die betreffende Rechtswidrigkeit zu beseitigen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.