URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

13. November 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – Von einem Drittstaat an einen Mitgliedstaat gerichtetes Ersuchen um Auslieferung eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und im erstgenannten Mitgliedstaat sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat – Auslieferungsersuchen, das zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zweck der Strafverfolgung gestellt wird – Verbot der Auslieferung, das nur auf die eigenen Staatsangehörigen angewandt wird – Beschränkung der Freizügigkeit – Rechtfertigung mit der Verhinderung von Straflosigkeit – Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑247/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) mit Entscheidung vom 12. Mai 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Mai 2017, in dem Verfahren über die Auslieferung von

Denis Raugevicius

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, M. Vilaras, E. Regan, F. Biltgen und C. Lycourgos sowie der Richter M. Ilešič, E. Levits, L. Bay Larsen, C. G. Fernlund (Berichterstatter) und S. Rodin,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Mai 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und J. Pavliš als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, M. Hellmann und S. Weinkauff als Bevollmächtigte,

Irlands, vertreten durch M. Browne, J. Quaney und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, BL,

der zyprischen Regierung, vertreten durch E. Zachariadou, E. Neofytou und M. Spiliotopoulou als Bevollmächtigte,

der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas und V. Čepaitė als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,

der rumänischen Regierung, vertreten durch C.‑R. Canţăr, R. Mangu, E. Gane und C.‑M. Florescu als Bevollmächtigte,

der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, H. Shev, C. Meyer‑Seitz, L. Zettergren und A. Alriksson als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, R. Troosters und M. Huttunen als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juli 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 AEUV.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines von den russischen Behörden an die finnischen Behörden gerichteten Auslieferungsersuchens betreffend Herrn Denis Raugevicius, der die litauische und die russische Staatsangehörigkeit besitzt, zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe.

Rechtlicher Rahmen

Das Europäische Auslieferungsübereinkommen

3

Art. 1 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (im Folgenden Europäisches Auslieferungsübereinkommen) bestimmt:

„Die Vertragsparteien verpflichten sich, gemäß den nachstehenden Vorschriften und Bedingungen einander die Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung und Besserung gesucht werden.“

4

Art. 6 („Auslieferung eigener Staatsangehöriger“) des Übereinkommens sieht vor:

a)

Jede Vertragspartei ist berechtigt, die Auslieferung ihrer Staatsangehörigen abzulehnen.

b)

Jede Vertragspartei kann, was sie betrifft, bei der Unterzeichnung oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde durch eine Erklärung den Begriff ‚Staatsangehörige‘ im Sinne dieses Übereinkommens bestimmen.

c)

Für die Beurteilung der Eigenschaft als Staatsangehöriger ist der Zeitpunkt der Entscheidung über die Auslieferung maßgebend. …

(2)   Liefert der ersuchte Staat seinen Staatsangehörigen nicht aus, so hat er auf Begehren des ersuchenden Staates die Angelegenheit den zuständigen Behörden zu unterbreiten, damit gegebenenfalls eine gerichtliche Verfolgung durchgeführt werden kann. Zu diesem Zweck sind die auf die strafbare Handlung bezüglichen Akten, Unterlagen und Gegenstände kostenlos auf dem im Artikel 12 Absatz 1 vorgesehenen Weg zu übermitteln. Dem ersuchenden Staat ist mitzuteilen, inwieweit seinem Begehren Folge gegeben worden ist.“

5

In Art. 10 („Verjährung“) des Übereinkommens heißt es:

„Die Auslieferung wird nicht bewilligt, wenn nach den Rechtsvorschriften des ersuchenden oder des ersuchten Staates die Strafverfolgung oder Strafvollstreckung verjährt ist.“

6

Art. 17 des Übereinkommens lautet:

„Wird wegen derselben oder wegen verschiedener Handlungen von mehreren Staaten zugleich um Auslieferung ersucht, so entscheidet der ersuchte Staat unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der verhältnismäßigen Schwere der strafbaren Handlungen, des Ortes ihrer Begehung, des Zeitpunktes der Auslieferungsersuchen, der Staatsangehörigkeit des Verfolgten und der Möglichkeit einer späteren Auslieferung an einen anderen Staat.“

7

Die Republik Finnland hat eine Erklärung gemäß Art. 6 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens (im Folgenden: Erklärung) mit folgendem Wortlaut abgegeben:

„Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck ‚Staatsangehörige‘ Staatsangehörige von Finnland, Dänemark, Island, Norwegen und Schweden sowie Ausländer, die in diesen Staaten ihren Wohnsitz haben.“

Finnisches Recht

8

Nach § 9 Abs. 3 des finnischen Grundgesetzes in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung darf „[e]in finnischer Staatsbürger … nicht … gegen seinen Willen an ein anderes Land ausgeliefert oder überstellt werden. Durch Gesetz kann jedoch geregelt werden, dass ein finnischer Staatsangehöriger wegen einer Straftat oder zum Zweck eines Gerichtsverfahrens … an ein Land ausgeliefert oder überstellt werden kann, in dem seine Menschenrechte und sein rechtlicher Schutz gewährleistet sind.“

9

Nach § 2 des Rikoksen johdosta tapahtuvasta luovuttamisesta annettu laki (456/1970) (Gesetz [456/1970] über die Auslieferung wegen einer Straftat, im Folgenden: Auslieferungsgesetz) darf ein finnischer Staatsbürger nicht ausgeliefert werden.

10

§ 14 Abs. 1 des Auslieferungsgesetzes sieht vor:

„Das Justizministerium entscheidet, ob einem Auslieferungsersuchen stattzugeben ist.“

11

§ 16 Abs. 1 des Auslieferungsgesetzes bestimmt:

„Hat die Person, um deren Auslieferung ersucht wurde, im Lauf der Untersuchung oder in einem beim Justizministerium vor Entscheidung der Sache eingegangenen Schriftsatz mitgeteilt, dass nach ihrer Auffassung die rechtlichen Voraussetzungen für die Auslieferung nicht vorliegen, hat das Ministerium, falls das Auslieferungsersuchen nicht sofort abgelehnt wird, vor Entscheidung der Sache ein Gutachten des Korkein oikeus [(Oberster Gerichtshof, Finnland)] zu beantragen. Das Ministerium kann ein Gutachten auch in anderen Fällen beantragen, wenn es dies für erforderlich hält.“

12

§ 17 des Auslieferungsgesetzes lautet:

„Der Korkein oikeus [(Oberster Gerichtshof)] prüft unter Berücksichtigung der Bestimmungen der §§ 1 bis 10 dieses Gesetzes und der entsprechenden Bestimmungen eines Finnland bindenden internationalen Übereinkommens, ob dem Auslieferungsersuchen stattgegeben werden kann.

Ist der Korkein oikeus [(Oberster Gerichtshof)] der Auffassung, dass der Auslieferung ein Hindernis entgegensteht, kann dem Auslieferungsersuchen nicht stattgegeben werden.“

13

Eine Freiheitsstrafe, die von einem Gericht eines Staates, der nicht Mitgliedstaat der Union ist, verhängt wurde, kann in Finnland gemäß dem Kansainvälisestä yhteistoiminnasta eräiden rikosoikeudellisten seuraamusten täytäntöönpanossa annettu laki (21/1987) (Gesetz [21/1987] über die internationale Zusammenarbeit bei der Vollstreckung bestimmter strafrechtlicher Sanktionen) vollzogen werden. § 3 dieses Gesetzes bestimmt:

„Eine Sanktion, die von einem ausländischen Gericht verhängt wurde, kann in Finnland vollzogen werden, wenn

1.

das Urteil in dem Staat, in dem es ergangen ist, rechtskräftig und vollstreckbar ist,

3.

der Staat, in dem die Sanktion verhängt wurde, dies beantragt oder dem zugestimmt hat.

Eine Sanktion, die einen Freiheitsentzug beinhaltet, kann in Finnland gemäß Abs. 1 vollzogen werden, wenn es sich bei dem Verurteilten um einen finnischen Staatsangehörigen oder einen Ausländer, der seinen ständigen Wohnsitz in Finnland hat, handelt und der Verurteilte zugestimmt hat. …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14

Am 1. Februar 2011 wurde Herr Raugevicius von einem russischen Gericht wegen eines Betäubungsmitteldelikts für schuldig befunden, weil er ohne Verkaufsabsicht ein Gemisch in seinem Besitz hatte, das 3,040 g Heroin enthielt. Hierfür wurde er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

15

Am 16. November 2011 widerrief ein Gericht im Verwaltungsbezirk Leningrad (Russland) die Aussetzung zur Bewährung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen und ordnete die Vollstreckung der gegen Herrn Raugevicius verhängten Freiheitsstrafe von vier Jahren an.

16

Herr Raugevicius wurde am 12. Juli 2016 zur internationalen Fahndung ausgeschrieben.

17

Am 12. Dezember 2016 verhängte ein erstinstanzliches Gericht in Finnland ein Ausreiseverbot gegen Herrn Raugevicius.

18

Am 27. Dezember 2016 ersuchte die Russische Föderation die finnischen Behörden um die Verhaftung von Herrn Raugevicius und seine Auslieferung an Russland zum Zweck der Vollstreckung einer dort gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe.

19

Herr Raugevicius widersprach der Auslieferung und machte u. a. geltend, dass er schon lange in Finnland lebe und Vater von zwei Kindern sei, die ebenfalls in diesem Mitgliedstaat lebten und finnische Staatsangehörige seien.

20

Am 7. Februar 2017 beantragte das Justizministerium beim Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) ein Gutachten zu der Frage, ob der Auslieferung von Herrn Raugevicius an Russland ein rechtliches Hindernis entgegenstehe.

21

Der Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) ist der Auffassung, er sei, auch wenn er im Rahmen eines Auslieferungsersuchens ein Gutachten erstelle, ein „Gericht“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 267 AEUV. In Anbetracht seiner gesetzlichen Grundlage, seiner Dauerhaftigkeit, seiner obligatorischen Gerichtsbarkeit, des streitigen Verfahrens, der Anwendung von Rechtsnormen und seiner Unabhängigkeit erfülle er die entsprechenden Kriterien, wie sie der Gerichtshof u. a. in seinem Urteil vom 19. Dezember 2012, Epitropos tou Elegktikou Synedriou (C‑363/11, EU:C:2012:825‚ Rn. 18), wiederholt habe. Im Übrigen sei er mit einem Rechtsstreit befasst, da Herr Raugevicius seiner Auslieferung widersprochen habe und das Justizministerium nicht davon ausgegangen sei, dass das Auslieferungsersuchen der Russischen Föderation sofort abgelehnt werden müsse. Schließlich sei das von ihm zu erstellende Gutachten bindend, denn dem in Rede stehenden Auslieferungsersuchen könne nicht stattgegeben werden, wenn in dem Gutachten festgestellt werde, dass der Auslieferung ein Hindernis entgegenstehe.

22

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hat der Gerichtshof im Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), festgestellt, dass durch die Auslieferungsvorschriften die Freiheit der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, sich in den Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, beeinträchtigt werden könne. Folglich seien diese Vorschriften auch unter dem Aspekt des Diskriminierungsverbots zu prüfen.

23

Der Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) weist jedoch darauf hin, dass der vorliegende Fall, in dem es um ein Auslieferungsersuchen zum Zweck des Vollzugs eines Strafurteils geht, anders gelagert sei als der dem genannten Urteil zugrunde liegende Sachverhalt, der ein Auslieferungsersuchen zum Zweck der Strafverfolgung betraf.

24

Das vorlegende Gericht stellt insbesondere fest, dass der ersuchte Mitgliedstaat zwar grundsätzlich verpflichtet sei, seine eigenen Staatsangehörigen strafrechtlich zu verfolgen, wenn er sie nicht ausliefere, dass es aber keine entsprechende Verpflichtung gebe, eine gegen diese von einem Drittstaat verhängte Strafe im eigenen Hoheitsgebiet vollstrecken zu lassen.

25

Unter diesen Umständen hat der Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Zu den Vorlagefragen

26

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass der ersuchte Mitgliedstaat, nach dessen nationalem Recht die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, eine solche im Ausland verhängte Strafe im Inland zu vollziehen, im Fall eines von einem Drittstaat zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zweck der Strafverfolgung gestellten Ersuchens um Auslieferung eines Unionsbürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, alternative Maßnahmen zur Auslieferung prüfen muss, bei denen die Ausübung dieses Rechts auf Freizügigkeit weniger beschränkt wird.

27

Insoweit ist daran zu erinnern, dass ein Unionsbürger wie Herr Raugevicius, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats – vorliegend der Republik Litauen – ist und sich in einem anderen Mitgliedstaat – hier Finnland – aufhält, von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, so dass seine Situation in den Anwendungsbereich von Art. 18 AEUV fällt, in dem der Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verankert ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 31).

28

Im Übrigen wird durch eine nationale Regelung, die nur die Auslieferung finnischer Staatsangehöriger verbietet, eine Ungleichbehandlung zwischen diesen und den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten eingeführt. Damit schafft diese Regelung eine Ungleichbehandlung, die geeignet ist, die Freizügigkeit der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten innerhalb der Union zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 32).

29

Diese Feststellung wird auch nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass ein Staatsangehöriger eines anderen als des um Auslieferung ersuchten Mitgliedstaats, wie vorliegend Herr Raugevicius, auch die Staatsangehörigkeit des um die Auslieferung ersuchenden Drittstaats besitzt. Die doppelte Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats kann dem Betroffenen nämlich nicht die Freiheiten nehmen, die er als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats aus dem Unionsrecht herleitet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 1992, Micheletti u. a., C‑369/90, EU:C:1992:295, Rn. 15).

30

Folglich führt in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren die Ungleichbehandlung, die darin besteht, dass ein Unionsbürger, der wie Herr Raugevicius die Staatsangehörigkeit eines anderen als des ersuchten Mitgliedstaats besitzt, ausgeliefert werden kann, zu einer Beschränkung der Freizügigkeit im Sinne von Art. 21 AEUV (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 33).

31

Eine solche Beschränkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Insoweit hat der Gerichtshof anerkannt, dass das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, sich dieser Strafe entziehen, als legitim einzustufen ist und eine beschränkende Maßnahme rechtfertigen kann, sofern sie für den Schutz der Belange, die sie gewährleisten soll, erforderlich ist, und auch nur insoweit, als diese Ziele nicht mit weniger einschränkenden Maßnahmen erreicht werden können (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630‚ Rn. 37 und 38).

33

So hat der Gerichtshof in Rn. 39 des Urteils vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), festgestellt, dass die Auslieferung ein Verfahren ist, mit dem der Gefahr entgegengewirkt werden soll, dass eine Person, die sich in einem anderen Hoheitsgebiet als dem aufhält, in dem sie eine Straftat begangen haben soll, der Strafe entgeht. In jenem Urteil, das ein Auslieferungsersuchen zum Zweck der Strafverfolgung betraf, hat der Gerichtshof ebenfalls in Rn. 39 darauf hingewiesen, dass die Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger im Allgemeinen dadurch ausgeglichen wird, dass der ersuchte Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, seine eigenen Staatsangehörigen wegen außerhalb seines Hoheitsgebiets begangener schwerer Straftaten zu verfolgen, er jedoch in der Regel nicht dafür zuständig ist, über solche Sachverhalte zu urteilen, wenn weder der Täter noch das Opfer der mutmaßlichen Straftat die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt. Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass sich mit der Auslieferung verhindern lässt, dass Straftaten, die im Hoheitsgebiet eines Staates von Personen begangen werden, die aus diesem Hoheitsgebiet geflohen sind, nicht geahndet werden.

34

Das vorlegende Gericht möchte dennoch wissen, ob diese Erwägungen auch im Fall eines Auslieferungsersuchens gelten, das zum Zwecke der Strafvollstreckung gestellt wurde.

35

Das vorlegende Gericht hegt insoweit Zweifel und macht geltend, dass das Europäische Auslieferungsübereinkommen zwar in Art. 6 Abs. 2 für den ersuchten Mitgliedstaat die Möglichkeit vorsehe, eigene Staatsangehörige, die er nicht ausliefere, strafrechtlich zu verfolgen, dass dieses Übereinkommen einen Staat, der die Auslieferung seiner Staatsangehörigen ablehne, aber nicht dazu verpflichte, Maßnahmen zur Vollstreckung von Strafen zu ergreifen, die von einem Gericht eines anderen Vertragsstaats des Übereinkommens verhängt worden seien. Das vorlegende Gericht und mehrere der Regierungen, die Erklärungen beim Gerichtshof abgegeben haben, sind zudem der Auffassung, dass eine erneute Verfolgung einer Person, die im ersuchenden Staat bereits verfolgt und verurteilt worden sei, gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen könne, der besagt, dass eine Person nicht zweimal wegen derselben Straftat verfolgt werden darf.

36

Zwar kann das nach nationalem Recht gewährleistete Verbot der Doppelbestrafung für einen Mitgliedstaat ein Hindernis bei der Strafverfolgung von Personen darstellen, gegen die ein Auslieferungsersuchen zum Zweck der Strafvollstreckung vorliegt. Um jedoch der Gefahr entgegenzuwirken, dass solche Personen einer Strafe entgehen, gibt es im nationalen Recht und/oder im Völkerrecht Mechanismen, die es ermöglichen, dass diese Personen ihre Strafe etwa in dem Staat verbüßen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, wodurch ihre Chancen auf eine soziale Wiedereingliederung nach dem Strafvollzug steigen.

37

Dies gilt insbesondere für das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983. Sowohl alle Mitgliedstaaten als auch die Russische Föderation sind Vertragsparteien dieses Übereinkommens. Nach dessen Art. 2 kann eine im Hoheitsgebiet eines der Unterzeichnerstaaten verurteilte Person beantragen, zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion in das Hoheitsgebiet ihres Herkunftslands überstellt zu werden, wobei aus den Begründungserwägungen des Übereinkommens hervorgeht, dass mit einer solchen Überstellung u. a. die soziale Wiedereingliederung verurteilter Personen gefördert werden soll, indem Ausländern, denen wegen der Begehung einer Straftat ihre Freiheit entzogen worden ist, Gelegenheit gegeben wird, die gegen sie verhängte Sanktion im sozialen Umfeld ihres Herkunftslands zu verbüßen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2005, Laurin Effing, C‑302/02, EU:C:2005:36, Rn. 12 und 13).

38

Darüber hinaus sehen einige Mitgliedstaaten, so auch die Republik Finnland, für ihre eigenen Staatsangehörigen die Möglichkeit vor, eine in einem anderen Staat verhängte Strafe im Inland zu verbüßen.

39

Folglich ist bei einem Auslieferungsersuchen zum Zweck der Strafvollstreckung zum einen darauf hinzuweisen, dass es, auch wenn der ersuchte Mitgliedstaat möglicherweise keine Strafverfolgungsmaßnahmen gegen seine eigenen Staatsangehörigen einleiten kann, doch Mechanismen gibt, damit sie ihre Strafe in diesem Mitgliedstaat verbüßen können. Zum anderen kann aber durch die Auslieferung vermieden werden, dass sich diejenigen Unionsbürger, die nicht Staatsangehörige des ersuchten Mitgliedstaats sind, der Vollstreckung ihrer Strafe entziehen.

40

Da mit der Auslieferung, wie in Rn. 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der Gefahr entgegengewirkt werden soll, dass Staatangehörige aus anderen, mit dem ersuchten Mitgliedstaat nicht identischen Mitgliedstaaten der Strafe entgehen, und die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung die Auslieferung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten als der Finnischen Republik zulässt, ist die Verhältnismäßigkeit der Regelung zu prüfen, indem überprüft wird, ob es Maßnahmen gibt, mit denen dieses Ziel ebenso wirksam erreicht werden kann, durch die aber die Freizügigkeit dieser Personen weniger beschränkt wird (Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 41), wobei alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände der Rechtssache zu berücksichtigen sind.

41

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass Herr Raugevicius seiner Auslieferung widersprochen hat, weil er seit Langem in Finnland lebe und Vater von zwei Kindern sei, die ebenfalls in Finnland lebten und finnische Staatsangehörige seien. Diese Umstände wurden im Rahmen des Verfahrens vor dem Gerichtshof nicht in Frage gestellt. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass Herr Raugevicius im Sinne von § 3 Abs. 2 des Gesetzes über die internationale Zusammenarbeit im Bereich der Vollstreckung bestimmter strafrechtlicher Sanktionen als Ausländer mit ständigem Wohnsitz in Finnland angesehen werden kann.

42

Sollte dies der Fall sein, so könnte Herr Raugevicius die Strafe, die in Russland gegen ihn verhängt wurde, in Finnland verbüßen, wenn sowohl Russland als auch Herr Raugevicius selbst dem zustimmen.

43

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. u. a. Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31, vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 41, sowie vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 30).

44

Jeder Unionsbürger kann sich daher in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf Art. 18 AEUV berufen, der jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, wobei zu diesen Situationen die Ausübung der durch Art. 21 AEUV verliehenen Grundfreiheit gehört, sich in den Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, um die es im Ausgangsrechtsstreit geht (vgl. Urteile vom 4. Oktober 2012, Kommission/Österreich, C‑75/11, EU:C:2012:605, Rn. 39, und vom 11. November 2014, Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 59).

45

Außerdem bleiben zwar mangels einer unionsrechtlichen Regelung der Auslieferung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten an Russland die Mitgliedstaaten für den Erlass solcher Regelungen zuständig, doch müssen sie bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht und insbesondere das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV sowie die durch Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistete Freiheit beachten, sich in den Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten.

46

Im Hinblick auf das Ziel, der Gefahr einer Straflosigkeit entgegenzuwirken, befinden sich die finnischen Staatsangehörigen und die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die ihren ständigen Wohnsitz in Finnland haben und somit ein bestimmtes Maß an Integration in der Gesellschaft dieses Mitgliedstaats aufweisen, in einer vergleichbaren Situation (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg, C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 67). Die Überprüfung, ob Herr Raugevicius unter diese Kategorie von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten fällt, obliegt dem vorlegenden Gericht.

47

Somit verlangen die Art. 18 und 21 AEUV, dass die Regelung, wonach finnische Staatsangehörige nicht ausgeliefert werden dürfen, auch den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zugutekommen muss, die ihren ständigen Wohnsitz in Finnland haben und gegen die ein Auslieferungsersuchen zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe vorliegt; diese müssen also ihre Strafe unter denselben Bedingungen wie Inländer in Finnland verbüßen können.

48

Wenn dagegen bei einem Unionsbürger wie Herrn Raugevicius nicht davon ausgegangen werden kann, dass er seinen ständigen Wohnsitz im ersuchten Mitgliedstaat hat, bestimmt sich die Frage seiner Auslieferung nach dem anwendbaren nationalen oder internationalen Recht.

49

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass ein Mitgliedstaat, der mit einem Ersuchen eines Drittstaats um Auslieferung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats befasst ist, überprüfen muss, ob durch die Auslieferung die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und insbesondere in deren Art. 19 verbürgten Rechte beeinträchtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 60).

50

Nach alldem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass der ersuchte Mitgliedstaat, nach dessen nationalem Recht die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, eine solche im Ausland verhängte Strafe im Inland zu vollziehen, im Fall des von einem Drittstaat zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zweck der Strafverfolgung gestellten Ersuchens um Auslieferung eines Unionsbürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sicherstellen muss, dass dieser Unionsbürger, wenn er seinen ständigen Wohnsitz im Inland hat, bei Auslieferungsfragen auf gleiche Weise wie seine eigenen Staatsangehörigen behandelt wird.

Kosten

51

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass der ersuchte Mitgliedstaat, nach dessen nationalem Recht die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, eine solche im Ausland verhängte Strafe im Inland zu vollziehen, im Fall des von einem Drittstaat zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zweck der Strafverfolgung gestellten Ersuchens um Auslieferung eines Unionsbürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sicherstellen muss, dass dieser Unionsbürger, wenn er seinen ständigen Wohnsitz im Inland hat, bei Auslieferungsfragen auf gleiche Weise wie seine eigenen Staatsangehörigen behandelt wird.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Finnisch.